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Wer bin ich? Was bedeutet Freiheit? Was ist Schönheit? Immer wieder stoßen wir im Leben auf ganz grundsätzliche Fragen und suchen in der Literatur und in der Philosophie nach Antworten. Michael Köhlmeier ist ein großer Erzähler und Konrad Paul Liessmann ein brillanter Philosoph, der sehr anschaulich erklären kann. Zu zwölf Schlüsselbegriffen unseres Lebens erzählt Michael Köhlmeier eine Geschichte, inspiriert von antiken Mythen oder Volksmärchen – anschließend zeigt Konrad Paul Liessmann in seiner Interpretation, was er daraus über die Spielregeln und Möglichkeiten unserer Welt herausliest. Ein großartiger Dialog, ein wunderbares Denk- und Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 196
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Wer bin ich? Was bedeutet Freiheit? Was ist Schönheit? Was macht die Lust mit uns? Immer wieder stoßen wir im Leben auf ganz grundsätzliche Fragen und suchen in der Literatur und in der Philosophie nach Antworten. Michael Köhlmeier ist ein großer Erzähler und Konrad Paul Liessmann ein brillanter Philosoph, der auch komplizierte Denkfiguren anschaulich erklären kann. Zu zwölf Schlüsselbegriffen unseres Lebens erzählt Michael Köhlmeier eine Geschichte, inspiriert von antiken Sagen oder Volksmärchen – anschließend zeigt Konrad Paul Liessmann in seiner Interpretation, was er aus diesen Geschichten über die Spielregeln und Möglichkeiten unserer Welt herausliest. Ein großartiger literarisch-philosophischer Dialog, ein wunderbares Denk- und Lesevergnügen.
Hanser E-Book
Michael KöhlmeierKonrad Paul Liessmann
Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?
Mythologisch-philosophischeVerführungen
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25416-9
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2016Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu
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Für Felicitas Feilhauer, ohne die es dieses Buch nicht gäbe.
Neugier
Arbeit
Gewalt
Rache
Lust
Geheimnis
Ich
Schönheit
Meisterschaft
Macht
Grenze
Schicksal
Das Paradies
Der Eine, der Ewige – Gott – stand auf seiner Erde und zog einen Kreis um sich, so weit sein Auge reichte, und bestimmte, dies solle das Paradies sein, und er erfand die Schönheit und schmückte mit ihr den Garten. Aber die Schönheit war nicht zu sehen, denn die Welt war noch dunkel. Da rief er Helel ben Schachar, den Sohn der Morgenröte, seinen Liebling, seinen Stellvertreter, der auch der Lichtträger genannt wird, Luzifer, und er befahl ihm, sein Licht auf das Paradies scheinen zu lassen, damit die Schönheit gesehen werden konnte.
Das war am ersten Tag der Schöpfung, an dem Gott sprach: »Es werde Licht!«
Luzifer stellte sich in die Fußstapfen Gottes und schickte sein Licht aus und sah, was er noch nie gesehen hatte: Schönheit. Und die Schönheit war so mächtig, dass er weinen musste. Da waren die Tränen erfunden. Aber Luzifer freute sich nicht über die Schönheit, er wurde neidisch. Er wurde neidisch, weil er solche Schönheit nicht erschaffen, weil er sie nur beleuchten konnte. Und da senkte er den Blick und sah an sich hinab und sah, dass die Fußabdrücke Gottes nur um ein Weniges größer waren als seine eigenen Füße. Da dachte er: Und wenn ich wäre wie er? Wenn ich sogar mächtiger wäre? Wenn ich ihn vielleicht sogar von seinem Thron stürzen könnte und mich zum Herrscher über die Welt ausriefe? Und er rief aus:
»Ich bin wie Gott!«
Da stand Gottes treuester Engel im Tor zum Paradies, in der Hand das Flammenschwert, und er rief zurück:
»Wer ist wie Gott?«
Und er hat sich damit seinen Namen gegeben: Michael.
Die beiden Engel, die größten und stärksten von allen, rangen miteinander, und Michael siegte in dem Kampf und stürzte den Lästerer in die Hölle. Aber bevor er fiel, griff Luzifer zum Himmel, um sich festzuhalten, und der Himmel riss unter seinem Gewicht, und so nahm Luzifer ein Stück des lebendigen Himmels mit hinunter in die Hölle. Dieses Stück wird es ihm erlauben, von Zeit zu Zeit in den Himmel zu steigen, um Gott zu besuchen und mit ihm zu sprechen – für eine knappe Frist nur, nie genug, um alles zu sagen, was er ihm gern sagen würde. Den Riss im Himmel kann man noch heute sehen: die Milchstraße.
Nun war es wieder dunkel, und Gott schuf die Sonne und die Sterne. Das war am dritten Tag, so steht es geschrieben.
Dann formte Gott aus Lehm den Adam und hauchte ihm Leben ein. Er formte ihn nach seinem Ebenbild: groß, mächtig, herrlich, schön. Durch nichts unterschied sich das Geschöpf von seinem Schöpfer. Da breiteten sich Unruhe und Verwirrung unter den himmlischen Heerscharen aus. Sie glaubten, ein neuer Gott sei gekommen, ein zweiter. Die einen meinten, der sei stärker als der erste, der alte, und sie schlugen sich auf seine Seite, dienerten sich ihm an. Die anderen rüsteten sich, um den ersten, den alten Gott zu schützen und seine Macht zu verteidigen. Die Dritten warteten ab.
Michael sagte zu Gott: »Ich rate dir, mach ihn kleiner, weniger mächtig, weniger herrlich, weniger schön, damit er sich von dir unterscheide.«
Und Gott nahm den Rat seines Treuesten an und verminderte den Adam.
Dann befahl er den himmlischen Heerscharen, sich vor Adam niederzuknien und ihm ihre Referenz zu erweisen. Und alle knieten sich vor Adam nieder, nur einer nicht: Samael.
Samael sagte: »Ich bin aus Ewigkeit gemacht, der nur aus Lehm, aus Erde, aus Dreck. Schon einmal hast du nachjustieren müssen. Woher wissen wir, ob er endgültig ist? Wenn bewiesen wird, dass er besser ist als ich, dann will ich mich gern vor Adam niederknien. Jetzt aber nicht.«
Gott hatte bereits die Tiere gemacht, aber er hatte ihnen noch keine Namen gegeben. Sie standen herum auf der Erde und warteten, und es war, als wären sie nicht, denn wer keinen Namen hat, der ist nicht. Gott kannte ihre Namen, aber er hatte sie noch nicht ausgesprochen.
»Ich werde euch drei meiner Tiere zeigen«, sagte er zu Samael. »Wenn du ihre Namen errätst, sollst du nicht niederknien müssen. Aber wenn Adam sie errät und du nicht, dann wirst du Luzifer in die Hölle nachfolgen.«
Das erste Tier hoppelte, hatte lange Ohren und einen kleinen buschigen Schwanz. Samael zählte alle seine Haare zusammen, dividierte sie durch die Anzahl der Beine, schaute ihm unter die Haut – aber er kam nicht drauf.
Da wandte sich Gott an Adam: »Has–t du eine Ahnung«, sagte er, »wie das Tier heißt?«
»Ha–se«, sagte Adam.
Und es war richtig! – Das zweite Tier hatte Flügel, aber es konnte auch schwimmen, es war weiß und sah sehr stolz aus und hatte einen roten Schnabel. Samael rechnete wieder, zog die dritte Wurzel und nahm zum Quadrat und schaute durch den Schnabel in das Tier hinein. Aber er wusste es wieder nicht.
Gott sagte zu Adam. »Adam, schwan-t dir, wie dieses Tier heißen könnte?«
»Schwan«, sagte Adam.
Auch das war richtig! – Das dritte Tier war sehr klein, es summte und flog von einer Blume zur nächsten. Samael mühte sich, erfand die höchsten Rechnungsarten, aber er wusste den Namen auch dieses Tieres nicht.
Gott sagte zu Adam: »Adam, mein Sohn, sag, biiin – ich zu Recht der Meinung, du kennst auch den Namen dieses Tieres?«
Und Adam antwortete: »Es ist die Biene.«
Da stand Michael schon hinter Samael, packte ihn und führte ihn hinaus aus dem Paradies und stieß ihn in die Hölle hinunter. Doch bevor er fiel, griff Samael nach einem der Flügel des Erzengels und riss eine Feder heraus. Diese Feder wird es ihm erlauben, von Zeit zu Zeit auf die Erde zu steigen, um die Menschen zu verführen.
Nun sollte Adam auch den anderen Tieren Namen geben. In einer langen Schlange standen sie an und warteten. Aber ihnen war nicht langweilig. Von jeder Tierart kamen nämlich zwei, ein Weibliches und ein Männliches, und die unterhielten sich gut miteinander, die Zeit wurde ihnen kurz, und bald waren sie zu dritt oder zu viert oder gar zu vielen.
Da wurde Adam traurig, und er sagte: »Ich will nicht länger allein sein. Ich möchte auch ein Weibliches neben mir!«
Und er gab keine Ruhe, und die Tiere mussten auf ihre Namen warten, und da wandte sich Michael an Gott und sagte: »Mach ihm ein Weib! Sonst wird deine Schöpfung nicht zu Ende geführt.«
»Ich wollte aber, dass er einmalig ist und einzig«, sagte Gott, »dass er unsterblich ist wie ich. Ich wollte nicht, dass er sich fortpflanzen muss.«
Aber Adam gab keine Ruhe, und da erfand Gott den Schlaf, und als Adam schlief, schnitt er ihm eine Rippe aus dem Leib und formte daraus Eva.
Nun war der Mensch, wie er noch heute ist. Gott führte Mann und Frau durch das Paradies und zeigte ihnen den Garten, der für sie gemacht war, und erklärte ihnen alles.
In der Mitte des Paradieses aber wuchs ein Baum. Er wuchs aus den Fußstapfen Gottes und aus den Fußstapfen Luzifers, es war der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
»Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr essen«, sagte Gott, »nur von diesem nicht. Wenn ihr von diesen Früchten esst, dann werdet ihr des Todes sterben.«
So lebten Adam und Eva im Paradies, und ein Tag war so schön wie der andere, und ein Tag war gleich wie der andere.
Und an einem dieser Tage hielt sich Eva in der Nähe des Baumes auf, sie lag im Gras und schaute in den Himmel. Da kam die Schlange und sprach mit ihr.
»Willst du nicht wenigstens eine dieser Früchte essen?«, fragte die Schlange.
»Das darf ich nicht«, sagte Eva.
»Wer hat es dir verboten?«
»Gott hat es uns verboten.«
Die Schlange aber war Samael, der mithilfe der Feder aus Michaels Flügel aus der Hölle gestiegen war. »Und weißt du, warum euch Gott verboten hat, von diesem Baum zu essen?«, fragte er weiter.
»Wenn wir davon essen«, erklärte es ihm Eva, »dann werden wir des Todes sterben.«
»Und was heißt das?«
Das wusste sie nicht.
»Warum fürchtest du dich, wenn du nicht weißt, was der Tod ist?«, fragte Samael.
Auch darauf konnte ihm Eva keine Antwort geben.
»Kann es sein, dass der Tod etwas Herrliches ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dass er vielleicht sogar das Herrlichste ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dass euch Gott alles gegeben hat, nur den Tod nicht – kann das sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gott hat Angst, dass ihr werdet wie er«, sagte Samael, und nun schmeichelte er und argumentierte und entkräftete und hetzte auch ein bisschen und machte schmackhaft und malte aus, wie es nur der Teufel vermag.
Und schließlich konnte Eva nicht anders, sie glaubte, nicht weiterleben zu können, wenn sie es unterließe: Sie pflückte eine Frucht von dem Baum und aß.
Und als Adam sah, was Eva getan hatte, da wollte er es auch tun, und auch er aß von dem Baum.
Da bebte die Erde. Sie bebte unter den Schritten Gottes. Adam und Eva versteckten sich im Gebüsch. Sie hockten im Gebüsch und rührten sich nicht, und sie betrachteten einander, als hätten sie einander noch nie gesehen. Sie sahen, dass sie nackt waren.
»Komm heraus, Adam!«, rief Gott.
Adam riss Blätter von den Sträuchern und hielt sie vor sein Geschlecht und trat vor seinen Schöpfer.
»Was tust du hier, was soll das?«, fragte Gott.
»Ich wollte nicht mit entblößter Scham vor dich hintreten«, sagte Adam.
Gott sagte: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?«
Darauf konnte Adam keine Antwort geben. Gott aber sah ein, dass sie sein Verbot nicht geachtet hatten, dass Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Und da verfluchte er sie.
Zu Eva sagte er: »Weil du das getan hast, sollst du unter Schmerzen Kinder gebären!« Zu Adam sagte er: »Du sollst im Schweiße deines Angesichts dein Brot essen!« Zur Schlange aber sagte er: »Weil du dich vom Teufel hast besitzen lassen, sollst du von nun an im Staub kriechen!«
Und wieder stand der Erzengel Michael am Tor, und wieder hatte er sein Flammenschwert in der Hand, und er führte Adam und Eva aus dem Paradies. Draußen waren die Nächte kalt und die Tage heiß, und gegen den Hunger mussten sie arbeiten, und vor den Gefahren mussten sie sich verbergen, und wenn die Zeit kam, die für sie bestimmt war, dann mussten sie sterben.
* * *
Nichts ist so verführerisch wie die Verführung. Das Lockende und Verlockende, die Andeutungen und Versprechungen, die Eröffnung von bisher ungeahnten Möglichkeiten, das Verlassen eines sicheren Bodens, das Umgehen des Gewohnten, das Faszinosum des Neuen: Wer wollte dem widerstehen?
Im Paradies – da muss es schön gewesen sein! Ja, so war es wohl. Am Anfang war die Schönheit, aber diese führte zu Wut, Trauer und Neid, und der Schöpfer des Menschen ähnelte weniger einem Gott in seiner Machtvollkommenheit als einem Bastler, der einiges ausprobiert, um dann bei einem Produkt zu landen, das nach kurzer Zeit wieder entsorgt werden muss. Diese Geschichte ist von Anbeginn an eine Geschichte des Aufbegehrens und der Vertreibungen. Die Schöpfung in ihrer Schönheit provoziert den Widerstand desjenigen, dessen Licht diese Schönheit sichtbar macht, ohne selbst daran Anteil nehmen zu können. In Luzifer vollzieht sich das Drama des Mediums, jener Instanz, die etwas ermöglicht, ohne gemeint zu sein. Das späte Credo Marshall McLuhans, das Medium selbst sei die Botschaft, könnte auch als luziferischer Reflex gedeutet werden, als Aufstand des Mittlers gegen das Vermittelte, als Protest des Trägers gegen das Getragene, als Rache des Boten an der Botschaft. Luzifer hatte, wie jedes Medium, für diese Hybris zu bezahlen.
Die Geschichte vom Anfang der Welt ist aber auch eine Geschichte von Ordnungen, von Hierarchien. Wer passt in wessen Fußstapfen, wer kann an wessen Stelle treten, wer ist ersetzbar, wer muss die Überlegenheit des anderen anerkennen? Dieser Kampf um Anerkennung beginnt mit einer einfachen Frage: Warum er und nicht ich? Sind wir nicht alle gleich? Wer darf ein Vorrecht beanspruchen? Gott kann in diesem Mythos seine Ansprüche noch durchsetzen und Luzifer, den Aufbegehrenden, der ihm gleichen will, aus seinem Paradies verbannen. Aber wir spüren, dass ein Schatten auf Gottes Allmacht gefallen ist.
Die eigentliche Dimension der Geschichte vom Paradies erschließt sich allerdings erst durch das Schicksal, das der Mensch in diesem Garten Eden erleidet. Der Mythos erzählt, dass der Mensch ursprünglich nahezu gottgleich war, um dann ein wenig reduziert zu werden, damit nicht Chaos und Verwirrung ausbrächen. Der Ehrgeiz, Dinge zu machen, die ihrem Schöpfer gleichen, ja diesen vielleicht sogar übertreffen, ist gefährlich. Man könnte daraus auch eine Klugheitsregel für Kreative im Allgemeinen, für die Programmierer der Künstlichen Intelligenz im Besonderen ableiten: Mache deine Geschöpfe immer ein klein wenig kleiner, geringer, weniger leistungsfähig, als du selbst es bist. Wie es aussieht, setzen wir viel daran, das Gegenteil zu erreichen.
Um dem kleiner gemachten Adam dennoch im Paradies einen Vorrang einzuräumen, muss Gott zu dem einen oder anderen Trick greifen. Dass dies bei der Verleihung von Namen an die Tiere geschieht, kommt nicht von ungefähr: Etwas zu benennen, ein Wort, einen Begriff für eine Sache zu finden, markiert nicht nur einen Herrschaftsanspruch, sondern garantiert auch Ordnung und damit Orientierung. Erst jetzt weiß Adam, wo er sich befindet und mit wem er lebt. Und deshalb weiß er auch, dass er allein ist. Mit der Gefährtin, die Gott ihm gibt und durch die er zu einem sozialen Wesen wird, verliert er seine Einzigartigkeit und – seine Unsterblichkeit. Wie das? Wusste oder ahnte Gott, dass Adam und Eva seine Gebote übertreten und damit dem Tod verfallen werden?
Die Deutungen des Paradieses ranken sich deshalb um jenen Akt, durch den der Mensch zum Menschen wurde. Die Sprache der Theologie nennt dies den Sündenfall. Aber was heißt Sündenfall? Wurde nicht dadurch der Mensch überhaupt erst zum Menschen? Und heißt Menschsein eben nicht, vom Baum der Erkenntnis essen zu müssen? Wären wir ohne diesen Genuss und das damit gewonnene Selbstbewusstsein nicht Tiere geblieben? Warum aber kam damit auch das Böse in die Welt? Dahinter verbirgt sich noch eine andere Frage: Waren die Menschen erst zum Bösen fähig, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hatten, oder war das Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen selber schon die erste böse Tat? In welcher Situation waren die ersten Menschen eigentlich, als sie wussten, von allen Bäumen dürfen sie essen, nur von einem nicht?
Tatsächlich ist es dieses Verbot, das alles anders macht. Das Leben im Paradies kann, nachdem dieses Verbot ausgesprochen worden war, nun nicht mehr einfach gelebt werden, es kreist um einen kritischen Punkt, kehrt immer wieder zu diesem zurück. Es gibt etwas, das man tun könnte, aber nicht tun sollte. Das Verbot eröffnet die eine Möglichkeit, die unbekannte Folgen nach sich ziehen könnte. Das Verbot zwingt zu einer Entscheidung: gehorchen oder übertreten. Das Verbot erzeugt so ein widersprüchliches Gefühl: Angst und Neugier. Angst, weil die Folgen des Handelns im Unbekannten liegen, Neugier, weil dieses Unbekannte aufgedeckt werden will. Ich kann etwas machen und warten, was dann geschieht. Es wäre dies weniger eine theoretische Neugierde, die nur erkennen will, sondern eine praktische Gier, die etwas Neues in Erfahrung bringen möchte. Es ist eine seltsame Lust mit dieser Neugier verbunden: die Lust, etwas auslösen zu können, das vielleicht nicht mehr kontrollierbar ist. Ist die Spaltung des Atoms, sind die aktuellen Experimente mit der genetischen Ausstattung des Menschen denkbar ohne diese Lust?
Das Verbot ängstigt die ersten Menschen aber auch, weil mit der Möglichkeit unvorhersehbarer Möglichkeiten zum ersten Mal die Freiheit radikal ins Bewusstsein treten muss. Es war der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, der diesen Aspekt ins Zentrum seiner Deutung des Sündenfalls gerückt hatte. Natürlich: Gott kündigt die Konsequenzen an, die das Essen vom Baum der Erkenntnis nach sich ziehen würde: So wirst du gewisslich des Todes sterben. Aber was heißt das schon? Im Paradies wird nicht gestorben, weder Adam noch Eva wissen, was das bedeuten mag, und die Schlange – oder ihre innere Stimme – macht sich dies zunutze: Vielleicht ist der Tod ja eine Kostbarkeit, die Gott seinen Geschöpfen vorenthalten will? Die Möglichkeit, etwas zu können, die durch das Verbot geweckt wurde, rückt gerade durch die Androhung einer Konsequenz näher. Damit aber ist plötzlich ein prinzipiell unabgeschlossener Freiheitsraum eröffnet.
Reicht Neugier aber, das Verbot zu übertreten? Muss nicht unterstellt werden, dass zumindest eine Ahnung davon da war, dass das Übertreten eines göttlichen Verbotes nicht richtig sein kann? Muss vielleicht sogar schon vor dem Sündenfall die Sünde als der Wille, etwas Böses zu tun, im Keim vorhanden sein? Oder zeigt das Verbot nur, dass der Mensch ein freies Wesen ist, aber in dieser Freiheit und nur in ihr das Böse sich verbirgt, mit diesem zusammenfällt? Ist Freiheit nur dann Freiheit, wenn sie auch die Möglichkeit zum Bösen enthält?
In diesem Zusammenhang drängt sich ein Gedanke auf, der auch den heiligen Augustinus beunruhigt hatte: dass sich in diesem Willen zum Bösen die eigentliche Menschwerdung ereignet. Denn nur der böse Wille – gespeist aus Hochmut, Hybris und Neugier – ist ausschließlich Sache des Menschen. Das Böse ist das, was der Mensch selbst tut, aus seinem Willen, nicht nach dem Willen Gottes. Wer sich an ein Verbot hält, orientiert sich an einem Außen, an einem Anderen, an einem Gesetz. Wer ein Verbot übertritt, ist damit ganz bei sich. Eva konnte von der Schlange, und Adam von Eva nur verführt werden, weil es eine Verführung zu sich selbst war. Jede Verführung verführt zu Möglichkeiten, die im tiefsten Inneren des Menschen schlummern.
Wer vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen isst, der weiß: Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung sind ohne das Böse nicht möglich. Diese Erkenntnis tut weh, Gott wollte sie uns ersparen, die Moral möchte sie negieren. Deshalb konnte Friedrich Nietzsche einmal mit Recht anmerken, das erste Gebot aller Moral laute: Du sollst nicht erkennen. Das Böse als eigene, ja den Menschen konstituierende Kraft zu akzeptieren fällt in der Tat schwer. Lieber deutet man das Böse als ein Gebrechen, als einen Defekt, eine Abweichung, als Mangel an Gutem.
Die Beschreibung des Bösen als Gebrechen impliziert, dass es letztlich therapierbar ist. Das aufgeklärte Zeitalter, ob biologistisch oder psychologistisch orientiert, ist fasziniert von der Möglichkeit, die Defizite von Natur und Gesellschaft auszugleichen, ja es bezieht aus dieser Möglichkeit seine so großartigen wie fragwürdigen Impulse zur Verbesserung des Menschen, von den großen Revolutionen, die den neuen Menschen kreieren sollten, bis hin zu den jüngsten Visionen einer gentechnischen Korrektur des von der Schöpfung offenbar mit dem Makel des Bösen ausgestatteten Menschen. Und manche Internet-Visionäre träumen von einer Gesellschaft, in der alle Menschen so vollständig transparent und kontrolliert sind, dass sie nicht einmal mehr auf die Idee kämen, etwas Böses zu tun. Nur glichen diese Menschen den Automaten, die sie kontrollieren, hätten die Freiheit und damit sich selbst verloren. Manche halten diesen Zustand ja noch immer für das Paradies.
Das Paradies ist kein Ort des Friedens und der Freude, auch kein Ort der Hoffnung und der Sehnsucht, sondern ein Ort einer schmerzhaften Geburt: der des freien, selbstbewussten, sich seiner Sterblichkeit bewussten Menschen. Immanuel Kant deutete als einer der Ersten das Paradies als den Zustand einer harmlosen und sicheren Kindespflege, der verlassen werden muss, um sich als selbstbewusstes und vernünftiges Wesen der Welt zu stellen; Friedrich Schiller nennt den Sündenfall die größte Begebenheit der Menschheitsgeschichte, denn mit diesem beginnt die Geschichte der Freiheit. Und auch G. W. F. Hegel weiß: Mit dem Sündenfall und dessen Konsequenzen gewinnt der Mensch seinen Geist, und er kann nun den Park, der nur für Tiere, nicht für Menschen geeignet ist, verlassen. Denn eines ist für Hegel klar: Im Erkennen, aber auch nur in diesem, ist der Mensch durch den Sündenfall tatsächlich gottgleich geworden.
Entscheidend am Paradies ist, dass wir daraus vertrieben worden sind. Paradieserzählungen sind Verlustanzeigen, und als solche geben sie Auskunft über das, was es heißt, Mensch zu sein. Denn die Befindlichkeit des Menschen ist postparadiesisch – und damit haben wir alle Unschuld verloren. Unschuld war der Zustand einer Natürlichkeit gewesen, in der alles Notwendigkeit und nichts Freiheit, alles selbstverständlich und nichts fraglich war. Die Scham, die die ersten Menschen befällt, als sie nach dem Genuss der verbotenen Früchte sahen, dass sie nackt waren, ist Ausdruck dieser nun verlorenen Unschuld.
Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Diese Frage Gottes trifft ins Mark und ist doch rhetorisch. Es gab niemanden, der dies hätte kundtun können. Adam hatte selbst die Augen aufgeschlagen und seine Natur, seinen Körper, sein Geschlecht als Makel erkannt. Er ist nun kein unschuldiges Kind mehr. Er weiß sich in Differenz zu seiner Natur. Und diese ist Begierde, Trieb, Lust, Sexualität, Leidenschaft. Die Ordnung des Gartens Eden ist aus den Fugen. Und diese Fugen sind nicht mehr zu kitten. Es gibt keine Rückkehr ins Paradies, auch wenn die Sehnsucht danach ungebrochen ist. Jedes Zurück zur Natur, jede Verklärung eines kindlichen und damit unschuldigen Zustandes möchte gleichsam den Preis der Freiheit nicht zahlen. Zu diesem Preis gehört aber auch die furchtbare Einsicht in unsere Sterblichkeit. Auch wenn wir es so genau gar nicht wissen wollten: Wer neugierig ist, muss mit allem rechnen.
Daidalos
Daidalos war der berühmteste Erfinder der Antike. Lange hielt die Göttin Pallas Athene ihre Hand über ihn. In seiner Jugend war er Bildhauer gewesen. Er baute Menschen nach. Die stellte er in Athen auf dem Marktplatz auf. Dann hat er gehorcht, was die Leute sagen. Sie sagten: »Diese Figuren, die sehen fast so aus, als ob sie lebten. Fast!«
Dieses »fast« machte ihn zornig. Er hat geforscht. Und er kam drauf: Die Bewegung fehlte. Da hat er aus seinen Figuren Maschinen gemacht. Nun bewegten sie sich.
Und was geschah? Nichts geschah. Gar nichts. Die Leute sagten: »Man hat schon lange nichts mehr von Daidalos gehört. Was macht er? Macht er noch etwas?«
Seine Figuren, die sich auf dem Marktplatz von Athen bewegten, sahen aus wie lebendige Menschen. Niemand konnte sie von lebendigen Menschen unterscheiden, und niemand hat sich um sie gekümmert.
»Lass die Kunst!«, flüsterte ihm Athene ein. »Künstler gibt es viele. Erfinder, wie du einer bist, gibt es keinen und gab es nie einen.«