Der Mensch ist verschieden - Michael Köhlmeier - E-Book

Der Mensch ist verschieden E-Book

Michael Köhlmeier

4,8

Beschreibung

33 MENSCHLICHE CHARAKTERTYPEN - ACHTUNG: SELBSTERKENNTNIS-GEFAHR! Sind Sie der Erfolgsverwöhnte oder mehr der Versagende? Die Schweigerin oder doch eher die Auseinandersetzerin? Der Immerzu-Dankbare, der Nimmersatte oder gar die Feinste von den Feinen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier stellen uns einen bunten Reigen an menschlichen Charaktertypen vor. Fantasievoll und erfinderisch erzählt das Schriftstellerehepaar vom Kunstverliebten und dem Magenleidenden, vom Gewohnheitsmenschen, der Einsamen und der Eingebildet-Vergesslichen. Und wer sich vor Selbsterkenntnis nicht scheut, kann sich im ein oder der anderen wiedererkennen. DIE EINZIGE ANTIKE CHARAKTERLEHRE MODERN INTERPRETIERT Als Nacherzähler antiker Stoffe beliebt und geschätzt, hat Köhlmeier gemeinsam mit seiner Frau den griechischen Philosophen Theophrast für das 21. Jahrhundert entdeckt. Die "Charaktere" des Theophrast, Nachfolger des großen Aristoteles in dessen Schule, bilden die erste und einzige Charakterlehre des Hellenismus, die zum Vorbild wurde für viele folgende bis hin zu Elias Canettis "Der Ohrenzeuge". Mit Blick auf den Menschen der Gegenwart betreiben Monika Helfer und Michael Köhlmeier seine berühmten Charakterstudien weiter. Anhand von besonderen und alltäglichen Situationen oder auch gewitzten Dialogen halten sie uns den Spiegel vor - ein Geschenkbuch mit philosophischem Mehrwert und Selbsterkenntnis-Gefahr.

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Michael Köhlmeier

Monika Helfer

Der Mensch

ist verschieden

Dreiunddreißig Charaktere

Inhalt

Titel

1 Der Gewohnheitsmensch

2 Die Liebessüchtige

3 Die Einsame

4 Die Abgeklärte

5 Der Abgeklärte, zehnjährig

6 Der Stumpfsinnige

7 Die Schweigerin

8 Der Langanhaltend-Traurige

9 Die Feinste von den Feinen

10 Der Wüstenmacher

11 Der Vampirgewordene

12 Der Abgestürzte

13 Der Nimmersatte

14 Der Uferlose und die Furchtsame in Verbindung

15 Der Magenleidende

16 Der Sich-Unterwerfende

17 Die Eingebildet-Vergessliche

18 Der Immerzu-Dankbare

19 Der die Frauen sammelt

20 Der Gottkenner

21 Der-im-Spiegel

22 Die Kraftlos-Begabte

23 Die Extreme

24 Der Zaunzieher

25 Der Unfertige

26 Der Wortschöpfende

27 Der Nicht-an-das-Böse-Glaubende

28 Die Kunstverliebte

29 Der Erfolgsverwöhnte

30 Der Versagende

31 Die Auseinandersetzerin

32 Der Bunte

33 Von den Affen

1Der Gewohnheitsmensch

Über die Gewohnheit wurde schon viel geschrieben, und es gibt keinen Menschen und gab nie einen, der, vorausgesetzt es ward ihm genügend Zeit gegeben, nicht über sie nachgedacht hätte.

Aus dem Lehm der Instinkte formt der Gewohnheitsmensch die Seele, indem er nicht ruht, ein Gleiches oder doch ein Ähnliches zu tun, immer wieder – Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Spaziergang, Fernsehen, Gespräche mit der geliebten Frau, Gespräche mit dem geliebten Mann über die immer gleichen geliebten Themen ... – Was anderes ist Zivilisation als Wiederholung. Die Kunst der Gewohnheit ist die wahre Lebenskunst; sie ist die einzige Lebenskunst.

Die Meinungen aber, ab wann etwas zur Gewohnheit wird, gehen auseinander. Die einen sagen: Von Gewohnheit lässt sich bereits sprechen, wenn ein Mensch irgendetwas zum zweiten Mal genauso oder ähnlich tut wie beim ersten Mal. Andere sagen, es könne erst beim dritten Mal von Gewohnheit gesprochen werden, weil einmal und zweimal den Zufällen des Tages geschuldet sein könnten. Dann gibt es jene, die sich mit dem bloßen Aspekt der Wiederholung einer Sache oder einer Handlung nicht zufrieden geben, die zusätzlich fordern, die Wiederholung dürfe kein planmäßiges Ziel einer Absicht sein; müsse also aus dem quasi Vegetativen, aus einem Automatismus, einem Ritual, besser: aus dem Ritus heraus geschehen, der seine Blüte erst entfalte, wenn sein Ursprung vergessen sei. Letztere bestreiten, dass der Mensch sich zu einer Gewohnheit entschließen könne; eine beabsichtigte Gewohnheit gehe schon bald in der Langeweile unter.

Auch über die Frage, ob man nur beim Menschen oder auch bei den Tieren, vielleicht sogar bei den Pflanzen von Gewohnheit sprechen soll, wird debattiert; ebenso die Frage, was Gewohnheit in einem philosophisch-metaphysischen Sinn denn überhaupt sei. (Ob sie gottgewollt sei?) Die einen sagen, in der Gewohnheit ritualisiere sich die Urangst des Menschen vor Seinesgleichen. Die anderen spekulieren, in ihr manifestiere sich der Aufschrei gegen die fressende, vernichtende, alles dem Vergessen anheimgebende Zeit. Beide Schulen sind sich darin einig, dass die Gewohnheit erst den Menschen zum Menschen mache, denn ohne Erinnern sei Gewohnheit nicht denkbar, und nur die Fähigkeit, sich zu erinnern, gründe Kultur, Zivilisation, Staat und Religion. Dem widerspricht der Besitzer einer Hauskatze. Seine jedenfalls, argumentiert er, erinnere sich, wo das Loch in der Tür sei, durch das sie ins Freie und vom Freien zurück ins Haus komme.

Der Gewohnheitsmensch wirft zu einer genauen Tageszeit einen Stein aus dem Fenster, holt ihn wieder herein und legt ihn für den nächsten Tag auf dem Fenstersims bereit. Er ruht sich auf seinem Spaziergang immer unter demselben Baum aus, ob es regnet oder schneit, ob er müde ist oder nicht. Er schaut ins Tal und steht soldatisch, wenn die Kirchturmglocke zu läuten beginnt, genau dann, immer wieder, und das, obwohl er aus der Kirche ausgetreten ist und an Gott nicht glaubt. Genau so, hofft er, wiedergeboren zu werden.

2 Die Liebessüchtige

Liebessucht ist wie Krieg. Jede der beiden Parteien sagt: Wenn du so wärst, wie ich möchte, dass du bist, dann gäbe es keinen Krieg, also trägst du die Schuld. (Würde diese Definition nicht eher zu einer Überschrift wie Die Liebeskriegerin oder Die Hassliebende oder Die Eifersüchtige passen? Wir folgen der Definition von Sucht, nämlich, dass sie darin besteht, nicht aufhören zu können, und stellen fest, dass die Liebessüchtige nicht aufhören kann, Liebe zu wollen und sie auch bewiesen zu bekommen, zu jeder Stunde, an jedem Ort, was über kurz oder lang in Tyrannei ausartet, die über kurz oder lang zu Rebellion und Krieg führt, in dem sich, wie in jedem Krieg, die Frage stellt, wer trägt die Schuld, was von der Liebessüchtigen, wie oben beschrieben, beantwortet wird.)

„Wo warst du?“

„Muss ich dir antworten?“

„Niemand muss irgendetwas. Ich frage nur. Darf ich dich fragen, wo du warst?“

„Du darfst. Aber ich möchte dir nicht antworten.“

„Ich weiß es ohnehin. Ich wollte dir nur die Möglichkeit geben, ehrlich zu sein.“

„Ich antworte dir nicht, weil ich nicht unehrlich sein möchte.“

„Das sagt alles.“

„Was sagt das? Also bitte, was sagt das!“

„Das sagt: Wenn du redest, lügst du. Du schweigst, um nicht zu lügen. Also lügst du, wenn du redest. Also schweigst du.“

„Ich schweige ja gar nicht. Ich rede nicht weniger als du.“

„Aber du sagst mir nicht, wo du warst. Ich ertrage dieses Leben nicht mehr. Wenn du aus meinen Augen bist, stelle ich mir alles Mögliche vor, und womöglich stellst du Sachen an, die ich mir gar nicht vorstellen kann.“

„Ich glaube, ich wäre entsetzt, wüsste ich, was du dir alles vorstellst, dass ich anstelle.“

„Wenn du nicht bei mir bist, bist du dann so, wie wenn du bei mir bist?“

Wird die Liebessüchtige von ihrer Lust okkupiert wie ein friedliebendes Land von einer militärischen Supermacht, dann schlüpft sie in seidene Unterwäsche, als wäre sie ihre Uniform, parfümiert sich, als wäre jedes Dufttröpfchen eine Patrone, und setzt sich zwischen ihre Rosen wie in einen Jeep. Trotzdem: Das ist alles nur, als würde alter Kohl aufgewärmt. So sinnlos! So schamlos!

Die Liebessüchtige weiß, Bewunderung erfährt der Mensch nur, wenn er sich den Anschein zu geben versteht, dass seine Vorzüge – Herkunft, Schönheit, Talent – ihm gegeben wurden; glauben die Leute, sie stammten aus eigener Hand, rümpfen sie die Nase. Fleiß auf diesem Gebiet wird nicht geschätzt. Dabei: Was für einer Mühe bedarf es, sich die Sterne selber vom Himmel zu holen! Die ganze Innung ist blamiert! Anstatt mit Kusshand zu nehmen, was übrig geblieben ist, resignierte die Liebessüchtige verflossenen Stunden hinterher: „Man flog durch die Luft und ging zu Boden ...“ – Gewesene Pracht! – „Der Krieg war das Beste an uns!“ – „Die Liebesnächte in der Rudolf-Hilferding-Straße sind unauslöschlich!“

Immer ist der Ort der Liebessüchtigen entweder ein potemkinsches Dorf oder ein zerwühltes Bett oder der Schützengraben. Was muss man alles tun, um die Engel im Himmel pfeifen zu hören?

Um festzustellen, dass sich einer vom anderen unterscheidet und somit unvergleichlich ist, benötigen wir die Liebe – die Nase zum Riechen, die Ohren zum Hören, die Liebe, um ein Individuum vom anderen zu unterscheiden.

„Du hast auf mich gewartet? Bitte, frag mich nicht wieder, wo ich war.“

„Tu ich doch gar nicht. Ich dachte, du wirst Hunger haben. Ich habe etwas Kleines vorbereitet.“

„Ein bisschen Hunger habe ich, das ist wahr.“

„Einen Salat. Einen Brotsalat.“

„Ein Brotsalat? Was ist das?“

„Ich dachte, es ist nicht gut, wenn du mitten in der Nacht etwas Rohes isst ... Gurkensalat oder so ...“

„Es ist nicht mitten in der Nacht. Es ist über drei Uhr morgens ...“

„Ich habe nichts gesagt. Ich frage dich nicht, wo du warst ...“

„Dann tu es nicht.“

„Ich tu es nicht. Ich wollte sagen ... Ich habe Zwiebeln und getrocknete Tomaten in Öl angebraten, Knoblauch, nicht viel, dann Brotbröckchen dazu, vom frischen Brot, von unserem Roggenbrot, ebenfalls kross geröstet, in einer anderen Pfanne habe ich Streifen von Hühnerbrust angebraten, mit Sambal Oelek gewürzt, was soll ich sagen, ganz ohne etwas Grünes geht es ja doch nicht, ich habe im Supermarkt Salatherzen gekauft und Rucola, es wird so eine Art Caesar Salad, Parmesan darüber gehobelt und eine Joghurt-Sauce mit Olivenöl und dem guten italienischen Essig, den du gekauft hast ... am Schluss den Rucola darüber, trocken, einfach so ... Magst du probieren?“

„Und du lässt mich essen, und du wirst nicht ...“

„Nicht eine Frage werde ich dir stellen.“

Die Liebessüchtige altert nicht. An ihrem Ende ist sie immer noch eine Jugendliche, eine gebrechliche Jugendliche zwar, aber eine Jugendliche.

3 Die Einsame

Es gibt eine intentionale und eine existentielle Einsamkeit. Erstere dauert nur eine gewisse Zeit, ein paar Jahre vielleicht, meistens vom Tod zurückgerechnet. Die letztere beginnt eigentlich mit der Geburt. An die erstere gewöhnt man sich mit der Zeit, an die letztere nie. Beide interessieren uns in diesem Zusammenhang nicht – wohl aber der Übergang von einer zur anderen: diesen schwankenden, an seinen Grenzen undeutlichen Zustand nennen wir die Einsamkeit an und für sich.