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Mit 35 ist Katharina immer noch Assistenzärztin. Als Alleinerziehende geht es halt nicht ganz so schnell wie bei den jüngeren Kollegen. Doch eigentlich hat Katharina von Hamburg eh die Nase voll. Sie will in die Berge und nimmt kurzerhand eine Stelle am Chiemsee an. Herrliche Landschaft, bessere Arbeitszeiten und wieder mehr Zeit für Tochter Nina. Aber auch im schönen Bayern ist nicht immer eitel Sonnenschein. Zum Glück ist da noch Kollege Felix, ein wahrer Fels in der Brandung im Chaos aus Klinikalltag, intriganten Kollegen und einer pubertierenden Tochter. Katharina merkt, dass eine einzige Veränderung im Leben manchmal nicht genug ist.
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Das Buch
Katharina ist mit fünfunddreißig Jahren immer noch Assistenzärztin in Hamburg. Als alleinerziehende Mutter einer dreizehnjährigen Tochter hat sie sich mehr schlecht als recht durchschlagen müssen und ihre Ausbildung nie beendet. Da bekommt sie das Angebot, an den Chiemsee zu ziehen und dort ihre Facharztausbildung endlich abzuschließen. Katharina ist begeistert. Ihre Tochter Nina allerdings weniger. Nina steckt mitten in der Pubertät und findet ihre unkonventionelle und zur Esoterik neigende Mutter meistens peinlich. Katharina macht diesmal aber Nägel mit Köpfen. Kaum im idyllischen Seebruck am Chiemsee angekommen, merkt sie allerdings, dass auch hier nicht immer eitel Sonnenschein herrscht. Die Assistenzärzte an der Klinik benehmen sich alles andere als kollegial, ihr neuer Chef hat eigene Sorgen, und Nina ist immer noch beleidigt wegen des Umzugs. Immerhin gibt es einen Lichtblick am Horizont: Felix, der eigentlich Lehrer an Ninas neuer Schule ist, unterrichtet auch Krankenhauskinder. Ein Mann, in den man sich durchaus verlieben könnte. Theoretisch. Denn Katharina hat sich fest vorgenommen, sich ganz auf ihre Tochter und ihre Karriere zu konzentrieren …
Die Autorin
Caroline Lenz, geboren 1981, hat Medizin studiert und arbeitet seit einigen Jahren als Kinderärztin in München. Wann immer ihr der Dienstplan Zeit dazu lässt, widmet sie sich ihrer Leidenschaft, dem Schreiben. Apfelstrudelküsse ist ihr dritter Roman.
Von Caroline Lenz sind in unserem Hause bereits erschienen:
Dann klappt’s auch mit dem Doktor
Ein Kerl zur Brotzeit
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1392-4
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage März 2017
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © plainpicture/Johner/Lisa Björner
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 1
»So, das war der Letzte«, stöhnte Katharina erleichtert und stellte den schweren Umzugskarton mitten im Wohnzimmer ab. Oder besser gesagt dort, wo sich das Wohnzimmer mal befinden würde, wenn es kein Kistenlager mehr war. Sie strich sich eine widerspenstige Locke aus der verschwitzten Stirn, streckte sich und ließ sich mit einem lauten Seufzer auf das ausladende, mit dunkelrotem Samt bezogene Sofa gegenüber dem offenen Kamin fallen.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, schimpfte Nina, ihre dreizehnjährige Tochter, die bereits damit beschäftigt war, das Tongeschirr in die Vitrine im angrenzenden Esszimmer einzuräumen.
»Was denn? Jetzt mach mal nicht so ’nen Stress. Eine alte Frau ist kein D-Zug.« Katharina schlüpfte aus ihren bequemen Schuhen und legte die Füße hoch.
»Mama, du bist fünfunddreißig, von wegen alt! Jetzt hilf mir mal.« Wütend klapperte Nina mit den Tellern. »Hast du dir überhaupt mal überlegt, was wir heute essen?«
»Wir haben irgendwo noch Brot. Lass uns doch zum Einstand eine richtige Brotzeit machen.«
»Ja, irgendwo. Irgendwo ist immer alles.« Das Tellerklappern wurde lauter. »Oh Mann, was ist das denn?« Nina baute sich vor ihrer Mutter auf und hielt ihr mit spitzen Fingern einen hautfarbenen Tanga entgegen.
»Das, mein liebes Kind, ist Unterwäsche, Naturbaumwolle, Fair Trade.«
»Das sehe ich auch«, patzte Nina, »was bitte hat die im Geschirr zu suchen?«
»Die füllt da Platz aus. Damit die Kisten nicht so schwer sind. Du hast ja auf diesem Packsystem bestanden, von wegen Platz und Gewicht ausnutzen und so. Kein Wunder, dass ich nicht mehr weiß, was wo ist.«
»Das ist eklig.« Nina warf das Höschen auf das Sofa.
»Das ist frisch gewaschen, jetzt stell dich nicht so an.«
Katharina rollte mit den Augen. Womit hatte sie eigentlich so eine spießige Tochter verdient? Und seit wann war Nina eigentlich so zickig?
Träge richtete sie sich auf und zog die Beine an. »Komm, jetzt setz dich erst mal her und atme tief durch.«
»Ich werd jetzt keine dämlichen Entspannungsübungen machen.«
»Komm trotzdem mal runter, dann geht das Auspacken nachher wie von selbst.«
»Na wer’s glaubt«, grummelte Nina und nahm widerwillig neben ihrer Mutter Platz.
»Wir haben noch so viel zu tun, und morgen geht die Schule los, und du hast doch bestimmt wieder überhaupt nichts organisiert«, Nina traten die Tränen in die Augen.
»Schhh, meine Kleine, ist ja gut. Wir haben noch den ganzen Tag Zeit, alles zu regeln.« Katharina legte einen Arm um ihre Tochter und zog sie an sich. Doch im Gegensatz zu früher lehnte ihre Kleine sich nicht mehr vertrauensvoll an sie, sondern versteifte sich unter ihrer Berührung.
Bekümmert strich Katharina ihrer Tochter über den Kopf. Sie hatte sich verändert in der letzten Zeit. War sie bislang mit ihren kastanienbraunen Kringellocken, den vorwitzigen Sommersprossen und den goldbraunen Augen eine kleine Miniaturausgabe ihrer selbst gewesen, so glättete sie ihre Haare jetzt und trug seit einigen Wochen perfekt gebügelte Blusen, die sie akkurat in ihren Jeanshosenbund steckte. Fehlte nur noch, dass sie den Blusenkragen hochstellte. Katharina schauderte bei dem Gedanken. Spießigkeit und Konventionen waren ihr ein Graus. Die hatte sie ihre ganze Kindheit lang ertragen müssen und wollte sie ihrer Tochter ersparen.
Nina schniefte hörbar. Katharina fischte ein verkrumpeltes Stofftaschentuch aus ihrer weiten Leinenhose und reichte es ihr.
»Das ist doch bestimmt schon benutzt.« Nina schob ihre Hand weg. »Mama, das ist echt eklig.«
»Mensch bist du etepetete geworden. Wenn du so weitermachst, wirst du noch mal so ’n Sauertopf wie Oma.« Katharina zog eine Grimasse und versuchte ein sehr verbittertes Gesicht zu imitieren.
Wider Willen musste Nina lachen. »Oma muss wenigstens nicht in dieses Kaff nach Bayern ziehen.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
»Na, Lübeck ist auch nicht der Nabel der Welt.«
Nina lächelte schief. »Ich mach mal lieber weiter. Sonst werden wir nie fertig.« Sie stand auf, ging ins Esszimmer und klapperte weiter eifrig mit den Tellern.
»So kaffig ist das hier gar nicht. Das ist ein Eins-a-Urlaubsort, pass auf …« Katharina griff nach ihrer großen ausgeblichenen Stoffhandtasche, die auf einer Umzugskiste neben dem Sofa lag, und wühlte eine Weile darin herum. Schließlich hielt sie das Gesuchte in den Händen. »Hier, ich hab uns letzte Woche auf dem Flohmarkt extra einen Reiseführer besorgt.«
Schweigen und Tellerklappern.
Katharina ließ sich davon nicht beirren. Sie blätterte in dem Buch und las begeistert vor: »Seebruck, am Nordufer des Chiemsees gelegen, bietet Ihnen verschiedenste Möglichkeiten für einen spannenden Urlaub.«
Schweigen.
»Lass uns nachher mal an den See gehen. Der ist phantastisch. Mit einer Fläche von neunundsiebzig Komma neun Quadratkilometern der größte See in Bayern. Das bayerische Meer!«
»Wasser hatten wir in Hamburg auch.«
»Ach Mensch, Nina! Jetzt sei nicht so negativ. Du wirst sehen, es wird uns hier gut gefallen.«
»Klar.« Tellerklappern.
»Das ruhige Landleben tut dir bestimmt gut. So ohne Großstadtstress und so. Entschleunigung! Ohne den ganzen Medien- und Internetscheiß.«
»Sicher.«
»Der Ort ist zauberhaft. Und schau dich doch mal um. Wir haben so eine schöne Wohnung gefunden.«
»Hier herrscht nur Chaos! Kisten. Kisten. Kisten! Und Du hast natürlich wieder die Ruhe weg«, blaffte Nina sie an, stürmte durch den Raum in den Flur und knallte die Tür hinter sich zu.
Seufzend ließ Katharina das speckige, an den Ecken ausgefranste Buch sinken. Sie war die ganze Nacht gefahren. Mit ihrem völlig überladenen alten VW-Bus waren sie nicht so schnell vorangekommen. Jetzt war sie müde und hatte keine Kraft, sich weiter mit ihrer Tochter auseinanderzusetzen. Die würde sich schon wieder beruhigen.
Gut, dass die Wohnung fast vollständig möbliert war. Katharina legte sich wieder hin und sah sich im Raum um. Nun ja, überall standen Kisten und Seesäcke herum, aber sie konnte schon sehen, wie hübsch es werden würde. Vom rechteckig geschnittenen Wohnzimmer mit den großen Panoramafenstern ging L-förmig das Esszimmer ab. Es war mit einer Buchenholzvitrine, dem dazu passenden großen Esstisch für acht Personen und den alten Holzstühlen vollständig eingerichtet. Katharina liebte warme Holz- und Naturtöne. Deshalb hatte sie die Wohnung auf Anhieb gemocht. Neben dem Kamin im Wohnzimmer waren rechts und links in einer Nische Bücherregale eingebaut. Der Couchtisch war aus altem Wurzelholz. Am besten gefiel ihr das rote Samtsofa mit den beiden dazu passenden Sesseln. Vom Esszimmer aus sah man gleich in die offene kleine Küche. Katharina kochte nicht besonders gern, aber die Einbauschränke aus Buchenholz waren sehr hübsch.
Die ganze Wohnung war mit hellen Holzdielen ausgelegt. Katharina atmete tief ein. Ach, dieser altmodische Geruch von Bohnerwachs, herrlich, dachte sie.
In Gedanken durchschritt sie weiter ihr neues Reich. Über den Flur mit der eingebauten Garderobe gelangte man entweder hinaus auf den Hof oder zum Gäste-WC oder über die knarzende Holztreppe hinauf zu den Schlafzimmern. Genau zwei gab es, eins für Nina, mit Blick auf den Garten, und eines für sie selbst, mit Blick auf das Haupthaus.
Katharina hatte immer schon mal auf einem Bauernhof wohnen wollen. Auch deshalb war sie überglücklich, die Wohnung, die die größte in einem im letzten Jahr komplett neu ausgebauten Kuhstall war, ergattert zu haben. Es gab noch zwei kleinere Apartments, die die Hofbesitzer Gerta und Toni Wagner an Urlauber vermieteten. Oh ja, Katharina hatte ein gutes Gefühl mit diesem märchenhaft wirkenden Ort. Die freie Natur, die saubere Luft, die Berge zum Skilaufen im Winter, der See im Sommer … Allmählich fielen ihr die Augen zu, und sie glitt in einen tiefen ruhigen Schlaf.
Am frühen Nachmittag hatte Katharina tatsächlich schon einen Großteil der Kisten und Säcke ausgepackt und ihre Habseligkeiten verstaut. Zwei braune Sitzkissen standen jetzt zwischen den roten Sesseln und dem Sofa. Auf dem Esstisch hatte sie einen schilffarbenen Filztischläufer platziert und die dazugehörigen Sets in der Vitrine verstaut. Über die Rückenlehne des Sofas hatte sie ihre schlammfarbene Lieblingskuscheldecke geworfen. Die grellen Glühbirnen hatte sie gegen solche, die ein wohlig warmes Licht verströmten, ausgetauscht. Sie zündete gerade ein Teelicht an und stellte es in die tönerne Duftlampe auf dem Couchtisch, als Nina wieder hereinkam.
»Musstest du die alten fiesen Dinger mitnehmen?«, raunzte sie ihre Mutter an und zeigte vorwurfsvoll auf die Sitzkissen, deren Cordbezug an den Rändern deutlich abgewetzt war.
Katharina holte tief Luft. Offenbar eignete sich Orangenduft nicht dazu, schlagartig pubertierende und gestern doch noch so niedlich gewesene Töchter zu beruhigen. Sie beschloss, Ninas Gemecker zu ignorieren.
»Wie weit bist du mit deinem Zimmer gekommen? Hier, ich hab noch die Traumfänger gefunden«, sie zeigte auf einen Haufen Federn, Schnüre und Strohkreise auf dem Tisch.
»Ich bin fertig … und nein danke.« Nina bedachte ihre Mutter mit einem eisigen Blick.
»Du machst den Eindruck, als könntest du dringend etwas Stimmungsaufhellendes gebrauchen.«
»Ja, ein Zugticket nach Hamburg und Geld fürs Internat.«
Offenbar würde sich Nina nicht so schnell beruhigen, seufzte Katharina innerlich. Vielleicht half ja etwas Futter für die Seele.
»Hast du Hunger? Ich habe unsere Küchenkiste ausgepackt.«
»Na immerhin … Und was ist mit dem ganzen Kram dort?« Nina deutete mit einem knappen Kopfnicken auf einen Seesack und fünf Umzugskisten, die Katharina an der Wand gestapelt hatte.
»Ach, ich weiß noch nicht, wohin damit. Ich koche uns jetzt erst mal einen Tee. Dann geht’s dir wieder besser.«
Katharina ging in die Küche und füllte den Wasserkocher mit Leitungswasser. »Manches muss man eh erst erwohnen. Das braucht halt seine Zeit«, fuhr sie fort.
»Pendel’s doch einfach aus.« Nina funkelte ihre Mutter böse an.
Katharina atmete noch einmal tief durch. »Welchen Tee möchtest du denn? Ingwer? Zitronengras? Matcha? Chai?«
Nina setzte sich mit einem bockigen Gesichtsausdruck an den Esstisch und verschränkte die Arme. »Einen stinknormalen schwarzen Ostfriesentee.«
Katharina, die gerade die Teetassen aus der Vitrine nahm, hielt inne. »Den haben wir nicht.«
»Ach!«
»Ich mach dir jetzt einen Gute-Laune-Tee.«
»Wenn du meinst, dass dir das hilft.«
Hätte sie vor dem Umzug bloß nicht ihren letzten Notfall-Joint an ihre beste Freundin und Nachbarin in der Schanze verschenkt, dachte Katharina bedauernd. Der würde ihr jetzt helfen. Oder ein paar Brownies; die wären auch gut.
Eine schier endlose Weile sagte keine von ihnen ein Wort. Katharina versuchte die Zeit, angesichts des akuten Mangels an psychotropen Substanzen, im Geist mit Meditationsübungen zu überbrücken, während sie den herrlich nach Zitrusfrüchten duftenden Tee aufgoss.
Schließlich stellte sie die henkellosen Becher auf den Tisch und setzte sich zu ihrer Tochter.
Nina starrte die Tasse an, als wäre sie eine giftige Schlange.
»Was wollen wir denn heute machen?«, versuchte Katharina das Schweigen zu brechen.
»Ich weiß ja nicht, was du machen willst, aber ich werde jetzt nachschauen, welchen Bus ich wann zur Schule nehmen muss.«
Nina holte ein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum.
Katharina stockte der Atem, das war doch … »Das ist doch ein nagelneues Smartphone? Wo hast du das denn her?«
»Von Oma«, schnappte Nina, stand auf und begann mit dem Handy in der rechten Hand wie mit einer Wünschelrute durch den Raum zu laufen. »Mist! Der Empfang ist total beschissen!«, schimpfte sie dabei.
»Was zum …«
Das schrille Läuten der Türklingel unterbrach Katharina, die gerade dabei war, tatsächlich mal die Fassung zu verlieren.
Schön, dass sie sich alles vom Mund absparte, um ihrer beider Unabhängigkeit zu bewahren und sich der überbordenden Dominanz ihrer Mutter zu entziehen, und ihr Töchterlein ließ sich von »Cruella« so mir nichts, dir nichts einfach ein Telefon schenken. Kopfschüttelnd ging sie zur Haustür und öffnete.
Es waren ihre Vermieter, Gerta und Toni Wagner, die sie strahlend anlächelten.
»Herzlich willkommen in Seebruck«, begrüßte Gerta sie und streckte ihr die rechte Hand entgegen. In der linken balancierte sie eine quietschgrüne Tortenglocke.
Toni, der mit beiden Händen einen großen Weidenkorb trug, nickte freundlich und murmelte ein »Servus« in seinen sorgsam gezwirbelten Moustache.
Die beiden waren für Katharina der Inbegriff eines älteren bayerischen Ehepaares. Gerta hatte die schlohweißen Haare in einem geflochtenen Kranz um den Kopf gelegt. Ihre blauen Augen blitzten aus dem sonnengebräunten Gesicht hervor. Mit ihren leicht geröteten Apfelbäckchen erinnerte sie Katharina an Frau Holle aus dem Märchenbuch ihrer Kindheit.
Gerta trug ein langes Dirndl in dezenten dunklen Blautönen, Toni einen dunkelgrünen Trachtenjanker über einem weißen Hemd.
Katharina nahm Gertas warme schwielige Hand und schüttelte sie freudig. Die Feuerpause zwischen ihrer Tochter und sich konnte sie gut gebrauchen. »Kommen Sie doch rein. Wir trinken gerade Tee.« Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ die beiden ein. »Nina, schau mal, wer da ist!«, rief sie laut durch den Flur.
Sie hatte Gerta und Toni, das für sie urbayerische Großelternpaar, schon bei ihrem ersten Besuch am Chiemsee ins Herz geschlossen. Vor knapp vier Monaten hatte sie ihr Bewerbungsgespräch in der Alpenseeklinik gehabt. Eigentlich nur eine Formsache, da der neue bayerische Chefarzt der Klinik, in der sie bislang gearbeitet hatte, sie für die Stelle wärmstens empfohlen hatte.
Nina begrüßte die Wagners höflich und bat sie, Platz zu nehmen.
Toni ließ sich das nicht zweimal sagen und stellte den offenbar schweren Korb auf den Esstisch.
Gerta öffnete derweil die Kuchenglocke und holte einen verführerisch duftenden Apfelkuchen hervor. Katharina lief das Wasser im Mund zusammen. Kein Wunder, hatten sie doch seit dem kurzen Frühstück im Auto, das aus selbstgemachten Dinkelmuffins bestanden hatte, nichts mehr gegessen. Auch Ninas Augen leuchteten.
»Des is ein uraltes Familienrezept«, erklärte Gerta sichtlich stolz.
Nina reichte ihr ein großes Messer.
»Und damit S’ glei guad versorgt san, hamma Eana no an kloanan Begrüßungskorb mit’bracht. Geh, Toni, zeig doch mal her.«
Toni öffnete den Korb und zauberte allerlei Köstlichkeiten hervor: hausgemachte Salami, geräucherten Schinken und grobe Leberwurst, Bergkäse, Eier, Radieschen, einen Kopfsalat, Kartoffeln, einen Kürbis und ein knuspriges Bauernbrot. Katharina klatschte vor Freude in die Hände. »Das ist phantastisch. So herzlich sind wir in der Stadt noch nie begrüßt worden.«
»A geh, hier im Ort steht man halt z’samm und hilft sich gegenseitig. Sie zwoa san ja jetzt Mitglieder unserer Gemeinschaft.«
Katharina kamen fast die Tränen. Genauso hatte sie sich die wohlige Geborgenheit in einer ländlichen Gegend immer vorgestellt.
Nina holte sie unsanft von ihrer Wolke der Glückseligkeit herunter. »Wolltest du dich nicht nur noch vegan ernähren?«
»Es spricht nichts gegen den Konsum von ein wenig Fleisch aus artgerechter Haltung.«
»Ja, glücklich san unsara Viecher hier sicher. Is ois selbst g’schlachtet«, erklärte Gerta.
Toni griff nach einer schlanken, mit klarer Flüssigkeit gefüllten Flasche und sah sich suchend um.
Katharina brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff. Rasch holte sie drei Eierbecher. »Schnapsgläser haben wir leider nicht. Tut mir leid«, erklärte sie entschuldigend.
Nina verdrehte die Augen. ›Mann, ist das peinlich!‹, konnte Katharina sie förmlich stöhnen hören.
Toni zog die Augenbrauen hoch.
»Geh, Toni, tu doch die Leute ned immer zum Saufen animiern. Vielleicht trinken s’ ja gar ned«, ermahnte Gerta ihren Mann sanft.
»Doch … schon … manchmal«, stammelte Katharina, »ist schon okay, auf unseren Einstand in Bayern sollten wir zünftig anstoßen.« Sie war fest entschlossen, sich hier vollständig zu integrieren. Dafür waren sie ja hergekommen.
Gesagt, getan. Kaum hatte die sonst, was Alkohol anging, bislang so abstinente Katharina den Selbstgebrannten hinuntergekippt, schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Sehr gut. Möchten Sie zum Kuchen einen Tee?«, keuchte sie mit brennender Kehle.
Toni goss sich noch einen ein. »Ham S’ an Kaffee?«
Katharina hielt inne. Irgendwo hatten sie bestimmt welchen, aber wo? Los jetzt, konzentrier dich, schalt sie sich in Gedanken.
»Ja klar«, sprang Nina ein, »mit Milch und Zucker? Sie auch Gerta?« In Windeseile kramte sie ein Päckchen Kaffee aus einem der Küchenschränke, holte aus einem anderen eine Kaffeemaschine, von der Katharina tatsächlich nicht mehr gewusst hatte, dass es die noch gab, und setzte den Kaffee auf.
Sie selbst platzierte derweil Kuchenteller, Gabeln und Tassen auf dem Tisch.
»Du bist ja a richtig patentes Model«, lobte Gerta Nina, »auf welche Schule wirst du denn gehen?«
»Auf das Gymnasium in Traunreut.«
»Des is a guade Wahl, aber eine schwierige Schule.« Toni nickte anerkennend. »Dann musst a guade Schülerin sein.«
»In meiner Schule in Hamburg war ich immer eine der Besten. Das sollte wohl hierfür reichen.«
Katharina war schockiert, wie arrogant ihre Tochter auf einmal sein konnte.
Toni ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Welchen Zweig hast denn gewählt? Sprachen oder Naturwissenschaften?«
»Sprachen. Ich möchte später mal Anwältin für internationales Wirtschaftsrecht werden«, erklärte Nina.
Katharina blieb vor Staunen fast der Mund offen stehen. Das hatte ihre Tochter ihr noch nie so genau erzählt. Früher hatte sie wahlweise Journalistin, Blumenverkäuferin, Kindergärtnerin oder Pferdephysiotherapeutin werden wollen. Wenn sie sie in letzter Zeit nach ihren Plänen gefragt hatte, hatte sie von Nina immer nur ein knappes »mal schauen« oder »weiß nicht« zur Antwort bekommen. Das war für sie völlig okay. Nina hatte schließlich noch so viel Zeit. Sie war doch noch ein Kind. Und jetzt das: internationales Wirtschaftsrecht!
Toni nickte wieder anerkennend.
»Der Huber Ferdinand geht da aa hin. Der hod aba nix weiter wie Sport im Kopf. Am besten fahrt ihr morgen zusammen mit dem Bus. Dann kann er dir ois zeigen. I geb dir gleich mal seinen Kontakt.« Toni zog sein Handy aus der Tasche. »Bluetooth, Mail, WhatsApp, sms, wie hättst du’s denn gern?«
»Haben Sie etwa WLan?«, fragten Nina und Katharina gleichzeitig, die eine über die Maßen erleichtert, die andere eher enttäuscht.
»Na freili! Na ihr seid’s ja lustig. Habt ihr gedacht, mia leben hinterm Mond? Heutzutag kann i sogar die Stallbeleuchtung über mein Telefon steuern. Is des ned toll?«
Stolz zeigte er Nina die technischen Finessen seines Telefons.
»Ohne freies WLan kann man ja heutzutag keine Ferienwohnungen mehr anbieten. Ihr müsst’s nur den Verstärker im Flur anschalten.«
Nina grinste breit und tippte eifrig den Code ein, den Toni ihr gab. »Tja Mama, du wirst wohl ’ne Menge Heilsteine gegen diesen Elektrosmog hier aufstellen müssen.«
»Mia ham allerdings scho amoi überlegt, des WLan nach Mitternacht abzuschalten, wenn Gäste da san, damit die sich besser erholen können. So wie es manche Wellnesshotels machen«, warf Gerta ein.
»A geh, du immer mit deinem Wellness, demnächst baust hier aa no a Sauna ein oder so a komische Schwitzhütt’n. Die Berge und der See san doch Erholung gnuag.«
»Des sagst du«, gab Gerta sanft lächelnd zurück, »i wünsch mir zu Weihnachten auf jeden Fall dieses tolle Dampfbad mit dera Lichttherapie. Des passt wunderbar in unser Bad nei. Des kannst aa mit deinem komischen Bluetooth oder wie des hoaßt steuern.«
Toni zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Wann’s di glücklich macht, mei Engel.«
Engel Gerta verteilte die Kuchenstücke, die sie geschnitten hatte, auf die Teller. »Und Nina, wie gefällt’s dir bislang hier? Hast di scho umg’schaut?«
»Nein, aber so furchtbar viel wird’s ja nicht zu sehen geben. Bei uns in Hamburg …«
»Nina bitte«, mahnte Katharina sie.
»Hamburg is scho a scheene Stadt«, bemerkte Toni und strich sich das sorgsam nach hinten geföhnte kurze graue Haar glatt. »Mit einer Großstadt kannst Seebruck ned vergleichen. Aber es hod mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick ahnt.«
Kapitel 2
Sie verputzten fast den ganzen Apfelkuchen, während Toni sechs Tassen Kaffee trank und sich dazu sieben Kurze genehmigte.
»Zum Wohle des Herrn am heiligen Sonntag«, wie er spitzbübisch bemerkte.
Dann brachen sie zu einer Führung über den Hof auf.
Die Nachmittagssonne schien noch kräftig, so dass Katharina ihren weiten Baumwollpulli auszog und ihn um die Hüften band.
»Früher hob’n mia hier die Küh stehen g’habt, Milchwirtschaft, achtunddreißig Tiere.« Toni zeigte auf den alten, mit dunkelbraunem Holz vertäfelten Stall, in dem sie nun wohnten. Die großen bogenförmigen Fenster fügten sich harmonisch in das Gebäude ein und boten einen freien Blick auf die atemberaubende frühherbstliche Voralpenlandschaft. Das angrenzende zweistöckige Haupthaus, in dem Gerta und Toni wohnten, war an Fenstern und Türen kunstvoll mit Lüftlmalerei verziert. Der große Balkon im ersten Stock, die Sprossenfenster und die bogige große Eingangstür waren wie der Stall aus dunkelbraunem Holz.
Rechter Hand befand sich ein liebevoll bepflanzter Bauerngarten, der Gertas ganzer Stolz war. Katharina bewunderte gebührend Kürbisse, Feldsalat, Spinat, Kräuter und die bunte Blütenpracht von Herbstanemonen, Chrysanthemen und Dahlien. Die fast mannshohen Sonnenblumen, die ihre Köpfe der Sonne entgegenreckten, hatten es ihr besonders angetan.
»Wenn S’ mög’n, können S’ gerne einen Teil des Gartens, der an Ihre Wohnung grenzt, bepflanzen.«
»Oh das wäre phantastisch.« Katharina war Feuer und Flamme.
»Na, das kann ja heiter werden«, Nina verdrehte die Augen.
»Mensch, wir könnten ganz biologisch unser eigenes Gemüse anbauen, ohne Giftstoffe und so.« Katharina boxte sie unsanft in die Seite.
Nina ließ sich davon nicht beeindrucken. »Bei deinem grünen Daumen würden wir verhungern«, patzte sie und tippte auf ihrem Handy herum.
»Für den Anfang könnt’ ma euch des oide Hochbeet geben. Des eignet sich hervorragend für Gemüse und Kräuter. Des is ganz leicht«, bot Gerta an.
Katharina war begeistert. Oh ja, sie würden ein richtiges Landleben führen hier in Seebruck, so wie sie es sich immer wieder ausgemalt hatte.
Nina grummelte etwas Unverständliches.
»Hast scho unsa Tiere g’sehn?«, fragte Toni sie.
»Hm?« Nina sah von ihrem Telefon auf.
»Komm mit, i zeig sie dir.«
Gerta und Katharina folgten den beiden.
Wiederum zur Rechten, gegenüber ihrem Apartment, befand sich ein weiteres kleines, weiß gestrichenes Stallgebäude mit angrenzender Weide, auf der zwei schwarzweiß gefleckte Kühe wiederkäuend in der Sonne lagen.
Ein rotbraunes Pony mit langer Mähne streckte seinen Kopf aus einer der Außenboxen und begrüßte sie wiehernd.
Toni nahm eine Mohrrübe aus einem Blecheimer, der neben der Stalltür stand, und gab sie dem ungeduldig mit dem Kopf schlagenden Tier.
»Do, mei Guada.«
Er wandte sich an Nina: »Darf i euch miteinand bekannt machen? Des is der Nino, des oide Pony vo unsa Enkelin Emma. Die Emma wohnt in München und hod ned mehr so viel Zeit für den oiden Herrn. Deshalb darf er jetzt die Ruhe bei uns genießen. Da schau mal, Nino, des is die Nina, dei Namensvetterin.«
Nino blähte die Nüstern und schnupperte neugierig an Ninas Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
»Du bist ja ein schönes Connemara-Pony.« Sie streichelte über seine Stirn.
»Ah, du kennst di aus.«
»Ja, Mama und ich sind früher in den Ferien oft geritten.«
»Ja, also wennst magst, den Nino kann man zwar ned mehr reiten, aber er freut sich immer über charmante Gesellschaft. Wenns di ein wenig um ihn kümmern tätst, wärn mia dir wirklich sehr dankbar. Er is auch ein hervorragender Zuhörer, der Nino.«
Nino neigte den Kopf zur Seite und schaute mit seinen freundlichen braunen Augen so, als würde er jedes Wort verstehen.
»Okay, ja, gerne. Ich denke, das kann ich tun.«
»Abgemacht.«
»Des wird ihr des Einleben bestimmt etwas erleichtern«, flüsterte Gerta Katharina augenzwinkernd zu.
Die nickte dankbar.
Toni hatte Nina noch mehr zu bieten: »I könnt auch Hilfe beim Misten brauchen. I zahl zehn Euro die Stund. Von dem Geld könntest Reitstunden auf dem Schladminger-Hof nehmen. Dann lernst auch gleich die Madln aus dem Ort kennen. Die san ja olle so pferdeverrückt, die jungen Dinger.«
Sie gingen weiter über die sattgrüne Wiese mit den Obstbäumen, deren Blätter sich an den Rändern bereits gelblich verfärbten. Dann bogen sie am kleinen Hühnerstall mit dem umzäunten Außengehege Richtung Alz ab, die direkt am Grundstück vorbeifloss.
»Was der Gerta ihr Garten is, is mir des Angeln«, erklärte Toni, als sie am Ufer ankamen, und fischte eine Pfeife aus seinem Janker. Er steckte sie, ohne sie anzuzünden, in den Mund und sog zu Katharinas Verwunderung daran.
»I sollt des Rauchen aufhörn, wegen der Gesundheit. Meiner Gerta zuliebe. Aber irgendwas fehlt mir dann«, erklärte er und legte seiner Frau den Arm um die Schulter.
Nina schaute kurz von ihrem Handy auf und flüsterte ihrer Mutter zu: »Tja, dir wird’s hier sicher gut gefallen. Du bist hier offenbar nicht die Einzige mit ein paar Spleens.«
Toni, der für sein Alter noch erstaunlich gute Ohren hatte, betrachtete sie ernst. »Der Mensch is halt ein seltsames Geschöpf. A jeder hod so sei Eigenheiten.«
Nina blickte ertappt zu Boden und errötete.
Katharina stöhnte innerlich auf. Gut, dass morgen die Schule anfing. Nachdenklich beobachtete sie den Fluss, der friedlich an ihnen vorbeiströmte.
Je eher sie beide sich einlebten, desto besser.
Sie musste sich eingestehen, dass sie ein bisschen aufgeregt war. Morgen war auch ihr erster Tag. Ihr erster Tag als Assistenzärztin im letzten Ausbildungsjahr in der Kinderklinik. Arbeiten in einem kleinen überschaubaren Team an einem der schönsten Orte der Welt. Was wollte sie mehr! Hier hatte sie nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung sogar ohne Promotion die Chance auf eine Oberarztstelle, wie ihr der Chefarzt beim Vorstellungsgespräch versichert hatte.
Sie schloss die Augen und sog die kühle erdige Herbstluft ein.
Von Nina würde sie sich nicht runterziehen lassen. Die würde sich schon wieder einkriegen.
Kapitel 3
Katharina hatte ein kleines Déjà-vu, als sie mal wieder eine große Umzugskiste aus ihrem VW-Bus hievte. Nur stand der nun auf dem Parkplatz der Alpenseeklinik mit wunderschönem Blick auf den Chiemsee. Im Zwielicht der Morgensonne waberten Nebelschwaden über den glänzenden Wasserspiegel. Eine Gruppe Stockenten zog ihre Bahn am kleinen Bootsanleger der Klinik vorbei und verschwand wieder im Dunst. Katharina stellte die Kiste auf den Boden, um den Bus abzuschließen. Das Geschnatter von Wildenten lenkte ihren Blick wieder auf den See. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und rieb sich die Arme, während sie den Vögeln, die hoch in der Luft Richtung Süden flogen, hinterhersah.
Lautes ungeduldiges Hupen, untermalt von »Ja Kruzifix! Ihr meint’s wohl alle, mia ham den ganzen Tag nix zum Tun. Schleich di!«, ließ Katharina zusammenzucken. Erstaunt drehte sie sich um.
Der Fahrer eines metallicblauen Maseratis, dem sie und ihre Kiste offenbar im Weg standen, fuchtelte wütend mit den Händen, als könnte er sie persönlich durch seine Windschutzscheibe hindurch wegwedeln. In seinen gegelten kurzen dunkelbraunen Locken steckte eine Designersonnenbrille. Auf dem Beifahrersitz konnte Katharina eine Golftasche erkennen.
So leicht gab sie sich vor so einem Schnösel nicht geschlagen. Sie bedeutete ihm, dass er doch locker um die Kiste herumfahren könne. Was auch der Fall war. Er wäre lediglich einer größeren, aber nicht besonders tiefen Pfütze nahe gekommen.
Das Gesicht des Fahrers lief purpurfarben an. »Aus dem Weg! Ich versau mir doch ned den Lack!«, brüllte er sie durch das geöffnete Seitenfenster an.
Katharina hob in Seelenruhe ihren Karton hoch und machte sich auf den Weg zum Haupteingang.
Der Maserati-Fahrer schlängelte sich mit seinem Wagen vorsichtig an ihr vorbei und schickte noch ein »Kruzifix, Scheißtouristen«, hinterher. Dann ließ er den Motor aufheulen und parkte schwungvoll auf einem Parkplatz direkt neben dem Klinikeingang ein, wobei er eine beachtliche Staubwolke aufwirbelte.
Katharina schüttelte den Kopf. So viel zu ›ich versau mir doch ned den Lack‹. So ein Lackaffe, dachte sie.
Die Alpenseeklinik befand sich in einem großen dreistöckigen Gebäude, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Pavillonstil erbaut worden war. Die hohen Fenster mit weißen Sprossen wurden im Erdgeschoss von ebenfalls weißen Rosengittern eingerahmt. Einige der Kletterrosen blühten noch in intensiven Rottönen. Das Dach mit den rostroten Schindeln schien vor kurzem neu gedeckt worden zu sein. Rechts vom großbogigen Haupteingang bauten zwei Maler ihr Gerüst ab, während das Gebäude in einem makellosen sanften Hellgelb in der Morgensonne strahlte. Die Zimmer im ersten Stock hatten einen breiten Gemeinschaftsbalkon mit Blick auf den See hinaus. Katharina konnte einige ältere Patienten beobachten, die trotz der leicht frostigen Temperaturen noch im Morgenmantel ihre Zeitung auf einem Stuhl in der Sonne lasen. Andere rauchten mehr oder weniger heimlich eine Zigarette. Unwillkürlich hielt sie mitten auf der breiten Treppe zum Eingang inne, um diese frühmorgendliche Idylle genauer zu betrachten.
»Pass doch auf. Rechts stehen, links gehen. Dass ihr das nie kapiert!«, fuhr ein junger Mann im weißen Arztkittel, der von hinten geradewegs in sie hineinlief, sie an.
Katharina schwankte, und der schwere Karton glitt ihr aus den Händen. Krachend landete er auf den Stufen und kippte zur Seite. Der Deckel sprang auf, und ein paar Bücher und Stifte rutschten heraus. Katharina konnte gerade noch verhindern, dass alles die Treppe hinunterpolterte. So was auch. Kopfschüttelnd sammelte sie ihre Siebensachen zusammen und ging weiter.
Die große lichte Eingangshalle war ebenfalls frisch renoviert. Auch hier packten Handwerker ein Gerüst und Abdeckplanen zusammen. In einer Ecke standen gemütliche Korbsessel und eine Büchervitrine. Zur Linken gab es ein kleines einladendes Kaffee, zur Rechten moderne Empfangstresen. An den weißen Wänden hingen bunte Blumenbilder, und der cremefarbene Steinboden blitzte und blinkte.
Katharina folgte den Schildern Richtung Kinderklinik, vorbei an einem begrünten Innenhof mit hellen Kieswegen und altem Baumbestand, durchquerte die Wartezone der Radiologie, der mit hellbraune Ledersessel und ein überdimensionierter Wasserspender ausgestattet war, und passierte einen Hauswirtschaftsgang. Ein vergessen wirkender Aufzug brachte sie rumpelnd in die zweite Etage. Hier war der Linoleumbelag auf dem Boden grauweiß gemasert und schlug an einigen Stellen bereits Wellen. An den Wänden hatte der Zahn der Zeit genagt. Sie waren übersäht mit Farbspuren und tiefen Kratzern. Okay, dachte Katharina, bis hierhin sind die Renovierungsarbeiten wohl noch nicht gekommen. Na ja, was nicht ist …
Wieder wurde sie von einem hektischen Arzt in wehendem weißen Kittel überrannt. Diesmal fing sie sich rechtzeitig.
»Hey, kann i dir helfa? Du bist doch bestimmt die neue Kollegin oder?«
Katharina wandte sich um. Vor ihr stand, ebenfalls in weißem Kittel, eine junge Ärztin, die sie freundlich anlächelte. Als Erstes fielen ihr drei große Sommersprossen auf einem vorwitzigen Stupsnäschen in einem rundlichen, sonnengebräunten Gesicht auf.
»Hi, i bin die Gruber Lena, eine der Assistenzärztinnen«, fuhr Stupsnäschen fort.
»Katharina Bachmann, die Neue, wie du schon richtig erkannt hast.« Katharina deutete ein Händereichen an, während sie weiter die Kiste festhielt.
»Kann i dir irgendwas abnehma?«
»Danke, geht schon.«
»Gut, dann komm mit. Wir müssen uns beeilen. Die Frühbesprechung fängt glei an. Da sollten mir ned zu spät kommen.«
Sie eilten, so schnell es ging, den Flur entlang und gelangten durch ein kleines verwinkeltes Treppenhaus in den dritten Stock.
Lenas fast taillenlanger Bauernzopf, zu dem sie ihre dicken strohblonden Haare geflochten hatte, wippte dabei hektisch hin und her. »Frühbesprechung is immer morgens um acht im Zimmer vom Chef«, erklärte sie.
Da waren sie schon. Im Vorzimmer begrüßte sie eine schicke Mittfünfzigerin, die sich als Chefsekretärin Sylvia Bauer vorstellte. Sie war sogar noch kleiner als Katharina. So etwa ein Meter fünfzig schätzte sie, nahm mit ihrer resoluten, aber angenehmen Art jedoch fast den ganzen Raum für sich ein. Die dunkelblonden, von einigen dünnen grauen Strähnen durchzogenen langen Haare hatte sie zu einer lockeren Banane hochgesteckt. Einige Strähnen fielen wohlsortiert in ihr dezent geschminktes Gesicht. Sie trug ein taubenblaues langärmeliges Etuikleid und hielt sich kerzengerade, als sie ihnen auf ihren Pumps entgegenstöckelte.
»Wie schön, dass Sie do san. Am besten stellen S’ Ihre Sachen glei hier ab. Die Besprechung hat grad angefangen. Wenn S’ fertig san, geb i Eana Ihre Schlüssel und den Laufzettel.«
Damit schob sie die beiden in den Besprechungsraum.
Chefarzt Eberhard Burger saß in einem großen schwarzen drehbaren Ledersessel neben einem etwas antiquiert wirkenden Röntgenschirm und warf den Neuankömmlingen nur einen kurzen Blick zu.
Lena führte Katharina zu einer der hinteren Stuhlreihen.
Einer der Ärzte stand vorne beim Chef und berichtete gerade mit monotoner Stimme über die Neuaufnahmen der Nacht.
Katharina sah sich um: Die schlichten grauen Stühle waren in einem angedeuteten Halbkreis in mehreren Reihen hintereinander aufgestellt. In der dritten Reihe saßen außer Lena und ihr selbst noch zwei andere Ärzte, eine Frau und ein Mann, die beide noch recht jung und ziemlich durchgestylt aussahen. Gut, im Vergleich zu ihr war wohl jeder der anderen Assistenzärzte noch recht jung und stylisch, wie Katharina sich eingestehen musste. Die zweite Stuhlreihe war frei. In der ersten saß, Katharina hatte es schon fast befürchtet, der Maserati-Lackaffe. Offenbar einer der Oberärzte. Hoffentlich nicht der Einzige.
Vor den Stuhlreihen drehte sich Chefarzt Burger gerade mit unwilligem Gesichtsausdruck zu dem Nachtdienstler, der nun verdächtig still geworden war.
»Was denn nun, Kollege Bauer?«, fuhr Burger ihn an, »hod des Kind nun a Bronchitis oder a Lungenentzündung? Sie müssen doch wissen, was a Patient hod, bevor S’ ihn behandeln. Wo is denn des Röntgenbild?« Burger beugte sich vor, wobei ihm sein Wohlstandsbäuchlein, um das sich der akkurat geschlossene Kittel bedenklich spannte, erstaunlicherweise überhaupt nicht im Weg zu sein schien, und knipste den Röntgenschirm an.
Kollege Bauer blickte konzentriert zu Boden und fuhr sich mit der rechten Hand durch das aschblonde kurze Haar. Er sah im grellen Licht des Schirms ziemlich blass aus, aber das mochte auch am Nachtdienst liegen.
Bei dem Porzellanteint, verbunden mit feinen Gesichtszügen, musste Katharina unwillkürlich an die Abgüsse antiker Skulpturen denken, die ihre Mutter vor einigen Jahren in der Eingangshalle und im Garten der alten Familienvilla aufgestellt hatte. Letztes Jahr an Weihnachten hatten Katharina, ihr Vater Karl und Nina wegen des nordischen Schietwetters anstatt der traditionellen Schneeballschlacht im Garten ein kleines Federballmatch in der Halle ausgetragen, während Donata auf irgendeinem wichtigen Empfang war. Wie sich herausstellte, konnten auch harmlos wirkende Federbällchen erstaunlich großen Schaden an Nasen und Ohren griechischer Gottheiten anrichten.
Katharina unterdrückte ein Grinsen und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Die Laune vom Burger-Chef sank sekündlich, je länger Kollege Bauer schwieg.
»Was denn nun? Des Bild! Sie haben doch eins gemacht oder?«
Zwischen Burgers buschigen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Zornesfalte.
Bauers Kiefermuskeln arbeiteten, dann hob er den Kopf. »Natürlich hob i a Bild machen lassen«, antwortete er.
»Na, dann her damit.« Burgers Finger griffen nach einem imaginären Röntgenfilm.
»Es gibt koa Abzüge der Röntgenbilder mehr.« Bauer straffte sich.
»Wos is?« Dem Chef blieb kurz der Mund offen stehen.
Lena, die bislang teilnahmslos in ihrem Stuhl gehangen hatte, setzte sich auf und stupste Katharina an. »Psst! Jetzt wird’s spannend. Gummibärchen?« Sie reichte Katharina ein kleines Tütchen, das mit irgendeiner Pharmawerbung beschriftet war. Die winkte erstaunt ab. Lena zuckte kurz mit den Schultern, öffnete mit einem kurzen Ratsch! das Tütchen und starrte gebannt nach vorne, während sie die Süßigkeiten in sich hineinstopfte.
Da fuhr Kollege Bauer auch schon fort: »’s gibt koa Bilder mehr, weil die Radiologie vollständig digitalisiert wurde. Is doch auch viel effizienter. Allein die Kosten für die Röntgenfilme, die Dauer fürs Entwickeln … Die neue Technik kann aa viel mehr … Die Fusion, die virtuelle Endoskopie, 3-D-Darstellungen … Des Dosismonitoring in der Übergangsphase von analog zur digitalen Projektionsradiographie is jetzt auch viel effizienter …«
Über Katharinas Kopf bildete sich ein großes virtuelles Fragezeichen. Den anderen ging es ebenso.
»Sie wolln mir also sagen, nur weil die Radiologiefuzzies jetzt a neues Spielzeug für ihre Monitore hob’n, hob’n mia hier koa Bilder mehr?! Und Sie können mir ned amoi sagen, wos der Patient hod?!«, unterbrach Burger den Technikvortrag.
»Er hat eine Bronchitis, beginnende Pneumonie nicht auszuschließen, wie ich bereits sagte«, antwortete Bauer förmlich, »warten S’, i zeig’s Eana.« Bauer drehte sich zu der Flipchart, die hinter ihm stand, und kramte einen Stift aus einer seiner Kitteltaschen.
Ratsch! Lena stopfte eine weitere Tüte Gummibärchen in sich hinein.
Bauer legte los und zeichnete mit einem grellblauen Textmarker in weniger als einer Minute tatsächlich ein komplettes Lungen-Röntgenbild. Sogar die Beschriftung stimmte. Katharina staunte. »Das is ja krass«, entfuhr es ihr.
»Des is no ned ois«, flüsterte Lena kauend.
Bauer steckte mit einem lauten Klacken die Kappe auf seinen Stift. »Wie Sie an den Infiltraten hier an den Enden der Hauptbronchien und am Hilus erkennen können, befinden wir uns exakt am Übergangsstadium zwischen einer Bronchitis und einer möglichen beginnenden Pneumonie. I würd mi gern festlegen, aber anhand der aktuellen Kriterien der …«
»Des langt«, unterbrach Burger ihn.
Der geschniegelte Assistenzarzt, der drei Plätze von Katharina entfernt saß, hob die Hand. »Eine Frage bitte.«
»Ja«, bat Burger ihn unwillig zu Wort.
»Du sag amal, Schoasch, is des Bild, des du uns gemalt hast, eigentlich des Negativ oder des Positiv?« Er strich sich wichtigtuerisch über seinen penibel gestutzten Henriquatre-Bart und grinste maligne. Mit dem ganzen Haargel, das er offenbar benutzt hatte, um seine fast kinnlangen kastanienbraunen Haare im Zaum zu halten, schien er direkt in Konkurrenz mit dem Maserati-Lackaffen treten zu wollen, fuhr es Katharina durch den Kopf.
Lena rollte mit den Augen.
Schoasch, mit dem offenbar Kollege Bauer gemeint war, stutzte kurz. »Natürlich das Positiv, sonst wärn die Verschattungen ja weiß. Ich kann euch natürlich auch das Negativ zeichnen.« Sichtlich erfreut darüber, jetzt voll in seinem Element zu sein, drehte er sich wieder zur Flipchart und zückte erneut seinen Textmarker.
»Nein, danke, des langt!«, unterbrach Burger ihn unwirsch, »Schluss mit den Faxen!«
»Wenn du mal a einzig’s Röntgenbild selbst befunden würdest, wüsstest du so was, Chrissi«, giftete Lena Henriquatre an.
»Dafür gibt’s schließlich Radiologen.« Chrissi Henriquatre warf Lena mit seinen stahlblauen Augen einen abfälligen Blick zu. »Des wüsstest du, wenn du delegieren könntest.«
»Psst«, mahnte die durchgestylte Tussi neben Henriquatre, »i hob koa Lust wegen euch wieder a Extraschicht schieben zu müssen.«
Sie blickten wieder nach vorne, und Lena, Ratsch!, genehmigte sich noch ein paar Gummibärchen.
Offenbar war der Dienstbericht inzwischen beendet, denn Kollege Bauer nahm neben ihnen Platz.
»So«, der Chef straffte sich in seinem Sitz. »Wie i seh, is unsa neue Kollegin bereits eingetroffen. Frau Bachmann, wir kennen uns ja bereits. Stellen S’ sich doch bitte kurz dem Team vor.«
Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Katharina.
»Ja, also …«, begann sie.
»Stehen S’ doch bitte kurz auf, damit wir Sie alle gut sehen können.«
Katharina erhob sich.
Der Maserati-Lackaffe musterte sie kurz und stieß dann hörbar die Luft aus.
Leicht irritiert fuhr sie fort: »Ja, also, ich heiße Katharina Bachmann. Ich komme aus Hamburg und habe dort bislang in der Kinderklinik Altona gearbeitet. Ich habe eine dreizehnjährige Tochter. Sie heißt Nina. Meine Familie hat alte Wurzeln hier in Bayern, weshalb es mich immer wieder hier in die Gegend gezogen hat. Ja … und ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit euch … äh … Ihnen allen.«
Nun waren die anderen dran.
»Lena Gruber, Assistenzärztin im fünften Jahr. Derzeit auf der Neonatologie bei Frau Dillinger und in der Asthma-Ambulanz.« An den Chef gewandt, fuhr sie fort. »I soll Frau Dillinger entschuldigen, sie is noch bei einem eiligen Kaiserschnitt.«
Dann war Henriquatre dran. »Doktor Christian Richter, Assistenzarzt im fünften Jahr. Meine Einsatzgebiete sind derzeit die Neuropädiatrie und Infektiologie bei Frau Dillinger und die Kopfschmerz-Ambulanz.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Katharina herausfordernd an.
»Doktor Marion Mittermaier«, fuhr die gestylte Tussi neben ihm in blasiert gelangweiltem Tonfall fort, »ebenfalls Assistenzärztin im fünften Jahr. Station für Diabetologie und Endokrinologie bei Oberarzt Doktor Meierhuber.« Sie warf dem Maserati-Lackaffen einen wimpernklimpernden Blick zu. »Schwerpunkt-Ambulanz Diabetologie bei Oberarzt Doktor Meierhuber.« Wieder ein klimpernder Blick.
Katharina indes fragte sich, wann das Fräulein Mittermaier wohl aufgestanden war, um derart durchgestylt zur Arbeit zu erscheinen. Die fast schwarzen auffällig glänzenden Haare waren zu einem perfekten Bob geföhnt, die großen himmelblauen Augen mit aufwendigem Make-up betont. Sie hatte sicher einiges machen lassen: das zierliche Näschen, Oberlippe-aufspritzen, Botox mindestens in der Stirn, schätzte Katharina, eventuell auch ihre Brüste.
Der Maserati-Lackaffe war jetzt dran. Er lächelte Marion geschmeichelt zu. »Ja, eigentlich brauch i mi dann ja fast nimmer vorstelln.« Das tat er dann aber natürlich doch. »Oberarzt Doktor Meierhuber, Leiter der Station für Diabetologie und Endokrinologie sowie der Asthma-Ambulanz, der Diabetes- und Endokrinologie-Ambulanz, der Adipositas-Ambulanz und der Ambulanz für chronische Bauchschmerzen.«
Maserati-Lackaffe hielt, scheinbar begeistert von seinen ganzen Verantwortlichkeiten, kurz inne. Dann blickte er Katharina direkt an und zog die Augenbrauen hoch. »Würden S’ uns denn noch Ihre bisherigen Schwerpunkte verraten, Frau Kollegin?«
»Schwerpunkte. Ja, also, ich war bislang fast überall im Einsatz. Als Allrounderin sozusagen. Wegen meiner Tochter habe ich lange halbtags gearbeitet.«
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