Arbeit und Krankheit - Heinz Schott - E-Book

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Heinz Schott

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Beschreibung

Mit dieser Schrift promovierte der Autor 1974 an der Universität Heidelberg in Medizin. Die jezt vorliegende Erstpublikation gibt Einblick in jene Jahre des Umbruchs um1970, die in Wissenschaft und Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen mit sich brachten. In der Medizin wurden nun sozial- und gesundheitspolitische Fragen relevant, die auch für die aufkommende Rehabilitationsmedizin bedeutsam waren. Die Doktorarbeit geht vom Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft aus, welches für das Verhältnis von Arbeit und Krankheit grundlegend ist. Die medizinische Anthropologie mit ihrem Blick auf das Subjekt regt dazu an, ideologische Fixierungen des Arbeits- und Krankheitsbegriffs auch jenseits der Medizin kritisch zu analysieren. Ein aktueller Rückblick beleuchtet die Entstehungszeit der Dissertation und die Bedeutung des "Doktorvaters" für ihr Zustandekommen.

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Für Elisabeth

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Einleitender Überblick

Teil 1

Über den Begriff der Arbeit und seine Verengerung in den Wissenschaften

Teil 2

Die Rehabilitation und ihre Bedeutung für die Gesellschaft im Hinblick auf den Begriff der Arbeit

Teil 3

Die Rehabilitation und ihre Bedeutung für das Individuum im Hinblick auf den Begriff der Arbeit

Teil 4

Die psychisch Behinderten und die Bedeutung der Arbeitstherapie für ihre Rehabilitation – dargestellt am Beispiel des Westfälischen Landeskrankenhauses in Münster

Zusammenfassung

Schlussbemerkung

Lebenslauf

E

IN AKTUELLER

R

ÜCKBLICK

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Über den Begriff der Arbeit und seine Verengerung in den Wissenschaften

1.1 Der Begriff der Arbeit in der marxistischen Philosophie

1.11 Arbeit und Entfremdung (HEGEL, MARX)

1.12 Produktion, Dialektik und Freiheit (MARCUSE)

1.2 Die Verengerung des Arbeitsbegriffes in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

1.21 Zur soziologischen Kritik am verengerten Arbeitsbegriff

1.22 Von der historischen Entwicklung und Funktion der Arbeitswissenschaft

1.23 Der Zusammenhang von Arbeitsmedizin und Arbeitswissenschaft

Teil 2

Die Rehabilitation und ihre Bedeutung für die

Gesellschaft

im Hinblick auf den Begriff der Arbeit

2.1 Rehabilitation in der Bundesrepublik Deutschland

2.11 Das sozioökonomische Interesse an der Rehabilitation

2.111 Die Rehabilitation als sozioökonomische Notwendigkeit (zur theoretischen Begründung der Rehabilitationsmedizin)

2.112 Die Rehabilitation und ihre Bedeutung für den Arbeitgeber

2.113 Das Abhängigkeitsverhältnis von Rehabilitation und Arbeitsmarkt

2.114 Zur Diskriminierung leistungsgeschwächter Arbeitnehmer

2.115 Resümee

2.12 Die gesetzlichen Grundlagen des Rehabilitationswesens in der Bundesrepublik Deutschland

2.121 Einleitung: geschichtlicher Überblick

2.122 Rehabilitation im Bereich der Sozialversicherung

2.123 Spezielle Gesetze im Sinne der Rehabilitation

2.2 Rehabilitation in Großbritannien

2.21 Das allgemeine Gesundheitssystem Großbritanniens: The National Health Service (NHS)

2.22 Überblick über Gesetze und Institutionen, die die Rehabilitation betreffen

2.23 Das sozioökonomische Interesse an der Rehabilitation aus der Sicht von Rehabilitationsmedizinern

2.3 Rehabilitation in der DDR

2.31 Das politische Interesse an der Rehabilitation

2.311 Einleitung: sozialmedizinische Tradition (VIRCHOW, SIGERIST)

2.312 Das politische Interesse als »sozialistische Kritik« an der Rehabilitation im Kapitalismus

2.313 Resümee

2.32 Das wirtschaftliche Interesse an der Rehabilitation

2.321 Die Rehabilitation als sozioökonomische Notwendigkeit aus der Sicht von Rehabilitationsmedizinern

2.322 Ein praktisches Beispiel der ökonomischen Rentabilität der Rehabilitation (Rehabilitationsmodell Lichtenberg)

Teil 3

Die Rehabilitation und ihre Bedeutung für das

Individuum

im Hinblick auf den Begriff der Arbeit

3.1 Zur subjektiven Situation des Behinderten

3.11 Über den Begriff der Arbeit in der Psychoanalyse und bei V. v. WEIZSÄCKER

3.12 Selbstverständnis und Selbstdarstellung des Behinderten

3.13 Umrisse einer »Rehabilitationspsychologie«

3.2 Die Arbeit als Therapie und ihre Bedeutung für den Rehabilitationsprozess

3.21 Die historische Entwicklung und Funktion der Arbeitstherapie

3.22 Zum ideologischen Hintergrund der gegenwärtig Arbeitstherapie

3.23 Der Stellenwert der Arbeitstherapie im Rehabilitationsprozess

Teil 4

Die psychisch Behinderten und die Bedeutung der Arbeitstherapie für ihre Rehabilitation – dargestellt am Beispiel des Westfälischen Landeskrankenhauses in Münster (WLK)

4.1 Aufgabenstellung und Zielsetzung der Studie

4.2 Zur Methode

4.3 Allgemeine Angaben zum WLK

4.4 Die »Arbeits-« bzw. »Beschäftigungstherapie« am WLK

4.41 Die Definition der Arbeitstherapie und ihre praktische Anwendung

4.42 Arbeitstherapie als Lohnarbeit

4.43 Die Rentabilität der Arbeitstherapie

4.44 Das Taschengeld und die Krankenbelohnung

4.45 Die Beurteilung der Arbeitsmoral

4.46 Das SIMON‘sche Konzept der Arbeitstherapie in der heutigen Praxis

4.47 Ergebnis der Studie und Schlussfolgerung

4.5 Das Verhältnis von Arbeitstherapie und allgemeinen Arbeitsbedingungen bei der psychiatrischen Rehabilitation

Zusammenfassung, Schlussbemerkung

Lebenslauf (Faksimile)

E

IN AKTUELLER

R

ÜCKBLICK

Editorische Notiz

Vorbemerkung

Dieser »medizin-soziologische Beitrag zur Problematik der Rehabilitation« stellt im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaft Medizin dar, wie sie sich in Theorie und Praxis, in Lehrbüchern, Zeitschriften, Festreden und in der praktischen Behandlung des Patienten äußert. Die medizinische Wissenschaft muss sich nun – den einzelnen Medizinern bewusst oder unbewusst – einer Begrifflichkeit bedienen und unterwerfen, die ihre äußerlich festzustellenden Grenzen überschreitet und zugleich jenseits ihres Einflusses zu liegen scheint. So zum Beispiel, wenn von »Individuum« und »Gesellschaft«, von »Arbeit« und »Krankheit« oder von »Psyche« und »Soma« die Rede ist.

Der Mediziner betreibt nun eine bestimmte Sache: Er soll mit seinem Patienten therapeutisch umgehen und ihn im Falle seiner Rehabilitation bei seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützen. Was aber weiß er wirklich von seinem Patienten und dessen Krankheit? Was ist seine Wissenschaft davon?

Die heutige Rehabilitationsmedizin fällt in eine besondere Epoche der Medizin: Die bisher unangefochtene vorherrschende Stellung des naturwissenschaftlichen Denkens wird zunehmend von sozialwissenschaftlichen Bestimmungen angegriffen, die in der Medizin eine immer stärkere Geltung beanspruchen. Ob diese Einbeziehung der »Gesellschaft« in die Behandlung des Individuums als ein Fortschritt anzusehen ist, kann nicht so eindeutig bejaht werden, wie es so häufig in medizintheoretischen Stellungnahmen geschieht.

Meine Abhandlung soll den Zweifel an dieser Fortschrittlichkeit begründen: durch die Analyse rehabilitativer Behandlungsmethoden, insbesondere der Arbeitstherapie, und durch die Untersuchung des Bewusstseins von den wissenschaftlichen Zusammenhängen derjenigen, die in der Rehabilitationsmedizin tätig sind. Wenn ich hier den »Versuch einer wissenschaftskritischen Bestandsaufnahme« mache, so geht es zunächst darum, die wissenschaftlichen Aussagen ernst zu nehmen und sie zu Wort kommen zu lassen. Jedenfalls wollte ich vermeiden, mir einen kurzschlüssigen Reim auf eine Sache zu machen, ehe sie erfahren zu haben. Die herausgearbeitete Problematik lässt sich nicht schon mit einem hervorgezauberten Alternativmodell lösen.

Ganz besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. JACOB aussprechen, der meine Arbeit geduldig und mit großem Verständnis gefördert hat. Ohne sein gutes Beispiel einer intensiven Durchdringung der theoretischen Grundlagen der Medizin hätte mir ein entscheidender Rückhalt gefehlt, selber in eine solche Auseinandersetzung einzutreten.

Einleitender Überblick

Bei der Darstellung des Arbeitsbegriffes in Teil 1 soll vor allem die Diskrepanz aufgezeigt werden zwischen einem umfassenden, die Unterdrückung und Befreiung des Menschen mitreflektierenden Begriff der Arbeit und dessen funktionalistischer und herrschaftserhaltender Verkürzung. Deshalb rückte ich den Begriff der Entfremdung und der entfremdeten Arbeit ins Zentrum der Betrachtung. Die Verkürzung des Arbeitsbegriffes ist in den Gesellschaftswissenschaften eine allgemeine Erscheinung. Sie ist bei den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften festzustellen und insbesondere bei der Arbeitswissenschaft und Arbeitsmedizin.

In Teil 2 steht die Fragestellung im Mittelpunkt, wie das Interesse der Gesellschaft an der Rehabilitation »wissenschaftlich« begründet wird. Der Begriff der Gesellschaft kann aus sachlichen Gründen nicht definitorisch eingeführt werden. Er kann erst im Verlauf der Untersuchung näher bestimmt werden. Wenn ich Gesellschaft zunächst auf staatliche Einheiten –Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und DDR – beziehe, so lassen sich diese nur bei einer sehr äußerlichen Anschauungsweise eindeutig voneinander abgrenzen. Da aber die Gesetze und Institutionen der Rehabilitation von den jeweiligen innerstaatlichen Verhältnissen abzuhängen scheinen, so müssen wir diese Zusammenhänge im Einzelnen untersuchen.

Da in Deutschland das britische Rehabilitationswesen häufig als vorbildlich angesehen wird, scheint mir dessen Einbeziehung in diese Abhandlung von Interesse zu sein, zumal sich dabei auch das »sozialisierte«, das heißt verstaatlichte Gesundheitswesen in Großbritannien darstellt.

Eine Untersuchung des Rehabilitationswesens in der DDR scheint mir für die Behandlung unseres Themas besonders aufschlussreich, da die gemeinsame medizinische Tradition mit der Bundesrepublik auch unter anderen politischen Bedingungen fortwirkt. Die Kritik, die in der DDR an der Rehabilitation im Westen laut wird, muss ihrerseits an den Verhältnissen im Rehabilitationswesen der DDR selber kritisch geprüft werden.

In Teil 3 gehe ich auf die subjektive Situation des Behinderten ein. Die entscheidende Frage lautet: Wie sieht die Rehabilitation für das betroffene Individuum aus? Wir sprechen zwar vom »deutschen« oder »britischen« Rehabilitationswesen und gliedern einen Teil dieser Abhandlung nach diesen Stichworten, gleichzeitig würde es uns aber lächerlich vorkommen, vom »deutschen« oder »britischen« Bedürfnis eines Behinderten nach Rehabilitation zu sprechen. Die gesellschaftliche Notwendigkeit der Rehabilitation schien objektiv und rational erfassbar zu sein, wenden wir uns nun aber dem einzelnen Subjekt zu, das rehabilitiert werden soll, so verflüchtigt sich dieser Schein.

Es gibt in der Wissenschaft nur wenige Ansätze, individuelles Leiden wesentlich als Äußerung des leidenden Subjektes selber zu begreifen. Die Psychoanalyse und die Medizinische Anthropologie stellen solche Ansätze dar. Ihre gründliche Rezeption, die den Rahmen meiner Abhandlung bei weitem sprengen würde, ist sicherlich für die Problematik der Rehabilitation sehr bedeutsam. Während man in der einschlägigen Literatur eine Unzahl von Aussagen über Behinderte und deren Behandlung findet, gibt es kaum etwas von den Behinderten selber zu hören oder zu sehen. Dennoch gibt es ein paar bemerkenswerte Ausnahmen.

Das vorgegebene Thema lässt sich nun weiter durch eine Analyse der Arbeitstherapie konkretisieren. Die Untersuchung ihrer ideologischen und praktischen Funktion im Rehabilitationsprozess führt uns den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft am klarsten vor Augen.

In dem abschließenden Teil 4 studiere ich die Praxis der Arbeitstherapie in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese Studie erhält ihre Bedeutung durch den Kontext der gesamten Abhandlung, erläutert und vertieft ihn.

Teil 1 Über den Begriff der Arbeit und seine Verengerung in den Wissenschaften

1.1 Der Begriff der Arbeit in der marxistischen Philosophie
1.11 Arbeit und Entfremdung (HEGEL, MARX)

Die Frage, was »Arbeit« überhaupt bedeutet, kann nur dann befriedigend beantwortet werden, wenn der »totale Mensch« als »Subjekt und Objekt des Werdens« begriffen wird.1 Wenn wir uns also mit dem Begriff der Arbeit befassen wollen, so müssen wir uns einer bestimmten Philosophie zuwenden. Innerhalb der Philosophie, so meint MARCUSE, befinde sich zum letzten Mal bei HEGEL »eine radikale Besinnung auf das Wesen der Arbeit und seine Entfaltung bis in die konkreten Sphären des geschichtlichen Daseins.«2

Für HEGEL ist »die Vernunft zweckmäßiges Tun«:

»Allein, wie auch ARISTOTELES die Natur als zweckmäßiges Tun bestimmt, der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte, welches selbst bewegend ist, so ist es Subjekt. Seine Kraft zu bewegen, abstrakt genommen, ist das Fürsichsein oder die reine Negativität. Das Resultat ist nur darum dasselbe, was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist, – oder das Wirkliche ist nur darum dasselbe, was sein Begriff, weil das Unmittelbare als Zweck das Selbst oder die reine Wirklichkeit in ihm selbst hat. Der ausgeführte Zweck oder das daseiende Wirkliche ist Bewegung und entfaltetes Werden, eben diese Unruhe aber ist das Selbst, und jener Unmittelbarkeit und Einfachheit des Anfangs ist es darum gleich, weil es das Resultat, das in sich Zurückgekehrte, – das in sich Zurückgekehrte aber eben das Selbst, und das Selbst sich auf sich beziehende Gleichheit und Einfachheit ist.«3

In dem Unterabschnitt »Herrschaft und Knechtschaft« in der »Phänomenologie des Geistes« geht HEGEL explizit auf den Begriff der Arbeit ein:

»Die Arbeit … ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem Bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formierende Tun, ist zugleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins, als seiner selbst.«4

LUKACS stellt nun die Frage, warum HEGEL imstande gewesen sei, innerhalb »idealistischer Mystifikationen doch wirkliche und wesentliche Bestimmungen nicht nur über Ökonomie und Geschichte, sondern auch über die dialektischen Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit überhaupt zu geben, wieso die HEGELsche Dialektik zur unmittelbaren Vorläuferin der materialistischen Dialektik werden konnte.«5 Der entscheidende Punkt sei, so meint LUKACS, »daß HEGEL die Arbeit als Selbsterzeugungsprozeß des Menschen, der menschlichen Gattung auffaßt.«6

Die Überwindung der (idealistischen) Philosophie durch MARX, was er selbst »HEGEL vom Kopf auf die Füße stellen« nennt, bedeutet auch für den Begriff der Arbeit einen radikalen Bruch: Wurde die Arbeit vor MARX fast ausschließlich als sittliche Verpflichtung gesehen – besonders im Zeitalter des entstehenden Kapitalismus7, aber auch viel später noch8 – so beginnt mit MARX die Rückführung der Ideologie des Überbaus auf die Basis des gesellschaftlichen Lebens, die wahren Produktionsverhältnisse.

»Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen: es wird von den wirklichen tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.«9

Für MARX ist Arbeit zunächst ein »Prozeß zwischen Mensch und Natur«:

»ein Prozeß, worin der Mensch einen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.« 10

Mensch und Natur sind materiell verbunden durch ihren Stoffwechsel. Und der Mensch hat die Möglichkeit, diesen seinen Stoffwechsel mit der Natur zu vermitteln, indem er etwas tut, indem er arbeitet. Ein »Prozeß« ist charakterisiert durch den Fortschritt, den er erzeugt und mit sich bringt. Wenn nun die Arbeit ein »Prozeß« ist, so muss in der Arbeit selbst ein Fortschritt verwirklichbar sein.

MARX: »Indem er [der Mensch] durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.«11

Der Mensch arbeitet und wird durch diese seine Arbeit verändert, indem das Produkt seiner Arbeit ihm als modifizierte Umwelt gegenübertritt. Der Mensch »vergegenständlicht« sich in seinem »Produkt«.

»Sein Produkt ist Gebrauchswert, ein durch Formenveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff. Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden.«12

Bisher haben wir also zwei Kennzeichen des MARX'schen Arbeitsbegriffes herausgefunden:

1. Die Arbeit ist Vermittlung des tätigen Menschen mit der Natur innerhalb eines gemeinsamen Stoffwechsels.

2. Im Produkt der Arbeit hat sich der tätige Mensch vergegenständlicht und somit seine eigene Natur modifiziert.

Daraus folgert MARX, dass die Arbeit eine »ewige Naturbedingung« sei:

»Der Arbeitsprozeß ist ... allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam«.13

Als ein weiteres Kennzeichen des MARX‘schen Arbeitsbegriffes könnte man also angeben :

3. Die Arbeit ist eine ewige Naturbedingung menschlichen Lebens und daher allen möglichen Gesellschaftsformen gemeinsam.

Ich habe somit versucht, die wesentlichen Punkte des MARX‘schen Begriffes der Arbeit in kürzester Form herauszustellen: das, was man vielleicht das »Prinzip der Arbeit« nennen könnte. Dieses Prinzip ist abhängig von jeweiligen Gesellschaftsformen und historischen Entwicklungsstufen. Die Arbeit wird hier in einen biologischen Begriff gefasst: Arbeit als »Stoffwechsel«. Wie in der Biologie von einer »Potentialität« des Lebens die Rede ist, besitzt auch der tätige Mensch eine Potentialität mittels seiner Arbeit, die die Potenzen der Natur in seinen Dienst stellt.

»Er [der Mensch] entwickelt die in ihr [der Natur] schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.« Und die Botmäßigkeit des Menschen wird bestimmt von seinen Bedürfnissen.14

Als ein weiteres Kennzeichen des MARX'schen Arbeitsbegriffes können wir also angeben:

4. In der Arbeit unterwirft der Mensch die Potenzen der Natur seinen Bedürfnissen gemäß.

Der Begriff der Arbeit gewinnt aber bei HEGEL und MARX erst seine volle Bedeutung in seiner Beziehung zum Begriff der Entfremdung. Beide Begriffe sind weder bei HEGEL noch bei MARX inhaltlich voneinander zu trennen. Die »Entfremdung« (oder »Entäußerung«) wird bei HEGEL und MARX zum Zentralbegriff. LUKACS weist auf diesen Zusammenhang ausführlich hin:

»Wenn also MARX in der HEGELschen Entäußerung den Zentralbegriff der Phänomenologie und der idealistischen Dialektik überhaupt kritisiert hat, so hat er diesen zentralen Punkt nicht willkürlich ausgewählt. Die geniale Ahnung HEGELs hat auf der Grundlage eines sehr unvollständigen Verständnisses in der Ökonomie der Entäußerung, in der Entfremdung eine fundamentale Tatsache des Lebens entdeckt und diesen Begriff deshalb in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt. Die MARXsche Kritik HEGELs geht von der tieferen und richtigeren Auffassung der ökonomischen Tatsachen selbst aus. Erst müssen auf der Grundlage einer sozialistischen Kritik der kapitalistischen Entfremdung in der Arbeit die grundlegenden ökonomischen Tatsachen ökonomisch in ihrer wirklichen Eigenart und Gesetzlichkeit begriffen werden, damit dann das Richtige und Falsche, das Wesentliche und Mystifizierte an der HEGELschen Auffassung dieser Phänomene umfassend und dialektisch kritisiert werden kann.«15

Im Rahmen dieser Abhandlung kann ich leider nur sehr knapp auf HEGEL eingehen. Dennoch möchte ich versuchen, seinen Begriff der Entfremdung im Hinblick auf MARX darzustellen. Nach LUKACS lassen sich im HEGEL‘schen Begriff der Entfremdung (oder Entäußerung) drei Stufen unterscheiden:

1. »Die mit jeder Arbeit, mit jeder ökonomischen und gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen verknüpfte komplizierte Subjekt-Objekt-Beziehung.«

2. Von der spezifisch kapitalistischen Form der »Entäußerung« habe HEGEL »selbstverständlicherweise keine klaren Anschauungen« haben können. »Aber bestimmte Ahnungen des Problems der Fetischisierung der gesellschaftlichen Gegenstände im Kapitalismus sind bei ihm bereits vorhanden, und man muß feststellen, daß er der einzige Denker im klassischen deutschen Idealismus ist, der diese Probleme wenigstens ahnt.«

3. Eine »breite philosophische Verallgemeinerung« dieses Begriffes lasse »Entäußerung« als Dingheit oder Gegenständlichkeit erscheinen. »Durch die falsche Vereinigung von ›Entäußerung‹ und ›Dingheit‹ oder Gegenständlichkeit macht HEGEL, wo er das Wesen von Natur und Gesellschaft bestimmt und ihre Verschiedenheit hervorzuheben trachtet, ganz falsche Unterschiede. Nach HEGEL sind beide, sowohl Natur wie die Geschichte, ›Entäußerung‹ des Geistes. Aber die Natur ist eine ewige Entäußerung des Geistes, deren Bewegung deshalb nur eine Scheinbewegung, eine Bewegung des Subjekts; die Natur hat bei HEGEL keine wirkliche Geschichte.«16

HEGEL identifiziert Mensch und Selbstbewusstsein, was »auf der objektiven Seite die Gleichsetzung von Entfremdung und Gegenständlichkeit« bedeutet.17 Er verfällt seinem »unkritischen Idealismus«, »indem er dieses entfremdete Denken nicht als entfremdetes faßt, indem er gerade in diesem Denken den Motor zur Aufhebung der ›Entäußerung‹ sieht.«18

MARX dagegen zieht »an Hand der Tatsachen des wirklichen Lebens scharf die Grenze zwischen Vergegenständlichung in der Arbeit an sich und Entfremdung von Subjekt und Objekt in der kapitalistischen Form der Arbeit«. (LUKACS)19 MARX selbst sah HEGELs »Phänomenologie« als »sich selbst noch unklare und mystifizierte Kritik«. »Alle Elemente dieser Kritik«, so schreibt er, lägen in der Phänomenologie, »verborgen und oft schon in einer weit den HEGELschen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet.«20 Im Folgenden werde ich also auf den Begriff der Entfremdung bei MARX eingehen.

Die Möglichkeit zur Entfremdung muss schon in der Arbeit selbst gegeben sein. Sie muss ihre materiellen Bedingungen im Arbeitsvorgang selbst besitzen. Nicht nur das Produkt, das Resultat der Arbeit, ist im Kapitalismus vom Produzenten entfremdet, sondern auch die Tätigkeit selbst, die dieses Produkt produziert, die Arbeit. MARX spricht im letzteren Falle von »Selbstentfremdung«.

»Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, umso mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt … Die Arbeit ist dem Arbeiter äußerlich … Er fühlt sich in der Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich.«21

»Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine vom Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.«22

»Wir haben bisher die Entfremdung, die Entäußerung des Arbeiters nur nach der einen Seite hin betrachtet, nämlich sein Verhältnis zu den Produkten seiner Arbeit. Aber die Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst. Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenüber treten können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht selbst entfremdete? … Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäußerung ist, so muß die Produktion selbst die tätige Entäußerung, die Entäußerung der Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäußerung sein. In der Entfremdung des Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung, die Entäußerung in der Tätigkeit der Arbeit selbst.«23

Halten wir noch einmal fest: Der MARX'sche Begriff der Entfremdung bezieht sich auf zwei Hauptpunkte:

1. auf den »Akt der Produktion«; hier ist die Entfremdung des unmittelbaren Arbeitsprozesses gemeint;

2. auf das »Resultat« der Produktion: hier meint MARX die Entfremdung der Gegenstände, die durch die Arbeit produziert wurden.

LUKACS geht auf diese Doppelbedeutung der »Entfremdung« bei MARX ein: »Objektiv erscheint das Produkt der Arbeit als fremder und den Menschen beherrschender Gegenstand, subjektiv ist der Prozeß der Arbeit eine Selbstentfremdung, die subjektiv der oben geschilderten Entfremdung der Sache entspricht.«24

Auch FROMM hebt in einer Studie über die Frühschriften von MARX die Doppelbedeutung des Begriffs der Entfremdung hervor: »MARX betont zwei Punkte: 1. Im Arbeitsprozeß und besonders in der Arbeit unter den Bedingungen des Kapitalismus ist der Mensch seinen eigenen schöpferischen Kräften entfremdet, und 2. die Gegenstände seiner Arbeit werden ihm fremde Wesen und beherrschen ihn schließlich, sie werden von dem Produzenten unabhängige Mächte.«25

MARX sieht die Entfremdung unter vier zusammenhängenden und sich gegenseitig bedingenden Gesichtspunkten. Die Entfremdung, die zunächst noch auf der individuellen Ebene dargestellt wird, führt zu Konsequenzen auf der gesellschaftlichen Ebene.

»Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen

1. die Natur entfremdet,

2. sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung.

… In der Arbeit der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen. Das Leben erscheint nur als Lebensmittel.

Die entfremdete Arbeit macht also:

3. das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz.

4. Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen.«26

»Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.«27

MARX distanziert sich kritisch von der herrschenden Nationalökonomie, die »die Gesetze der entfremdeten Arbeit« ausgesprochen habe. Selbst der Arbeitslohn sei eine Konsequenz der entfremdeten Arbeit und insofern mit dem Privateigentum »identisch«:

»denn der Arbeitslohn, wo das Produkt, der Gegenstand der Arbeit, die Arbeit selbst besoldet, ist nur eine notwendige Konsequenz von der Entfremdung der Arbeit, wie denn im Arbeitslohn auch die Arbeit nicht als Selbstzweck, sondern als der Diener des Lohns erscheint.«28

MARX setzt auch mit dem Begriff der Entfremdung, und gerade mit ihm, ein emanzipatorisches Signal, indem er zur Überwindung der Entfremdung aufruft:

»Aus dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit zum Privateigentum folgt ferner, daß die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht, nicht als wenn es sich nur um ihre Emanzipation handelte, sondern weil in ihrer Emanzipation die allgemeine menschliche enthalten ist.«29

Aus der Analyse der »entfremdeten Arbeit« kommt MARX zu einer Strategie der Emanzipation, zu einer politischen Konsequenz.

Der Begriff der Entfremdung, wie er von MARX konzipiert wurde, hat für das erkennende Subjekt zwei wesentliche Aspekte:

1. Dieser Begriff stellt eine kritische Distanzierung von einer Wirklichkeit fest, deren falschen Verhältnisse erkannt wurden.

2. Mit der Feststellung der »Entfremdung« wird auch immer schon das nicht-entfremdete Verhältnis ins Auge gefasst und die Aufhebung der Entfremdung als Emanzipation begriffen.

Der Begriff der Entfremdung hat Eingang in viele Wissenschaften gefunden. Vor allem wird er in einer sozialkritischen Soziologie verwandt.30 Selbst in der medizinischen Anthropologie Viktor von WEIZSÄCKERs stoßen wir auf diesen Begriff.31

1.12 Produktion, Dialektik und Freiheit (MARCUSE)

LEVÈBVRE weist auf das »dialektische Ganze« bei der Arbeit hin. Die Tätigkeit hebt den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt auf und Subjekt-Objekt bilden eine dialektische Einheit.

»Bei jeder menschlichen Anstrengung, die auf ein ›Produkt‹ abzielt, bildet sich, wenn man sie praktisch betrachtet, eine konkrete Einheit von Subjekt und Objekt heraus. Subjekt und Objekt werden nicht vermengt; sie sind abstrakt unterschieden; sie sind in einer gewissen Beziehung einander entgegengesetzt. Sie bilden ein genau bestimmtes dialektisches Ganzes.«32

Die Tätigkeit, die produziert, »setzt sich so als Objekt«: »Sie hebt den Gegensatz von Subjekt und Objekt auf, indem sie sich in dieser Objektivität wiederfindet, die der natürlichen überlegen ist.«33 Was LEFÈBVRE hier als dialektische Einheit fasst, finden wir bei MARX wieder als speziellen »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur«.

LEFÈBVRE geht auf die Entstehung des Bewusstseins ein. Es sei »ursprünglich in das Ding eingebettet, in das Ergebnis des Handelns und die dem Produkt verliehene objektive Form.«34 Erst aus dem, was der Mensch produziert habe, könne das Bewusstsein entstehen. »Man entdeckt, was man ist, in dem, was man macht.« Die Tätigkeit bewege sich ständig zwischen Konkretem und Abstraktem hin und her. Die Tätigkeit isoliere bestimmte Objekte. Ein isoliertes Objekt aber sei abstrakt. Und die Beziehung zu diesem abstrakten Objekt konkret.

»Aber einmal isoliert, wird auch die Beziehung selbst, hinsichtlich des Objekts, abstrakt, und die führt zum Objekt, zum Wesen des Objekts, zurück. Die Tätigkeit geht so fortwährend vom Abstrakten zum Konkreten, und vom Konkreten zum Abstrakten.«35

Bei MARX stellt die »Vergegenständlichung« des Arbeiters eine solche Abstraktion dar, etwas Abgezogenes, ein »Gespinst«:

»Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende

Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts. Er hat gesponnen und das Produkt ist sein Gespinst.«36

Auch die »entfremdete Arbeit« ließe sich nach LEFÈBVRE als eine Abstraktion begreifen.

MARX: »Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert.«37

Die Entäußerung könnte man also als die äußerste Abstraktion auffassen, da die Beziehung zwischen Produzenten und Produkt abgebrochen ist. Die Tätigkeit ist entfremdet, da sie nicht mehr »fortwährend vom Abstrakten zum Konkreten und vom Konkreten zum Abstrakten« gehen kann.

Indem etwas bearbeitet wird, wird ein Teil der Natur konsolidiert. Nach LEFÈBVRE gehört zum »Verfahren der Konsolidierung« im Wesentlichen die »Produktion eines Determinismus«. Dieser sei nicht Willkür, sondern »Schöpfung des Menschen«. Aber der Determinismus, der durch die Tätigkeit geschaffen werde, sei begrenzt, der »tiefgreifendste Widerspruch von allen«:

Er bedeute »den schmerzhaften Gegensatz zwischen der Macht des Menschen und seiner Ohnmacht, zwischen der Existenz eines Bereichs der Wirklichkeit, der beherrscht, menschlich konsolidiert ist, und der eines rohen Bereichs – zwischen dem, was das Leben des Menschen ausmacht, und dem, was seinen Tod verursacht.«38

Der Determinismus kann sich nur in der wirklichen Tätigkeit des Menschen zeigen, wenn er auf die Natur einwirkt. Die Subjekt-Objekt-Dialektik spielt eine entscheidende Rolle in dem Verhältnis Mensch-Natur.

MARX habe den gesellschaftlichen Determinismus, den »dialektischen, komplexen und ungleichmäßigen Charakter des geschichtlichen Werdens« in eine »erstaunliche Formel« zusammengefasst: »die menschlichen Dinge sind im allgemeinen vermittels ihres schlechten Aspekts fortgeschritten.«39

LEFÈBVRE wendet den Satz: »der physikalische Determinismus, das ist der Mensch in der Natur« (MARX) zu dem Satz: »der gesellschaftliche Determinismus, das ist die Natur im Menschen« und verbindet ihn mit MARXens Aussage: der gesellschaftliche Determinismus sei »das Unmenschliche im Menschen«.

Der Mensch produziert sich durch seine schöpferische Tätigkeit, indem er allmählich die Natur beherrscht.

MARX: »Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit.«

»Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.«40

Der MARX'sche Begriff »Produktion« bezeichne »die ganze menschliche Größe«, meint LEFÈBVRE. »Produktion« schließe alles Wesentliche im Menschen ein; »Natur, Aktion und Erkenntnis.« Der totale Mensch sei nach MARX der »unentfremdete« Mensch:

»Er ist … die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.«41

LEFÈBVRE nennt den totalen Menschen das »Subjekt des Handelns und zugleich das letzte Objekt des Handelns, dessen eigenes Produkt selbst dann, wenn es äußerliche Objekte zu produzieren scheint.«42 Mit dem totalen Menschen beginnt die wahre Geschichte des Menschen, hat seine »Vorgeschichte« ein Ende. LEFÈBVRE führt zuletzt den Begriff »totaler Humanismus« ein, dessen oberste Instanz »nicht die Gesellschaft, sondern der totale Mensch« sei. MARX spricht vom »Reich der Freiheit«43, wo das »Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.«

MARCUSE: »So ist die Praxis im ›Reiche der Freiheit‹ die eigentliche Praxis, auf die alle andere Arbeit als auf ihr ›Ende‹ ausgerichtet ist: die freie Entfaltung des Daseins in seinen wahren Möglichkeiten.«44

MARCUSE kritisiert die »Verengerung des Arbeitsbegriffes innerhalb der ökonomischen Theorie« und verweist dabei auf die Arbeitsbegriffe von HEGEL, MARX und von STEIN, bei denen die Arbeit »als ein Grundgeschehen des menschlichen Daseins, als ein das ganze Sein des Menschen dauernd und ständig durchherrschendes Geschehen« aufgefasst werde.45 Bei diesen Arbeitsbegriffen bedeutet Arbeit die Verwirklichung einer menschlichen Freiheit. Aber die Freiheit ist eine erst noch zu erringende. Sie ist nur prozesshaft zu verwirklichen.

MARCUSE zeigt nun einen schon heute möglichen Bereich der freien Betätigung auf: das Spiel; das Spiel im Gegensatz zur Arbeit.

»Spielend richtet sich der Mensch nicht nach den Gegenständen«, sondern der Spielende schafft sich selbst die Gesetzmäßigkeit: die Spielregeln. Der Mensch setzt sich so über die Gegenständlichkeit hinweg. »… in diesem Sich-hinweg-setzen über die Gegenständlichkeit kommt der Mensch gerade zu sich selbst, in eine Dimension seiner Freiheit.«46

»Das Spiel ist … als Ganzes notwendig bezogen auf ein anderes, wovon es herkommt und wohin es zielt.« Dieses andere sei die Arbeit.48

Die Arbeit unterscheidet sich vom Spiel durch drei Momente: »durch seine wesentliche Dauer, durch seine wesentliche Beständigkeit und durch seinen wesentlichen Lastcharakter.« Der »Lastcharakter« ist unabhängig von Arbeitsweise und Produktionsverhältnissen.

»Noch vor allen solchen Belastungen durch die Arbeitsweise und Arbeitsgestaltung begegnet die Arbeit als solche schon als ›Last‹, sofern sie das menschliche Tun unter ein fremdes auferlegtes Gesetz stellt: unter das Gesetz der ›Sache‹, die zu tun ist … In der Arbeit geht es immer erst um die Sache selbst und nicht um den Arbeitenden, – auch dann, wenn noch keine totale Trennung von Arbeit und ›Produkt der Arbeit‹ stattgefunden hat.«49

Diesem »Lastcharakter der Arbeit«, der gesellschaftsunabhängig ist, entspricht wohl MARXens Auffassung von der Arbeit als »ewiger Naturbedingung«, »allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur«. MARCUSE geht sogar so weit, dass er im Lastcharakter der Arbeit die »im Wesen des menschlichen Daseins selbst wurzelnde Negativität« sieht:

»daß der Mensch immer nur im Durchgang durch das Andere seiner selbst zu seinem eigenen Sein kommen kann, daß er nur im Durchgang durch die ›Entäußerung‹ und ›Entfremdung‹ sich selbst gewinnen kann.«50 »Diese Entäußerung und Entfremdung des Daseins, dieses Aufsichnehmen des Gesetzes der Sache statt des Geschehenlassens des eigenen Daseins, ist prinzipiell unaufhebbar.«51

Hier muss man freilich fragen, was MARCUSE unter »Entfremdung« versteht. Bei ihm gehört Entfremdung ebenso wie der Lastcharakter prinzipiell zum Begriff der Arbeit, wären also mit MARXens Worten ausgedrückt »eine allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur.«

Bei MARX hat der Begriff »Entfremdung« eine total andere Bedeutung. Die Entfremdung des Produkts ist unlösbar verknüpft mit der der Tätigkeit selbst, was erst mit der Arbeitsteilung möglich wurde. Die Konsequenz ist die »Entfremdung des Menschen vom Menschen«. So haben bei MARX – im Gegensatz zu MARCUSE – die Begriffe »Entfremdung« und »Entäußerung« wirklich einen gesellschaftskritischen Charakter, da sie zu einer Gesellschaftsänderung im Sinne einer Emanzipation des Menschen aufrufen. Nach MARCUSE ist die Vorbedingung der Praxis der Freiheit die Überwindung der Not:

»Die materielle Produktion und Reproduktion ist die Bedingung aller Fülle und Vollendung des Daseins: erst wenn das Dasein frei ist von dieser Not, kann es frei werden zu seinen eigensten Möglichkeiten.«52

Die Überwindung der Entfremdung erscheint bei MARCUSE eher eine abstrakte Spekulation zu sein als eine konkrete Utopie, die sich aus einer gesellschaftlichen Entwicklung ableiten ließe. Die Befreiung von der Entfremdung kann nach MARCUSE nur vonstattengehen durch deren Vervollkommnung, der »Eliminierung der Arbeit« selber!

So handle es sich »nicht darum, die Entfremdung aufzuhalten, sondern vielmehr sie zu vervollständigen, nicht darum, die unterdrückte und produktive Persönlichkeit wieder zu aktivieren, sondern sie abzuschaffen. Die Eliminierung menschlicher Möglichkeiten aus der Welt der (entfremdeten) Arbeit schafft die Vorbedingung für die Eliminierung der Arbeit aus der Welt der menschlichen Möglichkeiten.«53

Für MARCUSE wird die Periode der Entfremdung mit der totalen Automatisierung abgeschlossen, die es unter »primitiven Bedingungen«, wo die »Arbeitsteilung noch rudimentär« war, noch nicht gab, und die es »unter den Idealbedingungen der reifen Industriekultur« durch totale Automatisierung nicht mehr geben wird. Wie auch immer die Produktion aussehen mag, ein »Gebiet der Freiheit und Befriedigung kann sie nie sein.« Der Bereich der Freiheit ist »außerhalb der entfremdeten Arbeitsbereiche« zu finden.

»Je vollständiger die Entfremdung der Arbeit, desto größer das Potential der Freiheit: totale Automation wäre hier das Optimum.«54

Nur das Spiel ist heute schon ein Bereich der Freiheit; die Überwindung der entfremdeten Arbeit kann nur darin bestehen, die Arbeit selbst abzuschaffen, denn der »Lastcharakter« als ein unveränderliches Hauptmerkmal der Arbeit muss eliminiert werden. Indem bei MARCUSE schon die Arbeit selbst eine Entfremdung und Entäußerung darstellt vor allen sozioökonomischen Bedingungen, kann die Emanzipation des Menschen nur darin bestehen, diese Entfremdung und Entäußerung auf die Spitze zu treiben und zu perfektionieren, um damit die Arbeit selbst überflüssig zu machen. An dieser Stelle zeigt sich die große Differenz zu MARX und seinem Begriff der Arbeit.

MARCUSEs wesentliche Argumente sind der psychoanalytischen Theorie entnommen, basierend auf FREUDs »Metapsychologie«. Für unseren Zweck genügt es, jenen Bereich der Freiheit aufzuzeigen, der laut MARCUSE den Bereich der entfremdeten Arbeit nach und nach verdrängen wird: den Bereich des Spiels als den Bereich des »Lustprinzips«.55 Dieser Bereich liegt jenseits der Arbeit überhaupt, also auch jenseits der entfremdeten Arbeit. MARCUSE abstrahiert von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und verweist auf SCHILLER, dessen emanzipatorischen Ideen er herausstellt. Der Frage, inwieweit MARCUSE nicht selbst idealistisch argumentiert, können wir an dieser Stelle leider nicht nachgehen.

SCHILLER: »Der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus.«56

Das Lustprinzip sei also vom Realitätsprinzip verdrängt worden. So interpretiert MARCUSE SCHILLER: Dieser habe schon dem Lustprinzip zum Siege verhelfen wollen, wenn er vom »fröhlichen Reich des Spiels« spreche:

»Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen, entbindet.«57

»An diesem Punkt treten die explosiven Eigenschaften der SCHILLER-schen Konzeption aufs deutlichste in Erscheinung«, meint MARCUSE.58 C. G. JUNG sei über die radikalen Schlussfolgerungen aus dieser Konzeption erschrocken gewesen:

»Er warnte davor, daß die Herrschaft des Spieltriebs eine ›Aufhebung der Verdrängung‹ mit sich bringen würde, ›die notwendig mit einer Heruntersetzung der bisher höchsten Werte endet‹ - mit einer ›Katastrophe der Kultur‹, in einem Wort, mit der Barbarei.59 SCHILLER selbst war offenbar weniger als JUNG geneigt, eine repressive Kultur mit Kultur schlechthin gleichzusetzen; er schien bereit, das Risiko einer Katastrophe für erstere und eine Herabsetzung ihrer Werte hinzunehmen, wenn dies den Weg zu einer höheren Kultur bedeutet.«60

Arbeit soll zum Spiel werden, das ist MARCUSEs Programmatik. Er versucht, MARX und FREUD auf einen Nenner zu bringen, Soziologie und Psychoanalyse zu vereinen. Er will die FREUD'sche Theorie auf ihre »radikal kritische Funktion«, auf ihre »Opposition gegen die herrschende Gesellschaftsform« hin schärfen (HOLZHEY).61

»Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« sagt ADORNO, dass die Begriffe der einen Wissenschaft nicht übertragbar auf die andere seien, dass die »Trennung von Psyche und Gesellschaft falsches Bewußtsein« sei:

»Die Menschen vermögen sich selbst in der Gesellschaft nicht wiederzuerkennen und diese nicht in sich, weil sie einander und dem ganzen entfremdet sind.«62

»Das falsche Bewußtsein ist zugleich richtiges, inneres und äußeres Leben sind voneinander gerissen. Nur durch die Bestimmung, durch die Differenz hindurch, nicht durch erweiterte Begriffe, wird ihr Verhältnis angemessen ausgedrückt.«63

Bei MARCUSE scheint die Soziologie in einem untergeordneten Verhältnis zur Psychoanalyse zu stehen. Denn die »metapsychologische« Forderung, das Lustprinzip zur Herrschaft zu bringen, scheint soziologisch – und damit politisch – kaum vermittelt werden zu können.

(Es gibt aber heute schon ernsthafte politische Versuche, die entfremdete Arbeit zu überwinden! Es sei auf die chinesische Kulturrevolution hingewiesen, worüber freilich die Information recht spärlich ist. Es wird heute in China versucht, mit der Aufhebung der Arbeitsteilung auch die entfremdete Arbeit zu überwinden. Weder den theoretischen Anspruch noch die praktischen Konsequenzen der chinesischen Kulturrevolution können wir hier auch nur ansatzweise einschätzen und beurteilen.64 Es scheint mir allerdings in unserem theoretischen Zusammenhang äußerst interessant zu sein, dass es zur Zeit offensichtlich einen groß angelegten politischen Versuch gibt, der nicht nur das Privateigentum an Produktionsmitteln, sondern auch die Teilung der Arbeit aufheben will – unter gleichzeitiger mächtiger Entwicklung der Industrie!)65

1.2 Die Verengerung des Arbeitsbegriffes in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
1.21 Zur soziologischen Kritik am verengerten Arbeitsbegriff

MARCUSE meint, dass »primär als Arbeit die wirtschaftliche Tätigkeit« gelte, »während man die Tätigkeit z. B. des Politikers, Künstlers, Forschers, Priesters gerade in einen grundsätzlichen Gegensatz zur wirtschaftlichen Tätigkeit bringt.«66 Somit werde also die Diskussion von »Wesen und Sinn der Arbeit« von vornherein in eine ganz bestimmte Richtung gedrängt.

»Die Verengerung des Arbeitsbegriffes ist aber noch weiter gegangen, und zwar innerhalb der ökonomischen Theorie selbst. Hier nämlich schränkt sich der Arbeitsbegriff immer mehr auf die geleitete, unfreie Tätigkeit (deren Begriffsmodell die Arbeit des Lohnarbeiters ist) ein, ‒ auch dort, wo der wirtschaftswissenschaftliche Arbeitsbegriff ausdrücklich im Zusammenhang der ökonomischen Grundbegriffe definiert werden soll.«67 So will z. B. Max WEBER unter Arbeit nur die an »Dispositionen orientierte Arbeit« (nicht die »disponierende Tätigkeit«) verstehen;68 und GOTTL konzipiert seinen Arbeitsbegriff von vornherein als Gegenbegriff zu allem »gestaltenden Wirken« (etwa des Unternehmers) als eine »schlechthin zeitfüllende Leistung, der jedermann fähig bleibt«.69

Die Wirtschaftswissenschaft blende alle »nicht-wirtschaftlichen Weisen« der Arbeit aus, sodass Arbeit nur noch »in der Sphäre der Bedürfnisbefriedigung« bestimmt werde, und der Sinn der Arbeit auf die Dimension der materiellen Güterwelt zugeschnitten und in dieser Dimension sogar »verwurzelt« würde. Die »Zweidimensionalität von Notwendigkeit und Freiheit« wird in der wirtschaftlichen Produktion zugunsten einer »Eindimensionalität« zerstört: der »Dimension der Produktion und Reproduktion des Notwendigen.«

So sei die »Zweidimensionalität von Notwendigkeit und Freiheit innerhalb eines Daseinsganzen zu einer Zweidimensionalität verschiedener Daseinsganzheiten, zu einer ökonomisch-gesellschaftlich fundierten und tradierten Verschiedenheit der Daseinsweisen geworden.«70

Die Arbeit, auf die Praxis in beiden Dimensionen bezogen, verfestigt sich nun in die wirtschaftliche Dimension der Notwendigkeit. Die Arbeit hat letztlich ihren Sinn nur noch in dieser Dimension der Produktion und Reproduktion, der Dimension der Notwendigkeit. Die Arbeit in der zweiten Dimension ist keine eigentliche Arbeit mehr. Mit der Teilung der Arbeit kommt es auch zu einer bestimmten Verteilung der Arbeit:

»Natürliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung kommen (bei aller Verschiedenheit der Teilungsursachen und -prinzipien) darin überein daß sich die geteilte Arbeit in dem Gegensatz von herrschender und beherrschter (disponierender und an Dispositionen orientierter) Arbeit verwirklicht.«71

MARCUSE geht hierbei wesentlich von MARX aus, der betont, dass die Arbeitsteilung zugleich auch die »ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit« bedeute.

»Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke – in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Anderen in bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird.«72

Die »wirtschaftliche Dimension der Notwendigkeit«, der »Bereich der materiellen Produktion und Reproduktion« (MARCUSE) ist zugleich Dimension und Bereich der Unterdrückten, da mit der Teilung der Arbeit auch eine ungleiche Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben ist.

»Die Begriffe von Herrschaft und Knechtschaft, als Kategorien des geschichtlichen Daseins von HEGEL gebraucht, sollen hierin einen allgemeinen geschichtlichen Sachverhalt bezeichnen: Knechtschaft meint die dauernde und ständige Bindung der Praxis des ganzen Daseins an die materielle Produktion und Reproduktion, im Dienste und unter der Leitung eines anderen (eben des ›herrschenden‹) Daseins und seiner Bedarfe.«73

Die Arbeit ist nach MARCUSE nur »ontologisch« begreifbar. Die moderne Arbeitswissenschaft versuche dem Problem Arbeit auf naturwissenschaftlich-biologischer Grundlage gerecht zu werden. »Jenseits der ökonomisch-technischen Dimension« sei für diese Wissenschaft das Arbeitsproblem im Wesentlichen ein psychologisches.

»Die Psychologie aber kann dem Problem Arbeit deshalb nicht gerecht werden, weil Arbeit ein ontologischer, d. h. hier ein das Sein des menschlichen Daseins selbst und als solches begreifender Begriff ist.«74

Damit erteilt MARCUSE der Arbeitswissenschaft eine Absage, die den »im Arbeitsbegriff liegenden ›philosophischen Stachel‹ nur noch damit zum Ausdruck bringt, dass auf die mit der Arbeit zusammenhängenden ›ethischen‹ Fragen hingewiesen wird.«

STÜCK geht explizit von MARCUSE aus, wenn er meint, dass »das Problem der ›organisatorisch-entfremdeten‹ und der ›organisatorisch nicht entfremdeten Arbeit‹ … das Zentralproblem einer wissenschaftlichen Organisationslehre« sei.75 Er lehnt also einen Arbeitsbegriff ab, der den Unterschied zwischen »entfremdeter« und »nicht-entfremdeter Arbeit« zudecken würde.76

Nachdem wir den Arbeitsbegriff in der marxistischen Philosophie etwas genauer untersucht haben, wollen wir uns der »Verengerung des Begriffes Arbeit« (MARCUSE) in den Wirtschafts- und. Arbeitswissenschaften zuwenden. Es geht also um die Differenz zwischen beiden Arbeitsbegriffen. Ich werde mich dabei auf einige Soziologen beziehen, die diese Differenz herausgearbeitet haben oder sie implizit mit angeben. Die Herausarbeitung der verschiedenen Arbeitsbegriffe ist notwendig, um den Standort der Rehabilitationsmedizin angeben zu können: Ich werde nämlich später versuchen, den Arbeitsbegriff der Rehabilitationsmedizin unter die Lupe zu nehmen und ihn nach den bearbeiteten Kriterien beurteilen. Am Begriff der Arbeit, so meine ich, wird man die Ideologie der Rehabilitation am ehesten beurteilen und kritisieren können.

Der marxistische Begriff der Entfremdung wird zum Zentralbegriff in BLAUNERs arbeitssoziologischer Studie »Alienation and Freedom. The Factory Worker and His Industry«.77

»The idea of alienation has incorporated philosophical, psychological, and political orientations.«78

BLAUNER grenzt für seine Zwecke diese »Idee der Entfremdung« ein, seine eigene Perspektive »is chiefly sociological or perhaps social-psychological in that alienation is viewed as a quality of personal experience which results from specific kinds of social arrangements.« Dieser Ansatz weist direkt auf den frühen MARX hin.79 Es geht BLAUNER vor allem um jene »Entfremdung der Tätigkeit«, die sich als »Selbstentfremdung« (selfestrangement) im Arbeitsprozess zeigt.80

»Alienation exists, when workers are unable to control their immediate work processes to develop a sense of purpose and function which connects their job to the overall-organization of production, to belong to integrated industrial communities and when they fail to become involved in the activity of work as a mode of personal self-expression.«81

Ebenso ist Machtlosigkeit ein Kennzeichen der Entfremdung:

»A person is powerless when he is an object controlled and manipulated by a person or impersonal system (such as technology) and when he cannot assert himself as a subject to change or modify his domination. The non-alienated state is ... the state of control and freedom«.82

Vier Modalitäten industrieller Machtlosigkeit (modes of industrial powerlessness) der Werktätigen werden angegeben:

»l. the separation from ownership of the means of production and the finished products,

2. the inability to influence general managerial policies,

3. the lack of control over the conditions of employment,

4. the lack of control over the immediate work process.«83

BLAUNERs Untersuchung bezieht sich auf den vierten Punkt, die Machtlosigkeit der Werktätigen über den unmittelbaren Arbeitsprozess. Diese besondere Modalität ermöglicht es, den Grad der entfremdeten Arbeit soziologisch anzugeben, wenn auch von den anderen Modalitäten abstrahiert wird. So kommt es zu einer Differenzierung von entfremdeter und weniger entfremdeter Arbeit auch innerhalb eines kapitalistischen Systems, die erst durch jene Abstraktion von anderen »Modalitäten der Machtlosigkeit« möglich wird.

BLAUNER geht es um die Situation des einzelnen Werktätigen als dem gemeinsamen Nenner verschiedener Gesellschaftsordnungen, der es ihm ermöglicht, diese hinsichtlich ihrer Menschlichkeit zu vergleichen. Er schließt sich DAHRENSDORFs Auffassung der »post-capitalistic society« an:

«The worker, who in classical capitalism was considered virtually a commodity ... and treated as a thing is giving way to the employee, a permanent worker who is viewed much more as a human being.«84

Die Kontrolle über den unmittelbaren Arbeitsprozess beinhaltet: »control over pace, freedom from pressure, freedom of physical movement and the ability to control the quality and quantity of production and to choose the techniques of the work.«85

Die Entfernung anerkannter Soziologen von MARX stellt BLAUNER am Beispiel DURKHEIMs heraus:

»In contrast to MARX, who emphasized the powerlessness of workers in modern industry and saw the solution to the modern social problem in ›restoring‹ control to the workers over their conditions of work, the French sociologist E. DURKHEIM saw anomie and the breakup of integrated communities as the distinguishing feature of modern society.«86

Die Idee, Arbeit solle schöpferisch sein, sei modern.

»A. TILGHER, a historian of work ideologies, finds that the idea that work should be a creative fulfilment is peculiarly modern, with origins in the Renaissance. In many previous civilizations work was viewed as some kind of unpleasant burden or punishment.«87

Soziale Entfremdung und Selbstentfremdung müssen sich nicht gegenseitig bedingen, meint BLAUNER und verlässt damit MARXens Konzept.

»Self-estrangement refers to the fact that the worker may become alienated from his inner self in the activity of work ... there is no necessary relation between social alienation and self-alienation. A worker may be integrated in the plant community and loyal to the company and still fail to achieve a sense of involvement and self-expression in his work activity itself.«88

BLAUNER unterscheidet durchaus subjektive Zufriedenheit und objektive Selbstentfremdung des Arbeiters, sodass sich jene »integration in the plant community« und »loyality to the company« sich als Selbsttäuschung über den wahren Sachverhalt herausstellt.

»The typical worker in modern industrial society is probably satisfied and self-estranged. Self-estranged workers are dissatisfied only when they have developed needs for control, initiative and meaning in work ...«.89

BLAUNER spricht von der Unzulänglichkeit der »Entfremdungstheorie«, die sich da zeige, wo die Beziehung zwischen Arbeit und Glück erklärt werden soll.

»Theory of alienation ignores what might be called the bipolar or twosided ambivalence of work, alienation theory cannot totally explain the relationship between work and human happiness. For even the most unalienated work is never totally pleasant.«90

Auch BLAUNER sieht jene Spannung zwischen den Bedingungen der Arbeit und den Möglichkeiten der Freiheit, die »ewige Naturbedingung« (MARX), den »Lastcharakter« (MARCUSE) der Arbeit.

»Work is inherently ambivalent also at the opposite pole of freedom and non-alienation. Even in the most unalienated conditions, work is never totally pleasurable.«91 De MAN wird in diesem Zusammenhang zitiert: »Even the worker who is free in the social sense ... feels this compulsion ... by the idea of a willed or necessary creation. Work inevitably signifies subordination of the worker to remoter aims.«92

Aus seiner soziologischen Analyse, auf die ich im Einzelnen nicht eingehen will, zieht BLAUNER verschiedene Schlüsse. Wurde früher der fähige Arbeiter (able workman) gebraucht, so benötigt man heute in der automatisierten Industrie den zuverlässigen Angestellten (reliable employee), der »a considerable load of responsilility« tragen kann.

Das Hauptkennzeichen der Automation »is its transfer of focus from an individual job to the process of production. The perspective of the worker is shifted from his own individual task to a broader series of operations that includes the work of other employees.«93

BLAUNER untersuchte die Arbeitsvorgänge von Berufen aus vier Industriezweigen: »printing«, »textile«, »chemical« und »automobile industry«. Eine statistische Umfrage, die den Prozentsatz der Arbeiter herausfinden sollte, die ihre Arbeit stumpfsinnig fanden (who find their job dull), ergab:

4%

in der printing industry

18%

in der textile industry

34%

in der automobile industry (davon 61% der ungelernten Arbeiter am Fließband)

11%

in der chemical industry.

Aus diesen Ergebnissen entstand ein interessantes Schaubild: »U-curve of the alienation trends«94:

BLAUNER sieht in der Konsumtionssphäre keinen Ausweg aus der Problematik der entfremdeten Arbeit:

»The problem with the leisure solution is that it underestimates the fact that work remains the single most important life activity for most people in terms of time and energy, and ignores the subtle ways in which the quality of one's work life affect the quality of one's leisure.«95

Bei BLAUNER bleibt die Frage offen, inwieweit er gerade die Begriffe der Entfremdung und Selbstentfremdung, mit denen er sich offenbar auf MARX beziehen will, nicht soziologisch verkürzt. (Zum Zwecke seiner Untersuchung verkürzen muss?) Das emanzipatorische Signal, das MARX gerade mit dem Begriff »entfremdete Arbeit« gibt, ist bei BLAUNER kaum mehr zu sehen. Er beschreibt Zustände mit marxistischen Begriffen, kommt aber nicht zu politischen Konsequenzen. Und folgendermaßen erklärt er sich dann die Entstehung der MARX'schen »Entfremdungstheorie«: »The concept of alienation, in its classical form, was an attempt to explain the changes in the nature of manual work brought about by the industrial revolution.«96

BELL behandelt ebenfalls das Thema Arbeit und Entfremdung und geht dabei kritisch auf MARX ein. Er stellt eine Doppelbedeutung des Begriffes der Entfremdung bei MARX heraus, zum einen eine psychologische, zum anderen eine sozialutopische Dimension.

»MARX used it in a double sense ... in our contemporary psychological meaning of feeling estranged from the world, and in a philosophical, Aristotelian sense, of departure from what men would ideally be in the historical future.«97