Archive der Angst. Räume und Raumgestaltung in den Videospielen "Resident Evil 3 - Nemesis" und "Silent Hill" - Mario Fesler - E-Book

Archive der Angst. Räume und Raumgestaltung in den Videospielen "Resident Evil 3 - Nemesis" und "Silent Hill" E-Book

Mario Fesler

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Beschreibung

Studienarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Theaterwissenschaft, Tanz, Note: 2,0, Freie Universität Berlin (Institut für Theaterwissenschaft), Veranstaltung: Hauptseminar: Spiel-Räume, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem, was Computer- und Videospiele erzählen, steckt noch in den den Kinderschuhen. Es ist zu wenig, was die Kulturwissenschaften bislang zur Auseinandersetzung mit diesem Medium beigetragen haben. Millionen von Menschen kaufen und spielen, was von bisweilen riesigen Teams von Programmierern und Autoren unter immensem Einsatz von Zeit und finanziellen Mitteln entwickelt wird. Doch die Geschichten, die ästhetischen Dimensionen dessen, was in den elektronischen Spielwelten steckt, werden so lange ignoriert, bis wieder einmal die – mittlerweile schon seit Jahrzehnten stetig wiederkehrende - Frage nach dem schädlichen Einfluss der Computerspiele gestellt wird. Diese Arbeit versucht an zwei Beispielen, dieses zu Schema durchbrechen, stellt keine pädagogischen Fragen, sondern wendet sich vorurteilsfrei dem zu, was an anderen Diskursen in diesem Medium steckt. Präzise wird hier beobachtet, welche Verwendung das literarisch und filmisch geprägte Horrorgenre in zwei populären Videospielen erfährt und interessiert sich dabei vor allem dafür, welche Rolle dem Raum und dessen Gestaltung bei dem Erzeugen der "horrortypischen" Atmosphäre zukommt.

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Freie Universität Berlin

Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften

Institut für Theaterwissenschaft

Wintersemester 2003/2004

Hauptseminar: Spiel-Räume

Autor: Mario Fesler

Archive der Angst

Räume und Raumgestaltung in den Videospielen „Resident Evil 3 – Nemesis“ und „Silent Hill“

Abgabe am 15.07.2004

1.    Einleitung

2.    Der Begriff „Horror“ innerhalb dieser Arbeit

3.    Das Genre Survival Horror

4.    Funktionen des Raumes im Computerspiel

5.    Raum im Survival Horror anhand von zwei Beispielen

5.1    Resident Evil 3 – Nemesis

5.1.1. Hintergrundgeschichte

5.1.2. Allgemeine Beobachtungen zur Raumdarstellung in „Resident Evil 3“

5.1.3 Die Räume in „Resident Evil 3“

5.1.3.1 Die verwüstete Großstadt

5.1.3.2 Gesellschaftsräume

5.1.3.3 Wissenschaftsräume

5.1.3.4 Sakrale Räume

5.1.3.5 Unterirdische Räume

5.2. Silent Hill

5.2.1 Hintergrundgeschichte

5.2.2. Allgemeine Beobachtungen zur Raumgestaltung in „Silent Hill“

5.2.3. Die Räume in „Silent Hill“

5.2.3.1 Die verlassene Kleinstadt

5.2.3.2 Gesellschaftsräume

5.2.3.3 Religiöse Räume

5.2.3.4 Kindheitsräume

5.2.3.5 Unmögliche Räume

6.    Schlussbemerkung

Verzeichnis

Computerspiele:

Filme:

Alien, Regie: Ridley Scott. USA 1979.

Primärliteratur:

Forschungsliteratur:

Internet:

 

 

 

1.   Einleitung

 

Die Forschung zu Computerspielen in den modernen Kulturwissenschaften steckt noch in den Kinderschuhen. Bis zu Beginn der 90er Jahre überließ sie das Feld bereitwillig einem Bereich der Wirkungsforschung, der den Diskursen der Printmedien folgte und vor allem versuchte, den schädlichen Einfluß der Computerspiele nachzuweisen.[1]

 

Karin Wenz fasst pointiert zusammen, was sich als Kritik durch etliche  der kulturwissenschaftlichen Beiträge zu Computer- und Videospielen zieht:  Es ist zu wenig, was die Kulturwissenschaften bislang zur Auseinandersetzung mit diesem Medium beigetragen haben. Millionen von Menschen kaufen und spielen, was von bisweilen riesigen Teams von Programmierern und Autoren unter immensem Einsatz von Zeit und finanziellen Mitteln entwickelt wird. Doch die Geschichten, die ästhetischen Dimensionen dessen, was in den elektronischen Spielwelten steckt, werden so lange ignoriert, bis wieder einmal die – mittlerweile schon seit Jahrzehnten stetig wiederkehrende - Frage  nach dem schädlichen Einfluss der Computerspiele gestellt wird. Wagt sich dennoch mal ein Literatur- oder Filmwissenschaftler an das Thema, erweist sich eine immer noch vorhandene abfällige Haltung gegenüber einem Medium, das mittlerweile „alles andere als neu“ ist, da es inzwischen schon „auf 40 Jahre Geschichte“[2] zurückblicken kann, als Hemmschuh. Denn wenn man schon mit abwehrender Haltung an die Analyse von Computerspielen herangeht, bleibt es zumeist bei relativ flachen Erkenntnissen – wie denen, dass ein Computerspiel weder ein Buch[3] noch ein Film[4] ist. Feststellungen, die wohl jeder schon gemacht hat, der mit allen drei Medien bereits Erfahrungen besitzt. „Vielleicht“, so mutmaßen Mertens und Meißner mussten tatsächlich „diejenigen, die Erfahrung mit der Materie haben, erst erwachsen werden“[5], bis die ersten vorurteilsfreien Auseinandersetzungen der Kulturwissenschaften entstehen konnten. Doch auch wenn mittlerweile die Zahl der kulturwissenschaftlichen Publikationen zum Thema zunimmt: Die über Jahrzehnte währende Ignoranz gegenüber den Computer- und Videospielen macht sich bei eigener Auseinandersetzung mit dem Medium bemerkbar. Viele notwendige Grundlagen sind noch nicht ausreichend erarbeitet – ein Umstand, der vielleicht manche Eigenmächtigkeit in dieser Arbeit entschuldigen mag. Die Vorgehensweise dieser Arbeit ist aber nicht in allem an das Medium des Computerspiels gebunden. Ausgehend von dem Seminarthema „Spielräume“ soll es hauptsächlich um die Gestaltung und Auswahl der Räume in zwei Videospielen, die für die Playstation entwickelt wurden, gehen: „Resident Evil 3 – Nemesis“[6] und „Silent Hill“[7], zwei Videospiele, die ihre Geschichten und ihre Ästhetik aus dem reichen Fundus dessen schöpfen, was in Film und Literatur als Horror und damit als besondere Ausprägung der Phantastik  bezeichnet wird. Der Begriff „Horror“ wird also zunächst mit Inhalten gefüllt werden müssen. Nach einem kurzen Abriss der Geschichte und einer Definition des Genres, dem beide Spiele im Videospielbereich zugeordnet werden, soll kurz erörtert werden, welche Funktionen der Raum im Videospiel im Allgemeinen erfüllt. Daraufhin werden die Spiele selbst genauer unter die Lupe genommen. Nach einer unumgänglichen Zusammenfassung der Spielhandlung und einer kurzen Einordnung derselben, werden zunächst allgemeine Beobachtungen zur Raumdarstellung zusammengetragen. Danach sollen die im Spiel aufgezeigten Räume  genauer betrachtet werden. Die Leitfrage ist hierbei: Welche Orte werden von den Spielentwicklern genutzt, und wie werden sie dargestellt,  um die Handlung voranzutreiben und eine Atmosphäre des Unbehagens zu erzeugen? Besondere Beachtung soll hierbei der Geschichtlichkeit der verwendeten Räume gezollt werden. Diese Geschichtlichkeit möchte ich anhand von Beispielen aus Film und Literatur aufzeigen. Zuletzt noch einige formelle Hinweise: Es gibt sicherlich in anderen Kontexten gute Gründe, den Begriff „Computerspiel“ vom „Videospiel“ abzugrenzen[8], in dieser Arbeit werden sie jedoch synonym verwendet. Bei den Beispielen aus dem Bereich der Horrorliteratur habe ich zumeist auch deren Verfilmungen  genannt, da diese ihren Vorlagen an Popularität häufig übertreffen und damit auch an der kulturellen Verbreitung von Räumen und Themen des Horrors maßgeblich mitbeteiligt sind. Da gerade ältere Filme häufig umbenannt werden, ist in eckigen Klammern der Originaltitel angegeben, insofern dieser nicht genau dem deutschen  Titel entspricht.

2.   Der Begriff „Horror“ innerhalb dieser Arbeit

 

Da ich den Begriff des „Horrors“ innerhalb dieser Arbeit durchgängig verwende, ist es unumgänglich zumindest anzureissen wie ich ihn verstanden wissen möchte. Um es gleich zu bekennen: Ich werde die zuweilen strikt (und dabei nie wirklich befriedigend) durchgeführte Trennung zwischen Phantastik, Horror und Science–Fiction nicht zu konsequent einhalten, denn bei dem Versuch eine Grenze zu ziehen, stellt man bald fest „daß es wahrhaftig eine sehr unregelmäßige Grenze ist“[9]. „Alien“[10] und „Event Horizon“[11] spielen in der Zukunft und an Bord eines Raumschiffes – Zeit und Ort entsprechen also dem Science–Fiction–Genre. Dennoch werden sie völlig zurecht auch als Horrorfilme bezeichnet. Horror möchte ich folgendermaßen definieren:  als Form der Erzählung jedes hierfür geeigneten Mediums, welche maßgeblich darauf angelegt ist, eine Atmosphäre des Unbehagens zu schaffen und innerhalb dieser im Rezipienten ein Gefühl der Angst zu erzeugen. Auslöser dieser Gefühle ist innerhalb des Horrors das, was Freud als das „Unheimliche“ definiert und für Schmid „das konstitutive Element des Horrorfilms“[12] darstellt: „ Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis ist, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“[13]. Durch dieses Unheimliche entsteht ein „Riß“ welcher „die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat“[14]. Bislang hebt sich diese Definition des Horrors noch nicht nennenswert von den wirkungsmächtigsten der  Phantastik ab. Tatsächlich möchte ich Horror als Erweiterung der Phantastik auffassen, damit also phantastische Erzählungen ausdrücklich in das Genre miteinbeziehen, allerdings einige der strikten Begrenzungen die bei den maßgeblichen Theoretikern der literarischen Phantastik – Todorov[15] und Callois – gezogen werden für den Horror als ungültig erklären. Beide ziehen ihre Grenzen bei der Begründung des Unheimlichen:  Todorov sieht das Verschwinden des Phantastischen bei jedweder Form der Erklärung des Unheimlichen, da sie dadurch in andere Gattungen kippt. Da sich durch diese Setzung kaum noch „reine“ phantastische Erzählungen finden lassen, wird die Phantastik    eher zum „Grenzfall und Übergangsstadium zugleich“[16] denn zu einer eigenständigen Gattung, da „ein einziger Satz, dem Ende der Geschichte hinzugefügt, genügt, deren genologische Zugehörigkeit sprungartig zu verändern“[17]. Callois akzeptiert Erklärungen für die unglaublichen Ereignisse, solange diese übernatürlich sind.  Alles, was die Geschehnisse in irgendeiner Form rational erklärt – diese als Trick, Traum oder Halluzination enttarnt, oder aber auch sie auf wissenschaftliche Erklärungen zurückführt – macht für ihn die Erzählungen zu Ausdrücken des „Pseudophantastischen“[18]. Diese Begrenzungen möchte ich für das, was ich innerhalb dieser Arbeit als Horror verstehe, nicht gelten lassen. Zusammenfassend: Horror entsteht dann, wenn ein unerwartetes Ereignis gleich welcher Art die als fest angenommene Realität erschüttert, dadurch eine Atmosphäre des Schaurigen entstehen lässt und innerhalb dieser an Ängste appelliert, diese erzeugt oder wachruft.

3.   Das Genre Survival Horror

 

Gattungsbezeichnungen – nicht nur, aber auch im Videospielbereich – haben eine Tendenz zur Beliebigkeit. So verdanken wir die Gattung Adventure, die sich schnell in unterschiedliche Subgenres aufgespalten hat (Textadventure, Grafikadventure, Action-Adventure etc.) , der Tatsache,  dass das erste seiner Art eben den Namen „Adventure“ trug. Das Genre Survival Horror beschreibt allerdings die hierunter gefassten Spiele recht passend – auch wenn der Einwand, dass „Überleben“ eines der elementaren Spielziele fast aller Videospiele ist ebenso berechtigt ist wie der Hinweis, dass schon lange vor dem Survival Horror im Computerspiel Themen und Ästhetik des Horrors Verwendung fanden. So durfte man sich bereits in „The Lurking Horror“[19] durch eine interaktive Horrorgeschichte spielen, die überdeutlich an die Erzählungen eines H.P. Lovecraft angelehnt war. In „Uninvited“[20] war der Spieler auf einem Erkundungstrip durch ein Geisterhaus. Die bisweilen brachiale Ästhetik des Horrors fand Einzug in so unterschiedliche Spiele wie das – heutzutage ausgesprochen niedlich wirkende – Jump´n´run  „Ghost´n´Goblins“[21] oder dem zeitweilig zum Tagesthema auf Schulhöfen, aber auch Kulturseiten der Tagesezeitungen avancierten Ego-Shooters „Doom“[22]. Warum kann ich also dennoch sagen, dass Survival Horror eine vergleichsweise begriffsscharfe Gattungsbezeichnung ist ? Zum einen, weil das Überleben tatsächlich in der für ein Computerspiel größtmöglichen Konsequenz thematisiert wird: Die Protagonisten haben tatsächlich nur ein Leben – im Gegensatz zu vielen anderen Spielen, in denen man von Anfang an mehrere Leben und  damit Versuche zugestanden bekommt, das Spiel zu meistern. Verlieren die Helden des Survival Horror ihr Leben, ist das Spiel vorbei – und der Spieler muss am zuletzt gespeicherten Spielstand wieder anfangen. Zudem geben sich die Spielentwickler größte Mühe, auch darzustellen, wie nahe die Spielfigur dem Tod ist. Bewegungsfähigkeit und Aussehen der Spielfiguren ändern sich mit Anzahl der eingesteckten Bisse, Schläge und Treffer. Die vom Spieler gesteuerten Charaktere beginnen langsamer zu werden, zu humpeln, sich die schmerzenden Körperpartien zu halten. Ein nicht unbeträchtlicher Spannungsfaktor der Spiele besteht im Regelfall darin, in den Spielwelten irgendwelche Formen von Medizin zu entdecken, die den körperlichen Verfall aufhalten und rückgängig machen können. Zum anderen sind die Vertreter dieser Art des Computerspiels dem Horror als literarischem und filmischem Genre soweit verpflichtet, wie keines der oben genannten Vorläuferbeispiele. Handlung und Ästhetik hängen eng zusammen. Als erstes Survival-Horror–Spiel gilt vielen der 1996 veröffentlichte Erstling der  „Resident Evil“–Reihe[23], allerdings muss als „Urvater“ des SurvivalHorrors wohl ein anderes Spiel gelten. Schon „Alone in the Dark“[24] enthielt die meisten grundlegenden Komponenten: Eine Spielhandlung, die sich deutlich aus populären Horror-Elementen zusammensetzt, unheimliche Musik und Grafik, die Perspektive der dritten Person und die für den Spielerfolg unabdingbare Voraussetzung sowohl Action– wie auch Adventureelemente[25] zu meistern.  „Resident Evil“ kommt dennoch stilprägende Bedeutung zu. Der wirkungsvolle Einsatz von „Geisterbahnüberraschungen, in unheilschwangerer Stille“[26] platzierten Schockeffekten, welche die sonst am Hitchcockschen Suspense geschulten Spannungsaufbau  wirkungsvoll unterbrechen[27], findet sich erst bei „Resident Evil“. Auch der Verzicht auf jegliche Ironie und die Drastik der Gewaltdarstellungen erwiesen sich als maßgeblich für sämtliche Nachfolger. Nachdem nun hoffentlich eine gewisse Ahnung der besonderen Merkmale des Survival Horror besteht, möchte ich mich nun dem Raum im Computerspiel zuwenden – denn:

 

„Ihren wahren Schrecken beziehen diese Spiele nicht aus dem Blut- und Gedärmfaktor sondern aus einer Atmosphäre des Unheimlichen“, die Willmann zu einem maßgeblichen Teil als „Resultat des Designs der Räume“[28] einschätzt. Ich möchte hinzufügen: Bereits die Auswahl der Räume trägt hierzu bei.

4.   Funktionen des Raumes im Computerspiel

 

Bevor ich mich den Besonderheiten in der Gestaltung des Raumes anhand zweier Beispiele zuwende, möchte ich einige Betrachtungen zu allgemeinen Funktionen des Raumes in den Survival Horror–Spielen vorausschicken.  Diese Beobachtungen, denen die Frage zugrundeliegt „Was tut der Raum im Rahmen des Spieles?“ können größtenteils nicht nur auf Survival Horror–Spiele angewendet werden, sondern wahrscheinlich auf die Mehrzahl von action- oder adventureartigen Computerspielen. Dennoch können und wollen diese Überlegungen keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. Sie sollen als Bezugspunkte für die Betrachtung der in dieser Arbeit behandelten Spiele dienen. Es sind drei Hauptfunktionen, die ich dem Raum in den Survival Horror – Spielen zuspreche:

 

1.   Raum als Begrenzung

Auch wenn das Versprechen von „unendlich großen Spielwelten“ als Werbeslogan auf Videospielhüllen eine gewisse Anziehungskraft hat: Nur für wenige Spiele machen diese tatsächlich Sinn[29], besonders dann, wenn man tatsächlich eine Handlung durchspielt. Die Gefahr, dass der Spieler irgendwo landet, wo er nicht mehr weiterkommt, da keine relevanten Etappen dort angesiedelt sind, entkommen die Spieledesigner dadurch, dass sie den Raum begrenzen. Um ungewollte Frustrationen zu vermeiden, muss diese Begrenzung innerhalb der Spielhandlung natürlich logisch erscheinen.

 

2.   Raum als Belohnung

„Ein Spieler muß für seine erbrachten Leistungen belohnt werden, um die Motivation zum Weiterspielen zu haben“[30]. Als eine der Belohnungen fungiert die Erschließung neuer Räume, die das erfolgreiche weitere Vorgehen in der Spielhandlung erst ermöglichen. Einige der geschaffenen Begrenzungen sind also nur temporär, und wenn es dem Spieler gelingt, einen besonders schwierigen Gegner zu besiegen, eine „Denksportaufgabe“ erfolgreich zu bewältigen, einen Schlüssel o.ä. zu finden – quasi die „Übergangsriten“[31] des Computerspiels absolviert - kann er diese Begrenzungen überwinden. Durch die vorhergehende Aufgabe wird diese Erschließung neuer Räume als beglückend empfunden.

 

3.   Raum als atmosphärischer Träger

Bei der Beschäftigung mit Textadventures unterscheidet Pias zwischen Literatur und Spiel. Seine Ausführung soll hier etwas ausführlicher zitiert werden, da es zur Betrachtung des Raumes als Träger von Atmosphäre meines Erachtens wichtige Grundlagen anbietet:

Was [...] in den Strings der Raumbeschreibungen als Literatur steht, muss noch lange nicht in der Datenbank, auf der das Spiel aufsetzt, auch vorhanden sein. »To the north a narrow path winds through the trees« heißt zwar, dass der Weg gangbar ist, aber noch lange nicht, dass sich die Bäume fällen lassen. Solange sie keine Objekte sind, stehen sie nicht zur Disposition des Spielers.[...] Was zur Welt der Zwischentexte gehört und nur halluzinierbar ist, nennt sich Literatur, was hingegen zur Welt der Objektdatenbank gehört und referenzierbar ist, nennt sich Spiel.[32]

 

Auch wenn in den hier besprochenen Spielen die Welt nicht mehr textlich, sondern bildlich dargestellt ist, bleibt Pias Beobachtung gültig: Nicht alles, was dargestellt ist, ist spielrelevant. Der Raum an sich ist in unseren Beispielen zumeist das, was Pias für seinen Untersuchungsgegenstand „Literatur“ nennt. Die Veränderbarkeit des Raumes selbst erschöpft sich für den Spieler zumeist darin, ihn (durch das Öffnen von Türen oder auch mal Freisprengen)  zu erweitern. In den SurvivalHorror–Spielen ist „die Grafik [...] vorgerendert, das bedeutet, die Räume und Umgebung sehen beinahe fotorealistisch aus“[33]. Interessanterweise ist für den etwas erfahreneren Spieler mit dem fotorealistischen Aussehen von etwas schon die Information verknüpft, dass sich wahrscheinlich nichts damit anfangen lässt. Gegenstände und Objekte, die nutzbar, aufhebbar, veränderbar sind, werden zumeist etwas grobpixeliger dargestellt und heben sich damit von ihrer Umgebung ab. Bei den wenigen Ausnahmen sagt die Spielerfahrung, dass es sich eine genauere Untersuchung lohnen könnte. Ein Schreibtisch oder ein Schrank – das weiss der Spieler nach einiger Zeit – haben, obwohl sie nicht eindeutig als „bespielbares“ Objekt ausgewiesen sind, zuweilen trotzdem die Eigenschaft, sich öffnen zu lassen. Auch wenn in den Räumen etwas  ganz besonders auffällig wirkt – ein blinkender Computer, ein besonders großes Gemälde an der Wand – ist das für den Spieler stets ein Anreiz, zu versuchen in Interaktion zu treten. Der Rest der Raumdarstellung – und das ist der Großteil – ist reines Schüren von Atmosphäre und für diese Arbeit von besonderem Interesse. Denn gerade da, wo der Raum „Literatur“  ist, zeigt er seine motivischen Wurzeln.

 

5.   Raum im Survival Horror anhand von zwei Beispielen

 

5.1  Resident Evil 3 – Nemesis

5.1.1. Hintergrundgeschichte

 

Der von dem Chemiekonzern Umbrella als Waffe entwickelte T-Virus, der Tote in aggressive Zombies verwandelt, ist nicht mehr aufzuhalten und hat mittlerweile die Großstadt Racoon erreicht, die nun ein einziges Schlachtfeld ist. Aus dieser Stadt versucht Jill Valentine, Polizistin einer Spezialeinheit mit dem klingenden Namen S.T.A.R.S., die dem Umbrella-Konzern schon länger auf dem Fersen war, zu entkommen. Erschwert wird ihr Vorhaben nicht nur von zahllosen Untoten und der weitgehend lahmgelegten Infrastruktur, sondern auch durch ein besonders schwer zu bekämpfendes Monstrum, welches es besonders auf Mitglieder von S.T.A.R.S. abgesehen zu haben scheint.

 

Sämtliche Spiele der „Resident Evil“–Reihe nehmen – symptomatisch übrigens für die allermeisten Survival Horror–Spiele - die dem Horrorfilm und der Horrorliteratur bestens bekannte Angst vor der außer Kontrolle geratenen Wissenschaft auf, die in dem Ausspruch des Monsters gegenüber Frankenstein – „Du bist mein Schöpfer, aber ich bin dein Herr“[34] – in ihrer Quintessenz zusammengefasst wird. Dass man sich grundlegend am Filmschaffen des – übrigens auch jahrelang als Regisseur der Verfilmung[35] gehandelten – George A. Romero bedient wurde von den Spielentwicklern nie bestritten und ist überdeutlich. Die langsam vor sich hinschlurfenden, dumpf stöhnenden Zombies, die nichts als Fressen wollen, sind direkt aus der „Living Dead“–Triologie[36] übernommen. Die Ursache allen Übels zitiert Romeros „Crazies“[37] in dem durch einen „bakteriologischen Kampfstoff namens Trixie“[38] – nicht umsonst heißt der Virus in „Resident Evil“ T-Virus – eine Stadt in den Ausnahmezustand gerät.

 

5.1.2. Allgemeine Beobachtungen zur Raumdarstellung in „Resident Evil 3“

 

Bevor wir uns die Räume in „Resident Evil 3“ genauer ansehen, sollen hier zunächst allgemeinere Beobachtungen bezüglich der Raumdarstellung zusammengestellt werden. Auffällig ist zunächst die statische Perspektive, die Mertens/Meißner – nicht ganz zutreffend, wie das Beispiel „Silent Hill“ zeigen wird – als genrekonstituierend annehmen:

[...] die Bilder und Räume sind starr, können nicht mit subjektiver Kamera gedreht und erforscht werden. Dadurch entsteht der kuriose Effekt, daß man einen Raum betritt, in dem man ganz deutlich ein Ungeheuer schmatzen hört, man es aber nicht sehen kann, weil die Kamera fest auf die eigene Figur [...] justiert ist. Der Horror wird hier ein ganz merkwürdiger und ausschließlich diesem Spielgenre inhärenter: Man bewegt sich quasi raumblind vorwärts [...][39]

 

Die Wahl der „Kameraeinstellungen“ ist deutlich an irritierenden Perspektiven des Film Noir, dessen ästhetische Ähnlichkeiten mit dem Horrorfilm bekannt, wenngleich wenig beachtet sind[40], geschult. Fast immer blickt man aus etwas ungewöhnlicher Perspektive auf das Geschehen: von schräg unten oder oben, aus einer Ecke des Raumes, in der ein Gegenstand einen Teil des Blickfeldes verdeckt u.ä., was die unheimliche Wirkung des Dargestellten immens erhöht. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Raumdarstellung in Resident Evil 3 wird in obigem Zitat bereits angesprochen: die akustische Dimension. Die „Tonspur“ des Spieles verrät einem nicht nur das Vorhandensein von Gegnern, sondern trägt auch zum Realismus der Raumdarstellung in beträchtlichem Maße bei. Wenn die Protagonistin des Spiels läuft, ist die Bodenbeschaffenheit nicht nur sicht- sondern auch hörbar. Ein Holzboden klingt anders als der Asphalt, muss Jill durch Wasser waten, wird dies durch ausgesprochen echt klingende Geräusche unterstützt. Bewegt sich Jill vom Bildvordergrund weg, werden ihre Geräusche leiser, kommt ein Monster näher, werden dessen Geräusche lauter. All diese Beispiele zeigen, dass die Akustik des Raumes nicht nur Beiwerk, sondern inhärent wichtiger Bestandteil der Raumdarstellung ist. Als besonderer Effekt, werden extreme Raumerfahrungen auch fühlbar: Insofern man mit einem speziellen Controller spielt, beginnt dieser in den Händen des Spielers zu vibrieren, wenn man von einem Gegner angegriffen wird, das gewaltige Stampfen eines Monsters den Raum erschüttert oder Explosionen selbiges tun.

 

5.1.3 Die Räume in „Resident Evil 3“

 

5.1.3.1 Die verwüstete Großstadt

Um die verheerenden Auswirkungen des durch die menschliche Hybris entstandenen Virus zu illustrieren, haben die Schöpfer des dritten „Resident Evil“ – Spiels den denkbar plakativsten Startschauplatz (an dem der Spieler allerdings gut 1/3 bis die Hälfte der Gesamtspielzeit verbringt) gewählt: Die moderne Großstadt, ein Umfeld, das den meisten Spielern unmittelbar bekannt sein dürfte und dessen Verwüstung kaum ihren irritierenden Effekt verfehlen dürfte. Ein Effekt, auf den die Erzeugnisse des Horrorgenres allerdings eher selten zielen. Zwar ist die Großstadt mittlerweile als Schauplatz keine Seltenheit mehr, die Grundvoraussetzung für angstauslösende Situationen ist aber zumeist die Anonymität und Isolation des Individuums  in derselben, welche Protagonisten wie Rosemary Woodhouse[41] oder Kevin Lomax[42] den bösen Absichten ihrer Widersacher so schutzlos ausliefern. Romeros „Zombie“[43] und sein später Nachfahre „28 Days later“[44] sind seltene Ausnahmen  und selbst diese verlassen recht bald den urbanen Raum zugunsten intimerer Schauplätze. Stattdessen kennt man das Grundszenario des zusammengebrochenen Großstadtraums eher aus Katastrophenfilmen wie „Erdbeben“[45] oder „The Day after Tomorrow“[46] und Science–Fiction–Varianten wie „Independence Day“[47]. Zerstörung ist also das maßgebliche Merkmal in der Darstellung von Racoon City. Die oben angeführten  spielnotwendigen Begrenzungen  werden in den Straßen der Großstadt durch Autowracks, Schutt von zerstörten Häusern und Flammenwände realisiert. Der Asphalt ist von gebrochenem Glas übersät, welches unter den Schritten der Heldin knirscht. Die Vorzüge der Großstadt – „die rationalistische Planung der Stadt sowie die Sicherungs- und Ordnungsmechanismen“ und „die Mobilität der Stadtbewohner“ – existieren nicht mehr, die „Fragilität der Ordnung“[48] ist drastisch bewiesen. Die Stadt zu verlassen ist das simple Grundziel von Jill, ein Wunsch der in der funktionierenden Großstadt mit ihren Autobahnanbindungen und ihrem weitverzweigten Netz von öffentlichen Verkehrsmitteln kaum etwas im Wege stünde. In „Resident Evil 3“ ist die Großstadt aber zur Falle geworden: Die Straßen sind blockiert, das öffentliche Verkehrsnetz zusammengebrochen, die Autos Schrott – die horrorfilmübliche Angst vor der Immobilität, die ihren endlos ausgereizten Ausdruck zumeist in dem Wagen, der just im Augenblick der größten Bedrohung nicht anspringen will, findet, ist hier ins beinahe Groteske gesteigert.  Folgerichtig ist das Ziel der ersten Etappe im Spiel nichts anderes, als eine Straßenbahn wieder funktionstüchtig zu machen, um mit dieser zu einem wichtigen Gebäude am Stadtrand zu gelangen.

 

5.1.3.2 Gesellschaftsräume

 

 Das für „Resident Evil 3“ die Großstadt als „Grundschauplatz“ gewählt wurde, hat einen weiteren, profanen Grund: Sie erlaubt zahlreiche unterschiedliche, visuell reizvolle, in ihrer Zerstörung beunruhigende Räumlichkeiten dort glaubhaft anzusiedeln. Eine Kategorie der dargestellten Räume möchte ich als „Gesellschaftsräume“ bezeichnen, Räume, die grundsätzlich jedem Mitglied einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, für jeden nutzbar sind. Dabei ist der grundlegendste Vertreter dieser Art Raum – die „eigenen vier Wände“ – in „Resident Evil 3“ kein einziges mal vertreten. Stattdessen findet man: Ein Lagerhaus, in dem nie wieder jemand etwas einlagern wird. Einen Verlag, der sicherlich nichts mehr verlegt. Eine Tankstelle, die hauptsächlich noch dazu da ist,  zu explodieren. Ein menschenleeres Restaurant (welches später wiederum für eine dekorative Detonation herhält).  Ein Parkhaus, in dem keines der darin abgestellten Fahrzeuge noch fährt. Was alle hier aufgeführten Orte eint: Nichts, was man dort findet oder erfährt, ist zwangsläufig an die Räumlichkeit gebunden. An unzähligen anderen Schauplätzen wären die spielrelevanten Gegenstände und Hinweise genauso glaubhaft platziert gewesen. Das legt nahe, dass man trotzdem ausgerechnet diese Schauplätze gewählt hat,  weil sie für die Atmosphäre und den Schauwert des Spieles ausgesprochen nützlich sind. Es ist sicherlich kein Zufall, dass man die leichtbekleidete Protagonistin den gerade für Frauen angstbesetzten Raum des Parkhauses passieren lässt und Jill dort auch noch auf ausschließlich männliche Zombies – die, wie wir wissen, nur noch ihren Urinstinkten folgen – trifft. Anders verhält es sich mit dem Polizeirevier, welches der „Resident Evil“–Fan bereits aus dem zweiten Teil[49] kennt. Dass man hier einiges über die Hintergründe der Katastrophe erfährt und zudem sein Waffenarsenal erheblich aufstocken kann, ist durchaus plausibel – ganz im Gegensatz zum wohl kaum als realitätsnah zu bezeichnenden Designs des Polizeireviers. In der majestätischen Eingangshalle thront eine überdimensionale Frauenstatue, die eine griechische Göttin darstellen soll. Breite Treppen führen in weite Gänge, in denen seltsame Bilder hängen – die „Resident Evil“–Macher haben das unheimliche Schloss der gothic novel[50] zur Heimat der städtischen Sicherheit gemacht.

 

5.1.3.3 Wissenschaftsräume

 

Da in der „Resident Evil“ – Reihe alle Bedrohung von der außer Kontrolle geratenen Wissenschaft ausgeht, ist es nicht weiter verwunderlich, dass in allen Spielen der Serie Räume, in denen Forschung betrieben wird, eine markante Rolle spielen. Sie sind so typisch für „Resident Evil“, dass die Verfilmung – der natürlich im Vergleich zu einem Computerspiel weit weniger Zeit zur Verfügung steht – fast ausschließlich in einer unterirdischen Forschungsanlage spielt[51].  Auch im dritten Teil der Spielserie nehmen Wissenschaftsräume eine besondere Stellung ein. Schon zu Beginn betritt Jill in der Großstadt ein  kleines  Labor. Wenn die Heldin im Laufe des Spiels eine Vergiftung erleidet, muss Carlos – hier wechselt die Spielfigur - die wissenschaftlichen Einrichtungen eines Krankenhauses zur Herstellung eines Heilmittels nutzen. Schließlich ist etwa das letzte Viertel des Spieles komplett in einem Forschungskomplex von Umbrella angesiedelt. Hier kommt es zur endgültig letzten Konfrontation mit dem monströsen Verfolger, hier findet der sinistre General sein Ende, und von hier aus kann Jill endlich den rettenden Hubschrauber kontaktieren bevor – die Programmierer scheuen keine brachialen Lösungen – eine Atombombe die gesamte Stadt dem Erdboden gleichmacht. Die geradezu kathartische Funktion der letzten Spieletappe ist offensichtlich: Die Wissenschaft, die alles Übel verursacht hat, muss zum erfolgreichen Spielabschluss zurückerobert werden.[52] Allzu optimistisch ist dies freilich nicht zu deuten. Wie in der Mehrzahl von Horrogeschichten, die in technologischen Neuentwicklungen ihren Auslöser finden – etwa in den Erzählungen eines H.G. Wells[53] oder Filmen wie „Formicula“[54] - kann am Ende nur die unmittelbare Bedrohung, nicht aber die Ursache derselben unschädlich gemacht werden. So auch in „Resident Evil 3“:  Die Protagonistin ist Polizistin, keine Wissenschaftlerin . Wenn sie sich in den Räumlichkeiten der Wissenschaft bewegt, ist nicht zu erwarten, dass sie die endgültige Lösung zur Ausrottung des Virus auskundschaften wird. Sie nutzt die dort zu findenden Computer und technischen Entwicklungen, um Sicherheitssysteme zu entriegeln, eine machtvolle Waffe für ein besonders resistentes Wurmwesen zusammenzustellen und schließlich endlich den rettenden Hubschrauber zu erreichen. Somit zeigt Jill zwar, dass sie die Wissenschaft beherrscht – eine Aussöhnung mit derselben ist wie in den o.a. Film- und Literaturbeispielen schwerlich zu konstatieren.

 

 

5.1.3.4 Sakrale Räume

 

In der Welt von „Resident Evil“ hat das Transzendentale eigentlich keinen Platz mehr. Wo Menschen munter damit beschäftigt sind, selbst Leben zu erschaffen, mittels dessen ihre eigene Existenz bedroht wird, ist der Glaube an eine höhere Macht  ein verzichtbares Relikt. Merkwürdig zweckentfremdet erscheinen dann auch die beiden als religiös einzustufenden Orte, auf die man dennoch im Spiel trifft: Den Glockenturm und den Friedhof, welcher – Kündigungsgrund wohl für jeden echten Stadtplaner – direkt neben dem Krankenhaus liegt. Auf einem Foto sieht der Spieler zum ersten Mal den Glockenturm, und auf diesem sieht er aus wie eine monumentale Kirche. Ein Eindruck, der sich nicht ganz bewahrheitet, wenn man ihn nach zeitaufwändigen „Innenstadt“–Etappe erreicht.  Zwar gibt es eine kleine Kapelle innerhalb des Glockenturms, doch weitestgehend scheint der Glockenturm säkularisiert und bietet nun Raum für einen feudalen Speisesaal – dessen Buntglasfenster darauf hindeuten, dass der Kirchenraum einmal größer war -, eine Bibliothek und das Dachgeschoss, welches das mechanische „Herz“ des Turmes beherbergt. Die Zurückdrängung der eigentlichen Funktion des Gebäudes – Heimat der Gläubigen und ritueller Ort der Glaubensausübung – geht konform mit der Bedeutung des Glockenturms im Spiel. Jills Ziel ist, die Glocke zum Läuten zu bringen – doch nicht um die Gläubigen zum Gottesdienst zu rufen oder an die Verbindung zu einer transzendentalen Ordnung zu erinnern, sondern um die Hubschrauber der Armee auf sich aufmerksam zu machen. Es geht nur noch um das rein körperliche Heil – das Überleben - nicht um  metaphysische Heilsvorstellungen, die zuvor an den Schlag der Glocke gebunden sein mögen. Böse Pointe der Glockenturm–Episode: Nicht einmal die weltliche Rettung gelingt. Zwar setzt ein Hubschrauber zum Landeanflug an, wird aber bevor er Jill aufnehmen kann, von ihrem monströsen Verfolger abgeschossen. In dem darauffolgenden Kampf mit dem Gegner zieht sich Jill eine schwere Vergiftung zu. Die Zuflucht beim Glockenturm hat letzten Endes nur eine Verschlechterung der Situation verursacht. Auch der Friedhof  ist nicht mehr das, was er innerhalb des religiösen Kontextes sein sollte: Letzte Ruhestätte der Verstorbenen. Dafür ist er genau das, als was man ihn aus zahllosen Horrorgeschichten filmischer und literarischer Natur kennt. Seit Stokers „Dracula“[55] gehört der nächtliche Streifzug über den Friedhof, auf dem die Toten beunruhigenderweise allerhand tun, aber nicht in Frieden ruhen, zum obligatorischen Szenenrepertoire von Filmen oder Büchern, die sich mit dem Untoten in all seinen Schattierungen – vom Gespenst über den Vampir bis hin zum Zombie – auseinandersetzen.

 

5.1.3.5 Unterirdische Räume

 

Zuletzt sei im Falle von „Resident Evil 3“ noch die auffällige Häufung von unterirdischen Räumen betrachtet, bei denen es sich auch – aber nicht nur – um Kellergewölbe handelt. Keller gehören wohl selbst in den Privaträumen zu den angstbesetztesten Räumen. Gehörte man nicht selbst zu dieser Gruppe, so kennt man doch zumeist jemanden, der als Kind den Keller fürchtetete – und im Falle einer dunklen Nacht oder eines harmlosen Geräusches gerne auch wieder in eben diese kindliche Angst zurückverfällt. Eine Angst, die für Jill nur hinderlich wäre: Immer wieder muss sie Treppen hinabsteigen, um in Kellerräumen zu suchen, oder durch diese zu flüchten, und nur allzugerne wartet dort auf sie die „Leiche im Keller“ – nicht sprichwörtlich, dafür quicklebendig und ausgesprochen angriffslustig. Doch für „Resident Evil 3“ ist der Keller nicht nur als Ort von Kindheitsängsten interessant. Gerade in den unterirdischen Räumen wird auch – symbolisch verschleiert, aber dennoch einigermaßen offensichtlich – die Sexualität als Angstauslöser mitverwendet. Das Horrorgenre hat sich schon immer auch aus sexuellen Ängsten genährt – Todorov macht in der „Sexualität“ den Kern der von ihm als „Du – Themen“[56] bezeichneten innerhalb der phantastischen Literatur aus. Zahlreiche Interpreten haben beispielsweise die sexuellen Verweise in Lovecrafts Monsterschilderungen unter die Lupe genommen, und auch ohne große Interpretationsleistung ist der Zusammenhang von Sexualität und Horror beispielsweise  in den Slasher–Filmen der 80er Jahre ersichtlich: In diesen steigt die Chance eines Charakters, dass er dem jeweiligen Mörder zum Opfer fällt, mit seiner sexuellen Promiskuität[57]. So unverblümt wie in diesen Videothekenregale füllenden Werken wird Sexualität freilich selten in den Computerspielen thematisiert. Dennoch: Gerade in einigen Räumen ist das Attestieren einer sexuellen Komponente kaum eine Überintepretation. Schon für das Parkhaus wurde in dieser Arbeit die Vermutung angestellt, dass dieses mit einer sexuellen Angst konnotiert ist. In den unterirdischen Räumen wird diese Angst auch visualisiert. Immer wieder lassen die Programmierer Jill in diesen Räumen durch Wasser waten – schon an sich eine sexuelle Metapher. Wenn sie selbiges im Keller des Forschungskomplexes tut, folgen ihr hierbei merkwürdige Lebewesen, die wie übergroße Spermien aussehen. Als Jill aufgrund eines Bebens in eine Erdspalte rutscht, und dadurch in der Kanalisation landet, muss sie sich – bevor sie wieder an die Oberfläche gelangen kann – erst gegen ein ausgesprochen phallisches Wesen, welches ihr aus einer dunklen Höhle entgegenkommt, verteidigen. Solche Sequenzen lassen sich durchaus als Metaphern für sexuelle Bedrohung  lesen – und es erscheint hochgradig fraglich, ob es sie in dieser Form überhaupt gäbe, wäre der Held des Spiels ein Mann.

5.2. Silent Hill

 

5.2.1 Hintergrundgeschichte

 

Der verwitwete Schrifsteller Harry Mason fährt mit seiner Tochter Cheryl zu dem Kurort Silent Hill, in dem die Beiden Ferien machen möchten. Auf dem Weg baut Harry – weil er einer schattenhaften Gestalt ausweicht – einen Unfall und landet mit seinem Wagen im Graben. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, muss er feststellen, dass seine Tochter verschwunden ist. Er macht sich auf den Weg nach Silent Hill, dass merkwürdig ausgestorben scheint. Doch bald muss Harry feststellen, dass dort nicht nur die Kategorien von Raum und Zeit nicht mehr in ihren geordneten Bahnen verlaufen, sondern dass auch unmögliche Wesen sich in den Straßen von Silent Hill aufhalten, die ihn bei seiner Suche nach Cheryl bedrohen.

 

In einem – als Ausnahmefall zu bezeichnenden – Anflug von Selbstironie machen die Spielentwickler klar, woher sie die Inspiration ihrer Geschichte nehmen. Betrachtet man den Stadtplan, den Harry recht schnell findet, fällt auf, dass sämtliche Straßen in Silent Hill nach populären Autoren von Horror- und Science–Fiction–Literatur benannt sind. Dass der Protagonist ein Schriftsteller ist, verweist auf Stephen King – mit seinem Pseudonym Richard Bachmann einer der Namensgeber  – der in zahlreichen seiner Romane Schriftsteller dem Schrecken aussetzt[58]. Das Kind als gefährdetes, aber auch geheimnisumwittertes, möglicherweise sogar gefährliches Wesen– beides trifft auf Cheryl zu – ist ebenfalls ein von King gerne verwendetes Motiv: Die Trauer um den verstorbenen Sohn führt im „Friedhof der Kuscheltiere“[59] zum Verhängnis, des kleinen Danny Torrance Gabe des „Shining“[60] leitet im gleichnamigen Roman weite Strecken der Handlung. Nicht, dass King dieses Motiv hätte erfinden müssen: Zahlreiche Vorgänger haben es ebenso schon genutzt, in der Symbiose von Gefährdung und Gefahr in einem schon fast unübertroffen Henry James [61]. Ein  weniger subtiles, aber immens erfolgreiches Filmbeispiel ist „Poltergeist“[62]. Gewann „Resident Evil 3“ seinen Antrieb aus einer diffusen gesellschaftlichen Angst vor dem technologischen Fortschritt, so ist „Silent Hill“ insgesamt von einer intimen, aber fast allen Menschen begreiflichen Furcht getragen: von Verlustangst. Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen – die sich für den verwitweten Protagonisten Harry ja schon einmal als nur zu berechtigt erwiesen hat – aber auch Angst vor dem Verlust des Verstandes. Angesichts des sich unnatürlich verändernden Raum-Zeit-Gefüges, der unmöglichen Kreaturen, die in den Straßen der Stadt lauern, hört der Spieler den Protagonisten sich und die ihm begegnenden Personen immer wieder fragen, ob er träume oder gar verrückt sei. Eines der drei möglichen Enden, die der Spieler erreichen kann, legt sogar nahe, dass das „Erlebnis der Desorientierung“[63], welches das Spiel lustvoll zelebriert, nur das Halluzinieren eines Schwerverletzten ist: Dort endet das Spiel mit einer kurzen Sequenz, in der man Harry blutend und bewusstlos hinter dem Lenkrad seines Wagens liegen sieht.

 

5.2.2. Allgemeine Beobachtungen zur Raumgestaltung in „Silent Hill“

 

Die Welt von „Silent Hill“ ist im Gegensatz zum zuvor besprochenen Spiel nicht in statische Einstellungen aufgelöst. Stattdessen kommt die Videospielvariante einer „mobilen Kamera“ zum Einsatz. Wenn Harry durch die Straßen von Silent Hill rennt, ist die „Kamera“ ihm auf den Fersen, fährt bisweilen in die Luft, überholt ihn. Nur wenn der Protagonist stehenbleibt, kommt auch die „Kamera“ zur Ruhe – dann mit Vorliebe auch in einer leicht schrägen und damit irritierenden Perspektive. Die Entwickler von „Silent Hill“ haben wie die Kollegen der „Resident Evil“–Serie der „Tonspur“ des Spieles erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Bewegungen im Raum werden mit überaus authentischen Geräuschen unterstrichen, man hört das Näherkommen  von Gegnern am lauter werdenden Flügelschlag, Pfotentrappeln oder Schlurfen.  Eine weitere akustische Illustration für das Nahen von Angreifern wird durch das recht früh zu findende Radio realisiert. Zunächst scheint es defekt zu sein, doch bald findet man heraus, dass es unangenehm schrille Störgeräusche von sich gibt, sobald Ungeheuer in der Nähe sind – und je näher sie kommen, desto lauter wird das Schrillen. Dadurch hat das Radio für den Spieler zum einen lebensrettenden Charakter, da man sich auf die Angreifer vorbereiten und ausweichen kann, zum anderen realisiert es Bewegungen innerhalb des noch nicht  sichtbaren Raumes auf unangenehme und damit die schaurige Atmosphäre unterstützende Weise. Wie bei „Resident Evil 3“ werden auch die Tastsinne des Spielers angesprochen: Auch in „Silent Hill“ kann der Controller anfangen zu zittern, wenn die Monster zu nahe kommen und den Protagonisten erschüttern.

5.2.3. Die Räume in „Silent Hill“

 

5.2.3.1 Die verlassene Kleinstadt

 

Im Horror – Genre hat die Kleinstadt der Metropole den Rang des am besten geeigneten Schauplatzes abgelaufen. Sie ist der Inbegriff des Alltäglichen, in dem das Unerwartete seine erschreckendste Wirkung entfalten kann. Sie ist groß genug, um dort ein geeignetes Figuren- und Raumpotential zu entfalten, aber klein genug, um glaubhaft zu machen, dass das Schreckliche lange genug unentdeckt bleiben kann. Heerscharen von Horror-Geschichten nähren sich aus dem, was King unter „kleinstädtischer Paranoia“[64] versteht, aus der unter anderem Jack Finneys „Invasion der Körperfresser“[65] und Ira Levins „Die Frauen von Stepford“[66] – beide Autoren übrigens „Straßenpaten“ von Silent Hill – ihr erschreckendes Potential beziehen. Grundsätzlich geht es in diesen Geschichten zumeist um irgendeine Form eines „düsteren Geheimnisses“, das zu lange geheim bleibt und damit zumindest den Protagonisten oder aber auch der gesamten Stadt zum Verhängnis wird. Schon zu Beginn des Spiels hat dieses „düstere Geheimnis“[67] in Silent Hill offensichtlich eine fatale Folge gehabt: Sie scheint völlig menschenleer, und die einzigen Lebewesen, denen Harry zunächst begegnet, sind Monster. Ein Szenario, dass man deutlich einem weiteren Straßen-Namensgeber, Dean R. Koontz[68], entliehen hat. Im Gegensatz zu „Resident Evil 3“ ist das Unbehagliche in den Straßen und Räumen von Silent Hill – zunächst – nicht die Zerstörung, sondern die von allen Menschen verlassene Alltäglichkeit. Die Autos sind ordentlich am Straßenrand geparkt, der Müll da wo er sein soll – in Containern - die Leuchtreklamen tun ihren Dienst. Da dies offensichtlich allein noch nicht unheimlich genug ist, bedienen sich die Spieledesigner des im Horrorgenre so gerne verwendeten dichten Nebels – der nicht selten gar zum „Titelhelden“[69] avanciert - dessen Effekt Hermann Hesse in einem Gedicht so eindrücklich beschreibt:

Seltsam im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den anderen,

Jeder ist allein.[70]

 

Ist es innerhalb des Spiels notwendig den Bewegungsraum zu beschränken, endet die Straße einfach in einem nebelgefüllten Nichts. Allerdings können sich alle Orte in Silent Hill und damit auch die Stadt selbst verändern, wenn das zum Tragen kommt, was ich im Folgenden als die „zweite“ Wirklichkeit bezeichnen möchte. Im Verlaufe des Spieles kommt es häufig vor, dass Harry sich plötzlich in einer alternativen Realität wiederfindet, in der alles anders aussieht und die den Spieleentwicklern die Möglichkeit gibt, visuell weit reizvollere – und das heißt hier drastischere – Orte zu zeigen. In  den Straßen erkennt man die „zweite“ Wirklichkeit zunächst daran, dass der Nebel nicht mehr vorhanden ist. Es ist plötzlich Nacht, es regnet und blitzt, und statt auf Asphaltstraßen eilt der Protagonist über Wege, die aus rostigen Drahtgittern zu bestehen scheinen. Die Häuser wirken, als seien sie schon Jahrzehnte nicht mehr bewohnt. Könnte man es nicht anhand der gleichgebliebenen Proportionen des Raumes feststellen, glaubte man ganz woanders zu sein. Immer wieder nutzen die Spieldesigner die „zweite“ Wirklichkeit um das für Schmid „entscheidende Merkmal des Phantastischen[...] das verstörende Öffnen geschlossener Räume“[71] zu realisieren. Straßen, die in der „ersten“ Realität noch ins nebelgefüllte Nichts führen, gehen plötzlich weiter. Wege, die zuvor noch problemlos passierbar waren, münden hingegen nun in den schwarzen Abgrund.

 

5.2.3.2 Gesellschaftsräume

 

Weit wichtiger als in „Resident Evil 3“ sind in „Silent Hill“  „everyday places“ - denn „the ordinariness and familiarity make it all the more disturbing when things turn nasty“[72].Dennoch finden wir Räumlichkeiten aus „Resident Evil 3“ wieder, die ihre beunruhigende Wirkung aber nicht durch ihre Zerstörung – wie die Tankstelle und das Restaurant – oder unrealistische Exotik entfalten: Das Polizeirevier von Silent Hill ist tatsächlich ein ausgesprochen kleinbürgerlich wirkendes Kleinstadtbüro. Zum großen Wert, den die Spieledesigner auf Alltäglichkeit legen, passt es auch, dass Harry im Gegensatz zu Jill auch  private Wohnräume passiert. Ein weiterer Ort, der auch für „Resident Evil 3“ von Bedeutung war, ist das Krankenhaus. War es dort aber als wissenschaftliche Einrichtung von Bedeutung – und dies nur in einer vergleichsweise kurzen Episode – stellt es in „Silent Hill“ einen der Hauptschauplätze dar, der weniger als Forschungsbetrieb an Ängste appelliert. Vielmehr ist das Krankenhaus hier Stätte des Ausgeliefertseins – hierrauf verweisen die Untersuchungszimmer -  der Krankheit – Patientenzimmer stellen den Großteil der Räumlichkeiten – sowie natürlich des Verlustes, welches durch die Leichenhalle im Keller deutlich wird. Ein perfekter Ort für ein Spiel, welches die intimen Ängste jedes Einzelnen für seine Zwecke nutzt – und der sicherlich nicht zufällig direkt an der Crichton Street verortet wurde: In einem seiner bekannteren Ausflüge ins Regiefach, „Coma“[73], hat der Schriftsteller Michael Crichton der Angst des Patienten vor der eigenen Wehrlosigkeit und Abhängigkeit filmisch Ausdruck verliehen. In der „zweiten“ Wirklichkeit verändert das Krankenhaus sein Erscheinungsbild: Die vormaligen Holztüren sind nun aus rostigem Metall, von den ordentlich gemachten Betten bleiben nur chaotisch im Raum stehende Bettgestelle, das Beige der Wände ist einem blutig wirkenden Rot gewichen. Schränke und andere Einrichtungsgegenstände wirken nun alt und verwüstet – das Chaos als beunruhigender Faktor wird in der „zweiten“ Wirklichkeit also doch noch eingesetzt. Ein weiterer Alltagsraum, in dem Harry dem Schrecken begegnen darf, ist das Einkaufszentrum, welches er nur in der „zweiten“ Wirklichkeit betreten kann.  Dieser, im Sinne Augés, klassische „Nicht-Ort“ ist in Silent Hill kein Raum mehr, in dem das Individuum innerhalb der Masse zu einem Zweck verschwinden kann, ein Ort der „den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen“[74] befreit. Vielmehr wird Harry hier zwischen stillstehenden Rolltreppen und zerschlagenen Schaufenstern an seine höchste Not erinnert: Auf der Monitorwand, die sonst wohl die „Wunderwelt des Konsums“ anpreist, erscheinen plötzlich seltsame Symbole – und Bilder seiner verschwundenen Tochter, die verzweifelt nach ihrem Vater ruft.

 

5.2.3.3 Religiöse Räume

 

Ein Glockenläuten spielt in „Silent Hill“ wie in „Resident Evil 3“ eine Rolle. Doch ist es hier nicht der Protagonist selbst, der die Glocke läutet – er vernimmt es als Zeichen menschlicher Aktivität und der Spieler macht sich dementsprechend auf den Weg zur Kirche von Silent Hill. Diese ist nicht halbsäkularisiert wie der Glockenturm von Racoon City, sondern ein einschüchternd großer Raum, in dem Harry auf die zwielichtige Daliah Gillespie trifft. Wenn man später deren Haus  untersucht, entdeckt man dort  den zweiten religiösen Raum des Spiels und erkennt, dass Daliah Gillespie wohl eine Anhängerin des merkwürdigen Kultes ist, von dem die verängstigte Krankenschwester Lisa berichtet hat. Während in den religiösen Räumen von „Resident Evil 3“ die Nutzlosigkeit der Religion angesichts des technologischen Fortschritt illustriert wird, zeigt sich in „Silent Hill“ die pervertierte Religion: Die Heimstätte des Christentums wird von einer Anhängerin einer zutiefst menschenverachtenden Sekte für ihre Zwecke funktionalisiert. Ein Motiv, welches man unter anderem in Erzählungen Lovecrafts[75] wiederfindet.

 

5.2.3.4 Kindheitsräume

 

Dass sich in „Silent Hill“ letztendlich alles um das Wiederfinden eines verlorenen Kindes dreht, spiegelt sich auch in zwei wichtigen Schauplätzen des Spiels wieder, die als klassische Kindheitsorte gelten. Der erste hiervon ist die Grundschule, die Harry aufgrund einer Nachricht, die anscheinend von Cheryl stammt, aufsucht. Auch die Schule entwickelt ihren unheimlichen Charakter zunächst vorrangig durch ihr Ausgestorbensein, welches durch gelegentlich vernehmbares Kinderlachen nur verstärkt wird, denn nirgendwo lässt sich in den leeren Klassenräumen ein Kind finden. Auch die Grundschule erlebt der Spieler schließlich im Zustand der „zweiten“ Wirklichkeit.  Wie üblich sieht alles an Einrichtungsgegenständen Jahrzehnte älter aus. Nun vorhandene Details wie übel zugerichtete Spielzeugpuppen und in den Räumen hängende Ketten und Käfige sind deutliche „Anspielungen auf mißhandelte und gefangengehaltene Kinder“[76]. Im – vorher nicht betretbaren – Lehrerzimmer stehen mehrere tote Telefone, die – „Nightmare“[77] und „Poltergeist“[78] lassen grüßen – natürlich doch noch klingeln und nach dem Abheben einen Hilferuf von Cheryl hören lassen. Ist die Grundschule ein im Horrorgenre relativ selten genutzter Schauplatz[79], befinden wir uns mit dem zweiten Kindheitsort, dem Vergnügungspark, in großer Gesellschaft. Schon dessen mobiler Vorläufer, der Jahrmarkt, hat einen unübersehbaren Reiz auf phantastische Erzähler aller Medien ausgeübt. Von ihm aus nahmen die Schandtaten eines Caligari[80] ihren Lauf, hier rächten sich die „Freaks“[81] für den Verrat, von hier aus ließ ein weiterer Straßenpatron – Ray Bradbury – die dunkle Gefahr für zwei kleine Jungen ausgehen[82]. Der Jahrmarkt, der mit seinen auf reines Vergnügen ausgerichteten Attraktionen, die häufig auf das Erzeugen von Illusionen ausgerichtet sind, hat stets auch etwas moralisch Anrüchiges an sich. Damit ist er für die zumeist konservativ ausgerichtete Phantastik ein idealer Schauplatz. Für den Vergnügungspark gilt dies genauso. Die jugendlichen Protagonisten aus „Lost Boys“[83] lernen hier die Bande junger Vampire kennen. In einem Roman von Koontz errichtet ein Serienmörder, der die Hölle gesehen hat, unter der Achterbahn eines Vergnügungsparks sein schauriges Kunstwerk aus Frauenleichen[84]. Wie für Jack Sawyer in  „Der Talisman“[85] wird schließlich der Vergnügungspark auch für Harry das Portal zu einer anderen Welt – womit wir bei der letzten Raumkategorie in „Silent Hill“ angelangt wären.

 

5.2.3.5 Unmögliche Räume

 

Natürlich sind auch die in der „zweiten“ Wirklichkeit vorzufindenden Räume an sich schon unmögliche Räume. Doch auch innerhalb der „zweiten“ Wirklichkeit sind diese immer noch als real vorhandene zu identifizieren – ihre Proportionen und ihr Inventar verweisen noch auf zuvor dortgewesenen Räume in der „ersten“ Wirklichkeit, man kann weiterhin problemlos in und zwischen diesen mittels der Karten navigieren. Aber zweimal ist selbst dieses nicht mehr gegeben: Im – laut Plan dreistöckigen - Krankenhaus entdeckt der Spieler plötzlich einen vierten Stock – quasi die umgekehrte Variante des von Callois als typisch phantastisch eingestuften Motivs des Stockwerks, welches plötzlich verschwindet[86]. Dieser eigentlich nicht existente vierte Stock entspricht in seiner Darstellung dem Rest des Krankenhauses in der „zweiten“ Wirklichkeit, in der sich der Spieler von nun ab eine ganze Zeit befindet und hat für Harry eine unangenehme Premiere parat: Hier begegnet er erstmals den „menschlichen Monstern“ in Silent Hill – untoten Krankenschwestern und Ärzten, die ihren Brüdern und Schwestern der „Resident Evil“ – Reihe ausgesprochen ähnlich sehen. In unmöglichen Räumen ist schließlich auch die finale Etappe des Spiels angesiedelt. Vom Vergnügungspark aus landet Harry im „Nowhere“[87], das ein Konglomerat aus Räumen des Krankenhauses, der Grundschule, des Einkaufszentrums sowie einiger neuer Räume – einer Großküche, einem Kinderzimmer – darstellt. Hier findet das Erlebnis der Desorientierung seinen Höhe- und Schlußpunkt.

 

6.   Schlussbemerkung

 

Möchte man ausdrücken, was man in den behandelten Spielen nicht gefunden hat, dann ist dies vor allem eins: Originalität. Für jeden Raum, jedes Thema, jedes Motiv, jede angesprochene Angst ließen sich zumeist zahlreiche Beispiele aus Literatur und Film finden, die sich bereits damit beschäftigten. Daraus läßt sich allerdings nicht folgern, dass Computerspiele das Gleiche tun wie Film und Buch. In diesen Medien wäre die Anneinanderreihung von Stereotypen und Klischees in der massiven Form dieser  Spiele zum einen kaum realisierbar, zum anderen würde es zumindest den kritischen Rezipienten verärgern. Das Phänomen, dass „selbst die Spieler, die Mainstream z. B. in Form von Hollywoodfilmen uninteressant finden, beim digitalen Spiel“[88] andere Maßstäbe anzusetzen scheinen, ist in dem Umstand zu erklären, dass ein Computerspiel in erster Linie ein Spiel und erst weit dahinter ein erzählendes Medium ist. Es geht den Spielen nicht darum neue Geschichten zu erzählen – es geht um die „Aufladung [...] mit Geschichten“[89], und zwar mit wohlbekannten Geschichten, da der Spieler in erster Linie spielen will und nicht aufmerksam einer möglichst verwinkelten, originellen Geschichte folgen. Da ein Spiel im Regelfall viel Zeit und viel Raum für diese Aufladung hat, ist einer ihrer kultureller Werte der, dass sie ein enormes Archivierungspotential haben. Man mag die behandelten Spiele platt, brutal und moralisch fragwürdig finden, und hat dabei nicht Unrecht. Aber darüber hinaus sind sie ein umfangreiches Zeugnis dessen, was in unserer Kultur in breitem Maße als verstörend und erschreckend wahrgenommen wird. Was sind unsere Ängste? Welche Räume mit Angst behaftet? Wie werden vertraute Orte unheimlich? Gängige Antworten auf diese Fragen lassen sich in „Resident Evil 3“ und „Silent Hill“ in komprimierter Form finden. Dadurch erweisen sie sich als spielbare Museen der Angstgeschichte.

Verzeichnis

Computerspiele:

Alone in the Dark, Infogrames 1992.

Doom, id-Software 1994.

Ghosts`n`Goblins, Capcom 1986

The Lurking Horror, Infocom 1987.

Resident Evil, Capcom 1996.

 Resident Evil 2, Capcom 1998.

Resident Evil 3 – Nemesis, Capcom 1999.

Silent Hill, Konami 2000.

Uninvited, Icom Simulations 1987.

 

Filme:

28 Days later, Regie: Danny Boyle.UK 2002.

 

Alien, Regie: Ridley Scott. USA 1979.

 

Das Cabinet des Dr. Caligari, Regie: Robert Wiene. Deutsches Reich 1919.

 

Coma, Regie: Michael Crichton. USA 1978.

 

Crazies [The Crazies], Regie: George A. Romero, USA 1973.

 

Die Dämonischen [Invasion of the Body Snatchers], Regie: Don Siegel. USA 1956.

 

The Day after tomorrow, Regie: Roland Emmerich.USA 2004.

 

Erdbeben [Earthquake], Regie: Mark Robson. USA 1974.

 

Event Horizon – am Rande des Universums [Event Horizon]. Regie: Paul Thomas Anderson. USA 2000.

 

Faculty – Trau keinem Lehrer [The Faculty], Regie: Roberto Rodriguez.USA 1999.

 

The Fog – Nebel des Grauens [The Fog], Regie: John Carpenter. USA 1980.

 

Formicula [Them!], Regie: Gordon Douglas.USA 1954.