Die Gedanken sind frei! - Heinz Schott - E-Book

Die Gedanken sind frei! E-Book

Heinz Schott

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Beschreibung

Der Essay versammelt Einfälle, Erinnerungen und Überlegungen, die der Autor zwischen Februar und Juli 2023 niedergeschrieben hat. Das altbekannte Lied "Die Gedanken sind frei!" gab hierzu den Anstoß. Nicht nur im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine ist neuerdings von einer "Zeitenwende" die Rede, was kollektive Untergangsängste auslöst und Rettungsfantasien weckt. Der Autor zeigt aphoristisch auf, wie er in einer Art Selbstanalyse damit umgeht. Diese Schrift schließt an seinen früheren Essay "Corona und was die Seuchengeschichte lehrt" (BoD 2020) an.

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Die Höflichkeit, die ich alle Tage übe, ist zum guten Theil eine [...] Verstellung; wenn ich meine Träume für den Leser deute, bin ich zu solchen Entstellungen genöthigt. Ueber den Zwang zu solcher Entstellung klagt auch der Dichter:

„Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen."

In ähnlicher Lage befindet sich der politische Schriftsteller, der den Machthabern unangenehme Wahrheiten zu sagen hat. Wenn er sie unverhohlen sagt, wird der Machthaber seine Aeusserung unterdrücken, nachträglich, wenn es sich um mündliche Aeusserung handelt, präventiv, wenn sie auf dem Wege des Drucks kundgegeben werden soll. Der Schriftsteller hat die Censur zu fürchten, er ermässigt und entstellt darum den Ausdruck seiner Meinung.

Sigmund Freud: Die Traumdeutung.Leipzig und Wien: Deuticke, 1900; S. 99.

Inhalt

Vorwort

Ein Volkslied macht Karriere

Vom Wald und den Bäumen

Berliner Hauptstadt-Komplex

Cancel Culture

an der Universität

Träume im Wolkenkuckucksheim

Klimarettung im Namen der Wissenschaft

Boiling Frog Syndrome

Der Müll und die Ratten

Zur Kriegslust der Unschuldslämmer

Der Elefant im Raum

Schwarze Schwäne ‒ Weiße Raben

Geister, böse und gute

Über den Hochmut der Fachidioten

Das labile Gemüt der Deutschen

Wendezeiten ‒ Zeitenwende

Evolutionstheorie als ideologische Falle

Heimatgefühle

Die Gnade der linksrheinischen Geburt

High Noon

im Dorf

Vorlass, Nachlass und was übrig bleibt

Was kommt von innen, was von außen?

Über Kommunikation und ihre digitale Auflösung

Das Gendern ist der Woken Lust

»... eine ganz dünne Kruste über einem Vulkan«

Nachbemerkung (Ende Oktober 2023)

Vorwort

Mein Essay versammelt Einfälle, Erinnerungen, Überlegungen, die ich zwischen Februar und Juli 2023 niedergeschrieben habe. Wenn mir der Zeitgeist in der viel beschworenen Zeitenwende wie eine im Dunkel liegende Landschaft vorkommt, in der man ohne Orientierung umhertappt, so können doch Gedankenblitze das Gelände rundum erhellen. Das altbekannte Lied Die Gedanken sind frei! gab mir den Anstoß zu diesem Essay. Ich möchte meine Gedanken aber nicht für mich behalten, sondern sie äußern, mitteilen. Gedankenfreiheit ist ohne Redefreiheit (free speech) wenig wert. Nur wenn Gedanken ohne Zensur oder Repression zu Wort kommen dürfen, kann von Meinungsfreiheit die Rede sein, dem demokratischen Grundrecht schlechthin. Nicht Wokeness, sondern Gelassenheit ist das Gebot der Stunde. Natürlich hoffe ich, dass mein Essay Anklang findet. Doch nicht die Frage des Publikumserfolgs bewegt mich in erster Linie. Vielmehr bin ich es meiner Selbstachtung schuldig, in dieser aufgeregt-aufregenden Zeit meine Gedanken mitzuteilen, soweit es mir zuträglich erscheint. Sigmund Freuds Vergleich der Traumarbeit mit einem Schriftsteller, der »den Machthabern unangenehme Wahrheiten zu sagen hat«, wie das vorangestellte Zitat ausführt, weist auf die unvermeidbare Spannung zwischen Enthüllen und Verbergen hin, die sich bei jeder schriftstellerischen Tätigkeit einstellt.

In seiner monumentalen Studie Was ist Deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst (Berlin 2017) hat Dieter Borchmeyer die typische Zwiespältigkeit des Deutschseins ‒ auch ein wichtiges Motiv meines Essays ‒ anhand von literarischen Quellen der deutschen Geistesgeschichte ausführlich analysiert. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht das Oszillieren zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, denen zwei gegensätzliche Charaktere entsprechen: philanthropisch gestimmter Weltbürger versus herrschsüchtiger Chauvinist. Wie eng ihre Haltungen beisammen liegen, zeigt er an unzähligen Zeugnissen auf. Er beschreibt umfassend und ausschweifend die eigenartig labile Gemütslage der Deutschen. Mein Essay versucht aber nicht, die Frage »Was ist deutsch?« auf der Grundlage von literarischen Quellen zu beantworten. Vielmehr möchte ich der Resonanz nachspüren, die sie in mir selbst hervorruft. Was habe ich erlebt? Was irritiert mich, stürzt mich in Zweifel? Welche Erinnerungen tauchen in mir auf? Wo finde ich einen sicheren Grund, wenn alles ins Wanken gerät? Letztlich bewegt mich nicht die Frage: »Was ist deutsch?«, sondern »Was erlebe ich als Bürger im heutigen Deutschland?« Welche Gedanken stellen sich ein und inwieweit kann ich sie formulieren und darf sie veröffentlichen? Mein Essay stellt also keine Analyse eines objektiven Sachverhalts dar, er besteht eher aus Fragmenten einer Selbstanalyse, die vergangenes und gegenwärtiges Erleben berührt und es gelegentlich in Anekdoten verdichtet. Dabei könnte ich auf Sigmund Freud als Vorbild verweisen.1 Freilich habe ich nicht seine Methode des freien Assoziierens angewandt, wie er sie in seinem Hauptwerk Die Traumdeutung geschildert hat. Gleichwohl ist mein Erzählen dem freien Assoziieren verwandt.

Bonn, im Sommer 2023

Heinz Schott

Christian Eduard Böttcher (1818-1889)Sommermorgen am Rhein, 1864 Öl auf Leinwand; 68,5x99,5cm Sammlung RheinRomantik, Bonn

1 Vgl. Heinz Schott: Zauberspiegel der Seele. Sigmund Freud und die Geschichte der Selbstanalyse. Göttingen 1985.

Ein Volkslied macht Karriere

Die Gedanken sind frei! gehört zu den bekanntesten deutschen Liedern weltweit. Das voranstehende Faksimile habe ich dem Band Schlesische Volkslieder und ihre Melodien. Aus dem Munde des Volks entnommen, die Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ernst Richter gesammelt und 1842 im Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel herausgegeben haben.2 Die vorliegende Textfassung geht auf Hoffmann von Fallersleben zurück. Ich möchte mich hier nicht mit der Entstehungs-und Wirkungsgeschichte dieses »Volkslieds« befassen, das als Protestsong ‒ oft mit aktualisierten Textvarianten und abgewandelter Melodie ‒ bis heute recht beliebt ist. So wurde es vor einigen Jahren auf einer Kundgebung zum »Mordfall Mia V.«, organisiert vom »Frauenbündnis Kandel«3, ebenso gesungen wie auf einem »Montagsspaziergang« gegen die Impfpflicht in Marburg Anfang 20224. Aber das Lied wurde auch von berühmten Liedermachern vor großem Auditorium dargeboten, die es freizügig ihren eigenen Vorstellungen anpassten, von Leonard Cohen (1975)5 bis hin zu Constantin Wecker (2015).6

Die Gedanken sind frei! offenbart wie keine anderes Lied die Grandiosität und zugleich Kalamität deutscher Freiheitssehnsucht. Es liefert mir einen Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen geistigen und politischen Situation in Deutschland und soll mir als Ausgangspunkt für meine Einlassungen dienen, die den

Charakter von Selbstgesprächen haben. Mein Essay unterscheidet sich von einem wissenschaftlichen Artikel oder Sachbuch; ich arbeite keine Gliederung ab, verzichte auf systematische Entfaltungen und ausführliche Fußnoten oder Anmerkungen.

Das schwungvolle Lied mit seiner trutzig-kämpferischen Melodie wurde zu einer Freiheitshymne, die sich dazu eignet, als Zeichen des Aufbegehrens gemeinsam gesungen zu werden. Gleichwohl steht der Text des Liedes in merkwürdigem Gegensatz zu befreiender oder gar revolutionärer Aktion. Denn er weist den Freiheitsliebenden nicht den kämpferischen Weg zur äußeren Freiheit einer bürgerlichen Existenz, sondern den meditativen zur inneren Freiheit im Reich der Phantasie. Somit steht das deutsche Lied in polarem Gegensatz zur Marseillaise, der Nationalhymne der Franzosen, das dazu aufruft, für die Freiheit blutig zu kämpfen.

Schauen wir uns die fünf Strophen im Einzelnen an, die eines gemeinsam haben: Sie feiern die Freiheit der Gedanken, so unfrei die Lage des Menschen auch sein möge.

Die Gedanken sind frei, Wer kann sie erraten, Sie fliegen vorbei Wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, Kein Jäger sie schießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!

Die erste Strophe erklärt, warum die Gedanken frei sind. Niemand kann sie, die wie nächtliche Schatten vorbeifliegen, erraten und wissen. Der Ton des Triumphs ist unüberhörbar: Wenn man den Menschen auch alle möglichen Fesseln anlegen kann, so sind ihre Gedanken nicht zu fassen, nicht zu verhaften oder gar abzuschießen.

Ich denke was ich will

Und was mich beglücket,

Doch alles in der Still,

Und wie es sich schicket.

Mein Wunsch und Begehren

Kann niemand verwehren.

Es bleibet dabei:

Die Gedanken sind frei!

Die zweite Strophe hebt noch einmal die Freiheit der Gedanken hervor, allerdings unter einem gewichtigen Vorbehalt: Doch alles in der Still, Und wie es sich schicket. Ein Denken in der Stille bedeutet aber nichts anderes als Schweigen, genauer: Verschweigen der Gedanken, die sich nicht »schicken«. Wir haben hier eine Lobpreisung der Gedankenfreiheit und zugleich einen Verzicht auf die Redefreiheit, womit unschickliche Gedanken zum Ausdruck gebracht werden könnten. Unter dieser Bedingung kann einen in der Tat niemand daran hindern zu wünschen und zu begehren. Diese Art von Freiheit kann derjenige genießen, der den Mund hält und schweigt.

Und sperrt man mich gleich ein

Im finsteren Kerker,

So sind es doch nur

Vergebliche Werke;

Denn meine Gedanken

Zerreißen die Schranken

Und Mauern entzwei:

Die Gedanken sind frei!

Die dritte Strophe drückt das Pathos der politischen Befreiung am stärksten aus. Auch die schlimmste Kerkerhaft kann die Befreiung nicht verhindern: Denn meine Gedanken / Zerreißen die Schranken. Aber auch hier ist nicht die reale Befreiung, sondern die gedankliche, geistige Befreiung gemeint. Wie aus einer solchen die politische Befreiung erreicht werden kann, bleibt im Dunkeln. Die Strophe klingt wie der Spruch eines Verzweifelten, der sich angesichts der Gefängnismauern Mut und Trost zusprechen will: Egal, wie unüberwindbar diese auch sein mögen ‒ meine Gedanken können sie nicht einschließen. Dies erinnert mich an den berühmten Ausruf von Otto Wels im Reichstag am 23. März 1933: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!«

Jetzt will ich auf immer

Der Liebe entsagen

Und will mich nicht mehr

Mit Grillen so plagen.

Man kann ja im Herzen

Stets lachen und scherzen

Und denken dabei:

Die Gedanken sind frei!

Nach dem Szenario der Kerkerhaft, dem worst case, in der Mitte des Gedichts wendet es sich wieder dem Privatleben und seinen Glücksmöglichkeiten zu. In der vierten Strophe will der Ich-Erzähler dem Liebeskummer entgehen und sich nicht länger sorgen und grämen. Er will vielmehr leichten Herzens »lachen und scherzen« und sich in Gedanken von allen Widrigkeiten freimachen.

Ich liebe den Wein,

Mein Mädchen vor allen,

Die thut mir allein

Am besten gefallen.

Ich bin nicht alleine

Bei meinem Glas Weine,

Mein Mädchen dabei:

Die Gedanken sind frei!

In der fünften und letzten Strophe klingt die alte Formel von »Wein, Weib und Gesang« an, worauf Hoffmann von Fallersleben auch in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes zurückgriff, das er im Jahr vor der Drucklegung der Schlesischen Volkslieder verfasst hatte. Jetzt ist der glückliche Endzustand in holder Zweisamkeit »bei meinem Glas Weine« erreicht. Die biedermeierliche Idylle hat den Dichter eingeholt, ein Geisteszustand, den man im Deutschen »Gemütlichkeit« nennt. In ihm sind die Gedanken wirklich frei. Das Gemälde von Eduard Böttcher illustriert wunderschön diese Melange aus Gemütlichkeit und Gedankenfreiheit, ein Happy End im Rahmen der Rheinromantik (siehe S. 8).

Um die kulturhistorische Bedeutung des Lieds aufzuklären, müssten vor allem die damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland berücksichtigt werden: die antinapoleonischen Befreiungskriege, die Restauration nach dem Wiener Kongress, die Karlsbader Beschlüsse, die Demagogenverfolgung, die Burschenschaftsbewegung. Aber mir geht es in diesem Essay nicht um die Einordnung des Lieds in die Literatur- und Kulturgeschichte, sondern um seine Wirkung, die es heute noch entfaltet und insbesondere um das, was mir dazu einfällt. Wenn dieses Lied eine solche Wirkung haben konnte, so stellt sich die Frage: Inwiefern ist auch der historische Kontext, indem es entstanden ist, aufschlussreich für unsere gegenwärtige Situation? Ich werde hier keine Metatheorie bemühen, etwa Anleihen bei Massenpsychologie und Diskursanalyse oder der modischen Lehre vom Kollektiven Gedächtnis machen, um dieser Frage nachzugehen. Ich werde bei meinen Leisten bleiben und mich mit Fragmenten eigener Nachforschungen und Einfälle begnügen, die in ihrer Zusammensetzung ein anschauliches Mosaik ergeben mögen ‒ oder auch nicht. Es ist kein Puzzle-Spiel mit vorgestanzten Teilen, die man nur richtig zusammensetzen muss, um ein vollständiges Bild zu erhalten.

2 Das Digitalisat stammt aus der Bayerischen Staatsbibliothek: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV007875682 (14.02.2023)

3 https://www.youtube.com/watch?v=CapEsXBrgi8 (14.02.2023)

4 https://www.youtube.com/watch?v=i4ZADpnUols (14.02023)

5https://www.youtube.com/watch?v=5cdYH5aa B4 (14.02.2023)

6https://www.youtube.com/watch?v-cvcTOxXz3gU (14.02.2023)

Vom Wald und den Bäumen

In keinem anderen Land bestimmte das »Waldsterben« so tiefgreifend die öffentliche Debatte wie in (West-)Deutschland. Die Bilder von verdorrten Bäumen, deren Astgerippe in den Himmel ragten, boten einen gruseligen Anblick. Ich erinnere mich an retuschierte Fotos, auf denen anstelle des Schwarzwalds nur noch kahle Berge zu sehen waren. Damit war ein Herzstück deutscher Identität angetastet: der Wald mit seinen Bäumen. Besondere Baumarten werden in vielen Gedichten und Liedern gepriesen. So besitzt die Deutsche Eiche hohen Symbolwert und der Lindenbaum, der am Brunnen vor dem Tore steht, reimt sich bekanntlich auf Traum. Goethes Erlkönig, vertont von Franz Schubert, verleiht der Erle eine transzendente Zauberkraft. Der Wald als ebenso verlockende wie gefährliche Welt spielt in deutschen Märchen eine illustre Rolle, man denke etwa an Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen. Einerseits ist der Wald mit seinen Quellen, Bächlein, Pilzen und Beeren, Hirschen und Hasen, seinen Nymphen und Feen Inbegriff der reinen Natur; andererseits, ist er als Ort der Hexen und Räuber, der Wölfe und Bären lebensgefährlich, in dem man sich verirren und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen kann.

Die Bedrohung des Waldes empfanden viele Landsleute im ausgehenden 20. Jahrhundert als Angriff auf die eigene Identität ‒ kündigte sich im »Waldsterben« nicht das eigene Sterben an? Diese Beziehung zum Wald und zu den Bäumen ist bei den Deutschen besonders innig. Die Sängerin Alexandra hat sie 1968 in ihrem Lied »Mein Freund der Baum ist tot« unüberbietbar zum Ausdruck gebracht.7 Auf lokalpolitischer Ebene fallen heute die ausgefeilten Baumschutzverordnungen auf, basierend auf Baumschutzsatzungen und kontrolliert durch Baumschutzkommissionen. (Dass hier Regularien grundsätzlich sinnvoll sind, möchte ich nicht bezweifeln.) Auffallend ist nicht nur die hohe Sensibilität vieler Bürger, wenn es um die Erhaltung des Baumbestands in ihrer Umgebung geht. Sie reicht weit darüber hinaus. So wird die Abholzung des tropischen Regenwalds vor allem in Brasilien seit vielen Jahren in der Öffentlichkeit mit ökologischen Argumenten angeprangert, wobei die negativen Folgen für Biodiversität und Klima im Vordergrund stehen. Grundsätzliche Veränderungen der Lebensführung werden davon abgeleitet, etwa die Forderung, auf Importfleisch zu verzichten, um Anbauflächen für die Tiermast und damit den Anreiz zur Rodung des Regenwalds zu verringern. »Rettet den Regenwald« ist zu einem etablierten Label einer Umweltorganisation geworden.8 Das Abholzen wird moralisch angeprangert und alle möglichen Bestrebungen, dem entgegenzuwirken, scheinen geboten zu sein.

Wie sehr sich eine solche Argumentation bei der Schuldfrage verheddern kann, zeigt eine Episode, die im März 2023 zu verzeichnen war. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wandte sich in Brasilien gegen die Abholzung des Regenwalds und behauptete, dass in Deutschland der Wald schändlicherweise schon ganz verschwunden sei. Er erklärte Bewohnern im Regenwald: »Für uns ist das sehr spannend zu verstehen, wie ihr im Wald leben könnt und den Wald schützen könnt, weil in Deutschland vor tausend Jahren die Deutschen alle Bäume gefällt haben. [...] Macht es besser, als es unsere Vorfahren gemacht haben.«9 Allerdings ist knapp ein Drittel der Oberfläche Deutschlands bewaldet, woran sich seit Jahrhunderten wenig geändert hat. Damit zählt Deutschland zu den waldreichen Ländern in der Europäischen Union. Habecks Aussage offenbart seine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit. Die ideologische Brille ist auf einen raffinierten Schuldkomplex fokussiert, der doppelbödig aufgebaut ist. Zunächst: Die Urwaldbewohner machen sich schuldig, wenn sie die Abholzung des Waldes zulassen. Dann aber der Schuldvergleich: Sie machen sich genau so schuldig, wie die eigenen Vorfahren des Besuchers aus Deutschland, die vor tausend Jahren alle Bäume gefällt hätten. Eine solche Argumentation ist insofern raffiniert, da sie die Hörer mit einem Trick zu überrumpeln versucht: Schaut her, wir selbst ‒ das heißt unsere Vorfahren ‒ haben total Schlimmes begangen, lasst euch das zu Warnung dienen! Der »deutsche Sündenstolz« lässt sich, wie die Episode zeigt, nicht nur im Sinne des Philosophen Hermann Lübbe auf die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reichs« beziehen, sondern auch auf die tausend Jahre davor.

Es gibt eine ideologische Hierarchie der Werte: An der Spitze steht derzeit die »Rettung des Klimas«, wofür der massive Ausbau sogenannter erneuerbarer Energien in Form von Windrädern zwingend notwendig sei, der keine Rücksicht auf Wälder nehmen könne. Angesichts des Hauptziels erscheint die Erhaltung der Wälder von untergeordneter Bedeutung. Selbst große Teile des »deutschen Märchenwalds« in Nordhessen sollen Windrad-Monstern weichen.10 Auch im lokalpolitischen Mikrokosmos kommt es zu einer Kollision der Werte. Dies sei an einem Beispiel aus Bonn aufgezeigt. Um das Automobil im Nahverkehr zurückzudrängen, setzen die regierenden Ratsfraktionen auf den Ausbau der Radwege. Dem Ausbau eines Radwegs am Rhein mussten eine größere Anzahl von stattlichen Bäumen weichen, ungeachtet vehementer Proteste.11 Wenn die ideologische Prämisse »Klimaneutralität« Vorrang hat, sind eben C02-ausstoßende Fahrzeuge so weit irgend möglich zu reduzieren und die Menschen zum Radfahren zu motivieren. Bäume sind da nur im Weg.

Vor wenigen Jahren entstand im Kottenforst bei Bonn ein beachtliches Naturdenkmal: das Kunstprojekt »Zeitenwende«.12 Mitten im Wald tut sich ein kahles Areal auf, wo früher Fichten standen, die dem Borkenkäfer und der Trockenheit zum Opfer gefallen waren. Die schnell wachsenden Bäume waren in Monokultur als Nutzwald angepflanzt worden. In riesigen weißen Großbuchstaben am Waldrand im Hintergrund ist ZEITENWENDE zu lesen, hier als Mahnmal gegen Umweltzerstörung und Klimakatastrophe gedacht; mein Foto ist auf dem Buchdeckel zu sehen. Das weite Areal ist mit künstlerischen Exponaten bestückt: Freiluftgemälden, Erklärungstafeln, einer Skulptur »Engel der Kulturen«. An den Stümpfen gestapelter Baumstämme können Passanten auf Merkzetteln ihre Einfälle notiere und an das Holz heften. Inzwischen ist die verfügbare Fläche dicht mit Zetteln bedeckt. Es gibt zwei breite geschwungene Holzliegen unter Bäumen und eine überdachte Sitzbank, von der aus man das Areal in Ruhe überblicken kann. Wie immer man die Erklärungen und Botschaften dieses Kunstprojekts einschätzen mag: Es dokumentiert in meinen Augen vor allem die Liebe zum Wald, die emotionale Verbundenheit zu dieser besonderen Sphäre der Natur.

Das Tiergehege an der Waldau ist ein schwacher Abglanz einstiger Waldesherrlichkeit im Kottenforst bei Bonn. Hier sind durch Zäune drei Tierarten voneinander getrennt: Schwarzwild (Wildschweine), Rotwild (Hirsche) und Damwild (Damhirsche). An die historische Tatsache, dass die Jagd zum Wald gehört, erinnern heute noch manche Namen von Gasthäusern in Waldnähe wie Waldesruh, Waldhäuschen, Waldau, Waldschenke. Eine gelb angestrichene Jagdhütte aus dem 18. Jahrhundert heißt »Jägerhäuschen«, das an einem beliebten Wanderweg liegt. Die hochherrschaftliche Jagd im Kottenforst wurde vom Kölner Kurfürsten Clemens August etabliert, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein prächtiges, nicht mehr existentes Jagdschloss in Röttgen erbauen ließ: das Schloss Herzogsfreude (Joie de Duc). Die Jagdschneisen, lange schnurgerade Wege, die heute durch den Wald führen und auf das frühere Schloss zuliefen, zeugen von den fürstlichen Vorlieben für »Parforcejagden und Sauhatz«.13 Sie stellen jetzt beliebte Wege für Fußgänger und Radfahrer dar. Der Familienname Jäger lässt erahnen, wie verbreitet der Beruf des »Waidmanns« einst war, dessen Revier hauptsächlich den Wald betraf und der ‒ oft konterkariert durch seinen Gegenspieler, den Wilderer ‒ in Literatur und Musik eine wichtige Rolle spielt. Die »romantische Oper« Der Freischütz von Carl Maria von Weber zeugt davon. Das bekannte Volkslied Der Jäger aus Kurpfalz ließ Bundeskanzler Helmut Kohl sogar bei öffentlichen Auftritten gerne spielen oder singen, es gehört zum ehernen Bestand deutschen Liedguts.14 Auch meine Mutter sang es gerne mit uns Kindern, während sie uns auf dem Klavier begleitete.

Ich bin kein Vergleichender Literaturwissenschaftler oder Kulturanthropologe um beurteilen zu können, welche Bedeutung in nichtdeutschen Sprach- beziehungsweise Kulturräumen Wald und Bäume haben. Ich kann hier allenfalls Vermutungen anstellen. Die Tatsache, dass »the Waldsterben« oder »le Waldsterben« sich als Fremdwörter in anderen Sprachen eingebürgert haben, lassen eine Befindlichkeit der Deutschen vermuten, die anderswo nicht oder in geringerem Ausmaß zu finden ist. Ihre besonders enge Verbundenheit mit Wald und Bäumen scheint mir offensichtlich. Ich kann sie an mir selbst beobachten. Die beiden großen Eichen im Garten, der ausgedehnte Wald in unmittelbarer Nähe, die frische Waldluft gerade bei Westwind sind mir sehr wichtig. Ist das »typisch deutsch«? Oder nur typisch für einen, der in einem kleinen Dorf in einer Waldgegend aufgewachsen ist? Der den Wald, der die Berge bedeckte, in seinen Abschattierungen als zusammenfließende Einheit wahrnahm. Die Bergsilhouette, die sich vor dem Horizont abzeichnete und die kleine Welt begrenzte, wurde aus unzähligen Bäumen gebildet, die im Gesamtbild aufgingen. Ich hatte damals den Wald vor Augen, wenn ich im oberen Stockwerk aus dem Fenster sah ‒ und nicht einzelne Bäume. Das alte Sprichwort »Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen« hat mir deshalb immer eingeleuchtet. Mir scheint: Je schärfer Baumsatzungen ausfallen und je eifriger Baumschutzkommissionen zu Werke gehen, umso mehr gerät der Wald aus dem Blick ‒ nicht unähnlich der Situation während der Corona-Krise: Je mehr getestet wurde und je penibler die Hygienevorschriften einzuhalten waren, umso weniger achtete man auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und ihren Einfluss auf die Abwehrkräfte des Organismus.

7https://www.wikiwand.com/de/Mein_Freund,_der_Baum (5.07.2023)

8https://www.wikiwand.com/de/Rettet_den_Regenwald (22.03.2023)

9https://www.wikiwand.com/de/Rettet den Regenwald (22.03.2023)

10https://rettet-den-reinhardswald.de/ (18.02.2023)

11https://www.express.de/nrw/rheinaue-bonn-27-baeume-werden-fuer-radweg-gefaellt-termin-steht-87343?cb=1676729325325 (18.02.2023)

12https://ga.de/bonn/hardtberg/kunstprojekt-im-kottenforst-zeigt-negative-auswirkungen-des-klimawandels_aid-51639137 (18.02.2023); https://www.wald-und-holz.nrw.de/aktuelle-meldungen/waldandersdenken-im-kottenforst-bei-bonn (5.07.2023)

13https://www.kuladig.de/Obiektansicht/KLD-273428 (19.02.2023)

14https://www.wikiwand.com/de/Ein_J%C3%A4ger aus Kurpfalz (19.02.2023)

Berliner Hauptstadt-Komplex

Die seit 2017 in mehreren Staffeln ausgestrahlte Fernsehserie Babylon Berlin beleuchtet die Endzeit der Weimarer Republik im Schaukasten der deutschen Hauptstadt. Geschichte wird hier zu einem Krimi kondensiert. »Babylon« im Filmtitel hat vermutlich entscheidend zum Publikumserfolg beigetragen. Das Wort ist aufreizend und löst schillernde Assoziationen aus. Zunächst denkt man an »Sündenbabel«, lustvolle Ausschweifungen, kriminelle Machenschaften, moralischen Sumpf. Seit der Reformation gilt »Babylon« als Ort des Teufels oder Antichristen, der Verruchtheit der Papstkirche, als Symbol der Gottlosigkeit. Der »Turmbau zu Babel« ist ein weiteres Bild, das heute noch präsent ist. Es gilt als ein Mahnmal gegen menschliche Hybris, einen Turm bis zum Himmel bauen zu wollen. Sie wird von Gott durch die Sprachverwirrung bestraft, eine Ursache für Nichtverstehen, Uneinigkeit und Krieg. Schließlich sei noch an die Babylonische Gefangenschaft in der jüdischen Geschichte erinnert, der Martin Luther eine Schrift widmete, in der er die katholische Lehre von den sieben Sakramenten in Frage stellte.