Arbeit am Kindeswohl -  - E-Book

Arbeit am Kindeswohl E-Book

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Beschreibung

Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Justiz stehen regelmäßig vor der Herausforderung, transdisziplinär das Wohl von Kindern sicherzustellen. Wie solche Kooperationen im Netzwerk der Institutionen, der Familien und weiterer nicht-professioneller Akteure gelingen können, zeigt dieses Buch forschungsbasiert für die Hilfesysteme in der Schweiz und in Deutschland. Dabei wird die Arbeit am Kindeswohl als transdisziplinäre Aufgabe anhand von empirisch untersuchten Fallverläufen im Kinderschutz vorgestellt. Außerdem thematisieren die Autorinnen und Autoren die Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in Deutschland und der Schweiz mit einem Augenmerk auf die gesetzlichen Grundlagen sowie die Beziehungsgestaltung zu betroffenen Eltern und Kindern. Auch die besondere Bedeutung der Schule für den Kinderschutz wird erörtert.

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Der Herausgeber

Dr. Dieter Haller ist Professor für Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Zu seinem Aufgabengebiet gehören Unterricht und Leitungsaufgaben im Masterstudiengang Soziale Arbeit, den die Berner Fachhochschule mit der Hochschule Luzern und der Fachhochschule Ostschweiz anbietet. Sein besonderes Interesse gilt Themen der Sozialen Arbeit an den Schnittstellen von Sozialem, Bildung und Gesundheit. Dieter Haller ist ein Spezialist für Theorien und die Forschungstradition der Interaktionistischen Soziologie.

Dieter Haller (Hrsg.)

Arbeit am Kindeswohl

Soziale Arbeit, Schule und Justiz in Kooperation

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041278-1

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-041279-8

epub:        ISBN 978-3-17-041280-4

Inhalt

 

 

Einführung

Dieter Haller

Teil I Kindeswohl – Soziale Arbeit, Schule und Justiz in Kooperation

Dieter Haller

1   Kindeswohl als Aufgabe von Familie und Gesellschaft

2   Konstituierung der Arbeit am Kindeswohl

3   Versorgungsstrukturen

4   Versorgung und Fallgeschehen

5   Versorgungsmodelle

6   Lebenswelt der Familien

7   Kinderschutzverläufe

8   Schlussbetrachtung und Empfehlungen

Teil II Vertiefungen

9   Das Erleben und Handeln betroffener Elternteile – Zur Bedeutung der Beziehungsgestaltung zwischen Professionellen und Elternteilen

Birgit Kalter

10 Das Erleben des Kindes im Kontakt mit nicht-professionellen Akteuren im Gefährdungskontext

Julia Schatzschneider

11 Erkennen, Klären, Kooperieren – Gefährdungsmanagement in der Schule in der Schweiz

Regina Jenzer

12 Versorgung und Fallgeschehen – Vergleich der Versorgungsräume aus quantitativer Sicht

Jodok Läser

13 Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in Deutschland und der Schweiz

Julia Schatzschneider

Dank

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Einführung

Dieter Haller

MehrNetzWert: Kindeswohl unter der Lupe

Forscherinnen und Forscher der Berner Fachhochschule und der Universität Duisburg-Essen bearbeiteten während der Jahre 2015 bis 2019 das Forschungsprojekt MehrNetzWert. Im Mittelpunkt dieser Forschung stehen zehn- bis 16-jährige Kinder und Jugendliche in Gefährdungssituationen sowie die Institutionen und Fachkräfte, welche sie und ihre Familien unterstützen. Die Gefährdung des Kindeswohls ist ein Thema mit hoher gesellschaftlicher Relevanz, das Betroffenheit auslöst. Die Gefährdungslagen sind vielfältig. Kinder können unter Vernachlässigung, Erwachsenenkonflikten, physischer, psychischer oder sexueller Gewalt oder Autonomiekonflikten leiden (Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2012, S. 11f).

Mit der Forschung MehrNetzWert wollen die Berner Fachhochschule und das Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung der Universität Duisburg-Essen einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Hilfen an Kinder und Familien in Gefährdungslagen leisten. Der Projekttitel MehrNetzWert ist ein Wortspiel: Es geht um das Netzwerk der Institutionen, welches Kinder und Familien unterstützt sowie um die Annahme, dass mit mehr Netz – mit einer Reflexion und einer Stärkung des Netzgedankens – Mehrwerte erzeugt werden können. Verschiedene Studien orteten Bedarf, das Netzwerk der Institutionen weiter zu entwickeln: Im Vordergrund steht die Kooperation der zahlreichen am Fall beteiligten Professionellen, welche als »betriebsames Nebeneinander« bezeichnet wurde. Weiter wurde auf den geringen Einbezug der betroffenen Kinder bei der Planung und Umsetzung der Hilfen hingewiesen (Voll et al., 2008, S. 64 und 225ff). Insgesamt bilden im Kinderschutzgeschehen die Art und die Qualität der Kooperation der Beteiligten eine entscheidende Einflussgröße. Die Zusammenarbeit von Fachpersonen über Institutionsgrenzen hinweg wurde deshalb auch als »Achillesferse« des Kinderschutzes bezeichnet (Schnurr, 2012, S. 251). Außerdem traten im Jahr 2013 in der Schweiz neue gesetzliche Bestimmungen des Kinder- und Erwachsenenschutzes in Kraft, die sich auf die Organisation des Kinderschutzes stark auswirken. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) sind seitdem regional installiert und professionalisiert. Neu entscheiden sie als Fachbehörden über Kinderschutzmaßnahmen und erteilen die entsprechenden Aufträge für Beistandschaften, spezialisierte Beratungen, Therapien usw.

Vor diesem Hintergrund bilden die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien sowie die Professionellen der Bereiche Soziale Arbeit, Schule und Justiz die Zielgruppe der Forschung MehrNetzWert. Diese Fachkräfte sind in einem geografischen Raum für die Bildung, Begleitung und Unterstützung der Kinder zuständig. In Gefährdungssituationen gestalten sie die Fallverläufe maßgebend mit und tragen zu entsprechenden Ergebnissen bei. Daher wird das Zusammenwirken der beteiligten Akteure als Forschungsgegenstand definiert. Das Projekt fokussiert somit nicht die einzelnen Kinder, sondern die »Handlungsgemeinschaften«, welche die Kinder und Jugendlichen in Gefährdungssituationen zusammen mit ihren Familien und den involvierten institutionellen Akteuren bilden. Der gewählte Fokus beinhaltet auch eine Begrenzung: Die Institutionen und Fachkräfte des Gesundheitsbereichs wurden ausgeklammert. Sie sind zwar erheblich an der Arbeit am Kindeswohl beteiligt, ihr Einbezug hätte jedoch die Grenzen des im Projekt Bearbeitbaren gesprengt.

MehrNetzWert verfolgt die Hauptzielsetzung, Wissen für die Optimierung der Unterstützungsprozesse zu generieren: zum einen Wissen zur Gestaltung der professionellen Unterstützung, zum anderen Wissen zur Weiterentwicklung der Kooperationen der an der Unterstützung beteiligten Fachkräfte. Zur Erreichung dieser Zielsetzung ist ein Projektdesign gefragt, welches dem vielschichtigen, interaktiven und prozessualen Geschehen im Untersuchungsfeld und den Perspektiven der Anspruchsgruppen gerecht wird. Im ersten Forschungsteil wird das Geschehen rund um die Interaktionen zwischen Kindern/Jugendlichen mit ihren Erziehungsberechtigten und den Fachkräften der Schule und des weiteren Unterstützungssystems untersucht. Aus diesen Ergebnissen werden Folgerungen für die Optimierung von Unterstützungsprozessen formuliert. Eine zweite Projektetappe dient der Kontextualisierung, Verdichtung und Validierung der erarbeiteten Folgerungen durch Expertise. Im Frühjahr 2019 bewertete und erwog eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von 33 Expertinnen und Experten die erarbeiteten Ergebnisse und Folgerungen. Außerdem fand im Juni 2019 eine zweitätige Fachtagung statt, an welcher die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert wurden.

Verankerung

Die Forschung MehrNetzWert ist theoretisch und methodisch in der Interaktionistischen Sozialwissenschaft verankert. Das schweizerisch-deutsche Forschungsteam orientierte sich an der Handlungstheorie von Anselm Strauss, insbesondere an dessen Konzept des Trajectory. Diese Denkfigur bezeichnet einen von einer Akteursgruppe gemeinsam gestalteten Handlungsprozess, betrachtet unter den jeweiligen bio-psychosozialen Voraussetzungen der Akteure sowie den ökonomischen und kulturellen Bedingungen im gesellschaftlichen Umfeld (Strauss, 1993; Soeffner, 1991; Haller, 2000; Strübing, 2007). Folglich werden in MehrNetzWert die Handlungsprozesse der Fachkräfte der Bereiche Bildung, Soziales, Sicherheit und Recht untersucht, welche die Arbeit am Kindeswohl in einem geografischen Raum in Interaktion mit den Familien gestalten. Dieses prozessuale Zusammenwirken der beteiligten Akteure bildet den zentralen Forschungsgegenstand in MehrNetzWert.

Zudem ist die Studie MehrNetzWert in der Methodologie der Grounded Theory verankert. Das Forschungsteam orientierte sich an der von Anselm Strauss und Juliet Corbin entwickelten Variante des Ansatzes (Strauss & Corbin, 1990; Corbin & Strauss, 2015; Strübing, 2008). Dieser fokussiert die sozialen Prozesse im Untersuchungsfeld und ermöglicht, Handlungs- und Interaktionsmuster im Sinne des erwähnten Trajectory-Konzepts zu entdecken und zu beschreiben.

In Forschungen im Stil der Grounded Theory beginnt die Datenanalyse unmittelbar nach den ersten Datenerhebungen. Von Offenem Kodieren wird gesprochen, wenn Kategorien entdeckt und analysiert werden. Wenn die Zusammenhänge zwischen den entwickelten Kategorien untersucht werden, wird dies als Axiales Kodieren bezeichnet. Weitere prägende analytische Prozeduren bilden das kontinuierliche Vergleichen provisorischer Ergebnisse und das induktive und deduktive Reflektieren. Arbeitsschritte zur Verifikation von provisorischen Aussagen – auch die Auswahl weiterer Untersuchungsfälle – geschehen in Hinblick auf die Verdichtung der entstehenden Kategoriensysteme, die im abschließenden Prozess des Selektiven Kodierens einen höheren Abstraktionsgrad erhalten. Ziel ist die Erarbeitung von Typen und Typologien, die in den Daten gestützt begründet werden können (Strauss & Corbin, 1990). Glaser und Strauss, die Begründer der Grounded Theory, sprachen in diesem Zusammenhang von substantiven Theorien (Glaser & Strauss, 1998, S. 41ff). Sie formulierten vier Kriterien, die ein mit der Grounded Theory entwickeltes Ergebnis auszeichnen:

•  Die erarbeiteten Aussagen sollen den untersuchten Gegenstand realitätsnah abbilden.

•  Die Ergebnisse sollen genügend Variationen und somit eine hohe Aussagekraft enthalten.

•  Trotz der wissenschaftlichen Erarbeitung sollen die Aussagen auch für die untersuchten Personen verständlich sein.

•  Schließlich besteht der Anspruch, dass Ergebnisse eine Basis für kontrolliert gesteuertes, professionelles Handeln im untersuchten Feld bilden sollen.

Ergebnisse

Die Darstellung von Grounded Theory-Ergebnissen weist spezifische Eigenschaften auf. So beinhalten die Beiträge der folgenden Seiten verallgemeinernde Aussagen – im Sinne der erwähnten substantiven Theorie. Mit einer typisierten Darstellung wird jeweils das Grundgerüst des Geschehens im Untersuchungsfeld aufgezeigt. Hierzu werden die entwickelten Kategorien und die postulierten Zusammenhänge auch grafisch dargestellt. In diesem theoretisierenden Stil findet sich in diesem Band bspw. eine Systematik zum Aufbau von Kooperationen im Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang (Kap. 2.4). Oder es werden typische Muster des Elternhandelns in Gefährdungsverläufen beschrieben. Diese stark verdichteten, theoretisierenden Ausführungen zu Mustern im Geschehen werden mit Darstellungen über Variationen ergänzt. Die Beschreibungen von Mustern haben einen theoretischen Gehalt. Die Variationen haben die Funktion, die theoretischen Aussagen zu veranschaulichen (Strauss & Corbin, 1990, S. 23ff). Variationen werden häufig mit Wendungen wie »Zum Beispiel« oder »Dies kann geschehen, wenn …« eingeleitet. Die erkenntnistheoretische Funktion eines Typus oder eines Musters wird dabei im Sinne von Max Weber als Idealtypus verstanden: Typen fassen die in den Daten empirisch analysierten Einzelereignisse zu gedanklichen Figuren zusammen. Diese modellhaften Beschreibungen sind von den reellen Vorgängen abstrahiert und stellen keine Einzelerscheinungen der Wirklichkeit dar. Der Einzelfall kann aber mit den typisierten Darstellungen verglichen werden. Der Vergleich soll die Erkenntnis über Einzelfälle in der Praxis bereichern (Weber, 1988, S. 190, Haller, 2005, S. 44f).

Trotz des theoretisierenden Abstraktionsniveaus bleibt die Ergebnisdarstellung mit dem Konkreten im Untersuchungsfeld verbunden: So kommt die Sprache des Feldes in den Ergebnissen direkt zum Ausdruck, wenn Aussagen von befragten Kindern, Elternteilen und Fachkräften zitiert werden. Die Zitate aus Interviews dienen jedoch eher der illustrativen Ergänzung. Die Darstellung auf konzeptuellem Niveau steht im Vordergrund. Dazu Anselm Strauss:

»In unseren Monographien […] versuchen wir, die Daten intensiv zu analysieren [… ,] sodass wir daraus eine integrierte und dichte Theorie konstruieren können. Also sind Zitate aus Interviews und Beobachtungsprotokollen im Allgemeinen überschaubar und oftmals in die Analyse eingearbeitet. Längere Zitate […] werden herangezogen, um Fallbeispiele zu illustrieren […] Und weil viele Leser mit dem, was [im Untersuchungsfeld] vor sich geht, vielleicht überhaupt nicht vertraut sind, wird das Illustrationsmaterial dazu benutzt, diese Lücken zu schließen, auch wenn wir dieses Problem im allgemeinen mit unseren eigenen Worten lösen« (Strauss, 1991, S. 331f).

Schlussendlich bildet die konsequent datengestützte Beschreibung der untersuchten Prozesse ein auffallendes, vielleicht auch überraschendes Merkmal der Beiträge dieses Bandes, die im Stil der Grounded Theory erarbeitet sind. Die Argumentation erschließt sich aus den erhobenen Daten; die Bezüge zu bestehender Fachliteratur sind sekundär.

Forschungsdesign

MehrNetzWert arbeitet mit der These, dass die durch Gesetze formierte institutionelle Ausgestaltung der Hilfen an Kinder, Jugendliche und Familien einen entscheidenden Einfluss auf die Unterstützungsverläufe im Kinderschutz hat (vgl. Schone, 2003, S. 277; Voll et al., 2008, S. 53). Das Geschehen auf der Ebene der Einzelfälle soll in Zusammenhang mit dem Geschehen auf der Ebene der institutionellen Versorgung analysiert werden. Hierzu werden in MehrNetzWert vier unterschiedliche Versorgungsräume in der Schweiz und in Deutschland untersucht. In beiden Ländern werden je ein ländlicher und ein städtischer Versorgungsraum einbezogen, da die Versorgungssysteme in weniger dicht besiedelten Regionen anders strukturiert sind als in Städten.1 Der damit angelegte länderübergreifende Vergleich soll die breite inhaltliche und empirische Auseinandersetzung fördern. Die Forschungsstrategie beinhaltete drei empirische Schritte.

(1) Standardisierte Erhebung von Merkmalen der Kinder und des Unterstützungsverlaufs

In den vier Versorgungsräumen wurden die Fallverläufe der zehn bis 16 Jahre alten Kinder bzw. Jugendlichen, die in den Jahren 2013 und 2014 von einer Gefährdungsmeldung betroffen waren, untersucht. Grundlage dieser Datenerhebung bildete die Akte der jeweiligen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) in der Schweiz und des Jugendamts in Deutschland. Erhoben wurden Merkmale des Kindes, der Anlass der Gefährdungsmeldung sowie Eckdaten des Fallverlaufs und allfälliger Interventionen und Maßnahmen. Zusätzlich erfolgte eine standardisierte Erhebung zur Ressourcenlage der Kinder/Jugendlichen. Jodok Läser stellt in seinem Beitrag Ergebnisse der standardisierten Erhebungen in den Vordergrund (Kap. 12).

(2) Fallstudien Kinder, Elternteile und Versorgungsräume

Den großen Teil des Datenmaterials von MehrNetzWert bilden Textdaten, die in Qualitativen Interviews erhoben wurden. Insgesamt konnten 25 Fallstudien mit zehn- bis 16-jährigen Kindern bzw. Jugendlichen verteilt auf die vier Versorgungsräume erhoben werden. In einigen Fällen wurden mehrere Kinder einer Familie befragt. In einem Fall konnte zur Vertiefung ein zweites Gespräch stattfinden. Auf Basis von Interviews mit Elternteilen wurden elf Fallstudien bearbeitet; teils handelte es sich um Erziehungsberechtigte bereits befragter Kinder.

Die Auswahl der Untersuchungsfälle erfolgte entlang des Hauptkriteriums, dass eine Gefährdungsmeldung vorlag. Im Laufe der empirischen Arbeit konnten spezifischere Kriterien wie die Art der Kinderschutzmaßnahme oder Merkmale des Kindes wie Geschlecht oder Migrationshintergrund einbezogen werden. Der Methodologie der Grounded Theory und den Vorgaben des Theoretical Samplings folgend bestand die Zielsetzung, die Untersuchungsfälle stufenweise so zu wählen, dass die Geschehnisse im Untersuchungsfeld Schritt für Schritt erschlossen und konzeptuell dicht und gleichzeitig variationsreich beschrieben werden konnten (Glaser & Strauss, 1998; Haller, 2000).

Nach denselben Auswahlverfahren wurden, verteilt auf die vier Versorgungsräume, insgesamt 50 Interviews mit Fach- und Führungskräften sozialer Dienste, der Schule, ambulanter Beratungsstellen, stationärer Einrichtungen und der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bzw. des Jugendamts geführt. Diese Gespräche fanden fast ausnahmslos als Gruppeninterviews mit bis zu sechs Teilnehmenden statt.

Die Interviews wurden im Stil sogenannter problemzentrierter Interviews geführt. Diese lassen zu Beginn viel Raum für die Erzähllogik der Befragten offen, bevor im zweiten Teil aus der Perspektive der Forschenden Verständnisfragen formuliert werden (Witzel, 1982, S. 92ff). Nach den Gesprächen wurden die Teilnehmenden in einem standardisierten Format um Angaben zu ihrer Person und weiterer Themen gebeten. Die als Audiodateien aufgezeichneten Gespräche wurden transkribiert und mit den oben beschriebenen Kodierverfahren analysiert.

(3) Einbezug von Expertinnen und Experten

Im Frühjahr 2019 lagen die Ergebnisse im Entwurf vor. Darauf abgestützt formulierte das Forschungsteam Empfehlungen für das kooperative Handeln der Fachkräfte der Bereiche Soziale Arbeit, Schule und Justiz. Diese Empfehlungen wurden von 33 Expertinnen und Experten beurteilt, die in Kinderschutzbehörden bzw. Jugendämtern, in sozialen Diensten, in Schulen und in der Jugendhilfeforschung tätig sind. Die Ergebnisse dieser halbstandardisierten Befragung dienten der Validierung und Weiterentwicklung der Studienergebnisse und der Entwicklung der am Schluss dieses Beitrags formulierten Empfehlungen.

Führungs- und Fachkräfte aus Institutionen der Kinder- und Jugendhilfen leisteten aufwändige Beiträge zum Gelingen der Forschung MehrNetzWert. Unter anderem garantierten sie zur Rekrutierung der sensiblen Zielgruppe der Kinder und Elternteile ein Verfahren, welches forschungsethischen Standards entspricht. In den Jahren 2015 und 2016 wurden diese Projektbeteiligten zur Information über den Projektverlauf und zur Diskussion von Zwischenergebnissen an projektinterne Tagungen eingeladen.

Die Beiträge dieses Buches

Familien verstehen die Arbeit am Kindeswohl als Teil ihres alltäglichen Lebensvollzugs. Parallel dazu gewährleistet die Gesellschaft die Grundversorgung der Kinder in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Freizeit, Sicherheit und Recht. In seinem Beitrag zur Arbeit am Kindeswohl als transdisziplinäre Aufgabe entwickelt Dieter Haller ein umfassendes Modell dieser von den Familien und den institutionellen Akteuren geleisteten Arbeit zum Wohl der Kinder. Dabei werden zentrale Aspekte des Geschehens auf Basis der in den untersuchten Versorgungsräumen erhobenen Daten dargestellt. Beispielsweise wird die besondere Dynamik der Kooperation der Familien und der institutionellen Akteure im Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Zwang herausgearbeitet. Die Interaktionen zwischen den Familien und den natürlich sozialisierenden Institutionen wie der Schule verlaufen anders als jene zwischen Familien und Behörden, die mit Zwangsausübung konnotiert wahrgenommen werden. Die Analyse von Fallverläufen in Versorgungsräumen der Schweiz und Deutschlands führt zu Ergebnissen über Varianten der Ausgestaltung von Kooperations- und Bearbeitungssettings und deren begünstigenden bzw. hinderlichen Auswirkungen auf das Fallgeschehen. Die datenbasiert entwickelten Begrifflichkeiten und Modelle sowie die daraus entwickelten Folgerungen sollen dazu anregen, konkrete Versorgungsstrukturen und Unterstützungsprozesse vergleichend zu reflektieren, das heißt die Praxis weiter zu entwickeln.

Birgit Kalter befasst sich im ersten vertiefenden Beitrag mit dem Erleben und Handeln betroffener Elternteile und mit der Beziehungsgestaltung zwischen Professionellen und Elternteilen. Was Eltern konkret im Verlauf einer Maßnahme zur Abwendung von Gefährdungen für ihr Kind tun und wie sie im Zusammentreffen mit Fachkräften agieren, ist variationsreich. Ihr Handeln steht im Zusammenhang mit den Eigenarten eines komplexen Bedingungsgefüges und erhält dadurch seinen je individuellen Ausdruck. Vom Einzelfall abstrahiert lässt sich das Handeln der Eltern dennoch typisieren. Die Autorin beschreibt vier Typen des Elternhandelns: Widersetzen, Dulden, Instrumentalisieren und Kooperieren. Die Typen zeigen grundlegende Prägungen, denen das Handeln der Eltern unterliegt. Die Befunde werden im Hinblick auf Folgerungen für die Gestaltung des kooperierenden Zusammenwirkens von Elternteilen und Fachkräften kritisch diskutiert.

Das Erleben der Kinder im Kontakt mit nicht-professionellen Akteurinnen und Akteuren steht im Zentrum des ersten der beiden Texte von Julia Schatzschneider. In den Interviews berichten die Kinder und Jugendlichen über weitere Personengruppen, die neben ihren Eltern, Müttern, Vätern und Geschwistern sowie den in den Unterstützungsprozess involvierten Fachkräften für sie bedeutsam sind. Die Autorin fokussiert diese Interaktionen zwischen den Jugendlichen und Peergroups, Freundinnen und Freunden sowie weiteren Akteurinnen und Akteuren wie entfernteren Familienangehörigen, Erwachsenen aus dem Umfeld und Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern im Rahmen stationärer Unterbringung. Die Frage, inwiefern solche »lebensweltlichen Inseln« für die Kinder und Jugendlichen bedeutsam und in Schutzverfahren erhaltenswert sind, wird untersucht.

Regina Jenzer nimmt die Rolle der Schule in der Früherkennung der Ressourcen und Defizite der Kinder und Familien unter die Lupe. Auf Basis der Interviews mit Fachkräften der Schule und der Sozialen Dienste in der Schweiz thematisiert sie die schulinternen Prozesse, die in Gang kommen, wenn Lehrkräfte die Gefährdung eines Kindes vermuten. Die diesbezügliche Arbeit der Schule entwickelt sich typischerweise in drei Phasen: Beobachten und Erkennen von Auffälligkeiten, Definieren eines Gefährdungsbildes und Installieren von Hilfen. Entscheidet sich die Schule, die Gefährdung eines Kindes zu thematisieren, wird die Gestaltung der Interaktion mit der Familie zur besonders anspruchsvollen Aufgabe. Werden zudem externe Hilfen initiiert, stellen sich Herausforderungen der interdisziplinären Kooperation. Der Beitrag beleuchtet förderliche und hinderliche Bedingungen des Umgangs mit Kindeswohlgefährdungen in Schulen und in der Kooperation von Schulen mit sozialen Diensten und Behörden.

Wie dargelegt, wurden im Rahmen der Forschung MehrNetzWert nebst den gegen 100 durchgeführten Qualitativen Interviews auch standardisierte Daten aus Akten gewonnen. Der Beitrag von Jodok Läser behandelt ausgewählte Themenfelder, in denen die mit Grounded Theory erarbeiteten Ergebnisse mit Resultaten der quantitativen Untersuchungen kontrastiert werden. Beispielsweise wird erörtert, ob eine auf Prävention angelegte Versorgungsstruktur mit einer geringeren Zahl von Gefährdungsmeldungen einhergeht. Das standardisierte Datenmaterial erlaubt auch eine Quantifizierung der verschiedenen geleisteten Interventionen im Umfeld der jeweils geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen.

Um die Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in Deutschland und der Schweiz geht es schließlich im zweiten Beitrag von Julia Schatzschneider. Sie verortet in einer vergleichenden Perspektive den Kinderschutz in Deutschland und in der Schweiz. Die Autorin nimmt Begriffsbestimmungen vor und beschreibt die rechtlichen Voraussetzungen und die wichtigsten institutionellen Akteure in den beiden Ländern. Es folgt eine Besprechung der wichtigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Der Beitrag unterscheidet sich von den übrigen Texten des Sammelbandes. Das Ergebnis wird nicht auf Basis empirischer Daten entwickelt, die im Rahmen der Forschung MehrNetzWert erhoben wurden. Die Grundlagen bilden Fachartikel, Gesetzestexte und bereits vorliegende Studien.

Literatur

Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft. (2012). Gewalt und Vernachlässigung in der Familie: notwendige Maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) vom 5. Oktober 2007. Abgerufen unter http://www.bsv.admin.ch/themen/kinder_jugend_alter/00066/index.

Corbin, Juliet & Strauss, Anselm L. (2015). Basics of Qualitative Research, Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory. Fourth Edition. Los Angeles: Sage.

Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1998). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. (englischsprachige Originalausgabe 1967). Bern: Verlag Hans Huber.

Haller, Dieter (Hrsg.). (2000). Grounded Theory in der Pflegeforschung und anderen Anwendungsfeldern. Bern: Huber.

Haller, Dieter. (2005). Illegaler Substanzkonsum, Abhängigkeit und Therapie im gesellschaftlichen Kontext: Das Beispiel Methadon. Fakten und Grundlagen zur Weiterentwicklung der Suchtbehandlung (Dissertation). Soziologisches Institut der Universität Zürich.

Schnurr, Johannes. (2012). Kooperation und Netzwerkarbeit zur Abwendung von Kindeswohlgefährdung. In: Schone, Reinhold & Tenhaken, Wolfgang (Hrsg.). Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Weinheim: Beltz. S. 251–269.

Schone, Reinhold. (2003). Sozialpädagogische Bewertungsprobleme und Handlungsstrategien bei Kindeswohlgefährdung. In: Kaufmann, Claudia & Ziegler, Franz (Hrsg.). Kindeswohl – eine interdisziplinäre Sicht. Zürich: Verlag Rüegger, S. 257–278.

Soeffner, Hans-Georg. (1991). Trajectory as Intended Fragment: The Critique of Empirical Reason According to Anselm Strauss. In: Maines, David R. (Hrsg.). Social Organization and Social Process, Essays in Honor of Anselm Strauss. New York: Aldine de Gruyter. S. 359–371.

Strauss, Anselm L. (1991). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. München: Wilhelm Fink Verlag.

Strauss, Anselm L. (1993). Continual Permutations of Action. New York: Aldine de Gruyter.

Strauss, Anselm L. & Corbin, Juliet. (1990). Basics of Qualitative Research, Grounded Theory Procedures and Techniques. Newbury Park: Sage.

Strübing, Jörg (2007). Anselm Strauss. Konstanz: UVK verlagsgesellschaft.

Strübing, Jörg (2008). Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Voll, Peter; Jud, Andreas; Mey, Eva; Häfeli, Christoph & Stettler, Martin. (2008). Zivilrechtlicher Kindesschutz: Akteure, Prozesse, Strukturen. Eine empirische Studie mit Kommentaren aus der Praxis. Luzern: Interact.

Weber, Max. (1988). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen: J. C. Mohr (Paul Siebeck).

Witzel, Andreas. (1982). Verfahren qualitativer Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.

1     Die Untersuchungen wurden in den Versorgungsräumen Stadt Bern (Schweiz), Stadt Essen (Deutschland), Verwaltungsbezirk Emmental (Schweiz) und Landkreis St. Wendel (Deutschland) durchgeführt.

Teil I    Kindeswohl – Soziale Arbeit, Schule und Justiz in Kooperation

Dieter Haller

In der Studie MehrNetzWert wurden gegen 100 Forschungsinterviews geführt. Themen waren das Geschehen, das in eine Gefährdungsmeldung mündete, und die Interaktionen zwischen den Familien und den Professionellen. Zum einen nahmen zehn- bis 16-jährige Kinder und Jugendliche sowie Elternteile an Interviews teil; zum anderen wurden Gespräche mit Fach- und Führungskräften aus sozialen und sozialpädagogischen Institutionen, aus der Schule und aus dem Justizbereich geführt. Der vorliegende Beitrag bildet Ergebnisse ab, die aus dem Fundus dieser Textdaten mit den Analysemethoden der Grounded Theory erarbeitet wurden. So wird auf den folgenden Seiten über mehrere Stufen ein umfassendes Modell zur Arbeit am Kindeswohl als transdisziplinäre Aufgabe entwickelt. Die Fülle des Materials erforderte es Einschränkungen vorzunehmen: In die Analysen wurde zwar Material aus allen vier untersuchten Versorgungsräumen in der Schweiz und Deutschland mit einbezogen, dennoch wird hier stärker eine schweizerische Perspektive bearbeitet. So werden die rechtlichen und institutionellen Verhältnisse in der Schweiz ausführlicher dargestellt als jene in Deutschland. Um durch die vergleichende Analyse Erkenntnisse zu gewinnen, wird jedoch bspw. das im deutschen Bezirk St. Wendel umgesetzte Versorgungsmodell ausführlich beschrieben und diskutiert.

1          Kindeswohl als Aufgabe von Familie und Gesellschaft

 

 

1.1       Familialer Lebensvollzug und Kinderschutzverlauf

In der Arbeit am Kindeswohl treffen Familienakteure, das sind Kinder, Jugendliche, Elternteile und manchmal auch Verwandte auf institutionelle Akteure, das heißt auf Fachkräfte von Institutionen, die sich mit dem Wohlbefinden, der Ausbildung, der Begleitung, der Beratung und dem Schutz von Kindern befassen. Während der Zeit des Heranwachsens eines Kindes interagieren die beiden Akteursgruppen. Sie bilden rund um das Kind eine Handlungsgemeinschaft, die den Verlauf der Dinge stark bestimmt.

Das Kindeswohl ist laut einer in der Schweiz gängigen Begriffsbestimmung gewährleistet, wenn die Lebensbedingungen von Kindern in einer Art gestaltet sind, dass eine gesunde Entwicklung der Heranwachsenden gewährleistet ist (vgl. Hauri & Zingaro, 2020, S. 11). Dabei sollen der Grundbedarf der Kinder und ihre subjektiven Bedürfnisse erfüllt werden. In Anlehnung an den Capability-Ansatz kann der Grundbedarf von Kindern mit folgenden Begriffen beschrieben werden:1

•  Körperliche Unversehrtheit und Sicherheit

•  Materielle Bedingungen, die insbesondere eine regelmäßige Ernährung sowie Rückzug und Schlaf ermöglichen

•  Gesundheit

•  Beständige, liebevolle Beziehungen zu Menschen und zur natürlichen Umwelt, z. B. Haustieren

•  Kognitive und emotionale Erfahrungen, die die individuelle Persönlichkeit und den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigen

•  Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk ohne Gewalt- und Erniedrigungserfahrungen

•  Grenzen und Strukturen

•  Stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität

Das Kindeswohl ist eine gemeinsame Aufgabe von Familie und Gesellschaft. Im natürlichen Lebensvollzug der Familien bildet das Erziehen heranwachsender Kinder, auf ihre emotionale, kognitive und körperliche Entwicklung und ihre Bedürfnisse passend einzugehen, eine vielschichtige Aufgabe, die Eltern kontinuierlich während vieler Jahre erbringen. Gleichzeitig sind auf Seite der Gesellschaft die wichtigen Politikfelder Bildung, Soziale Wohlfahrt, Gesundheit, Justiz und Sicherheit in die Erziehung, die Bildung und den Schutz der Kinder und Jugendlichen involviert. Institutionen wie die Schule fördern die Entwicklung der Kinder. Entsprechend breit ist das Feld der institutionellen Akteure – der Institutionen und Berufe, die sich mehr oder weniger direkt mit dem Kindeswohl befassen.

In dem Maß, wie Elternteile die gesunde Entwicklung von heranwachsenden Kindern und Jugendlichen fördern, bauen sie am Wohl des Kindes. Aus der Sicht der Gesellschaft ist es problematisch, wenn das Wissen, Können und/oder Wollen in Familien nicht ausreicht, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten. Wenn Erziehungsberechtigte das Kindeswohl vernachlässigen oder beschädigen, kann mit einer Gefährdungsmeldung ein Prozess in Gang gesetzt werden, der die Gefährdungsabklärung und allenfalls explizite Kinderschutzmaßnahmen beinhaltet. Die Institutionen, die den Schutz und die Rechte des Kindes gewähren, müssen nun in Interaktion mit den Familienakteuren treten. Es beginnt ein Kinderschutzverlauf.

1.2       Familiale Werte und gesellschaftliche Werte

Das Erziehen, Fördern und Bilden der Kinder ist eine gemeinsame Aufgabe der Familien und der institutionellen Akteure. Allerdings lassen sich dabei die beiden Akteursgruppen tendenziell durch unterschiedliche Werthaltungen leiten. Elternteile sind eng verbunden mit ihren Kindern; sie sehen sich zuständig für deren Entwicklung zu Menschen, die sich in der Gesellschaft behaupten können. Was das Kindeswohl ausmacht – etwa liebevolle Beziehungen pflegen, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit gewährleisten oder für ihre Entwicklung passende Aktivitäten ermöglichen –, geschieht im Familienalltag überwiegend auf natürliche Weise. Das Wissen der Mütter und Väter über Kindererziehung scheint maßgeblich als Teil eines Wissensvorrats vorhanden zu sein und von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Entsprechend betrachten Elternteile die Kindererziehung als eine natürliche Aufgabe, der sie sich gewachsen fühlen. Familie zu sein, ist eine grundmenschliche Daseinsform. Dass Eltern das Leben in ihrer Familie hoch gewichten und entlang ihrer eigenen Entwürfe gestalten wollen, bildet einen transkulturell anzutreffenden, sozusagen anthropologisch konstanten Wert.

Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder wird im Zuhause durch eine Familienbegleitung unterstützt. Sie erkennt an, dass sie ergänzende Unterstützung in der alltäglichen Erziehungsarbeit braucht. Zur Frage eine Fremdplatzierung äußert sie sich jedoch akzentuiert:

»Da habe ich gesagt: ›Meine Kinder kommen sicher nicht von mir weg‹. Die sind alles, was ich habe. Wenn ich sie nicht mehr habe dann habe ich alles verloren.«

Die elterliche Grundfähigkeit, Kinder zu erziehen, ist gesellschaftlich hoch anerkannt. Die Familie gilt als schützenswerte Einheit gesellschaftlicher Reproduktion und es werden ihr für die Ausgestaltung des Familienlebens große Spielräume gelassen. Es wirkt ein stark verankertes Primat der Elternschaft.

In westlichen Gesellschaften stehen neben diesem in der Menschheitsgeschichte verankerten Primat der Familie neuere Wertesysteme wie die Charta der Menschenrechte und der Kinderrechte, auf die sich die Institutionen der Bereiche Bildung, Soziales und Justiz stützen. Die Gesellschaft verfügt damit über objektivierte Kriterien, die bezeichnen, was die Substanz des Kindeswohls ausmacht und die in Gesetzen und Verordnungen ausformuliert sind.

Das Familiäre wird so gesehen von einem Set von Werthaltungen unterschiedlicher Herkunft geprägt, von langzeitig transkulturell verankerten, auf die Lebenswelten von Familien bezogenen Werten sowie von Werten, die im gesellschaftspolitischen Diskurs westlicher Gesellschaften während der letzten Jahrzehnte etabliert worden sind. In der Sorge für die Heranwachsenden ergänzen sich die Verantwortungen der Eltern und gesellschaftlicher Institutionen: Die Eltern sehen sich als zuständig für die Versorgung und die Sorge im Alltagsleben der Kinder. Die Gesellschaft regelt über das Rechtssystem vorerst die Grundrechte des Kindes nach seiner Geburt, insbesondere, wer für seine Sorge zuständig ist, und seine Bürgerrechte. Für die ersten Lebensjahre der Kinder stehen medizinische Dienste und immer mehr auch Betreuungs- und Förderungsangebote bereit. Doch sind es in der Regel die Eltern, die über die Nutzung dieser Angebote durch ihre Kinder bestimmen. Das heißt, dass Kinder im Vorschulalter vorwiegend in den Lebenswelten der Familien heranwachsen und ihre Entwicklung stark von familialen Werten geprägt ist. Erst mit dem Eintritt in den Kindergarten und die Schule kommen Kinder stärker in den Einflussbereich gesellschaftlicher Institutionen.

Institutionen wie Kindergarten und Schule, Beratungsstellen und Kinderschutzbehörden orientieren sich an gesellschaftlichen Kriterien. Schulen verfolgen den Leitgedanken, den Jugendlichen mit einem Bildungsabschluss eine selbstbestimmte Zukunft im Umfeld der Leistungsgesellschaft zu ermöglichen (Primat der Leistung). Kinderschutzbehörden verfügen Maßnahmen, um bspw. Kinder vor Vernachlässigung durch psychisch beeinträchtigte Elternteile zu schützen. Zwischen diesen von Gesellschaft und Staat gesetzten Werten und dem Autonomieanspruch der Familien eröffnet sich ein Spannungsfeld, denn obschon sich Familien als Teil der Gesellschaft verstehen und die Gesellschaft Familien fördert, unterscheiden sich familiale Werte von institutionellen Werten.

Zwar sind die Kinderschutzverläufe von verschiedenen Faktoren abhängig, wie im Kapitel zu Lebenswelten der Familien dargestellt wird (Kap. 6). So prägen z. B. der Gesundheitszustand oder das intellektuelle Vermögen von Elternteilen und Kindern oder die materielle Situation und die Familiengeschichte die Fallverläufe. Die Daten der vorliegenden Studie zeigen jedoch ebenso markant, dass die subjektiven Werthaltungen der Beteiligten das Geschehen maßgeblich beeinflussen. Der Einblick in eine Fallgeschichte soll dies veranschaulichen.

Der zwölfjährige D ist ein vermindert leistungsfähiges Kind, das in seiner Wohngemeinde zur Schule geht, zur sprachlichen Förderung langzeitig Logopädieunterricht erhielt und zurzeit Förderlektionen der schulischen Heilpädagogin besucht. D wird langzeitig mit Ritalin behandelt, was aus Sicht der Schule zur Entspannung des unruhigen, manchmal auch gewalttätigen Verhaltens von D beigetragen habe.

Seit der Scheidung der Eltern lebt D mit seinem Vater und dessen neuer Partnerin zusammen. Der Vater vermittelt ein kohärentes Bild eines Familienalltags, in dem er zusammen mit seiner neuen Partnerin die Versorgung, die Tagesstruktur und eine passende Freizeitgestaltung des Sohnes sicherstellt. Die Familie steht aber inhaltlich in Konflikt mit den Institutionen: Der Vater bekundet Mühe damit, dass der Sohn keine normale Schulkarriere durchläuft. Die Behandlung mit dem beruhigenden Medikament Ritalin, die die Schule gefordert hatte, hat er nie akzeptiert. So setzte die Familie das Medikament ohne Rücksprache ab, was zu einer Eskalation des unruhigen und gewalttätigen Verhaltens des Sohnes im Schulbetrieb führte. Mit einer Gefährdungsmeldung wurde die KESB eingeschaltet. Als Maßnahme wurden die Wiederaufnahme der medizinischen Behandlung, die Fortsetzung der Familienbegleitung und eine psychologische Beratung für D vereinbart. Im Interview mit D ist erkennbar, dass er von der Familienbegleitung profitiert, etwa beim Erledigen der Hausaufgaben oder Reflektieren seiner Situation. Gleichzeitig steht der Vater auch dieser Intervention stark ambivalent gegenüber. Er akzeptiert und duldet die Familienbegleiterin, um drastischere Maßnahmen der Kinderschutzbehörde zu vermeiden.

Die Zeitspanne, während der D besondere Hilfen benötigt, dauert bereits zehn Jahre. Im Alter von drei Jahren besuchte er erstmals logopädische Therapiestunden, eine Maßnahme, die bei den Eltern auf hohe Akzeptanz stieß. Später will die Schule das Sprach- und Sozialverhalten des Jungen mit heilpädagogischen und medizinischen Therapien fördern. Der Vater würde die Entwicklung seines Sohnes in der Schule einfach laufen lassen. Er geht auch davon aus, dass sich das Verhalten ohne außerordentliche Unterstützung und Behandlungen »normal« entwickeln würde. Während dieser Phase des Geschehens ziehen die Eltern und die Schule nicht am selben Strick. Als die Eltern die Ritalinbehandlung abbrechen, sieht die Schule die Entwicklung von D gefährdet, will den Druck erhöhen und gelangt mit ihrer Sichtweise an die Kinderschutzbehörde, die die medizinische Behandlung forciert und eine Familienbegleitung einsetzt. Seither hat sich die Situation von D in der Schule wieder beruhigt; der latente Konflikt zwischen der Familie und den Institutionen dauert an und prägt den Verlauf des Geschehens maßgebend mit.

Das im Fall D spielende elterliche Handlungsmuster des Duldens ist in vielen Kinderschutzverläufen erkennbar.2 Wie in der dargestellten Fallgeschichte fußt »Dulden« oft in Wertekonflikten. Diese werden aus unterschiedlichen Gründen nicht thematisiert. Im Fall D ist ein komplexes Ursachengefüge erkennbar: Den Vater scheinen selbst Schlüsselerlebnisse wie der Tod eines Geschwisterkinds von D zu belasten. Gleichzeitig verfügt er kaum über kognitive und emotionale Kompetenzen, die eine diesbezügliche Auseinandersetzung erleichtern würden.

Die Geschichte von D zeigt, dass ein Kind zum Objekt eines Wertekonflikts zwischen Eltern und Institutionen werden kann, was der Kooperation der Beteiligten nicht förderlich ist. Kindern ist in Kinderschutzverläufen am besten gedient, wenn zwischen ihnen selbst, ihren Eltern und den Institutionen ein gemeinsam geteilter Entwurf der Zukunft entwickelt wird. Ähnlich wie der Vater von D schätzen Elternteile einen Gefährdungstatbestand jedoch oft anders ein als die gesellschaftlichen Instanzen. Die behördliche Intervention erfolgt dann gegen ihren Willen. Sie erfahren einen starken Eingriff in ihre Familiensphäre; aus ihrer Sicht ist das Primat der Elternschaft verletzt. Ihr Lebensnerv wird getroffen. In den Gesprächen, die im Rahmen dieser Studie mit Elternteilen geführt wurden, kam diese Furcht vor behördlichen Eingriffen stark zum Ausdruck. Es wirkt eine ständige Drohkulisse.

Im Kapitel zu den Kinderschutzverläufen werden die unterschiedlichen Verlaufsphasen ausführlich differenziert (Kap. 7). Teils gelingt es, in der Handlungsgemeinschaft von Familienakteuren und institutionellen Akteuren Ziele festzulegen und diese kooperativ zu bearbeiten. Das Gegenstück sind Phasen, während derer Haltungen und Ziele der beteiligten Kinder, Elternteile und Fachkräfte auseinanderklaffen. Widerständiges Handeln der Familienakteure und Eingriffe seitens der Institutionen prägen solche Verlaufsphasen.

1     Capabilities benennen Lebensbereiche, in denen Menschen (im vorliegenden Kontext Kindern und Jugendlichen) Möglichkeiten geboten werden, ein Leben zu führen, das sie selbst wertschätzen können. Der Grundbedarf und die Bedürfnisse von Kindern können diesen Lebensbereichen zugeordnet und fassbar gemacht werden. Die beschriebene Aufzählung folgt den von Martha Nussbaum entwickelten »Central Capabilities« (vgl. Otto, Scherr und Ziegler, 2010, S. 158).

2     Vgl. ausführlich den Beitrag von Birgit Kalter zum Elternhandeln (Kap. 9).

2          Konstituierung der Arbeit am Kindeswohl

 

 

Die Arbeit für das Wohl und den Schutz von Kindern und Jugendlichen wurde als interaktiver Prozess der familialen und institutionellen Akteure beschrieben. Diese Sichtweise beinhaltet eine Konzeption von Versorgung, die die Wechselwirkungen zwischen den zwei Akteursgruppen berücksichtigt. Ziel ist, ein Verständnis der auf das Kindeswohl bezogenen Prozesse in den Familien und deren lebensweltlichem sozialen Umfeld herauszuarbeiten. Parallel dazu soll ein Bild des Netzwerkes der Institutionen, deren inhaltliche Ausrichtung, Leistungen und Professionalität sowie ihrer Werthaltungen und der gesetzlichen Rahmenbedingungen gezeichnet werden.

2.1       Handlungskontexte

Aufgrund der Daten der vorliegenden Studie geschieht die Arbeit am Kindeswohl in unterschiedlichen Handlungskontexten (Abb. 2.1). Grundsätzlich sind lebensweltliche von institutionellen Kontexten zu unterscheiden. In der Lebenswelt lebt das Kind zusammen mit Elternteilen, Geschwister und evtl. weiteren Nahestehenden in einer Familie. Auch die Nachbarschaft und die Peers des Kindes werden hier zugeordnet. Besonders während der ersten fünf Lebensjahre wachsen viele Kinder fast ausschließlich im lebensweltlichen Zusammenhang auf. Hier werden sie versorgt, es wird für sie gesorgt, sie werden gefördert und gefordert. Sie stehen in alltäglichem Kontakt mit Mitgliedern ihrer Familie, weiteren Erwachsenen des Sozialraums sowie mit Peers, die im Laufe der Kinderbiografien eine immer wichtiger werdende Rolle spielen. Im lebensweltlichen Kontext zählen primär die familialen Werte. Das Primat der Elternschaft, das den Eltern eine natürliche Erziehungskompetenz zuspricht, das heißt auch die familiale Selbstbestimmung, hat einen hohen Stellenwert.

In den gesellschaftlich institutionellen Kontexten, in welchen sich die Kinder bewegen, geht es vorerst um zeitlich begrenzte Interaktionen. Eine Selbstverständlichkeit sind z. B. die Leistungen von Medizin, Pflege und Beratung, die Familien in Zusammenhang mit Schwangerschaften und Geburten beanspruchen. Danach stehen die heranwachsenden Kinder und ihre Eltern in Angeboten der außerfamiliären Betreuung, in Frühförderungsangeboten und Schulen in Kontakt mit Fachpersonen, die zum Kindeswohl beitragen. Die Fachkräfte in Horten, Kindertagesstätten und insbesondere in Schulen involvieren die Heranwachsenden primär in Lernprozesse, die einer Sozialisierung im Sinne des gesellschaftlichen Mainstreams dienen. Obschon dies teils verpflichtende Angebote sind, genießen die von der Gesellschaft aufgestellten Förderungs- und Bildungsinstitutionen eine hohe Akzeptanz. Das Wirken und die Leistungen dieser Institutionen kann als natürlich sozialisierendes institutionelles Handeln bezeichnet werden. Nebst dem ersten, lebensweltlichen Kontext bewegen sich Familien in einem natürlich sozialisierenden Handlungskontext. Großenteils herrscht hier zwischen Familien und Institutionen ein Konsens: In einer regulierten Aufgabenteilung wird die bio-psychosoziale Entwicklung der Kinder gefördert. Die Heranwachsenden werden auf ein selbständiges Leben vorbereitet. Je älter die Kinder werden, desto mehr sind sie in diesen durch Institutionen geprägten Kontexten gesellschaftlichen Werten, insbesondere dem Wert des Leistungsstrebens ausgesetzt.

Vom beschriebenen natürlich sozialisierenden Handeln ist das institutionelle Handeln zur Gewährung von Schutz und Recht zu unterscheiden. Hier eröffnet sich der dritte Handlungskontext, in welchem gesellschaftliche, im Gesetz explizierte Werte herrschen, die den Schutz und die Rechte der Kinder gewährleisten. Die dazu befugten Instanzen – in der Schweiz bspw. die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und der Sozialdienst, in Deutschland das Jugendamt und das Familiengericht – können mit einer Maßnahme oder einem Auftrag die Elternrechte begrenzen und die Spielräume der Familien einschränken. Wenn gegen den Willen von Elternteilen eine Verfügung gesprochen oder ein Kind von der Familie getrennt wird, entsteht zumindest vorübergehend eine konfliktive, invasive Dynamik (Kap. 7.2).

2.2       Natürlich sozialisierendes Handeln und Handeln zur Gewährung von Schutz und Recht

Im natürlich sozialisierenden Modus unterstützen Institutionen das Kindeswohl im Rahmen des üblichen Lebensvollzugs der Familien. Wenn Institutionen wie die KESB in der Schweiz oder das Jugendamt in Deutschland zur Gewährung von Schutz und Recht angerufen werden oder sich einschalten, beginnt ein Prozess, der hier als Kinderschutzverlauf bezeichnet wird. In der Realität ist diese Klarheit oft nicht gegeben: Die Grenzen zwischen Unterstützung, die sich natürlich in den Lebensvollzug einbettet, und Unterstützung, die Merkmale eines Eingriffs aufweist, sind fließend. Ebenso lässt sich in vielen Unterstützungssituationen die Frage, ob Hilfen freiwillig oder unter Zwang erfolgen, nicht eindeutig beantworten.

Obschon die Schule aufgrund ihres gesetzlich festgelegten Bildungsauftrags und der Schulpflicht in Interaktionen mit Familien Druck aufbauen kann, wird sie als Institution mit natürlich sozialisierendem Auftrag eingeschätzt. Demgegenüber stehen die KESB und das Jugendamt aus Sicht der Bevölkerung für Eingriffe in die Familie und Zwangsmaßnahmen, wenngleich beide Institutionen den Schutz und die Förderung von Kindern pflegen und das Jugendamt in Deutschland für ein breites, auch freiwillig zugängliches Angebot der Jugendhilfe die Verantwortung trägt.Den Schutz von Kindern zu gewähren, wird von Familien anders empfunden als die Schulpflicht durchzusetzen, wie ein Mitarbeiter einer KESB erklärt:

»Also ich denke, in jeder Familie ist es wohl das Ziel, keine Bekanntschaft mit der dritten Sphäre [Institutionen zur Gewährung von Schutz und Recht] zu machen. Denn was wir hier machen, das ist sehr individuell begründet. Das ist individuell begründet und individuell zu lösen und greift natürlich viel mehr in die Integrität der Familie ein und in ihr persönliches eigenes Selbstverständnis als die abstrakt formulierte Schulpflicht, die sich losgelöst von jedem Kind ergibt, weil es einer generellen Pflicht entspricht und mich als Individuum überhaupt nicht verletzt, diese Pflicht.«

Ein Unterschied zwischen natürlich sozialisierenden Handlungskontexten und Handlungskontexten zur Gewährung von Schutz und Recht ergibt sich aufgrund praktizierter Haupttätigkeiten. Im Kindergarten und in der Schule (natürlich sozialisierend) geht es um Bilden, Fördern und Fordern sowie um präventives Früh-Erkennen von besonderen Umständen, die den Bildungszielen im Weg stehen könnten. Idealtypisch gesehen schaffen Bildungsinstitutionen den Raum für neue Erfahrungen, sie geben Impulse und präparieren und portionieren passende Inhalte, um die Kinder in ihrem Lernen im Hinblick auf den angestrebten Kompetenzzuwachs zu fördern. Die Logik der pädagogischen Berufe fußt stark im Prinzip des Förderns. Selbst wenn pädagogische Fachkräfte fordern, stellen sie dies in den Dienst des Förderns. Dieser Förderlogik folgen auch die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, jedoch mit inhaltlichen Schwerpunkten, die expliziter auf das soziale Lernen und auf Freizeitaktivitäten gerichtet sind. Auch Kinder-, Jugend, Familien-, Ehe und Partnerschaftsberatungsstellen stehen in dieser Logik. Viele dieser Angebote orientieren sich an der Zielsetzung, dass Menschen lernen, ihre individuellen und sozialen Ressourcen zu erkennen und im Hinblick auf eine passende Lebensführung besser zu nutzen.

Wenn eine Gefährdung festgestellt ist oder wenn ein Gefährdungsverdacht besteht, wird in der Schweiz die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) bzw. in Deutschland das Jugendamt aktiv. Nun kommt die Handlungslogik zur Gewährung von Schutz und Recht zum Zug. Diese umfasst spezifische Tätigkeiten wie Eingreifen, Verfügen, evtl. Trennen. Die Familiensituation abzuklären – zu diagnostizieren – bildet auch eine wichtige Tätigkeit von Pädagoginnen und Pädagogen, Beraterinnen und Beratern sowie Therapeutinnen und Therapeuten. Wenn es um die Gewährung von Schutz und Recht geht, erfolgt dieses Abklären jedoch explizit von Amtes wegen, unter Umständen gegen den Willen der Familien.

Die Schweizer Kindes- und Erwachsenenbehörde ist als gerichtsähnliche Instanz durchwegs eine Institution zur Gewährung von Schutz und Recht. Im Vordergrund stehen das Abklären und Beraten sowie als Kernauftrag das Entscheiden und Verfügen auf gesetzlicher Basis. Die Arbeit mit den Familien wird in strukturierten, durch Gesetze und Verordnungen geregelten Abläufen bearbeitet.

Abb. 2.1: Konstituierung der Versorgung im Kinderschutz

Das deutsche Jugendamt ist hingegen viel breiter aufgestellt. Es ist für alle gesetzlich verankerten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Es hat den Auftrag, zu positiven Lebensbedingungen von Familien beizutragen, Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu unterstützen und Eltern in Fragen der Erziehung beizustehen. Nebst diesen Präventions- und Unterstützungsaufträgen sind dem Jugendamt auch Aufgaben zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz der Kinder und Jugendlichen übertragen (Bundesministerium, 2010, S. 48ff). Im Gegensatz zur Schweizer KESB bewegt sich das Jugendamt in beiden Handlungslogiken – sowohl der natürlich sozialisierenden als auch jener zur Gewährung von Schutz und Recht. Das Jugendamt soll präventiv wirken, muss aber einschreiten, wenn ihm Gefährdungen gemeldet werden.1

Natürlich sozialisierendes Handeln unterscheidet sich stark von Handeln zur Gewährung von Schutz Recht: Im natürlich sozialisierenden Modus interagieren Fachkräfte öfter mit Kindern und Familien in lebensweltlichen Mustern. Lehrkräfte stehen nicht nur während ihres Kerngeschäfts des Unterrichts in Kontakt mit Schülerinnen und Schülern. In Pausen, auf Schulreisen und in externen Schulwochen erhalten sie auf natürliche Weise einen Einblick in den Alltag der Kinder und in die Zusammenhänge zwischen Familiendynamiken und schulischer Leistungen. Zudem befassen sie sich über längere Zeit mit den Familien, öfter über mehrere Jahre hinweg, wenn sie mit mehreren Kindern einer Familie zu tun haben. Dagegen spielt in institutionellen Handlungskontexten zur Gewährung von Schutz und Recht das lebensweltliche Zusammensein mit den Kindern keine Rolle.

Hinter den ungleichen Handlungslogiken stehen auch Fachkräfte mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen. Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Psychologie und Jurisprudenz sind Berufe mit eigener inhaltlicher Ausrichtung und Fachsprache sowie mit spezifischen methodischen Schwerpunkten. Zwar orientiert man sich an gemeinsam geteilten Grundwerten wie z. B. am Wert des Rechts auf eine möglichst hohe Selbstbestimmung der Klientel. Gleichwohl herrschen in den Professionsbereichen eigene handlungsleitende Werthaltungen. Dies bedeutet, dass die beteiligten Fachkräfte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Vorstellungen und Herangehensweisen den einzelnen Kinderschutzfall bearbeiten, nämlich ein diagnostisches Bild entwickeln und sich über allfällige Maßnahmen verständigen.

In der Arbeit am Kindeswohl bildet die Verständigung zwischen Berufsgruppen, die unterschiedlichen Logiken folgen, eine große Herausforderung. Besondere Spannungen bestehen bspw. zwischen der Schule und den Institutionen zur Gewährung von Schutz und Recht. Oft hatten sich Schulen jahrelang intensiv mit Familien auseinandergesetzt, bevor sie sich entschlossen, eine Gefährdungsmeldung einzureichen. Im Weiteren, nun von der KESB geführten Verfahren, erhalten sie aus ihrer Perspektive zu wenig Informationen. Gleichzeitig haben sie im Alltag weiterhin mit dem Kind zu tun (Kap. 5.4).

2.3       Versorgungsdynamik

In Kapitel 1.2 wurde die aktuelle Situation des zwölfjährigen D vorgestellt (Kap. 1.2). Sein Alltagsleben führt D in der Lebenswelt seiner Familie. In Zusammenhang mit seiner Entwicklung ist die Familie mit der Schule und therapeutischen Diensten, die der natürlich sozialisierenden Logik folgen, und mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), der Institution zur Gewährung von Schutz und Recht, in Kontakt gekommen. Im Folgenden wird veranschaulicht, wie das Fallgeschehen und das Handeln der Akteure, das den drei unterschiedlichen Logiken folgt, in einem Zusammenhang stehen.

Im Vorschulalter war D wegen Sprachentwicklungsverzögerungen längere Zeit in einer logopädischen Behandlung.

Hier steht D in Kontakt mit einem therapeutischen Dienst, der dem Bereich der natürlich sozialisierenden Institutionen zugerechnet wird. »Natürlich« bezieht sich auf die Tatsache, dass es gesellschaftlicher Normalität entspricht, dass Sprachverzögerungen von Kleinkindern behandelt werden und dafür die entsprechenden Einrichtungen zur Verfügung stehen.

In der Schule fiel D auf. Er war unkonzentriert, störte den Unterricht und verhielt sich gewalttätig gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern. Die Schule unterstützte den Jungen während der letzten fünf Jahre zum einen mit heilpädagogischen Fördermaßnahmen, zum anderen setzte sie durch, dass D eine sedierende Behandlung begann.

Im Schulalter kommt D in eine intensivere Phase seiner Sozialisierung. Seine Leistungen werden am Maßstab des staatlichen Lehrplans gemessen; er muss sein Verhalten auf eine Gruppe abstimmen. D erhält wiederum Unterstützung aus dem Bereich der natürlich sozialisierenden Institutionen. Die Schule versucht vorerst mit ihren eigenen heilpädagogischen Angeboten D zu fördern. Später initiiert sie zusammen mit der Familie und dem Hausarzt eine medikamentöse Behandlung. Dazu berichtet der Vater im Interview, dass die Schule die Familie unter Druck gesetzt hätte.

Die Familie stand der Ritalinbehandlung stets skeptisch gegenüber. Gegen den Willen der Schule, jedoch mit Einwilligung des Hausarztes setzte sie vor zwei Jahren die Behandlung ab. Im Kontext Schule trat D darauf erneut störend und gewalttätig auf. Die Schule sah nun das Wohl des Jungen stark gefährdet und wandte sich an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde.

Wiederum wird deutlich, dass die Besonderheiten der Entwicklung des Jungen am Sozialisationsort Schule besonders auffallen. Während dieser Verlaufsphase kommt die Schule in der Interaktion mit der Familie D an ihre Grenzen. Sie erreicht mit ihren (heil-)pädagogischen Mitteln nicht die gewünschte Beruhigung der Situation. Der Wiederaufnahme der medizinischen Behandlung verweigert die Familie die Zustimmung. Die Schule schaltet mittels einer Gefährdungsmeldung die KESB ein. In den Fall ist nun auch eine Institution zur Gewährung von Schutz und Recht involviert. Der Druck auf die Familie ist stark gestiegen.

Im nun von der KESB geführten Verfahren willigt die Familie ein, die medizinische Behandlung wiederaufzunehmen. Die Familienbegleitung wird fortgeführt und D zusätzlich einer psychologischen Beratung zugeführt. In die letzten zwei Jahre fällt auch die Scheidung der Eltern. Seit einem halben Jahr lebt der Vater mit seiner neuen Partnerin zusammen.

Im Kindheitsverlauf des heute zwölfjährigen D sind phasenweise besondere Herausforderungen zu bewältigen. Bis zum zehnten Lebensjahr schafft es die Familie zusammen mit therapeutischen Diensten und der Schule, den Jungen zu fördern und im Rahmen einer Regelklasse auszubilden. Als sich die Eltern nicht mehr an die von der Schule initiierte Behandlung halten, meldet die Schule bei der KESB eine Gefährdung. Jetzt, in seinem zehnten Lebensjahr, wird D zum Kinderschutz-Fall. Die Institutionen, die alltäglich am Kindeswohl arbeiten, kommen nicht mehr zu Rande. Während einer gewissen Zeit kommt die Logik der Institutionen zur Gewährung von Schutz und Recht zum Tragen. Die KESB etabliert ein Bündel von Interventionen, insbesondere die Wiederaufnahme der medikamentösen Behandlung. Obschon der institutionelle Zwang zunimmt, wird dabei das Sorgerecht der Eltern nicht angetastet; es reichen die kurze Intervention der KESB und der damit erlebte Drohkulissen-Effekt.

Der Fall D zeigt verschiedene wichtige Aspekte der Dynamik im Versorgungssystem: Die intensivierte Arbeit am Kindeswohl beginnt in den natürlich sozialisierenden Institutionen der Bereiche Bildung, Therapie/Medizin und Soziales, die einige Jahre involviert sind. Nur kurz wird die KESB zur Gewährung von Schutz und Recht eingeschaltet. Wie erwähnt spielt dabei eine Art Drohkulissen-Mechanismus: Keine Familie möchte unfreiwillig mit der KESB in der Schweiz bzw. mit dem Jugendamt in Deutschland in Kontakt kommen. Diese Instanzen können das Sorgerecht einschränken oder sogar aufheben. Wenn Eltern mit staatlichen Instanzen in Kindeswohlkonflikte geraten könnten, denken sie diese bedrohliche Tatsache mit. Deutsche Familien übersehen dabei, dass das deutsche Jugendamt – im Unterschied zur schweizerischen KESB – auch in der Prävention und Unterstützung tätig ist. Die Tatsache, dass auch das Jugendamt das Primat Familie beschneiden kann, steht im Empfinden der Familien weit oben und wirkt bedrohlich.

2.4       Freiwilligkeit und Zwang: Das Grunddilemma in der Arbeit am Kindeswohl

Im Kinderschutzgeschehen ist eine widersprüchliche Dynamik erkennbar. Im Interesse des Kindes muss mit Eltern möglichst kooperiert werden. Denn in der Regel bleiben die Eltern für das Kind zentrale Bezugspersonen; das Primat der Elternschaft besteht auch in der Kinderperspektive. Gleichzeitig ist es aus der Sicht der Gesellschaft eine Notwendigkeit, das Kindeswohl schützen und notfalls die Elternschaft begrenzen zu können. Aus der Sicht von betroffenen Eltern bildet dies eine ständige Drohkulisse.

Dieses Spannungsfeld bildet einen der zentralen Treiber in Kinderschutzverläufen. Die Familien halten das Primat der Elternschaft und damit die Unabhängigkeit in Erziehungsfragen hoch. Sie wollen Zwangssituationen verhindern. Wenn ihre Kinder außerordentliche Leistungen benötigen, wollen sie möglichst über Art und Umfang entscheiden.

In den untersuchten Interaktionen zwischen Familien und Institutionen weist Freiwilligkeit unterschiedliche Facetten auf, die es zu differenzieren gilt: Es gibt die effektive Freiwilligkeit. In einem freiwilligen Kontext handelt die Klientel aus eigenem Willen, evtl. auch aufgrund zwangloser Einsicht in Ratschläge Professioneller. Auch Leistungen von Institutionen zur Gewährung von Schutz und Recht können effektiv freiwillig genutzt werden, etwa wenn ein Elternteil die KESB aufsucht, um eine Erziehungsbeistandschaft für ein Kind einrichten zu lassen, damit eine umfassende Sorge gewährleistet ist. Geschieht diese Maßnahme freiwillig, ist dies fundamental anders, als wenn die Beistandschaft aufgrund einer durch Dritte erfolgten Gefährdungsmeldung unter Zwang angeordnet wird.

Daneben handeln Familienakteure freiwillig im Sinne einer natürlichen Pflicht folgend. Beispielsweise sind Kinder verpflichtet, die Schule zu besuchen. Dies ist eine kollektive Erfahrung, die im Alltag als natürlich erfahren wird.