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Ein beeindruckender Roman über Schule, Gewalt, Schuld und Sühne. Eine Untat, die vor fünfundzwanzig Jahren begangen wurde, wird anhand eines gnadenloses Frage- und Antwortspiels nach und nach aufgedeckt: In der Klasse eines Jungeninternats war ein Mitschüler zusammengeschlagen worden. Alle damals an der Prügelei Beteiligten werden nun befragt. Jeder der inzwischen Erwachsenen redet sich seine eigene Schuld klein. Auf beklemmende Weise wird deutlich, wie leicht das Verdrängen, Vergessen und Beschönigen fällt. Michael Köhlmeier, einer der bedeutendsten Schriftsteller aus Österreich, erzählt in die "Musterschüler" eine Schulgeschichte, die zu den bedeutendsten Mustern des Genres gehört.
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Seitenzahl: 884
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Hanser E-Book
Michael Köhlmeier
Die Musterschüler
Roman
Carl Hanser Verlag
Die Erstausgabe erschien 1993
im Piper Verlag, München
ISBN 978-3-446-25158-8
© 2010/2015 Carl Hanser Verlag München
Umschlag: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Marc Refior
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für meine Mutter, Paula Köhlmeier, 1988
Weil folgen werden Feuer dem Orkan,
Orkan und Nacht, erinnert es sich doch:
Halb Lehm; in fremder Hand gemacht; noch kroch
Es ohne jeden Plan; eint’ Aug und Zahn;
Im Hirn regiert ein Hundeuntertan;
Läuft allem vor die Stirn; es schläft im Loch;
Träumt einen Gott, in den, als wär’s sein Joch,
Dies Tier sich krümmt. Er sieht mit Spott es an.
Ich höre noch, todmatt: Die Chronik spricht
Ein Wort am Anfang, Münder sind noch stumm.
Wer hier verkehrt, kommt dort am Ende um.
Ein Kind liegt da, hat Erde im Gesicht,
Liegt da, der Rücken krumm. Ein Traumgesicht
Trennt Nacht von Licht. Mich schreckt es nicht.
»Erkennst du ihn? Schau das Bild an.«
»Der mit der Stehfrisur. Gebhard Malin. In der ersten Reihe, der dritte von links, ganz vorne bei denen, die sitzen. Ein bißchen kleiner als die anderen.«
»Was aus ihm geworden ist, weißt du nicht?«
»Weiß ich nicht, nein.«
»Und die anderen wissen es auch nicht?«
»Wissen es auch nicht.«
»Du hast mit ihnen gesprochen?«
»Ja.«
»Mit allen?«
»Mit jedem aus der Klasse.«
»Und worüber habt ihr gesprochen?«
»Über alles. Über die ganze Zeit damals. Hauptsächlich aber über jenen Nachmittag. Mit den meisten habe ich hauptsächlich über jenen Nachmittag gesprochen …«
»Den Nachmittag, als er verprügelt worden ist?«
»Darüber haben wir hauptsächlich gesprochen.«
»Warum ist er verprügelt worden?«
»Der Anlaß war eine Lateinschularbeit … Ja. Immer nimmt man einen Anlaß für eine Ursache. Weil man nichts anderes bekommt. Man sagt, das war der Anlaß, und sucht nach der Ursache und findet doch wieder nur einen Anlaß. Und schließlich hat man sich bis zu einem Ende durchgefragt, und das Warum ist beantwortet, aber nichts ist geschehen … Ein Katalog von Anlässen …«
»Dann gehen wir ihn eben durch.«
»Ja.«
»Er ist also wegen einer Lateinschularbeit verprügelt worden?«
»Wegen einer Lateinschularbeit. Das war der Anlaß. Wir haben am Vormittag eine Lateinschularbeit zurückbekommen.«
»In welcher Klasse war das?«
»In der dritten Klasse. In der dritten Klasse Gymnasium. Humanistisches Gymnasium.«
»In welchem Jahr?«
»1963. Im November.«
»Wie alt wart ihr?«
»Dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Ich vierzehneinhalb. Er fünfzehn.«
»Das war ein Internat?«
»Ein Heim, ja. Missionsseminar hat es offiziell geheißen. Hat aber niemand so genannt … Es hieß Das Heim …«
»War das eine besondere Schularbeit? Ich meine, war sie irgendwie außergewöhnlich?«
»Die Schularbeit an sich war nicht außergewöhnlich. Die Umstände waren es vielleicht. Die hatten gar nichts mit ihm zu tun, mit dem Gebhard Malin. Da war drei Wochen vorher die Sache mit Allerheiligen gewesen. An diese Allerheiligen erinnern sich übrigens heute noch alle. Die einen meinen allerdings, das sei ein Riesenspaß gewesen … War es in gewisser Hinsicht auch …«
»Was war an diesen Allerheiligen?«
»Am Tag vor Allerheiligen hat der Präfekt die Schüler der ersten, zweiten und dritten Klassen geprüft. Es ging um die Heimfahrt. An Allerheiligen waren drei Tage Ferien. Da durften wir nach Hause fahren. Das heißt, nur jene Schüler durften nach Hause fahren, die bei der Prüfung bestanden hatten. Das war so üblich. Vor allen Ferien wurde geprüft. Latein. Immer Latein. Bei den längeren Ferien – Weihnachten, Ostern oder den Sommerferien – ging es natürlich nicht um die ganzen Ferien, sondern höchstens um einen Tag … Daß man erst einen Tag später nach Hause fahren durfte. Wenn man die Vokabeln oder die Grammatik nicht konnte. Das war ärgerlich, lästig. An Allerheiligen ging es um die ganzen Ferien, und das war dann bitter, wenn die gestrichen wurden.
Einen Tag vor der Prüfung wurde die Prüfungsordnung festgelegt, die Reihenfolge, in der die Klassen drankamen. ›Vorprüfung‹ wurde das genannt. Besser war es, wenn man zuerst drankam. Dann durfte man früher gehen.«
»Und wie wurde die Prüfungsordnung festgelegt, die Reihenfolge? Wie sah diese ›Vorprüfung‹ aus?«
»Das war eine Zeremonie. Wir mußten uns am Abend vor der eigentlichen Prüfung im Schlafsaal neben unsere Betten stellen. Die Schlafanzüge hatten wir schon angezogen. Die Betten waren noch unberührt. Da hat jeder darauf geachtet, daß sein Federbett wie ein eingepacktes Stück Butter dalag und daß das Leintuch straff war und das Kopfkissen an der richtigen Stelle, auf den Zentimeter genau. Es hätte ja sein können, daß der Präfekt vorher noch die Reihen abgeht. Es war jedenfalls alles perfekt. Die Betten konnten ihm nicht als Vorwand herhalten …«
»Als Vorwand wofür?«
»Für irgendwas … Schlampiger Bettenbau – Prüfung wird verschoben oder findet erst gar nicht statt … oder sonst etwas. War ja nicht berechenbar …«
»Gut. Weiter …«
»Ja. Dann hat der Schlafsaalcapo an die Tür zum Präfektenzimmer geklopft – der Präfekt hatte sein Zimmer direkt neben dem unteren Schlafsaal – und der Präfekt hat geantwortet ›Intra!‹, und der Capo ist eingetreten und hat gemeldet, daß wir bereit sind.«
»Wer war Schlafsaalcapo? Wie ist man Schlafsaalcapo geworden?«
»Das hat die Heimleitung bestimmt. Im unteren Schlafsaal war das ein Schüler der sechsten Klasse. Im oberen Schlafsaal hat es keinen Capo gegeben. Außer in besonderen Fällen. Wenn eine Klasse aufmüpfig war, wenn es Spannungen gab, die über das normale Maß hinausgingen, wenn zwei Buben in einem Bett entdeckt worden waren und so weiter.«
»Welche Kompetenzen hatte der Schlafsaalcapo?«
»Ich glaube, er durfte alles. Wenn im Schlafsaal Ruhe war, hat keiner danach gefragt, wie er das zustandegebracht hatte. Strafen – halt die üblichen Sachen: neben das Bett knien; schlimmer: neben das Bett knien und die Arme ausstrecken. Manchmal hat er einem einen Lexikonband auf die ausgestreckten Arme gelegt oder hat einen auf zwei Bleistiften knien lassen oder alles zusammen. Die Capos haben alle Monate gewechselt. Da ist reihum jeder Sechstkläßler drangekommen. Einer, erinnere ich mich, der war sehr nett. Der hat vor dem Einschlafen aus einem Buch vorgelesen. Da war dann die einzige Strafe, daß er nicht vorgelesen hat. An ein Buch erinnere ich mich noch. Es hieß Die Herrgottsschanze … war ein Roman über die Französische Revolution … aus katholischer Sicht … – Einen anderen Capo gab es, der ließ einen neben seinem Bett knien, wenn man geschwätzt oder sonst Blödsinn gemacht hat, und dann mußte man ihm einen runterwixen. Das war alles …«
»Und was wäre gewesen, wenn man das der Heimleitung gemeldet hätte?«
»Das hätte einen Wirbel gegeben. Sicher. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß das je geschehen wäre.«
»Welche Klassen waren im unteren Schlafsaal?«
»Erste, zweite und dritte.«
»Und an dem Tag vor Allerheiligen … was war da für ein Schlafsaalcapo dran?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube der Geschichtenvorleser. Ich bin mir aber nicht sicher …«
»Also, der Schlafsaalcapo hat beim Präfekten Meldung gemacht, daß alle Schüler neben ihren Betten stehen. Was geschah dann?«
»Der Präfekt trat vor uns hin und sagte: ›So, morgen werdet ihr in euren Leistungen von mir beurteilt werden. Und heute werdet ihr meine Leistungen beurteilen.‹
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