Arctic Mirage - Terhi Kokkonen - E-Book
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Arctic Mirage E-Book

Terhi Kokkonen

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Beschreibung

Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Während Karo das Gefühl hat, in einer Falle zu sitzen, scheint Risto die Situation geradezu zu genießen: Er flirtet mit den Hotelangestellten, plant Freizeitaktivitäten und lässt sich von Karos seltsamer Stimmung nicht beirren. Bis die beiden sich plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt.

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Das ist das Cover des Buches »Arctic Mirage« von Terhi Kokkonen

Über das Buch

Der Urlaub in Lappland soll die lang ersehnte Erholung für Karo und Risto bringen. Doch dann kommt es zu einem Autounfall und die beiden sitzen fest, in einem Hotel namens Arctic Mirage. Leicht verletzt und noch halb unter Schock bewegen sie sich sehr unterschiedlich durch die luxuriöse Anlage inmitten der Schneelandschaft. Während Karo das Gefühl hat, in einer Falle zu sitzen, scheint Risto die Situation geradezu zu genießen: Er flirtet mit den Hotelangestellten, plant Freizeitaktivitäten und lässt sich von Karos seltsamer Stimmung nicht beirren. Bis die beiden sich plötzlich als Feinde gegenüberstehen. Terhi Kokkonen beschreibt den gefährlichen Drahtseilakt eines Paares, das ein dunkles Geheimnis hütet. Und die Anziehungskraft einer Landschaft, deren gedämpftes Weiß Gefahr verheißt.

Terhi Kokkonen

Arctic Mirage

Roman

Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat

Hanser Berlin

Nachdem Karo Risto umgebracht hat, steht sie auf. Der Schnee ist blutbeschmutzt. Ristos Hand ist zur Faust erstarrt, die Augen starren ins Leere. Karos Atem beruhigt sich, Schmerz fühlt sie nicht, nur eine seltsame Losgelöstheit. Der Himmel brennt, drei girlandenartige Nordlichter durchdringen grün das Universum. Dafür sind sie hergekommen. »Ich wollte schon immer Nordlichter sehen«, hatte Risto gesagt. Bis eben zeigten sie sich kein einziges Mal.

Sonntag

Das Zimmer ist sechseckig und glänzt vor Sauberkeit. Nur an der Wand, oberhalb der Untersuchungsliege, wo die Leute den Kopf anlehnen, befindet sich eine leichte Verfärbung. Die Patienten legen sich dann schnell auf den Rücken und hoffen, dass der Arzt bald fertig ist, sie für gesund erklärt und nach Hause schickt.

Der Arzt trägt einen weißen Kittel, sitzt am Fenster und schreibt. Er hat Locken und eine beginnende Stirnglatze, große Hände, eine elegante Fingerhaltung und benutzt einen Stift, der auf der festen Unterlage schlecht gleitet. Ab und zu stockt der Tintenfluss, doch er ignoriert das und schreibt weiter, auf dem Papier bleibt nur der Abdruck des jeweiligen Buchstabens zurück. Dann lässt er seine geäderte Hand sinken.

»Sie hatten Glück, … Karoliina …«

Er liest ihren Namen vom Formular ab. Karo schweigt. Sie weiß, dass sie Glück hatte, sie sitzt in einem sechseckigen Untersuchungszimmer und ist in Wärmefolie eingepackt. Ihre Gliedmaßen sind anscheinend alle da, wo sie hingehören, sonst läge sie jetzt im OP oder in einem Leichensack. Über ihr Gehirn lässt sich zwar noch nichts Abschließendes sagen, vielleicht tauchen irgendwann Spätfolgen auf, aber wer weiß, vermutlich ließen auch die sich kurieren. Der einzige Schmerz: ihre wieder auftauenden Zehen.

»Das war knapp«, sagt der Arzt, »sehr knapp. Was für ein Glück, nur eine leichte Gehirnerschütterung und eine gebrochene Nase.«

Karo mustert sich im Spiegel neben dem Fenster. Ihre Nase ist rot, stellenweise blau, ein kleines sauberes Pflaster klebt drauf. Wie früher bei Johannes in der Grundschule, wenn er beim Fußball hingefallen war. Der Lehrer benutzte die Pflaster eigentlich nur, damit das Kind nicht weiterheulte und die Eltern sahen, dass man sich gut um ihren Nachwuchs kümmerte. Doch wenn Karo das Pflaster später abmachte, leuchtete auf dem dünnen Mullkissen ein rotbrauner Fleck, und sie und ihr Sohn lächelten. Beide waren stolz auf die Verletzung.

»Ist ein Pflaster wirklich das Richtige bei einem Nasenbruch?«

»Im Moment kann ich nicht mehr tun«, erwidert der Arzt, »die Schwellung muss erst zurückgehen. Es hat überraschend lange gedauert, bis man Sie gefunden hat. Lag wohl am Schnee, da kam gerade wieder was nach … schlechte Sicht. Wären Sie früher hier gewesen, hätte ich den Bruch sofort korrigiert, jetzt muss ich das einem HNO überlassen.«

Er wendet sich ab, öffnet die oberste Schublade seines Schreibtisches, sucht nach etwas und holt eine bunte Broschüre raus. Er tippt auf die Karte mit den sechseckigen Gebäuden und gewundenen Wegen, ein Gebäude ist größer als die anderen und mit einem Kreuz markiert. Der eine Strich des Kreuzes ist nur eine farblose, eingeprägte Rinne in der glänzenden Papieroberfläche.

»Wir haben unseren Flug verpasst.«

»Kein Wunder«, sagt er, lacht und steht auf. Gibt Karo die Broschüre und betastet ihren Nacken. Tritt einen Schritt zurück und sieht aus, als wäre er auf irgendwas stolz.

»Haben Sie Geld?«

Eine heiße Welle wandert von ihrem Hals über die Wangen bis hoch zur Stirn, ihr ganzes Gesicht wird rot. Natürlich hat sie Geld, sie kann sich jede Behandlung leisten. Aber das meint er nicht.

»Besser, Sie bleiben über Nacht hier.«

Karo überlegt, wann sie Risto das letzte Mal gesehen hat. Sie weiß noch, dass sie über irgendetwas diskutiert haben. Sie standen in ihren roten Wintersachen im eiskalten Wind und haben sich angebrüllt, dann ist Risto verschwunden.

»Eine Nacht. Stellen Sie sich alle drei Stunden den Wecker, zur Sicherheit.«

An den Wänden hängen laminierte Fotos. Die Landschaften darauf sehen modelliert aus, der ganze Flur wirkt wie mit dem Computer gestaltet. Am anderen Ende sitzt auf einer Bank eine fremde Gestalt, ihre Schultern hängen, und der Kopf ist gesenkt, der Hals steckt in einer Nackenstütze.

Karo läuft nicht hin, sie ruft auch nicht. Risto soll nicht mitbekommen, dass sie ihn so entmutigt sieht. Sie bleibt einfach in dieser künstlichen Umgebung stehen, wie ein Männchen, das ein Innenarchitekt in seiner Schöpfung platziert hat. Sie lächelt erst, als Risto aufsteht und auf sie zukommt.

Sie umarmen sich, Karo spürt die Wärme unter seinem Hemd. Ristos Körper könnte jetzt genauso gut kalt sein, denkt sie. Dann wäre sie aus dem Behandlungszimmer rausgekommen, und niemand hätte auf sie gewartet. Sie hätte Ristos Mutter anrufen und es ihr sagen müssen: Wir hatten einen Unfall, dein Sohn ist tot. Als Nächstes die Schwester. Vielleicht hätte es sie einander nähergebracht, vielleicht hätten sie sich gegenseitig gestützt. Bei der Beerdigung wäre irgendein Kindheitsfreund von Risto zusammengebrochen, für alle entsetzlich, aber sie hätten die Situation gemeinsam gemeistert und danach das schmutzige Geschirr abgeräumt.

Abends wäre Johannes zu Besuch gekommen. Er hätte auf dem Sofa gelegen und gelesen, und Karo hätte einfach ruhig dasitzen können in der stillen Wohnung. Sie vermisst solche Abende, doch jetzt, wo Ristos Haut warm ist unter dem Flanellhemd, empfindet sie Glück, dass es andere Abende geben wird. Alle Geräusche sind willkommen. Talkshows und Quizsendungen, auch Nachrichten über Sterbende, die sie nicht weiter kennen.

»Wir sollen eine Nacht hierbleiben«, sagt Karo.

Risto nickt. Das Ding um seinen Nacken ist eine dicke medizinische Halskrause, bei der Kopfbewegung beißt er die Zähne zusammen und grinst.

»Ich liebe dich.«

Karo legt schnell die Hand auf seinen Mund, möchte die Zeit zurückdrehen und den Moment löschen, in dem ihm das rausrutscht, möchte sie beide retten. In solchen Situationen muss man über Alltägliches reden oder, noch besser, schweigen, sonst bereut man es später. Zum Glück kommt gerade jemand, rasche Schritte klacken über den Boden. Es könnte eine Krankenschwester sein, der weiße Kittel der Frau hat keine einzige Knitterfalte, darunter trägt sie eine gut geschnittene Hose, die glänzenden kurzen Haare sind streng gescheitelt. Karo registriert ihren Duft. Warm und vertraut, wie das Nachthemd ihrer Mutter samstagmorgens, als Karo noch Kind war.

»Entschuldigen Sie, wir hatten einen Unfall, wissen Sie, wo unsere Sachen sind?«

»Bei der Polizei«, antwortet die Frau, ohne stehen zu bleiben.

»Und wo ist die Polizei?«

»Die meldet sich bei Ihnen«, ruft sie mit einem knappen Blick über die Schulter, ehe sie um die Ecke verschwindet.

Draußen hat es aufgehört zu schneien. Karo und Risto gehen Hand in Hand durch die Schneelandschaft mit den hübsch darin versunkenen Holzhäusern, deren Glasdächer in der Dunkelheit schimmern. Karo schaut auf die Karte. Schon zweimal haben sie andere Hotelgäste nach dem Weg gefragt, einen Deutschen und ein japanisches Pärchen, alle in bunter Winterkleidung und Filzpantoffeln. Keiner von ihnen konnte ihnen genau sagen, wo das Empfangsgebäude liegt, was sie angesichts der Überschaubarkeit des Areals merkwürdig fanden. Aber jetzt erhebt sich aus den Schneewehen ein Blockhaus aus Rundholz, exakt der Karte entsprechend. Karos und Ristos Schritte werden schneller, gleich brauchen sie nicht mehr Händchen zu halten, und dann liegt das Schild mit den gewichtigen Großbuchstaben schon hinter ihnen: Arctic Mirage.

Karo kennt gute Hotels. In den letzten acht Jahren war sie in keinem einzigen Hotel unter fünf Sternen, Notsituationen ausgenommen. Sie ist in goldenen Fahrstühlen von Wolkenkratzerdächern runtergeschwebt, hat aus Apartments mit Panoramafenstern direkt aufs Meer geblickt, sich ausgiebige Massagen gegönnt und in hoteleigenen Restaurants gegessen, weil es ohnehin die besten der Stadt waren. Trotzdem ist das Arctic Mirage der Ort, der sie von allen am meisten begeistert. Die Zimmer duften nach Holz, auf dem Boden liegen weiße Felle, und die weite Natur vor den großzügigen Fenstern wird zum zusätzlichen Einrichtungselement, ein gigantisches Gemälde, in das man hineinspazieren kann. Die Platzierung der Möbelstücke ist dermaßen durchdacht, dass selbst ein von weither angereister Gast, der auf der anderen Seite der Erde losgeflogen ist, zufrieden seufzend die Beine vor dem Kaminfeuer ausstrecken und sich zu Hause fühlen wird. Enttäuschungen gibt es hier nicht.

An der Rezeption steht eine junge Frau, deren Sami-Tracht wie eine billige Kopie aussieht. Ohne den Blick vom Handy zu heben, ruft sie munter »Welcome!« und tippt weiter, als wären ihre Pflichten damit schon erfüllt.

»Entschuldigen Sie«, sagt Risto mit einem Hüsteln und bemüht sich um den rauen Ton in seiner Stimme, den so viele Leute anziehend finden. Das zeigt Wirkung, sogar mit Halskrause. Eine leichte Unverfrorenheit ist für einen Geschäftsmann nur von Vorteil, wie er sagt. Als Geschäftsmann bezeichnet er sich, seit er den Chefposten in der IT einer Telekommunikationsfirma aufgegeben und eine eigene Firma gegründet hat. Seitdem gilt er als jemand, der viel erreicht hat und trotzdem nicht stehenbleiben will. Er musste nicht mehr sonntags arbeiten und konnte entspannt vor sich hin tüfteln. Trotzdem ist sein Unternehmen innerhalb von fünf Jahren zu einem der größten Softwareanbieter im Land angewachsen, und inzwischen kann er sich komplett zurücklehnen. Er sitzt noch im Aufsichtsrat und geht jeden Dienstag ins Büro, um das Wochenmeeting abzuhalten. Arbeit im eigentlichen Sinne gibt es für ihn nicht mehr. Wenn Karo morgens in den Nieselregen aufbricht, spaziert Risto im Bademantel durch die schummrige Wohnung, trinkt Kaffee und legt Beethoven auf.

»Wir bräuchten eine Übernachtung«, sagt er.

»Zwei Nächte sind bei uns das Minimum.«

»Wir brauchen aber nur eine Nacht … wäre das möglich? Wir hatten einen Unfall.«

Die Frau lächelt.

»Zwei Nächte sind bei uns das Minimum.«

Karo drängelt sich vor Risto.

»Was kostet eine Nacht?«, fragt sie.

»Siebenhundert Euro.«

Die Gleichgültigkeit der Frau, ihre seltsam entspannte Art irritiert Karo. Als würden der unerhört hohe Preis und das Schicksal anderer Menschen sie nichts angehen.

»Wir brauchen die Unterkunft wirklich nur für eine Nacht, und zwar auf ärztlichen Rat. Danach fahren wir nach Hause. Wir sind nicht mehr im Urlaub, der ist längst zu Ende. Wir haben nicht mal unser Gepäck bei uns.«

Von draußen ist ein Motorengeräusch zu hören. Karo dreht sich zu den Fenstern und sieht einen gelben Schneepflug mit Anhänger vors Haus fahren. Im hell blinkenden Licht werfen die Bäume immer wieder lange Schatten. Kurz bevor das Blinklicht ausgeht, kommt ein Polizeiwagen aufs Gelände gefahren. Karo fixiert die beiden Fahrzeuge durchs Panoramaglas. Sie erinnert sich daran, wie sie als Mädchen immer am Fenster saß und darauf wartete, dass endlich jemand nach Hause kam — während bei den Nachbarn die Autos längst vorfuhren, eins nach dem anderen. An diesen langen Nachmittagen und Abenden wurde ihr klar, dass sie mit dem Hund der Vuentos von gegenüber eine Menge gemeinsam hatte, vor allem die Abhängigkeit.

Der Pflugfahrer und die Polizisten schütteln sich die Hände. Sie reden kurz, schauen Richtung Rezeption, wollen schon zur Tür kommen, drehen sich dann aber wieder um und klappen die Seitenwand des Anhängers runter. Im schwachen Schein der Grundstücksbeleuchtung erkennt Karo zwei Koffer und mehrere Tüten, bei einem der Koffer steht der Reißverschluss offen. Es ist ihrer. Sie hat ihn extra für diesen Urlaub angeschafft, ist während des Schlussverkaufs in mehrere Geschäfte gegangen, um den besten auszusuchen. Hat ihn ordentlich gepackt und den Platz optimal ausgenutzt. Jetzt quillt der Inhalt raus, und als der Polizist den Koffer abstellt, schleift der Ärmel ihres grauen Wollpullis über den Boden. Eine der Tüten, die mit dem Nagelknipser, den Pinzetten und Karos Reiseapotheke, versinkt im Schnee.

»Zwei Nächte also«, sagt die Frau zufrieden und reicht Risto die Formulare zum Einchecken.

Auf dem Weg zu ihrem kleinen Haus fallen weitere Sachen in den Schnee. Ihre Haarbürste, ein paar Papiere, die Karo zusammengefaltet und in ein Buch gesteckt hat, der Deoroller. Ihr privates Leben, armselig und unordentlich im sauberen Weiß. Hektisch sammelt sie alles wieder ein und stopft es in ihre Taschen. Sie sieht sich um, ob jemand sie beobachtet hat. Gleich hinter ihr in der Schlange geht Risto, so krumm, als könne er jeden Moment zusammenbrechen und im Schnee liegen bleiben.

Drinnen empfängt sie wohlige Wärme. Das gedimmte Licht fährt per Bewegungsmelder hoch, zwei Paar Filzpantoffeln warten an der Tür. Karo schnappt sich eins, zieht Schuhe und Socken aus und schlüpft barfuß hinein, ihre Zehen sind bläulich angelaufen. Sie setzt sich in den nächstbesten Sessel und sieht wortlos zu, wie der Pflugfahrer ihre Gepäckstücke im Zimmer verteilt und die Polizisten ihre Fellmützen abklopfen.

Risto geht rüber zum Küchenblock, macht eine Flasche Wein auf und gießt ihn sorgsam in die passenden Gläser. Er achtet darauf, keinen einzigen Tropfen zu verschwenden.

***

Helena klingt wie immer, Karo fühlt sich, als stünde sie direkt neben ihr. In alltäglichem Ton geht sie die morgigen Kundenmeetings durch. Miina wird auch ins Büro kommen, sagt Helena, Miina hätte die besten Beziehungen zu den Leuten von der Stadtverwaltung. Dabei wissen sie alle, dass diese Leute vor niemand anderem als Helena auf die Knie fallen, genau wie alle anderen Kunden auch, aber Helena versieht Menschen gern mit Kompetenzen und Erfolgen, die diese eigentlich nicht haben. Sie findet, das sei die perfekte self fulfilling prophecy: Wenn man Leute lang genug lobt, glauben sie das in der Regel und halten sich irgendwann für großartig, und dank des falschen Selbstbilds gelingen ihnen Dinge, an denen sie sonst gescheitert wären. Und falls sie dem Lob misstrauen, setzt die hohe Meinung ihres Gegenübers sie zumindest so unter Druck, dass sie sich ordentlich abstrampeln, damit die Wahrheit ja nicht ans Licht kommt.

Karo weiß nicht, was sie von Helenas Methode halten soll. Manchmal überlegt sie, mit welchen falschen Lorbeeren Helena sie zu manipulieren versucht, doch am Ende spielt das eigentlich keine Rolle, weil in Helenas Gegenwart sowieso immer eine gewisse Anspannung herrscht.

Sie kennen sich seit dem Studium. Sie haben zusammengewohnt, das Glück, die Kämpfe und auch die Tiefpunkte der jeweils anderen miterlebt. Die inneren Tode und Neuanfänge. Sie haben sich mit Restalkohol im Blut ihre Ängste und Befürchtungen gestanden, und als die Monate und Jahre sie zäh genug gemacht hatten, gründeten sie gemeinsam eine Firma und erreichten mehr, als sie je gedacht hätten. Mit der Partnerinnenrolle ist Helena für Karo sogar wichtiger als Risto, wie sie feststellen musste, und wenn Helena sich über die gutgläubige Eitelkeit ihrer Mitmenschen amüsieren will, soll sie’s ruhig machen. Karo lässt ihr das durchgehen. Wenn sie also behaupten will, Miina hätte die besten Beziehungen zur Stadt, gern.

Karo geht ins Schlafzimmer und legt sich aufs Bett. Über ihr erstreckt sich der Sternenhimmel. Eine solche Weite hat sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie könnte Helena in diesem Moment ewig zuhören, doch leider wird sie jetzt zu einer Reaktion aufgefordert.

»… Wie bitte?«, fragt Karo.

»Ob du es vor dem Meeting noch ins Büro schaffst.«

»Äh, nein.«

»Dann sehen wir uns direkt bei denen.«

»Helena?«

»Ja?«

»Wir hatten einen Unfall.«

Karo hört Helenas Tochter Ella kichern, sie spielt offenbar ein Computerspiel.

»Wie?«

»Einen Autounfall.«

»O Gott!«

Helenas erschrockener Aufschrei bricht abrupt ab. Für einen kurzen Moment ist die Verbindung schlecht, dann füllt Helenas Stimme alles aus. Sie stellt Fragen, auf die Karo nie gekommen wäre. Sie sagt, dass alles gut wird, Karo würde ja bald wieder zu Hause sein. Karo stellt sich vor, wie Risto morgens wieder in ihrer Wohnung in Helsinki-Töölö bleibt und Kaffee trinkt, während sie selbst ins Büro geht, den ganzen Vormittag am Schreibtisch sitzt, gegenüber von Helena, und das einzige Geräusch ist das monotone Klackern der Tastaturen. Bis eine von ihnen die andere etwas fragt. Oder sie zu einem Meeting müssen, ihre schwarzen Mäntel überziehen, ins Taxi steigen, durch ihre Kalender scrollen und den Stau verfluchen.

»Ist es okay, wenn du das mit Miina allein machst?«, hört Karo sich fragen. »Um drei ist noch das Treffen mit diesem Viljamaa, wegen der Leuchttafel und wie man sie bedient. Kannst du dich darum kümmern, oder soll ich das absagen? Ich verlinke dir für alle Fälle meinen Kalender, ich weiß noch nicht, mit welchem Flug wir kommen.«

Sie hört die Haustür auf- und zugehen. Mit dem Handy am Ohr läuft sie rüber ins große Zimmer. Wo sind die anderen hin? Helenas Stimme dringt gleichmäßig aus dem kleinen Lautsprecher, ein helles Sprudeln, durchs Fenster sieht sie Risto mit einem der Polizisten im Schnee stehen und reden. Hören kann sie sie nicht, und auch Helenas Stimme ist jetzt nur noch ein fernes Hintergrundgeräusch. Karo hat vergessen, was sie sagen wollte, vielleicht ist das Treffen ja auch erst übermorgen.

»Hallo? … Hallo?«

Sie legt auf.

Risto bleibt noch eine Weile draußen stehen und sieht dem Polizisten hinterher, der seinem Kollegen zum Wagen folgt. Schon wieder lässt er die Schultern hängen und sieht irgendwie fremd aus, wie vorhin auf der Bank, als er auf sie gewartet hat. Karo überlegt, ob er immer so aussieht, wenn sie nicht hinguckt. Sitzt Risto derart niedergeschmettert auf dem Sofa, am Tisch? Ab sofort muss sie genauer auf ihn achten. Vielleicht setzt die Erfahrung, nur knapp dem Tod entronnen zu sein, ihm mehr zu als ihr. Risto verzeiht sich keine Fehler, und etwas wie der Tod wäre ja wohl ein Riesenfehler. Man muss stark und vital sein, selbst dann noch, wenn man fast umgekommen wäre.

»Entschuldigung?«

Risto dreht sich zu ihr um. »Hast du alles geregelt gekriegt?«, fragt er und lächelt.

»Ja, das war Helena. Was hat die Polizei gesagt?«

»Das Auto wird nach Kuusamo gebracht.«

»Und wo ist der andere Fahrer?«

»Welcher andere Fahrer?«

»Na, der im anderen Wagen saß.«

Ristos Augen verengen sich. Karo kennt diesen Blick. So schaut er, wenn er plötzlich etwas interessant findet. Wenn er einen Gedanken hat, den er nicht aussprechen will.

»Es gab keinen anderen Wagen.«

»Doch. Einen blauen Lieferwagen.«

Karo weiß es genau. Im Radio lief gerade das Cellokonzert von Carl Philipp Emanuel Bach. Dann tauchte der blaue Wagen in der Kurve auf und blendete sie. Jetzt ist es vorbei, dachte sie in dem Moment. Keine Schreie, keine quietschenden Bremsen, nur tödlich gleißendes Licht.

»Karo, die Straße war bloß vereist. Du hast eine Gehirnerschütterung und erinnerst dich nicht richtig.«

Er klingt gereizt, wie immer, wenn jemand etwas Einfaches nicht versteht. Aber schon bereut er seinen Ton, legt ihr die Hand auf die Schulter, streichelt über ihren Pulli und sagt ein bisschen freundlicher: »Es war einfach glatt, weiter nichts.«

Karo schämt sich. Sie kriegt schlecht Luft, draußen ist es furchtbar kalt, für einen Moment wird ihr schwindelig. Die Polizisten stehen jetzt drüben vor dem großen Haus und lachen, die Frau vom Empfang lehnt am Geländer und erzählt irgendeine Geschichte, ihre helle Stimme hallt weit durch die Schneelandschaft. Sie schmückt die Story genüsslich aus, nähert sich dem Höhepunkt, wirft die Hände in die Luft und lässt sie mit kleinen Wedelbewegungen wieder sinken. Die Männer ersticken fast vor Lachen. Risto hakt Karo unter.

»Komm, hier erfriert man ja.«

Sie hören noch den Schneepflug starten.

Mitten in der Nacht klingelt der Wecker. Karo schaltet ihn aus und setzt sich hin. Sie massiert ihren Nacken und klappt den Mund auf und zu, neigt den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Was sie geträumt hat, weiß sie nicht mehr, es war etwas Banales. Sie konnte gut einschlafen und hatte keine merkwürdigen Träume.

Risto schläft tief und fest. Auf dem Nachttisch steht sein leeres Weinglas, daneben liegen die Schlaftabletten und das Buch, das er vor dem Einschlafen gelesen hat, einer dieser Selfcare-Ratgeber, die er online bestellt, die braunen Pappumschläge stapeln sich zu Hause auf dem Flurtisch.

»Vergiss nicht, bewusst zu atmen. Vergiss nicht, Gefühle sind nur Gefühle. Du kannst dich stets von ihnen lösen«, hat er zitiert, als sie schon halb am Schlafen war.

Draußen im Wind schaukelt die Laterne. Das Foto an der Wand wird kurz angeleuchtet, dann liegt es im Dunkeln, immer wieder. Es ist eine Luftaufnahme der Hotelanlage, von weißer Ödnis umgeben, die Holzhäuser sind kleine dunkle Punkte. Die Metallteile der Lampe quietschen unangenehm, das Geräusch ist zwar kaum wahrnehmbar, stört aber die Stille im Zimmer. Karo steht auf, zieht die Vorhänge zu, bleibt mitten im Zimmer stehen und lauscht. Findet im Schrank hinter einem Kissen und zusätzlichen Bademänteln eine dicke Decke und schiebt den Ecksessel ans Fenster, wirft die aufgefaltete Decke über die Vorhangstange und hält inne. Es quietscht noch immer.

Die zwei Magnetschlüsselkarten liegen auf dem Tisch. Sie schnappt sich eine und geht ins große Zimmer, zieht im Windfang die Schuhe an, stemmt die Tür auf, stapft einmal ums Haus. Die Lampe schaukelt wild umher, einer ihrer Haltedrähte hat sich gelöst. Karo springt hoch, mehrmals, kommt aber nicht ran.

An der Wand lehnt ein Schneeschieber. Der Plastikgriff ist eiskalt. Karo hat so ein Ding noch nie in der Hand gehabt und es sich viel schwerer vorgestellt. Sie hebt die Schaufel in die Luft und haut zu, einmal, zweimal, so oft, bis die Lampe in Splittern auf der Terrasse liegt.

Die Tür geht erst beim fünften Versuch auf. Der Beutel liegt halb unter dem Koffer. Der durchsichtige, der schon im Schnee gelegen hat, mit den Pinzetten, dem Nagelknipser, den Medikamenten. Und den Ohrstöpseln.

Karo schiebt sie tief in die Gehörgänge und zieht die Bettdecke hoch bis zum Kinn. Macht die Augen zu und wieder auf. Stützt sich auf die Ellenbogen und sieht zu Risto. Er liegt wie immer merkwürdig steif da, aber heute bewegt er sich keinen einzigen Millimeter. Karo beugt sich über ihn — nichts. Sie pult die Ohrstöpsel raus, noch immer nichts. Erst als sie die Hand unter seine Nase hält, spürt sie die warme Luft. Ein, aus, ein, aus. Kräftige, ruhige Atemzüge.

Montag

Die große Glastür führt auf die sonnenbeschienene Terrasse, hier ist der Schnee schon am Schmelzen. Karo trägt den weißen Hotelbademantel und die Filzpantoffeln, ihr Handy presst sie ans Ohr. Die nächtlichen Schatten und Geräusche sind weit weg, aus der Regenrinne tröpfelt es leise.

Sie saugt die klare Luft ein, spürt den feuchten Untergrund durch die Filzsohlen und steigt über die Glasscherben hinweg.

»Das verstehe ich, aber es war die einzige Übernachtungsmöglichkeit im Umkreis von hundert Kilometern, und für genau solche Fälle schließt man eine Versicherung ab.«