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Der große und ewige Konflikt des Menschen ist der, den er mit sich selbst austrägt, denn er ist in jedem Augenblick Individuum und Teil einer Gemeinschaft, und nur selten vertragen sich diese beiden Seelen in unserer Brust. In keinem Theaterstück wird dies deutlicher als in Sophokles' Antigone. Kreon, König von Theben, wider Willen, vertritt den Staat. Antigone folgt ihrem Gewissen. Es wäre falsch und billig, einer der beiden Kräfte den Vorzug zu geben, einer der beiden Kräfte recht zu geben. Die Tragödie besteht ja gerade darin, dass beide recht haben. Darum hat das Stück über zweieinhalb Tausend Jahren nichts an Glut und Kälte eingebüßt. Die Bearbeitung des Stoffes war leicht und zugleich schwierig - leicht, was den dramatischen Aufbau betrifft, schließlich gründet unsere abendländische Vorstellung von dem, was Tragödie ist, auf der "Poetik" des Aristoteles, und der bezieht sich auf Sophokles; schwierig, wenn in der antiken Antigone, der Ismene, dem Kreon, dem Teiresias, dem Haimon, vor allem im antiken Chor heutige Charaktere gefunden werden sollen. "Nach dieser Arbeit glaube ich, wenn man ein Stück verstehen will, muss man es neu schreiben." - Michael Köhlmeier "Das ist die große Kunst des Michael Köhlmeier: Die Wahrheit des antiken Mythos eindringlich zu vergegenwärtigen, ohne platte Aktualisierung." - Konrad Paul Liessmann
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Seitenzahl: 64
MICHAEL KÖHLMEIER
nach Sophokles
Personen
ERSTE SZENE
ZWEITE SZENE
DRITTE SZENE
VIERTE SZENE
FÜNFTE SZENE
SECHSTE SZENE
SIEBTE SZENE
ACHTE SZENE
NEUNTE SZENE
ZEHNTE SZENE
ELFTE SZENE
ZWÖLFTE SZENE
DREIZEHNTE SZENE
VIERZEHNTE SZENE
FÜNFZEHNTE SZENE
SECHZEHNTE SZENE
SIEBZEHNTE SZENE
ANTIGONE
ISMENE
KREON
CHOR
EINS – spielt auch den BOTEN
ZWEI – spielt auch HAIMON
DREI – spielt auch TEIRESIAS
Antigone und Ismene.
ANTIGONE: Heute, Ismene. Was ist heute?
ISMENE: Was ist heute, Antigone?
ANTIGONE: Kann ich „heute“ sagen, ohne an gestern zu denken?
ISMENE: Nein, das können wir nicht.
ANTIGONE: Gestern sind unsere Brüder ermordet worden.
ISMENE: Nein, Schwester. Sie haben miteinander gekämpft und haben sich gegenseitig getötet. Einer den anderen im gleichen Hieb.
ANTIGONE: Und wer im Kampf tötet, mordet nicht?
ISMENE: Eteokles und Polyneikes waren einander gleich. In allem gleich, bis zur Geburt zurück. Das machte sie zu Feinden.
ANTIGONE: Aus Gleichheit wird Feindschaft?
ISMENE: Du verkehrst die Worte …
ANTIGONE: Was ist ein verkehrtes Wort?
ISMENE: … indem du hinter jedes ein Fragezeichen setzt.
ANTIGONE: Müssen wir das nicht, wenn nicht mehr gilt, was immer galt? Hast du nicht den einen wie den anderen geliebt? Und wenn den einen mehr, weil er dir näher war, der Jüngere, wie ich dem Älteren näher war, macht dieser kleine Unterschied – es war doch keine Stunde! – schon aus, dass der eine begraben werden soll in allen Ehren, der andere aber nicht? Sieh mich an, Ismene! Und dass wir, du und ich, dazu schweigen?
ISMENE: Ich will nichts hören, ich höre nichts …
ANTIGONE: Nicht einmal eine Handvoll Staub soll ihn bedecken! Und wir, du und ich, sollen schweigen?
ISMENE: In mir ist kein Platz mehr für welches Leid auch immer! Ich hab’ genug geerbt vom Vater. Wenn’s einen Gott gibt, hat er etwas bei uns ausgelassen, was noch wehtun könnte? Ich weiß von nichts und will nichts wissen! Ich will nicht an die Brüder denken. Heute nicht. Morgen nicht. Vielleicht in einem Jahr. Sie sind tot, kein Wort macht sie lebendig. – Halt’ mich fest, Schwester!
Sie umarmen sich.
ANTIGONE: O ja! Ödipus war der unglücklichste Mensch, diesen Wettbewerb hat er gewonnen. Sein Schicksal zog die Grenze für das Unglück, mehr darf nicht sein. Und das Erbe der Mutter? Iokastes Unglück ist nicht bescheidener. Sie kommt zugleich mit unsrem Vater ins Ziel. Und hinterlässt uns ihren Bruder. Die Brüder, die Brüder! Die Brüder machen uns zu Schwestern auf ewig. Darf ich nicht Antigone sein und du nicht Ismene, bevor wir Schwestern sind von Eteokles und Polyneikes? Was hat uns Kreon zu befehlen, nur weil er der Bruder unsrer Mutter ist?
ISMENE: Die Stirn ist meine Mauer. Hinter der bin ich lebendig begraben. Kein Ton dringt nach außen.
ANTIGONE, bitter, hart: Dann will ich es aussprechen. Und wenn du die Ohren verschließt, Ismene, sag’ ich es dir in die Augen hinein. Der brave Kreon, der vor jedem, der es hören will, und jedem, der es nicht hören will, betont, dass er an der Macht nicht Interesse hat, der gegen alle Ambition, wie er es nennt, sich auf den Thron von Theben setzte, um Theben zu retten, wie er sagt … der ehrenwerte Kreon hat befohlen, dass Polyneikes – sein Neffe! – verrotten soll auf dem Feld, wo er fiel. Am Rücken liegend, das Schwert des Bruders in der Brust, die Augen weiß von der Milch des Todes. Gefressen werden soll er von den Hunden und den Raben bis hinunter zu den fetten grünen Käfern …
ISMENE: Ich hab’s gehört! Nicht weiter! Bitte!
ANTIGONE: … ein Spott den Spaziergängern auf den Wegen rundum …
ISMENE: Ich weiß es! Du brauchst es nicht zu wiederholen!
ANTIGONE: … zum Gelächter für die Bürger, wenn die Raben ihm die Zunge stückweis’ aus dem Rachen reißen und die Hunde sich um seine Glieder raufen …
ISMENE: Ich hab’s gehört! Bitte! Was quälst du mich!
ANTIGONE: Gehört und nicht begriffen … Ich wollt’, ich hätt’ es nicht gehört, begriffen aber hab’ ich es. Nicht ich quäle dich. Die Bilder, die meine Träume in der Nacht auf die Finsternis malen, als wär’ sie eine frische Leinwand … Ismene, halt’ mich fest! … diese Bilder quälen mich. Doch wenn ich schon Schwester sein muss, dann muss ich es auch sein. Ich muss. Und du, Ismene, du musst es auch! Hast du ein Gewissen?
ISMENE: Die Frage ist böse.
ANTIGONE: Gibt’s etwas, was nicht böse ist, in einer bösen Zeit?
ISMENE: Schon wieder fragst du. Kreon hat befohlen. Er ist der Herrscher von Theben. Er ist es, ob wir das wollen oder nicht. Ich habe das Gesetz nicht erfunden, Antigone.
ANTIGONE: Willst du wissen, was das Gewissen dazu sagt?
ISMENE: Nein!
ANTIGONE: Was das Gewissen uns befiehlt?
ISMENE: Nein!
ANTIGONE: Du hast die Gesetze nicht erfunden, und ich hab’ das Gewissen nicht erfunden. Wenn es einen Gott gibt, dann gibt es ein Leben nach dem Tod, und dann werden wir länger drüben sein als hier, und die drüben werden uns bis ans Ende der Zeit in die Augen glotzen, und ihre Vorwürfe werden unsere Qualen sein, schlimmer als die Qualen meiner Nächte hier, und die Zeit, die endet nie. Darum werde ich Erde über den Bruder streuen. Komme, was wolle …
ISMENE: Du hast ein heißes Herz und bist so kalt.
ANTIGONE: Ich frag’ dich, Ismene, ich frag’ dich, ob du mit mir …
ISMENE: Frag’ nicht, Antigone! Ich habe nicht den Mut.
ANTIGONE: Dann gefall’ du dem Starken, ich meinem Gewissen.
ISMENE: Du willst, dass jedes deiner Worte mir wehtun soll.
ANTIGONE: Ich will dieses, du willst jenes.
Beide ab.
Eins, Zwei und Drei treten auf.
DREI: Was habt ihr?
ZWEI: Wer zuerst?
EINS: Lass’ hören!
ZWEI: Also … Liest vor. Strahl der Sonne! Du schönstes Licht, das dem siebentorigen Theben je ist aufgegangen zuvor: Endlich bist du erschienen, o goldenen Tages Auge … Was? Was! Schaut nicht, sagt!
EINS: Soll es ein Gedicht werden oder ein Bericht?
ZWEI: Die Menschen wollen sich einfühlen können … ein Bild sich schaffen … auch ein inneres Bild … mehr noch ein inneres als ein äußeres … Schilderung … Gefühl … Empathie!
EINS: Wer sind „die Menschen“? Gefühle macht sich jeder selber. Wenn’s um Gefühle geht, zählt nur die Einzahl. Was braucht es da uns? Ich kann nicht über die Gefühle anderer schreiben und will auch nicht. Unsere Aufgabe ist es zu berichten. Fakten.
ZWEI: Dann bitte. Bitte!
EINSliest vor: Erster Akt – nach dem Tod ihres Vaters Ödipus können sich Eteokles und Polyneikes nicht einigen, wer über Theben herrschen soll. Zweiter Akt – Kreon, der Bruder ihrer Mutter, schlägt vor, die beiden sollen sich die Macht teilen. Im ersten Jahr soll Eteokles herrschen, im zweiten Polyneikes und so weiter. Dritter Akt – als das erste Jahr vorüber ist, weigert sich Eteokles, die Macht abzugeben. Vierter Akt – Polyneikes stellt ein Heer zusammen und greift die Stadt an. Auf dem Schlachtfeld fallen beide Brüder. Letzter Akt – Kreon übernimmt die Macht in Theben. – Fakten! Fünf Akte, wie es sich seit Sophokles gehört.
ZWEI: Du hast den Lorbeer weggeputzt – wo ist der Baum?
EINS: Vergleiche sind Krampf, Metaphern billig. Du willst ein Gedicht schreiben, dann schreib’ du ein Gedicht!
DREI: Nicht gleich so viel Polemik, bitte! Man muss die Sache historisch sehen. Ein Bericht allein sagt wenig, und was die Innensicht, das Gefühl, die Schilderung betrifft – wenn man nicht weiß woher, wohin, warum, dann sind die schönsten Bilder nichts als Schimären. Die Erzählung macht es, das Präteritum! Also hört! Liest vor