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"Komm mit mir in meinen orientalischen Palast!" Vivian glaubt zu träumen: Ausgerechnet der Ölmagnat Alexander Roche umwirbt sie nach allen Regeln der Verführungskunst und lädt sie ein, mit ihm ihr ganz persönliches Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erleben. Aber so sehr seine zärtlichen Küsse ihre Sehnsucht wecken, ist sie auch voller Misstrauen. Was will er nur von einer einfachen Sekretärin wie ihr? Immer wieder weist sie ihn zurück, voller Zweifel an all seinen süßen Worten. Bis sie in eine dramatische Notlage gerät. Nur einer kann sie retten: Alexander!
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Seitenzahl: 171
IMPRESSUM
Arabisches Märchen erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© by Anne Mather Originaltitel: „Sirocco“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA GROSSE SCHRIFT, Band 1
Umschlagsmotive: LightFieldStudios, MOHAMED HUSSAIN YOUNIS, kertu_ee / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2023
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751522779
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Der Mann lag über dem Lenkrad und brauchte offensichtlich ärztliche Hilfe. An dem ausländischen Sportwagen deutete nichts auf einen Unfall hin. Im Gegenteil, er war vorschriftsmäßig am Bordstein geparkt wie alle anderen Autos auf dem Kimble Square.
Vivian blieb stehen und sah sich seufzend um. Sie hatte die Party so früh verlassen, weil sie und Roger sich gestritten hatten. Außerdem hatte sie keinen Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung gefunden, sodass sie jetzt ein Stück gehen musste. In diesem ruhigen Londoner Stadtviertel war jetzt, um halb zwölf Uhr nachts, niemand mehr unterwegs. Sie musste sich einfach um den möglicherweise bewusstlosen Mann kümmern, sonst würde er wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen auf Hilfe warten müssen.
Roger hatte ihr angeboten, sie zu ihrem Auto zu begleiten. Doch nach dem Streit hatte sie die Beherrschung verloren und war einfach davongelaufen, ohne sich zu verabschieden. Natürlich könnte sie jetzt zurückgehen, um Hilfe zu holen. Als sie aber wieder an die Vorwürfe dachte, die sie einander gemacht hatten, schien ihr die Polizei die bessere Alternative zu sein. Aber wo war die nächste Polizeiwache?
Vivian beschloss, erst einmal festzustellen, was mit dem Mann los war, und ging zu dem Auto. Dann fasste sie versuchsweise an den Türgriff. Der Wagen war nicht verschlossen.
Der Mann bewegte sich nicht. Er hatte hellblondes Haar und eine auffallend dunkle Haut. Entweder war er kein Engländer, oder er hielt sich sehr viel im Freien auf. Seine zusammengesunkene Haltung machte eine genauere Musterung unmöglich. Es fiel ihr schwer, sein Alter zu schätzen. Er mochte um die dreißig sein. Er musste recht wohlhabend sein, denn er saß in einem teuren Wagen und trug einen eleganten Anzug.
Vivian beugte sich zu ihm hinunter. Sie nahm den unverwechselbaren Geruch von Leder, gutem Tabak und noch etwas anderem wahr, das sie nicht sofort einordnen konnte. Als sie den Mann leicht anstieß, fiel eine Flasche von seinem Schoß. Bevor sie sich instinktiv danach bückte, wurde ihr klar, was sie gerochen hatte.
„Gin!“, murmelte sie und starrte die fast leere Flasche an. Vivian war nicht auf die Idee gekommen, dass der Mann vielleicht nur total betrunken war. Sie konnte nicht verstehen, dass jemand so leichtsinnig war und sich betrunken ans Steuer setzte. Wenn ein Polizist vorbeikäme, würde er großen Ärger bekommen. Die Vermutung lag nahe, dass er auch betrunken gefahren war.
Sie schob die Flasche unter den Vordersitz. Ihr konnte es gleichgültig sein, wenn dieser Mann es auf eine Anzeige ankommen ließ. Gerade wollte sie die Tür wieder schließen, als er plötzlich seitwärts gegen sie fiel.
Sein Gewicht warf sie beinahe um. Vivian musste sich am Wagendach festhalten, um nicht zu stürzen. Doch war sie kräftig genug, um ihn wieder auf den Sitz zurückschieben zu können. Die unsanfte Behandlung hatte ihn aufgeweckt. Noch im halbbewussten Zustand griff er nach ihrem Handgelenk.
„Bon sang!“ Sein gedämpfter Fluch bestätigte ihre Vermutung, dass er Ausländer war. „Qu’est-ce que vous êtes en train de faire?“
Vivian versuchte erfolglos, sich frei zu machen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass er sie vielleicht für eine Diebin hielt. Sie war froh, die Situation richtig gedeutet zu haben, bevor sie ihm Schlips und Kragen gelockert hatte.
„Sie wären beinahe aus dem Wagen gefallen“, erklärte sie etwas unsicher. Er hob den Kopf und sah sie an. „Es tut mir leid, ich dachte, Sie seien krank. Ich hätte nicht so neugierig sein dürfen.“
„Krank? Warum sollte ich krank sein?“ Er sprach jetzt Englisch mit einem leichten Akzent. „Dringen Sie oft in fremder Leute Autos ein?“, fragte er höhnisch.
„Selbstverständlich nicht.“ Vivian fühlte sich unbehaglich unter seinem prüfenden Blick. „Sie schienen bewusstlos. Ich war um Sie besorgt.“
„Die gute Samariterin“, spottete er.
„Wenn Sie so wollen.“ Sie holte tief Luft. „Würden Sie mich jetzt bitte gehen lassen? Es ist spät, und ich muss morgen arbeiten.“
Nach einem Augenblick des Zögerns gab der Fremde Vivians Handgelenk frei. Er lehnte sich im Sitz zurück und streckte sich. Ohne ein weiteres Wort machte Vivian sich auf den Weg zu ihrem Auto.
„Warten Sie.“
Widerstrebend blieb sie stehen. Er war ausgestiegen und stützte sich auf das Dach des Sportwagens. Der Fremde war sehr schlank, überdurchschnittlich groß und hatte breite Schultern. Sein helles Haar bildete zu der gebräunten Haut einen reizvollen Kontrast. Vivian dachte, dass sie sicher nicht die einzige Frau war, die ihn attraktiv fand. Er bemerkte ihre Unsicherheit. Spöttisch verzog er die Lippen.
„Darf ich den Namen meiner Retterin erfahren? Ohne Ihr Eingreifen hätte ich wahrscheinlich viel länger geschlafen. Es wäre mir sehr peinlich gewesen, in dieser Lage gefunden zu werden.“
„Geschlafen? Sie waren bewusstlos. Sie können von Glück sagen, dass ich Sie gefunden habe und nicht ein Polizist.“
Er kam leicht schwankend auf sie zu. „Wollen Sie damit behaupten, ich hätte getrunken?“
Vivian sah sich um. Ihr Wagen stand nur wenige Meter weiter am Straßenrand. Im Notfall konnte sie ihn schnell erreichen.
„Immerhin lag eine Flasche auf Ihrem Schoß. Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie sich nur schläfrig fühlten und ausruhen wollten.“
Der Mann stand nun mit den Händen in den Hosentaschen vor ihr. „Sie haben mir Ihren Namen noch nicht gesagt.“
„Fleming.“ Sie ärgerte sich, dass er ihren Vorwurf nicht einmal abstritt. „Vivian Fleming. Gute Nacht.“
„Einen Augenblick noch.“ Wieder hielt er sie zurück. Sie wandte sich um und zwang sich, ihn kühl anzuschauen. Verwirrt fragte sie sich, warum ihr Herz auf einmal so pochte.
„Ich möchte es Ihnen erklären.“
„Das ist nicht nötig.“
„Ich glaube schon. Ich war nicht betrunken, wie Sie anscheinend denken. Die Flasche gehört mir nicht“, sagte der Fremde.
„Ach, wirklich?“
„Ja, wirklich. Sie werden bemerkt haben, dass sie nicht verschlossen war. Ich hatte vor, sie auszuschütten, aber ich war sehr müde und muss wohl im Auto eingeschlafen sein.“
„Wollen Sie damit sagen, Sie wären völlig nüchtern?“, fragte sie ungläubig.
„Nein, im Flugzeug habe ich etwas Wein getrunken.“
„Im Flugzeug?“
„Ich komme aus New York. Wahrscheinlich bin ich deshalb so müde. Ich habe seit 24 Stunden nicht geschlafen.“
Vivian wollte ihn darauf hinweisen, dass der Flug von New York nicht so lange dauerte, doch dann würde er denken, sie wartete auf weitere Erklärungen. Aber schließlich brauchte er sich vor ihr nicht zu rechtfertigen.
Sie zwang sich zu einem höflichen Lächeln. „Dann habe ich mich wohl geirrt. Entschuldigen Sie bitte.“
„Im Gegenteil, Sie haben getan, was Sie für das Beste hielten. Wäre ich tatsächlich bewusstlos gewesen, hätte ich Ihre Hilfe vielleicht benötigt.“
„Sprechen wir nicht mehr davon. Ich muss gehen.“
„Sie müssen mir erlauben, Sie nach Hause zu fahren.“ Er ging neben ihr her. Er ließ seinen Wagen unverschlossen zurück. Wieder ergriff er ihren Arm. „Glauben Sie mir, ich bin nicht betrunken. Sie sind ganz sicher bei mir.“
Vivian war sich nicht sicher, ob sie dem Fremden vertrauen konnte. Es war lächerlich, aber sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann sie in Schwierigkeiten bringen würde. Obwohl es keinen Grund zur Beunruhigung gab, wehrte sie sich gefühlsmäßig gegen seine starke Anziehungskraft. Sie war immerhin mit Roger verlobt. Nur wegen ihres lächerlichen Streits konnte sie sich doch nicht so von einem anderen Mann beeindrucken lassen. Auch dann nicht, wenn dieser Mann selbstsicher und reich war.
„Dort steht mein Wagen.“ Sie zeigte auf den Mini ein paar Schritte weiter und machte sich entschlossen von ihm los. „Danke, aber ich brauche niemanden, der mich nach Hause fährt. Gute Nacht.“
Er ließ sie nicht aus den Augen, während Vivian ungeschickt versuchte, den Wagenschlüssel ins Schloss zu stecken. Sie glaubte, die Berührung seiner Hände auf ihrer Haut zu fühlen.
Sie öffnete die Tür. Hastig setzte sie sich in den Wagen und ließ den Motor an. Doch sie hatte sich umsonst aufgeregt, denn der Mann rührte sich nicht. Im Rückspiegel bemerkte Vivian, dass er sie beim Anfahren beobachtete, sich dann umdrehte und ruhig zu seinem eigenen Auto zurückging.
„Du warst gestern Nacht früh zu Hause.“ Jane stellte Vivian eine Tasse Tee ans Bett. Sie bemerkte dunkle Schatten unter den Augen ihrer Freundin. „Es war kurz nach Mitternacht, oder? Ich hatte dich nicht vor drei erwartet.“
Vivian richtete sich in den Kissen auf. „Ich bin früh gegangen. Roger und ich hatten Streit.“
„Ich verstehe. Deshalb konntest du also nicht schlafen. Worum ging es diesmal? Oder war es das Übliche?“
Vivian nippte an dem starken, süßen Tee. Sie überlegte, warum sie sich so schuldig fühlte. Jane spielte darauf an, dass sie mit Roger schon mehrmals über ihre bevorstehende Hochzeit und vor allem über die Rolle seiner Mutter dabei gestritten hatten. Doch war dies nicht der Grund für ihre schlaflose Nacht gewesen.
„Inzwischen muss er doch eingesehen haben, dass du nicht Mrs. Harrington die Vorbereitungen treffen lassen willst.“ Jane ging durch das Zimmer, zog die Vorhänge zurück und hob Vivians Strumpfhose vom Boden auf. „Schließlich hast du ja auch eine Familie.“
„Das ist richtig, aber weil meine Eltern geschieden sind, will sie nun eben alles in die Hand nehmen. Außerdem scheint sie Mutter nicht zu mögen. Von meinem Vater hält sie überhaupt nichts.“
„Dein Vater hat sich bei deinen zukünftigen Schwiegereltern auch nicht gerade beliebt gemacht.“
Wenn Vivian an ihre Verlobungsparty zurückdachte, musste sie Jane recht geben. „Er könnte wenigstens den Partyservice bezahlen. Um die Kleinigkeiten würde ich mich kümmern.“
„Mrs. Harrington plant wahrscheinlich eine aufregende Feier“, sagte Jane nachdenklich. „Wir sollten sie nicht schlechter machen, als sie ist. Vielleicht will sie dir nur die Arbeit ersparen. Immerhin bist du berufstätig. Sie hat eben genug Zeit. Dabei fällt mir ein, es ist schon Viertel vor acht.“
Vivian sah erschrocken auf die Uhr. Sie stürzte den Tee hinunter und sprang aus dem Bett. „Warum sagst du das erst jetzt?“
„Nur keine Panik. Möchtest du etwas essen?“
„Dazu habe ich keine Zeit mehr.“ Vivian zog das Baumwollnachthemd über den Kopf und nahm frische Wäsche aus einer Schublade. „Mr. Black fährt um halb zehn nach Chelmsford. Ich habe versprochen, früh im Büro zu sein, damit wir vorher noch die Post erledigen können.“
„Manchmal frage ich mich, was er wohl ohne dich anfangen würde.“
„Das frage ich mich auch. Aber ich will es lieber nicht darauf ankommen lassen“, erwiderte Vivian und verschwand im Badezimmer.
Eine Viertelstunde später erschien Vivian wieder in der Küche. Jane sah von ihrer Morgenzeitung auf. „Du hast noch fünf Minuten Zeit.“
„Wie sehe ich aus?“
„Gut, wie immer.“ In Janes Antwort lag eine Spur Neid. „Das nächste Mal komme ich auch als blauäugige Schönheit auf die Welt.“
Vivian lachte. „Hoffentlich nicht mit solchem Haar.“ Sie strich über ihr langes Haar, das ungebändigt auf ihre Schultern herabfiel. „Manchmal überlege ich, ob ich es abschneiden lassen soll, aber Roger gefällt es so besser.“
„Das glaube ich gern.“ Jane dachte missbilligend an ihr eigenes glanzloses Haar. „Außerdem kannst du es bei deiner Größe so lang tragen. Genug der Komplimente, trink lieber deinen Tee. Ich möchte noch abwaschen, bevor ich gehe.“
„Wann hast du heute Unterricht?“, erkundigte sich Vivian hastig. Jane war Geschichtslehrerin an der örtlichen Gesamtschule und musste sich nicht wie Vivian durch den morgendlichen Berufsverkehr in Richtung City quälen.
„Erst um zehn.“ Jane nahm sich noch eine Scheibe Toast. Im Gegensatz zu Vivian frühstückte sie immer reichlich, und ihre Vorliebe fürs Essen war deutlich an ihrer molligen Figur zu erkennen. „Bist du sicher, dass du nichts essen möchtest?“
„Ich hole mir in der Pause ein Sandwich aus dem Automaten“, beruhigte Vivian sie. Sie stellte die Tasse ab und nahm ihre Kostümjacke. „Zum Glück regnet es nicht. Wenigstens werden die Busse nicht allzu voll sein.“
Fünf Minuten später lief Vivian die Oakwood Road zur Bushaltestelle hinunter. Sie fuhr nie mit dem Wagen zur Arbeit, weil das während der Hauptverkehrszeit einfach zu ermüdend war. Wenn allerdings die Busse an der Haltestelle vorbeifuhren und wegen Überfüllung keine weiteren Fahrgäste mitnahmen, ärgerte sie sich, dass sie nicht den Wagen genommen hatte.
Der sonnige Morgen kündigte schon den Frühling an. Im Oakwood Park blühten die ersten Narzissen, und ein graues Eichhörnchen war auf Futtersuche. Vivian genoss das schöne Wetter. Nächste Woche fing bereits der März an, also würden Roger und sie in kaum zehn Wochen heiraten. Dann würde sich seine Mutter nicht mehr so sehr in seine Angelegenheiten einmischen können und müsste begreifen, dass sie nicht länger die wichtigste Frau im Leben ihres Sohnes war. Im Augenblick übte sie noch einen starken Einfluss auf Roger aus, aber das würde sich nach der Hochzeit ändern.
Wieder fiel ihr der gestrige Abend ein. Ihr ungewolltes Interesse an dem Fremden war nur die natürliche Folge der Auseinandersetzung mit Roger gewesen. Die recht ungewöhnliche Begegnung machte ihre Neugier verständlich, besonders, wenn man sein blendendes Aussehen in Betracht zog. Durch seine unregelmäßigen, harten Züge wirkte er männlicher als Roger. Er hatte eine kaum zu erklärende Ausstrahlung.
Vivian ärgerte sich über ihre Gedanken, während sie in der Schlange an der Bushaltestelle stand. Ihre gute Laune verflog. Was war nur mit ihr los? Warum konnte sie die letzte Nacht nicht vergessen? Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie diesen Mann jemals wiedersehen würde.
Arthur Black, der Anwalt, für den Vivian arbeitete, wartete schon ungeduldig im Büro auf sie.
„Sie sind spät dran“, wies er sie zurecht. „Ich hatte Sie gebeten, um Viertel vor neun hier zu sein, Miss Fleming. Jetzt ist es bereits fünf nach neun. Uns bleiben nur noch fünfundzwanzig Minuten, bis ich fort muss.“
„Es tut mir leid, aber der Verkehr war wieder …“
„… schrecklich, ich weiß“, unterbrach er sie kurz angebunden und ging in sein Büro. „Es ist immer die gleiche Entschuldigung“, rief er, während sie Stenoblock und Bleistifte aus einer Schublade nahm.
Missmutig folgte Vivian ihm in sein Büro. Sie fröstelte, denn die Gasheizung kam nur langsam in Gang. Das alte Gebäude hatte dringend eine Renovierung nötig, doch es war unwahrscheinlich, dass die Kanzlei Hector, Hollis & Black sie durchführen lassen würde. Vivians Vorgesetzte schienen sich auf den muffigen Fluren und in den schäbigen, dunklen Büros wohlzufühlen. Trotzdem hatten sie mehr als genug Mandanten. Immerhin beschäftigte die Kanzlei einige der brillantesten Juristen.
Bei dem Eintritt in die Firma hatte Vivian mit Neugierde der Zusammenarbeit mit ihnen entgegengesehen. Inzwischen war ihre anfängliche Begeisterung etwas abgekühlt. Nachdem sie jetzt seit zwei Jahren Mr. Blacks Sekretärin war, sah sie diesen Beruf nicht mehr durch eine rosarote Brille. Die Arbeit in einer Anwaltskanzlei war bei Weitem nicht so interessant und abwechslungsreich, wie sie es sich vorgestellt hatte, sondern meistens recht eintönig.
„Ich werde fast den ganzen Morgen bei Gericht sein“, kündigte ihr Mr. Black an. Er hatte ihr einige Briefe diktiert, andere dagegen zur selbstständigen Erledigung überlassen. „Ich werde Sie anrufen, falls etwas Wichtiges sein sollte. Sie werden doch hier sein, oder gehen Sie zum Mittagessen aus?“
Vivian schüttelte den Kopf. „Nein, Roger spielt heute Vormittag Golf. Ich sehe ihn erst am Abend.“ Sie fragte sich im Stillen, ob er überhaupt kommen würde. Nach dem gestrigen Streit erwartete er vielleicht, dass sie den ersten Schritt tat.
„Dann ist es ja gut. Ihr Freund hat offenbar viel Freizeit. Arbeitet er eigentlich nie?“
„Natürlich, aber er ist selbstständig und kann sich seine Zeit einteilen.“
Mr. Black war wenig beeindruckt. „Er besitzt Modeboutiquen, nicht wahr?“
„Roger ist Unternehmensberater.“ Vivian stand auf. „Ist das alles, Mr. Black? Soll ich Mr. Perry wegen des Falles Latimer anrufen?“
Mr. Black verschränkte die Arme. Er schien über diesen Themenwechsel verärgert. „Ja, machen Sie am Freitag einen Termin für mich aus.“
Einige Zeit nachdem Mr. Black die Kanzlei verlassen hatte, erschien Sophie Tennant verschwörerisch lächelnd in Vivians Büro. „Rate mal, was passiert ist. Mr. Rennison will mich zum Essen ausführen. Soll ich seine Einladung annehmen?“
Vivian überflog den Brief, den sie gerade getippt hatte. Dann sah sie zu dem Mädchen auf, das entspannt auf der Kante ihres Schreibtisches saß. Sophie war achtzehn Jahre alt, also vier Jahre jünger als sie selbst, und genauso optimistisch wie Vivian am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn. Mit ihrem blonden Haar, den blauen Augen und der zarten Haut hatte Sophie das Interesse eines der Juniorpartner auf sich gezogen.
„Er ist verheiratet. Ich kenne seine Frau, sie ist sehr nett.“
„Das heißt also, ich soll ablehnen?“
„Das musst du selbst entscheiden. Nur, es ist nicht das erste Mal, dass er sich an eine von uns heranmacht.“
„Na, und? Ich bin zu dir gekommen, weil ich dachte, du würdest mich verstehen. Die anderen sind alle so alt.“
„Ich würde Mary Villiers aber nicht gerade alt nennen.“
„Sie ist immerhin schon sechsundzwanzig. Außer dir sind alle Sekretärinnen sehr viel älter als ich. Wenn du hier weggehst, habe ich niemanden mehr, mit dem ich reden kann.“
„Ich habe nicht vor, meinen Beruf aufzugeben, wenn ich verheiratet bin.“
„Das sagst du jetzt. Wenn du schwanger bist, wirst du es dir überlegen müssen.“
Das war zwar richtig, aber Vivian hielt diese Möglichkeit für unwahrscheinlich. Roger hatte mehrmals gesagt, dass er nicht sofort eine Familie gründen wollte, sondern damit noch warten wollte. Trotz seiner sonst so modernen Ansichten verhielt er sich sehr zurückhaltend zu ihr. Bis jetzt hatten sie noch nicht miteinander geschlafen. „Also, was meinst du nun dazu?“, beharrte Sophie. „Schließlich ist es ja nur ein Mittagessen, nichts weiter.“
Vivian zuckte die Schultern. „Hoffentlich ist er derselben Ansicht.“
„Was willst du damit sagen?“
„Versetze dich einmal in die Lage seiner Frau. Hältst du es für richtig, ihn zu ermutigen, sie zu betrügen?“
Sophie seufzte. „Er ist sehr attraktiv, findest du nicht?“
„Ja, wenn man für ehemalige Rugby-Spieler schwärmt“, entgegnete Vivian trocken.
„Du bist mir keine große Hilfe. Warst du niemals in Versuchung, mit einem anderen Mann auszugehen? Du bist jetzt bereits seit einer Ewigkeit mit Roger zusammen. Du hast dich doch bestimmt schon einmal zu einem anderen Mann hingezogen gefühlt.“
„Ich glaube nicht.“ Sophies Bemerkung erinnerte sie wieder an den gestrigen Vorfall. „Hör mal, ich muss weiterarbeiten. Du musst selbst eine Entscheidung treffen. Es ist dein Leben, nicht meines.“
Es war beinahe Mittag, als in der Telefonzentrale ein Gespräch für Vivian einging. „Das wird Mr. Black sein“, vermutete sie und griff schon nach ihrem Stenoblock, aber Jennifer, die Telefonistin, wehrte ab.
„Mr. Black hätte ich direkt durchgestellt. Roger natürlich auch. Dieser Mann hier will seinen Namen nicht nennen. Ich hielt es für besser, Sie erst zu fragen, ob Sie das Gespräch annehmen wollen.“
Vivian bekam plötzlich einen trockenen Mund. „Er wollte seinen Namen nicht nennen?“
„Er meinte, Sie könnten damit sowieso nichts anfangen. Wollen Sie ihn nun sprechen, oder soll er zurückrufen, wenn Mr. Black wieder hier ist?“
Vivian schwieg einen Moment, doch dann fragte sie: „Wollte er denn Mr. Black sprechen?“ Sie verspürte auf einmal ein komisches Gefühl.
„Nein, er hat ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Also soll ich ihn jetzt durchstellen? Seine Stimme klingt übrigens sehr sympathisch.“
Wer immer der Anrufer war, er würde wahrscheinlich für Tage Gegenstand des Büroklatsches werden.
„Sagen Sie ihm, dass ich nicht da bin. Wahrscheinlich ist er nur einer dieser Verrückten, die von Zeit zu Zeit anrufen. Versuchen Sie bitte, ihn loszuwerden.“
„Er kannte Ihren Namen“, warf Jennifer zweifelnd ein. „Vielleicht ist er ein Freund Ihres Vaters oder von Roger.“
„Dann soll mich mein Vater oder Roger anrufen.“ Vivian bemühte sich, unbekümmert zu erscheinen. „Machen Sie sich keine Gedanken, Jennifer. Ich werde das später klären.“
„Also gut.“ Offensichtlich war Jennifer enttäuscht, dass sie den Anruf nicht angenommen hatte. Aber es war die richtige Entscheidung gewesen.
Mr. Black rief einige Minuten später an. Vivian hörte seinen Anweisungen allerdings nur mit halbem Ohr zu. Sie versuchte immer noch, sich davon zu überzeugen, dass der Anruf des Fremden nichts mit der Begegnung in der letzten Nacht zu tun hatte.