Applejucy - Tina Birgitta Lauffer - E-Book

Applejucy E-Book

Tina Birgitta Lauffer

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Beschreibung

Menschen gibt es nicht! Das gehört zu den ersten Dingen, die ein Hexenkind auf Green Witch Island lernt. Auch die 12-jährige Applejucy weiß das schon längst. Trotzdem hat sie Angst vor ihnen. Und erschrickt ganz fürchterlich, als sie eines Tages im Wald auf zwei Menschenkinder trifft. Aber Jucy ist neugierig und fragt Jomo und seine Schwester Nana aus. Die beiden kommen aus Afrika und sind unterwegs nach Amerika: Ihre Mutter wurde von Sklavenhändlern verschleppt und die Kinder suchen sie. Jucy hat ein großes Herz – Ehrensache, dass sie und ihr Papagei Luis den Menschenkindern helfen. Für Applejucy und ihre neuen Freunde beginnt ein großes Abenteuer in der Menschenwelt von 1833. Jucy lernt, dass Menschen grausam, aber auch gütig sein können. Ob es den drei Kindern gelingt, im großen Amerika die Mutter von Jomo und Nana zu finden? Werden sie sie befreien können?

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Applejucy

Abenteuer in Amerika

Tina Birgitta Lauffer

mit Bildern vonStefanie Röttger

Verlag Monika Fuchs

Inhalt

Es gibt keine Menschen!

Ein folgenreicher Zusammenstoß

Die neue Kinderfrau

Ein verflixt verhexter Tag

Der alte Melvin

Ein gewagter Plan

Aufbruch mit Hindernissen

Eine neue Welt

Die Suche beginnt

Erste Spuren

Eine Frage der Farbe

Ein Brief von Zahira

Gescheiterte Flucht

Geheime Verbindungen

Die Hütten der Sklaven

Der falsche Kapitän

Die Rettung

Abschied

Tina Birgitta Lauffer

Stefanie Röttger

Es gibt keine Menschen!

»Papa, bitte komm doch noch mal!«

Jucy lag im Bett und konnte nicht einschlafen, obwohl sie schon mindestens tausend kleine Fische gezählt hatte. Ihr Vater Tom sah im Wohnzimmer zum kleinen Uhrenvogel und fragte seufzend: »Wie lange sitze ich hier schon?«

»Vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden, wie immer«, piepste der.

Tom nickte und erhob sich aus seinem schwebenden Sessel. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und wollte eigentlich etwas Ruhe haben. Als er das Zimmer seiner Tochter erreichte, wäre er beinahe ausgerutscht. Er konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten.

»Verdammt!«, fluchte er. »Applejucy, dein Zimmer ist ja ganz nass! Was hast du denn nun schon wieder angestellt?«

»Aber Papa, du hast mir doch selbst gesagt, ich soll Fische zählen, wenn ich nicht einschlafen kann!«, rief Jucy.

Tom schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Liebling – du wirst bestimmt mal eine tolle Hexe, leider kann deine Mutter das nicht mehr erleben. Aber du sollst dir die Tiere vorstellen, wenn du sie zählst, und nicht herbeizaubern. Vorges­tern Hühner, gestern Schafe, heute Fische und wer weiß, was du morgen zauberst. Ich dachte nicht, dass …«

Mitten im Satz hob er einen zappelnden Fisch auf und warf ihn durch das offene Fenster in den Fluss. Die anderen Fische sprangen in einer Reihe hinterher, so, als würden sie an einem unsichtbaren Faden hängen. Mit den Fischen verschwand auch das Wasser aus dem Zimmer. Einen kurzen Moment schauten Jucy und ihr Vater schweigend zu.

»Was ist denn los, Kleine?«, fragte Tom seine Tochter sanft.

»Tut mir leid, Papa, aber da war wieder so ein unheimliches Geräusch. Vielleicht ist ein Mensch in meinem Zimmer? Kannst du nicht einfach kurz nachschauen?«

»Jeden Abend dasselbe!«, stöhnte Tom. »Lies doch nicht immer diese gruseligen Bücher, wenn du davon Angst bekommst!«

»Habe ich nicht. Also nicht heute.«

»Was dann? Hat euch der alte Melvin etwa schon wieder seine verrückten Geschichten erzählt? Es gibt keine Menschen auf Green Witch Island, das solltest du mit deinen 12 Jahren doch endlich wissen!«

Jucy setzte sich auf. »Aber der alte Melvin sagt, dass die Menschen eines Tages kommen werden, stimmt’s Luis?«

»Menschen kommen, Menschen kommen«, stimmte ihr der Papagei zu und nickte mit dem Kopf.

»Außerdem«, fuhr Jucy fort, »soll es nicht mehr lange dauern. Papa, was ist, wenn der alte Melvin doch Recht hat?«

»Hat er nicht! Diesem alten Taugenichts gefällt es, Geschichten zu erfinden und euch Kindern Angst zu machen«, schimpfte Tom. »Es ist wirklich viel zu lange her, dass er selbst Vater war!«

Jucy fragte neugierig: »Der alte Melvin hat ein Kind?«

»Hatte. Eine Tochter. Sie ist eines Tages einfach verschwunden. Vielleicht – oder ganz sicher sogar! – ist er deswegen so griesgrämig geworden.«

»Verschwunden? Was? Wie lange ist das her?«

Tom kratzte nachdenklich an seinem Dreitagebart.

»Ich weiß nicht mehr, auf jeden Fall warst du noch lange nicht geboren.«

»Hmm.« Jucy hätte ihren Vater nun am liebsten mit Fragen über Melvins verschwundene Tochter gelöchert, aber sie spürte, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Eine Frage konnte trotzdem nicht warten: »Papa, es könnte doch sein, dass sie von Menschen entführt worden ist, oder?«

»Verflixt und verhext, nein!« Tom ärgerte sich, dass er Melvins Tochter erwähnt hatte. Er kannte doch die grenzenlose Neugier Jucys. »Hör mir mal zu«, sagte er jetzt schnell und machte ein ernstes Gesicht. »Sprich mir nach: Es gibt keine Menschen!«

Jucy verdrehte genervt die Augen.

»Sag es!«, wiederholte ihr Vater eindringlich.

»Na gut: Es. Gibt. Keine. Menschen.«

»Keine Menschen, keine Menschen«, plapperte auch Luis.

»Gut.« Tom war zufrieden. Zärtlich strich er ein Haar von Jucys Stirn. »Alles ist gut. Schlaf jetzt, mein Schatz!«

»Ja.« Jucy setzte das schönste Tochterlächeln der Welt auf. Es sah aus wie Ich verspreche allerschnellstes Einschlafen. »Aber kannst du trotzdem mal unter dem Bett nachschauen? Wenn du schon mal da bist?«

»Also schön!« Seufzend gab sich ihr Vater geschlagen und kontrollierte sogar noch den Kleiderschrank. Als er ihn öffnete, fiel ihm sofort jede Menge Krimskrams entgegen.

Jucy murmelte: »Tschuldigung, Papa!«

Das hörte Tom nicht, weil sie ihren Kopf unter das Kissen gesteckt hatte. Aber Luis sorgte wie immer dafür, dass doch noch alles bei ihm ankam.

»Tschuldigung, tschuldigung«, plapperte er ihr nach.

»Also schön«, sagte Tom, »für heute lassen wir es gut sein. Wir reden morgen über deine Unordnung. Zumindest kannst du sicher sein, dass sich niemals ein Mensch in deinem Zimmer verstecken wird, weil er nämlich gar keinen Platz findet.«

Jucy tauchte wieder unter dem Kopfkissen auf und sagte entrüstet: »Du hast doch gesagt, es gibt keine Menschen, Papa!«

»Es gibt ja auch keine. Ich meinte nur, wenn es welche geben würde. Aber schlaf jetzt endlich, es ist schon spät. Gute Nacht, Applejucy.«

»Gute Nacht, Papa!«

»Gute Nacht, Papa!«, krächzte auch Luis.

Im Kalender der Menschen stand das Jahr 1833. Auf einem großen Schiff, das gerade den Atlantik von Afrika nach Amerika überquerte, hockte der zwölfjährige Jomo hinter der Reling und schaute in den Sternenhimmel. Er dachte an seinen Vater. Vielleicht stimmte es ja und er war nun einer von den vielen Sternen dort oben. Aber welcher? Jomo entschied sich für einen, der besonders schön leuchtete, und flüsterte fast lautlos nach oben: »Hilf uns, bitte!«

Dann kroch er eilig in sein Versteck, wo seine kleine Schwester Nana schon auf ihn wartete.

»Endlich! Ich habe solchen Hunger, Jomo!«

»Pst! Leise!«, flüsterte ihr Bruder. »Hoffentlich hat dich keiner gehört!«

»Ach, die Wachen schlafen bestimmt alle. Ich höre sie schon die ganze Zeit schnarchen.«

Jomo dachte lieber nicht daran, was mit ihnen geschähe, wenn die Wachen sie als blinde Passagiere entdeckten. Er und Nana waren an der Küste Afrikas heimlich an Bord des Schiffes geschlichen und hatten sich versteckt. Einige Tage hatten sie sich, aus Angst entdeckt zu werden, nicht von der Stelle gerührt. Doch jetzt, als ihre Vorräte aufgebraucht waren, hatte sich Jomo im Schutz der Dunkelheit aus seinem Versteck geschlichen, um etwas zu essen zu finden. Dabei war er an einer offenen Luke vorbeigekommen, durch die er in den Laderaum hineinschauen konnte. Er hatte unvorstellbar Schreckliches gesehen: Dunkelhäutige Männer, Frauen und Kinder lagen im Frachtraum dicht an dicht und sogar gefesselt nebeneinander. Wimmern, Weinen und Klagen wurden fast vom Rauschen der Wellen verschluckt. Es war fürchterlich. Einen Moment war Jomo starr vor Schreck gewesen, er hatte sich den Mund zuhalten müssen, um nicht zu schreien.

Zurück im Versteck konnte er nicht aufhören, daran zu denken. Und dass er nichts dagegen unternehmen konnte, tat ihm weh.

Wenn ich doch nur Superkräfte hätte, so wie der Gorilla aus Mamas Geschichten!, dachte Jomo wütend und traurig, während Nana plapperte. Ich würde alle Ketten sprengen! Zwei Tränen liefen über seine Wangen.

»Jomo, antworte doch, was ist mit dir?«, fragte seine kleine Schwester ängstlich.

»Nichts«, log er, »ist nur der Hunger, hab nichts zu essen gefunden.«

»Ich habe auch Hunger!«, jammerte Nana.

»Pst, sei nicht so laut! Es könnte uns viel schlechter gehen, glaub mir!«

»Warum?«

»Weil …« Er verstummte, auf keinen Fall wollte er ihr von den Gefangenen erzählen. »Weil«, fuhr er fort und holte eine Flasche hervor, »ich was zu trinken gefunden habe!«

Nana lächelte, griff nach der Flasche und trank gierig.

»Es tut mir leid wegen des Essens«, flüsterte Jomo niedergeschlagen. Dann nahm er seine Schwester in die Arme und wiegte sie so, wie ihre Mutter es immer getan hatte.

Ob wir Mama wohl jemals finden werden?, fragte er sich gerade zum hundertsten Mal, als es plötzlich einen riesigen Knall gab. Und noch einen. Auf einmal wurde es taghell. Überall rannten Menschen durcheinander und schrien oder kämpften. Der Lärm war so groß, dass Jomo nur an den Lippen seiner weinenden Schwester ablesen konnte, dass sie rief: »Jomo, was ist los? Ich habe Angst!«

In diesem Moment fing es über ihnen an zu brennen. Eilig zerrte Jomo die Kleine aus dem Versteck.

»Das Schiff wird angegriffen! Komm schnell, Nana! Lauf, wir müssen uns beeilen!«

Überall um sie herum wurde gekämpft, niemand beachtete die Kinder, die bis nach hinten ans Heck des Schiffes rannten.

»Schling deine Arme um mich und lass nicht mehr los«, rief Jomo Nana zu, die erst sieben Jahre alt war und noch nicht richtig schwimmen konnte.

Als Nana begriff, dass er springen wollte, schrie sie: »Jomo, ich will nicht, ich habe solche Angst!«

Sie versuchte, sich loszureißen.

»Bitte, Nana, wir haben keine Zeit für so etwas. Du willst doch auch, dass wir Mama finden, oder?«, fragte er verzweifelt.

»Na klar!«, schluchzte Nana, nickte und wischte sich tapfer die Tränen weg.

»Halt dir die Nase zu und halt die Luft an!«, rief er ihr zu. Dann sprangen sie zusammen vom Schiff.

Sie tauchten unter, und mühsam strampelte Jomo mit Nana im Arm an die Wasseroberfläche. Das Wasser war so kalt, dass Jomo es kaum schaffte, sich zu bewegen. Doch irgendwie gelangten sie zu einer großen Planke, die auf den Wellen trieb. Vollkommen erschöpft schob er Nana darauf und zog sich dann selber hinterher. Erst mal waren sie in Sicherheit.

Wie viele Stunden es waren, die sie auf dem endlos weiten Meer trieben, konnte Jomo irgendwann nicht mehr sagen. Nana war inzwischen so schwach, dass er fürchtete, sie könnte bei der nächsten größeren Welle ins Wasser fallen. Deshalb versuchte er wachzubleiben. Doch irgendwann überwältigte ihn die Müdigkeit.

Als Jomo nach einer Weile allmählich aufwachte, wusste er nicht, wo er war. Er spürte das Holz unter sich. Aber es schaukelte nicht mehr. Die Sonne wärmte ihn angenehm von oben und das Wasser, in dem sein linker Arm lag, war gar nicht kalt. Es war auch nicht tief. Es hat ein Ende, stellte er fest. Seine Finger tasteten vorsichtig nach dem Boden. Irgendwie mussten sie an Land gespült worden sein. Plötzlich dachte er: Nana! Er schlug die Augen auf und blickte neben sich – niemand da. Wo war sie? War sie von der Planke gerutscht und ins Meer gefallen? Oder hatte sie es auch an Land geschafft?

Verrückt vor Sorge zog sich der Junge auf die Beine. Er taumelte vor Schwäche, doch getrieben von der Hoffnung, Nana auf der Insel zu finden, rannte er den Strand auf und ab und rief unentwegt: »Nana! Nana!«

Aber keine Nana antwortete. Die Vorstellung, nun ganz alleine auf der Welt zu sein, war furchtbar für Jomo. »Bitte Vater«, schluchzte er, »bitte, bitte, hilf mir doch! Wo ist unsere Nana?« Dann brach er weinend im Sand zusammen. »Nana, es tut mir so leid. Ich sollte auf dich achtgeben und ich habe versagt. Arme, kleine Schwester!« Er schaute flehend zum Himmel. Als er die Hoffnung fast verloren hatte, beugte sich ein Engel über ihn.

»Jomo, sieh mal, was ich gefunden habe!«, sagte der Engel. Oder war es ein Geist? In Afrika gab es viele Geschichten über Geister. Doch dann spürte er eine kleine Hand auf seinem Gesicht.

»Soll ich dich kneifen?«, fragte Nana fröhlich. »Hast du endlich ausgeschlafen? Ich dachte schon, du stehst nie wieder auf!«

Nana! Sie war es tatsächlich! Jomo sprang auf und umarmte sie glücklich. Seine Schwester lebte! Und es gab sogar noch ein weiteres kleines Wunder. Nana hatte eine Truhe gefunden, die vom Meer angeschwemmt worden war. Sie hatte sich in einer Böschung verfangen, unerreichbar für die Wellen, gut erreichbar für die Kinder. Nana führte Jomo hin, und gemeinsam klappten sie den schweren Deckel hoch. Brote, getrocknetes Obst und gesalzenes Fleisch kamen zum Vorschein. Die Proviantkiste des Schiffkochs! Sogar etwas zu trinken fanden sie, fünf große braune Flaschen. Die Geschwister hüpften vor Freude in die Luft. Dann bedienten sie sich und aßen sich satt.

Gegen Abend holten die Kinder aus dem nahen Wald Zweige und Äste, auch die Planke und die Proviantkiste schleppten sie vom Strand heran. Sie bauten sich ein gemütliches Nachtlager und aßen ein weiteres Mal von den Vorräten. Der Inhalt der Flaschen schmeckte allerdings sehr merkwürdig. Jomo und Nana fühlten sich ganz komisch – der Boden schien unter ihnen zu schwanken, so, als wären sie immer noch an Bord des Schiffes auf dem Meer. Aber das war nicht so schlimm, denn zum ersten Mal seit Wochen hatten sie keinen Hunger mehr. Was für ein herrliches Gefühl! Als sie noch in ihrem Dorf lebten, gab es oft fröhliche Feste, bei denen die Menschen den ganzen Tag getanzt, gesungen und gegessen hatten.

Es wurde Nacht, die Sterne leuchteten über ihnen, und Jomo hatte das Gefühl, dass einer ganz besonders hell leuchtete.

»Meinst du, dass wir irgendwann wieder nach Hause kommen?«, fragte Nana. Sie schien Jomos Gedanken zu lesen.

»Bestimmt!«, sagte er, obwohl er wusste, dass er ein schlechter Lügner war.

»Erzählst du mir noch die Geschichte von der Maus, die so groß wie ein Elefant sein wollte?«, fragte Nana jetzt.

»Schon wieder?«, stöhnte Jomo.

»Biiiiitttteee!«, flehte sie ihn an.

Jomo konnte er nicht Nein sagen, auch er mochte diese Geschichte, weil sie ihn an ihre Mutter erinnerte.

»Also gut«, begann er schließlich. »Es war einmal eine Maus, die hasste es, klein zu sein. Deshalb ging sie zum großen Schöpfergott und sagte: ›Hey, Gott, warum hast du uns Mäuse so klein gemacht? Das finde ich ziemlich ungerecht.‹

Da lachte Gott und fragte: ›Warum willst du denn groß sein, kleine Maus?‹

›Weil ich es hasse, klein genannt zu werden. Als ob das nicht schon jeder sieht! Nein, jeder muss es auch noch sagen. Außerdem möchte ich mal einen ganzen Teller Hirsebrei essen können und nicht immer nur ein kleines bisschen.‹

›Wie groß wärst du denn gerne?‹, fragte Gott.

›So groß wie ein Elefant‹, sagte die Maus.

So viel Hochmut muss bestraft werden, dachte sich Gott und erfüllte der Maus ihren Wunsch. Die Maus, zufrieden mit ihrer Größe, stapfte nach Hause. Das erste Problem war nun, dass sie nicht mehr in ihr Mauseloch passte. Macht nichts, dachte sie – bis es anfing zu regnen. Total durchnässt machte sie sich auf die Suche nach etwas Essbaren. Aber weil sie so groß war, konnte sie in kein Haus mehr schlüpfen, selbst in den Gebüschen fand sie keinen Platz mehr. Ihr riesiger Bauch schmerzte vor Hunger, als sie auf einen kleinen Wurm trat, von dem sie früher satt geworden wäre.

›Ach, wie gerne wäre ich doch wieder klein‹, schluchzte sie.«

An dieser Stelle hörte Jomo auf. Lächelnd betrachtete er seine kleine Schwester. Sie war eingeschlafen, wie immer vor dem Ende der Geschichte. Vielleicht musste er sie deshalb so oft erzählen.

Ein folgenreicher Zusammenstoß

Eine ganze Woche war vergangen. Jucy hatte von ihrem Vater nichts über Melvins verschwundene Tochter herausbekommen. Nicht ein einziges Wort! Ihre Neugier ließ ihr keine Ruhe. Sie beschloss, selbst ein wenig nachzuforschen. Deshalb schwänzte sie nun schon den zweiten Tag die Schule. Wie sollte ihr Vater auch ahnen, dass sie sich das Zauberbuch von Doktor Hustefix kopiert hatte? Um krank zu sein, brauchte Jucy einfach nur einen Zauberspruch rückwärts aufzusagen. Sobald ihr Vater das Haus verlassen hatte, war sie dann ganz schnell wieder gesund.

Jucy sprang aus dem Bett und streckte sich. Im Spiegel prüfte sie zufrieden ihr Gesicht, keine Spur mehr von Blässe oder fiebrig-glasigen Augen. Sie nahm sich einen Zwieback und biss herzhaft hinein.

»Pfui!« Sie verzog das Gesicht und warf den Zwieback durchs offene Fenster in den Fluss.

»Pfui?«, fragte Luis entrüstet. »Luis liebt Zwiekack!«

»Zwiekack, haha«, lachte Jucy und steckte dem Papagei ein anderes Stück in den Schnabel.

Unten im Fluss kämpften die Fische um die unverhoffte Mahlzeit. Einen kurzen Moment beobachteten Jucy und Luis das Spektakel. Ihnen fiel auf, dass einer der Fische in Regenbogenfarben schimmerte, Jucy erkannte sofort, warum.

»Hey«, schrie sie, »das ist mein Armband!«

Der Fisch schaute hoch, streckte frech die Zunge raus und tauchte wieder ab.

»Na warte, wenn ich dich erwische!«, rief Jucy und schickte noch ein paar kleine Flüche hinterher.

»Hahaha«, lachte Luis, »das war bestimmt ein Raub-Fisch oder ein Frech-Lachs!«

»Sehr komisch«, maulte Jucy. »Das war mein Lieblingsarmband! Er muss es mitgenommen haben, als er neulich abends mit den anderen Fischen hier oben war. Ich habe es schon überall gesucht.«

»Sei nicht traurig, Jucy! Wir holen es bald wieder«, versprach Luis. »Sag lieber mal, was wir heute machen!«

»Ach ja!« Schon war die junge Hexe wieder voller Tatendrang. »Wir statten dem alten Melvin einen Besuch ab!«

»Aber gestern, als wir ihn beobachtet haben, sagte er doch laut zu sich selbst, dass er heute seinen Einkaufstag habe. Er wird nicht da sein«, wunderte sich Luis.

»Ja, eben!«

»Aber, aber, das ist Einbruch. Das darf man nicht! Nein, nein!«

Luis trat nervös von einer Kralle auf die andere.

»Ach Luis, sei doch nicht immer so eine Angstnase. Wir gehen nicht rein. Ich will nur mal durchs Fenster schauen, versprochen!«

Luis legte sein Köpfchen schief, wohl war ihm nicht, aber er konnte seiner besten Freundin einfach nichts abschlagen.

»Na gut!«

»Alles klar«, freute sich Jucy, warf eilig etwas zu trinken, Zwieback für Luis und ihr Notizbuch in ihren Rucksack und kletterte neben ihn aufs Fensterbrett. »Auf gehts!«

Gemeinsam flogen sie los.

»Wer schneller da ist, Luis!«, rief Jucy ihrem Papagei ausgelassen zu. Luis und Jucy liebten es, um die Wette zu fliegen. Sie sausten kreuz und quer durch die Luft. Sie ließen den Fluss hinter sich, flogen über Felder, Wiesen und kleine und große Hügel. Schließlich bog Jucy in den Wald ab.

»Jucy, nein! Nicht in den Wald!«, krähte Luis, doch das konnte sie nicht mehr hören. Dicht über den Waldboden zu fliegen machte Jucy besonderen Spaß, es erforderte geschickte Ausweichmanöver. Luis mochte das nicht, denn es war gefährlich. Er dachte an seinen Zusammenstoß mit dem Wildschwein; er war direkt gegen den dicken Schweinepo geknallt. Sein harter Schnabel hatte sich eigentlich nur leicht in den Schinken gebohrt. Das Schwein sah das aber anders und seitdem wusste Luis, warum ein Wildschwein Wildschwein hieß. Ein anderes Mal war Applejucy mit ihrem Rucksack in einem Rentiergeweih hängen geblieben. Und die Liste der Beinahe-Zusammenstöße war noch viel länger. Luis verlangsamte sein Tempo. Jucy drehte sich um, weil sie schauen wollte, wo er blieb. Doch als sie wieder nach vorne schaute, war plötzlich etwas vor ihr, mit dem sie zusammenstieß.

»Aaahhhh«, schrie Jucy.

»Aahhhh«, schrie das andere.

Und dann lag Jucy auf dem Boden neben einem fremden Mädchen. Beide rieben sich die Köpfe.

Erschrocken kam ein Junge angelaufen.

Luis versteckte sich in den Baumkronen. Von dort rief er seiner Freundin zu: »Menschenalarm, Menschenalarm, lauf weg, Jucy!«

Menschen? Was? Jucy hatte sofort furchtbare Bilder im Kopf. In ihrer Fantasie verwandelten sich die Kinder in schreckliche Monster. Sie blieb vor Angst wie erstarrt sitzen und schaute wortlos zu, wie der fremde Junge dem Mädchen aufhalf.

»Komm, schnell weg hier, Nana«, hörte sie den Jungen sagen, »Das Mädchen ist weiß. Sie gehört bestimmt zu den Sklavenhändlern. Du weißt doch, wie böse die sind.«

Böse? Hä? Meinte der etwa mich?, dachte Jucy und fürchtete sich kein bisschen mehr. Die Fremden hatten sich nicht verwandelt. Sie bekamen weder übermäßig scharfe Zähne noch Klauen. Sie rannten einfach weg. Außerdem schienen sie Angst vor ihr zu haben.

Jucy stand auf. »Wartet!«, rief sie den beiden hinterher, doch die waren schon im dichten Wald verschwunden. Luis kam nach unten geflattert und setzte sich auf ihre Schulter. »Das war gru-gru-gruselig«, stotterte er.

»Ja, anfangs schon, aber dann irgendwie nicht mehr. Meinst du wirklich, das waren Menschen, Luis?«,

»Von hier sind sie jedenfalls nicht. Wir könnten ja den alten Melvin fragen«, schlug Luis vor.

»Nein, auf gar keinen Fall. Lass uns das lieber alleine herausfinden. So gefährlich sahen sie gar nicht aus. Eher so wie ganz normale Kinder. Was meinst du, Luis?«

»Das ist verrückt, Jucy. Lass uns lieber verschwinden!«

Luis schlug aufgeregt mit den Flügeln.

»Du bist und bleibst eine Angstnase. Ich werde sie jetzt suchen. Wenn du nicht mit willst, dann fliege ich eben alleine.«

Jucy machte sich auf den Weg.

»Verdammt«, schimpfte Luis, »deinetwegen fallen mir noch mal alle Federn aus.«

Aber natürlich flog er ihr gleich hinterher.

»Jucy, warte auf mich!«

»Ich schwöre es dir, Jomo, sie ist geflogen«, wiederholte Nana verzweifelt.

»Das hast du dir eingebildet, Nana, weil du schon wieder Hunger hast. So etwas kommt vor, dein Kopf hat dir einen Streich gespielt. Vielleicht ist es auch dieses komische Getränk. Mach dir nichts draus. Da ist eine Höhle, komm dort können wir uns verstecken!«

»Aber die ist bestimmt dunkel und gruselig!« Nana verschränkte die Arme. »Ich bleibe draußen! Wieso sind wir eigentlich nicht am Strand geblieben? Da war es viel schöner und heller als hier im Wald!«

»Weil unsere Vorräte alle waren, das weißt du doch. Mensch, komm jetzt endlich!«

»Nein, immer willst du der Bestimmer sein!«

Jomo schaute sich nervös um. »Deinetwegen werden wir noch entdeckt.« Ein Rascheln im Gebüsch ließ ihn aufschrecken. Seine Geduld war am Ende. Er nahm Nana unsanft am Arm und schleifte sie Richtung Höhle.

»Du bist doof und gemein«, jammerte sie.

»Und du bist manchmal ein richtiges Baby!«

»Bin ich nicht!«

»Doch, und langsam habe ich echt keine Lust mehr, deinen Babysitter zu spielen!«

Am Anfang der Höhle war eine kleine Mulde. Dort ließen sich die Kinder nieder. Nana saß weinend in der einen Ecke und Jomo in der anderen.

»Entschuldigung«, flüsterte Jomo schließlich.

Nana erwiderte nichts, stattdessen tat sie so, als sei sie eingeschlafen. Sie hatte einen Plan. Bald schon würde er ganz sicher wissen, dass sie kein Baby mehr war. Sie wartete ungeduldig darauf, dass er einschlief.

Nachdem sie eine Stunde lang nach den Kindern gesucht hatten, gönnten sich Jucy und Luis eine Pause. Sie setzten sich auf einen großen Stein. Zufälligerweise lag dieser Stein genau vor der Höhle, in der sich Nana und Jomo versteckt hielten.

»Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, maulte Jucy enttäuscht. »Ich werde es mal mit einem Zauber versuchen: Hokuspokus pustefix, hol die Menschen aus dem Nichts.«

Doch es passierte nichts. Gar nichts!

»Siehst du, Jucy, wenn du nicht ständig die Schule schwänzen würdest, hättest du den richtigen Zauberspruch gewusst.«

»Ach ja, Mister Neunmalklug, als ob in der Schule was über Menschen auf dem Stundenplan stünde«, sagte Jucy beleidigt. »Außerdem hast du ja selbst keine Lust auf Schule.«

»Ich bin auch ein Papagei, wir brauchen nicht zur Schule zu gehen.«

»Gemeinheit«, seufzte Jucy und holte sich einen Apfel aus der Tasche.

»Haben wir noch was von dem Zwiekack?«, fragte Luis hoffnungsvoll.

»Zwieback«, verbesserte ihn Jucy lachend, »hier!«

Sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie Nana, die hinter ihnen aus der Höhle gekommen war, gar nicht bemerkten.

»Der Vogel spricht ja«, sagte Nana nun erstaunt.

Jucy und Luis erschraken so, dass sie beide vom Stein plumpsten.

»Tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken. Ich wollte gera­de losgehen, um nach euch zu suchen«, flüsterte Nana und versuchte dabei so tapfer wie möglich zu erscheinen. »Aber«, ergänzte sie mehr zu sich selbst, »ihr habt uns gefunden».

Luis wandte sich zitternd an Jucy: »Vo-Vo-Vorsicht, das ist bestimmt ein Trick. Gleich wird sie sich verwandeln und uns auslöchern!«

»Auslöschen – aber nein, das ist Quatsch!«, stieß ihn Jucy mit dem Ellenbogen an. Und zu Nana sagte sie freundlich: »Also streng genommen hast du uns jetzt gefunden. Du bist wirklich sehr mutig, stimmt’s, Luis?«

»Ja, ja«, krächzte Luis widerwillig, denn er war immer noch misstrauisch.

Jucy stand auf und klopfte sich den Staub aus den Klamotten.

»Ich bin Applejucy. Du kannst aber Jucy zu mir sagen, das machen alle, außer die Erwachsenen«, stellte sich Jucy vor. »Und das ist Luis. Er ist normalerweise ganz in Ordnung.«

»Normalerweise, normalerweise? Was soll das heißen?«, beschwerte sich Luis.

Da mussten Jucy und Nana lachen.

»Ich bin Nana, ich bin mit meinem Bruder hier, er heißt Jomo. Jomo glaubt, ihr gehört zu den Sklavenhändlern, aber ich glaube das nicht.«

»Was sind Sklavenhändler?«, fragte Jucy.

»Sie haben meine Mutter entführt, um sie an reiche, weiße Menschen zu verkaufen. Weiße Menschen sind sehr böse!«, antwortete sie wütend.

Jucy lief es bei ihren letzten Worten kalt den Rücken herunter.

»Sie sind böse, ich wusste es!«, hauchte sie.

»Böse Menschen, böse, böse!«, wiederholte Luis.

Sein Federkleid plusterte sich vor Aufregung auf.

»Wie sehen sie denn aus, diese weißen Menschen? Sind sie so weiß wie Schneemänner?«, fragte Jucy nun vorsichtig. Da das Wort weiß nun schon so oft gefallen war, wollte sie es genauer wissen. Nana zuckte mit den Schultern, sie hatte keine Ahnung, was mit »Schneemänner« gemeint war. Denn für Schnee war es in ihrer Heimat viel zu warm. Sie bemerkten nicht, dass mittlerweile auch Jomo wach geworden war. Den letzten der Teil der Unterhaltung hatte er mitbekommen.

»Wie? Wie weiße Menschen aussehen? Machst du dich über uns lustig? So wie du sehen sie aus, wie denn sonst?«, mischte er sich nun ein. Er hatte sich mit einer Flasche bewaffnet, bereit, notfalls für seine und die Freiheit seiner Schwester zu kämpfen.

»Aber ich bin doch gar nicht so richtig weiß!«, wunderte sich Jucy erstaunt. »Eher so ein bisschen rosa und beige«. Sie schaute an sich herunter: »Aber gut, wenn sie angeblich so wie ich aussehen, was seid dann bitte ihr?«

Jucy war ganz durcheinander, doch Jomo wurde wütend.

»Du bist also doch ein Sklavenhändlerkind. Ihr Weißen glaubt, nur weil wir schwarz sind, sind wir keine Menschen, dabei sind wir das natürlich doch! Wir lassen uns nicht wie Tiere behandeln. Komm, Nana, wir gehen!«

Er nahm seine Schwester an die Hand und sie liefen in den Wald. Doch zu ihrer Verwunderung waren Jucy und Luis plötzlich vor ihnen.

»Du bist ganz schön unhöflich, Menschenkind. Hat dir niemand beigebracht, dass es sich nicht gehört, einfach wegzulaufen? Und überhaupt, was soll dieses ganze Schwarz-weiß-Gequatsche?«, schimpfte Jucy mit verschränkten Armen.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Jomo erschrocken.

»Ich habe doch gesagt, dass sie fliegen kann«, jubelte Nana.

»Wer oder was seid ihr?«, flüsterte Jomo ungläubig.

»Also ich bin ein Papagei, wie ein Papa, nur mit gei«, begann Luis.

»Sei still, Luis! Das sieht man doch, er meint mich!«, zischte Jucy ihn an.

»Nein, er hat ihr gesagt, stimmt’s, Menschenjunge?!«, beharrte Luis auf seiner Meinung.

Jomo war verwirrt: »Was? Ich, äh …«

Jucy ergriff wieder das Wort: »Du bist kein Papagei, sondern ein Plappergei!«

Während die beiden anfingen zu streiten, zog Jomo seine Schwester unbemerkt weiter. Doch die vermeintliche Flucht der Geschwister währte nicht lange. Sie wurden rasch eingeholt. Jucy versperrte ihnen den Weg. »Menschenskinder nochmal!«, schimpfte sie und erklärte lang und breit, wie unhöflich es sei, während eines Gespräches wegzulaufen. Und obendrein auch noch mit einer Flasche gefährlich herumzufuchteln. Die, nebenbei bemerkt, Alkohol enthielte, wofür die beiden offensichtlich viel zu jung seien. Außerdem sei Alkohol auf der Insel hochamtlich verboten. Ihr Papagei wiederholte jedes ihrer Worte. Sie nahm dem verblüfftem Jomo die Flasche aus der Hand und steckte sie in ihren Rucksack. Danach lächelte sie vorsichtig. »Mein Name ist Applejucy, für Freunde Jucy, ich bin eine ganz normale Hexe, weder weiß, noch schwarz, noch lila. Unterschiede wegen der Hautfarbe zu machen, so was Dummes gibt es auf Green-Witch-Island glücklicherweise nicht. Willkommen übrigens!«

»Danke! Kannst du denn auch richtig zaubern, Jucy?«, fragte Nana begeistert.

Jomo war immer noch skeptisch. »Ich glaube euch nicht. Hexen gibt es nur in Mamas Geschichten. Und sprechende Vögel auch. Entweder kommt ihr direkt aus der Geisterwelt oder ihr trickst uns irgendwie aus!«, beharrte Jomo.

»Jetzt bin ich aber wirklich sauer, Menschenjunge«, sagte Jucy aufgebracht. »Du hast es nicht anders gewollt, dein sogenannter Geist wird dich jetzt verwandeln ... Froschschenkel und Hasenbein, ein Esel sollst du von nun an sein.«