Armistice – Schweigen der Waffen - Lara Elena Donnelly - E-Book
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Armistice – Schweigen der Waffen E-Book

Lara Elena Donnelly

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Beschreibung

"Armistice" ist die Rückkehr in Donnellys hinreißende Fantasy-Welt mit Anklängen an das Art déco der 1930er Jahre, die bereits aus dem ersten Band der Reihe – "Amberlough" – bekannt ist. Eine explosive Mischung aus Sex, Politik und Spionen! In einem tropischen Land, in dem hinter den Kulissen der glamourösen Filmindustrie dunkle politische Machenschaften lauern, manövrieren drei Menschen durch das gefährliche Spiel der Spionage: Lillian, eine widerwillige Diplomatin im Dienste einer faschistischen Nation, Aristide, ein ausländischer Filmregisseur, der vor einer verlorenen Liebe und einer kriminellen Vergangenheit davonläuft – und Cordelia, eine einstige Kabarett-Stripperin, die sich in eine legendäre Revolutionärin verwandelt hat. Alle drei verfügen über gefährliches Wissen, das ganze Nationen auf den Kopf stellen könnte. Alles scheint auf eine internationale Revolte zuzurasen – und nur die wahrhaft Gerissenen werden gerüstet sein für das, was als Nächstes auf sie zukommt! "Ein starker Roman voller faszinierender Figuren, der sich mit überdimensionalen Themen wie Sexualität, Musik, Kultur, Faschismus, Nationalismus, Klassenkampf, Revolution und Liebe befasst." (Shelf Awareness)

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INHALT

DANKSAGUNGEN

TEIL EINS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

TEIL ZWEI

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

TEIL DREI

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

DANKSAGUNGEN

Dieses Buch hätte es ohne meinen Agenten Connor Goldsmith und meine Lektorin Diana M. Pho niemals geben können. Ich danke euch dafür, dass ihr ein weiteres meiner bizarren, schreienden Buchkinder zur Welt gebracht habt.

Selbstverständlich danke ich meiner Mom, die bei Plot-Notfällen immer zur Stelle ist. Meinem Dad, der meine fieberhaften Überarbeitungen aushalten musste, als wir uns eigentlich eine schöne Zeit im Big Apple machen wollten. Und Eliot, dem ich im Augenblick höchster Nervosität vor dem Erscheinen meines Debütromans begegnet bin und der die Hochgeschwindigkeitsschöpfung, Überarbeitung und Beendigung von Buch zwei aus nächster Nähe geduldig ausgehalten und möglicherweise sogar genossen hat. Vielleicht bleibt er sogar bis Buch drei!

Meine Freunde aus dem Pub haben mir die Fertigstellung dieses Buches ermöglicht, allen voran Jay Wolf, mit dem ich Plot-Ideen durchspielen konnte, und Gabriella Squalia, die mir einen wunderbaren Titel geschenkt hat. Alyx Dellamonica und Kelly Robson haben aus Kanada Voltaren eingeschmuggelt und mir die Erlaubnis gegeben, »einfach mal den Entwurf zu schreiben und kein Drama mehr zu machen«. Trinkt einen auf mich, meine Freunde!

Den Studierenden des Alpha-SF/F/H-Workshops von 2017, die sich auf meine fieberhaften Überarbeitungen eingelassen und mir regelrecht beim Schreiben geholfen haben, obwohl eigentlich ich diejenige sein sollte, die ihnen etwas beibringt. Behaltet diese Kids im Auge, die werden uns bald alle beeindrucken.

Auch einige Alphans früherer Jahre haben ihren Teil beigetragen: Sarah Brand hat mir mit dem Hinweis sehr geholfen, dass alles Schlimme irgendwie immer auf Cyrils Mist gewachsen ist, was mir noch ziemlich am Anfang die Lösung für eines meiner größten logistischen Probleme geboten hat. Seth Dickinsons Mitgefühl dafür, wie schwierig es ist, eine Fortsetzung zu schreiben, hat mich darin bestärkt, dass ich mit dieser Verzweiflung nicht allein war. Maya Chhabra hat mich in einem Notfall auf die Urdu-Dichtung verwiesen. Alina Sichevaya hat mich mit Memes und Begeisterung versorgt und Ana Curtis wurde jedes Mal zur Cheerleaderin, wenn ich ihr einen Ausschnitt geschickt habe, sodass ich wusste, dass ich auf einem guten Weg war.

Ein großes Dankeschön geht selbstverständlich an die Awkward Robots. Diesmal reichte die Zeit nicht, um von euch allen eine vollständige Kritik zu erhalten, aber während der Entwicklung dieses Buches vor etlichen Jahren hat Sarah Mack einige Ausschnitte gelesen und mir gesagt, dass sich die Arbeit daran lohnt. Und außerdem: Würde ich ohne euch überhaupt daran schreiben? Ich glaube nicht.

Ein großer Dank geht an all die Leute auf Twitter, die mich bei der anfallenden Recherche unterstützt haben. Eine unglaubliche Hilfe! Vielen, vielen Dank. Und an die lieben Menschen bei Infinity Sports Medicine and Rehabilitation. Dass ich diese Danksagung tippen kann, liegt an euren Physiotherapie-Fähigkeiten.

Nochmals vielen Dank an Sunshine, dass ich ihren Nachnamen für meinen Bösewicht verwenden darf. Sie ist ein viel besserer, freundlicherer Mensch als Flagg. Er bringt Schande über die Familie.

Ganz sicher habe ich einen Haufen Leute vergessen. Solltest du bei diesem Buch die Hand im Spiel gehabt haben und dich übergangen fühlen, wirf mir den Fehdehandschuh hin. Ein Pistolenduell bei Sonnenaufgang oder vielleicht ein paar Drinks an der Bar, wenn wir uns das nächste Mal in derselben Stadt aufhalten.

Und dass er von jetzt an, falls es ein Von-jetzt-an für ihn geben sollte, sein krankhaftes Streben nach Ordnung aufgeben und sich ein wenig Chaos gönnen musste; denn Ordnung war nachweislich kein Ersatz für Glück, und so führte vielleicht das Chaos dahin.

– John le Carré, Der Nachtmanager

»Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

– Rick Blaine, Casablanca

KAPITEL

1

Die Zollprüfung verbrachte Cordelia sitzend in einer zugenagelten Kiste und atmete in ihre zusammengeknüllte Bluse, um das Geräusch zu unterdrücken. Was gesagt wurde, verstand sie nicht – ihr rauschte das Blut in den Ohren und außerdem wurde kein Geddisch gesprochen.

Stunden vergingen, zumindest gefühlt, dann herrschte lange Zeit Stille, nur unterbrochen von dumpfen Lauten, wenn Gegenstände gegeneinanderprallten, begleitet von Flüchen und dem Ächzen und Quietschen von Metall auf Metall. Das Abladen der echten Fracht. Als Josippa sich endlich mit einem Brecheisen an Cordelias Versteck zu schaffen machte, hatte diese ihre Kleidung vor Angst völlig nassgeschwitzt.

»Hier drinnen stinkt’s wie in der Sauna.« Josippa warf die Metallstange auf den Boden des frisch geleerten Frachtraums. Das Scheppern hallte nach. »Komm schon raus. Die Sonne ist untergegangen und da stehen zwei Frauen, die einfach nicht abhauen wollen. Ich glaube, die gehören zu dir.«

»Sicher, dass es keine Jagdhunde sind? Füchse?«

»Die gehören beide nicht zu den Viechern, die du da beschreibst. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, die sind das andere Ende deiner Route, aber ich lasse das mit dem Raten normalerweise, vor allem, wenn es um Dinge geht, die ich nicht wissen soll. So kann ich mit dem Hafenmeister ehrlich über meine Fracht reden.«

Cordelia stand auf und streckte den Rücken, bis er knackte. »Ja, was hast du eigentlich gemacht, mit den Zollbeamten einen Ehevertrag ausgehandelt?«

»Seit wir dich an Bord genommen haben, hast du kein bisschen gemeckert. Fang jetzt nicht damit an.« Als Josippa die Klappe öffnete, kam darüber der Abendhimmel zum Vorschein, blutrot, beinahe schwarz, vom Schein der Stadt ausgeblichen.

Im Frachtraum war es heiß gewesen, das stimmte, doch auch an Deck war es heiß. Cordelia spürte die Meeresbrise auf der Haut, so warm wie ihr Atem, sie hinterließ einen Salzfilm. Der Gestank der Fabriken mischte sich unter den Mief des Hafens und ergab einen übel riechenden Dunst.

Durch die beeindruckende Nase atmete Josippa tief ein. »Ach, Berer. Fast so gut wie Dastya im Sommer und hier riecht es das ganze Jahr so.«

»Wo sind diese Frauen?« Vorsichtig spähte Cordelia über die Reling auf das Hafenbecken hinunter, sah jedoch niemanden. Zu dieser späten Stunde schienen die meisten Leute bereits nach Hause gegangen zu sein.

»Die Straße runter«, antwortete Josippa. »Ich habe gesagt, dass ich ihnen das Gewünschte später rüberbringen würde. Habe es sehr geheimnisvoll klingen lassen. Musste sie mir einfach lange genug von der Wäsche halten, um auszuladen. Und der Hafenmeister hat langsam misstrauisch ausgesehen.«

»Du bist ein Schatz«, dankte Cordelia ihr.

»Vielleicht kann ich mich ja selbst verpfänden. Du hast mir für diese Sache hier mit Spucke poliertes Blech gezahlt und behauptet, es wäre Silber.« Doch das sagte sie lächelnd und führte Cordelia den Steg hinab.

Unter der niedrigen Decke des Kaffeehauses hingen Rauchschwaden, die von einem halben Dutzend Wasserpfeifen stammten. Im Gastraum saßen einige Leute und nuckelten an ihren Pfeifenschläuchen, doch im schummrigen Licht waren sie kaum zu erkennen. Dafür war Cordelia dankbar – so konnte niemand sie genauer betrachten.

Allerdings war sie inzwischen nicht mehr so auffällig wie früher. Die scharlachrote Mähne hatte sie schon vor einer ganzen Weile zum Großteil abgeschnitten, sodass sie die Locken insgesamt kurz geschoren und nur oben etwas länger trug. Leicht mit einer Kappe zu bedecken, mit allem rot gefärbt, was sie gerade in die Hände bekam – manchmal nur Wasserfarben. Das schenkte ihren Streitern etwas Hoffnung, ein kleines Stück von dem Zuhause, an das sie sich erinnerten. Seit sie das Bee in die Luft gesprengt hatte, fühlte es sich manchmal so an, als wäre ihr knallroter Lockenschopf alles, was vom alten Amberlough noch übrig war. Innerhalb von drei Jahren hatten die Ospies ihre meisten Ziele erreicht und Cordelia, die etwas hinterherhinkte, hatte sich von einer Brandstifterin, die spontan gehandelt hatte, zur Organisatorin gewandelt. Zeldas Mann Joachim hatte eine Zeit lang ihr gehört und einige nützliche Freunde mitgebracht. Diese hatten weitere Leute mit ins Boot geholt. Die Gerüchte sprachen sich flüsternd herum, vor allem unter den Theaterleuten und den Hafenarbeitern mit schmierigen Händen, die auf dem Schwarzmarkt tätig waren. Opal, die früher im Diadem als Beleuchterin gearbeitet hatte, schlug Cordelia vor: Nennen wir uns doch den Laufsteg. Wir erledigen Sachen hinter den Kulissen, ohne gesehen zu werden, und zünden dann alles an, wenn wir es wollen.

Von ihr stammte auch die Idee, die Züge anzugreifen. All das Getreide und Obst und die Stoffe und Kohle, die aus dem Norden herunterkamen. Die Waren, die in Amberloughs Hafen verschifft wurden und für den Rest des Landes gedacht waren. Wer die Bahnstrecken zerstört, zerstört den Handel. Wer den Handel zerstört, zerstört das Land.

Als sie allmählich Decknamen benötigten – da Fotos von ihnen veröffentlicht wurden, nachdem sie die Schienen bei Lindenbarr in die Luft gejagt hatten und eine alte Flamme von Joachim bei den Behörden hatte punkten wollen, indem er sie verpfiff –, hatten sie Opal »Beleuchter« genannt und noch darüber gelacht. Fortan hatte Joachim »Bühnentechniker« geheißen und Cordelia mit ihren leuchtend roten Locken »Scheinwerfer«.

Nun trug sie nur noch ihren falschen Namen – Nellie Hanes – und die roten Haare waren längst verschwunden. In Dastya hatte sie sie im Waschbecken einer öffentlichen Toilette braun gefärbt.

»Meine Damen«, sagte Josippa und breitete in einer dunklen Ecke des Kaffeehauses vor zwei Frauen die Arme aus. Ihr Tisch war leer: keine Wasserpfeife, kein Kaffee, keine Speisen. »Bitte entschuldigen Sie die Wartezeit.«

»Kapitänin Bozhic.« Eine von ihnen stand auf. »Wir sind seit drei Stunden hier. Was ist hier los?« Sie redete wie eine Protzdame, aber aus der Nähe erkannte Cordelia, dass ihre Kleidung staubig war und die Hochsteckfrisur sich bereits auflöste. Doch sie stand kerzengerade da, mit der Haltung einer Person, die stets ihren Willen durchsetzt.

Sie waren sich nur ein einziges Mal begegnet, und das vor langer Zeit. Auf der Straße hätte Cordelia die Frau nicht erkannt. Auch jetzt kam ihr das Gesicht kaum bekannt vor, obwohl sie wusste, dass dies der Fall sein sollte. Ihren Namen kannte sie nur, weil Luca ihn ihr genannt hatte: Sofie Cattayim.

»Sie haben nach Ihrem Paket gefragt«, erklärte Josippa. »Ich habe Ihnen Ihr Paket gebracht. Hier ist sie und ich bin froh, sie los zu sein.« Die Kapitänin schlug Cordelia so fest mit der Hand auf die Schulter, dass diese beinahe das Gleichgewicht verlor. »Sie ist zwar nett, aber so große Sorgen gar nicht wert.«

»Was zum Kuckuck?«, fragte Sofie, doch Josippa hatte sich bereits abgewandt und stapfte Richtung Tür davon. Dieser Ansprechpartnerin beraubt, wandte sie sich an Cordelia. »Wer sind Sie?«

Also erkannte sie Cordelia ebenfalls nicht und hatte niemanden wie Luca gehabt, der ihrer Erinnerung auf die Sprünge hätte helfen können. Cordelia fragte sich, ob sie sich überhaupt daran erinnerte, jene Ohrringe verschenkt zu haben, und ob sie wusste, wen sie da erledigt hatte.

»Das ist schwer zu erklären«, sagte sie. »Vielleicht irgendwo … na ja. Nicht hier.«

Die Begleitung der Protzdame, die bisher geschwiegen hatte, schnalzte dreimal langsam mit der Zunge. »Ach, Luca, diesmal hast du mir aber eine echte Prüfung auferlegt, was?«

Bei dieser Bemerkung ließ die Protzdame den Kopf so schnell herumfahren, dass sich eine Haarnadel löste. »Was?«

»Sie hat recht, Fee. Am besten eilen wir wieder heim, bevor wir das richtig auseinanderklamüsern. Lass uns gehen.« Sie stand auf und scheuchte Sofie aus der Tischnische.

»Mab, hab ich recht?«, fragte Cordelia. »Mab Cattayim.«

»Und im Augenblick wäre ich gern jemand anders und Luca am besten gar nicht mein Neffe.«

»Was ist los?«, blaffte Sofie.

»Zu Hause«, beharrte Mab und schob sie sanft zur Tür.

In Berer war Cordelia nur deshalb gelandet, weil einer der Jungen, die im Cultham ihre Zelle versteckt gehalten hatten, eine Tante hatte, wie er behauptet hatte. Für ihn galt sie als tot, da sie außerhalb ihres Volkes geheiratet hatte, doch sie schrieb ihm von Zeit zu Zeit heimlich Briefe und für Cordelias Zwecke reichte es, dass sie gesund und munter war. Und wie Opal es formulierte, bestanden diese darin, »möglichst still und schnell möglichst weit von Gedda wegzukommen, sonst steckt man dich in irgendein Loch, wo du nie wieder Tageslicht siehst«.

Lucas Tante führte eine alte Ehe, wie er Cordelia erzählt hatte, mit einer nuesklenischen jungen Frau und einem Mann aus dem Ausland, der verhaftet worden war, als sie gemeinsam durchgebrannt waren. Durch die Hilfe irgendeines Schmugglers in Amberlough-Stadt war es ihm jedoch gelungen, den Jagdhunden zu entwischen. Tante Mab hatte dem Mann alles gezahlt, was sie hatte, und noch einmal halb so viel, um mit Mann und Frau über die Grenze zu kommen, bevor die Ospies das Land richtig im Griff hatten.

Nachdem sie einige Daten und Beschreibungen abgeglichen hatten, war Cordelia klar geworden, wen er meinte. Während ihrer Zeit am Theater hatte sie Ari dabei geholfen, einige Leute aus Amberlough hinauszuschleusen, Geld zu verschieben und Geschäfte am Hafen abzuschließen – und an diese Person erinnerte sie sich. Zeldas Dachboden, die Polizei in der Straße und diese dämlichen Ohrringe, die sie sofort hätte verscherbeln sollen.

Cordelia hatte Luca glauben lassen, dass sie wie geplant dorthin reisen würde. Hatte ihn den Brief schreiben und sich von Opal hinten in den Lastwagen von Lucas Vater stecken lassen, doch sie hatte die ganze Zeit vorgehabt, in den östlichen Ausläufern des Cultham-Gebirges unterzutauchen, knapp hinter der tzietanischen Grenze, bis sich alles etwas abkühlte und sie sich zurück ins Land schleichen konnte.

Allerdings hatte sich die Situation nicht abgekühlt. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich weiter aufgeheizt, die Lage war völlig eskaliert und schon bald gab es keinen sicheren Rückweg mehr. Also hatte sie am Ende doch das getan, was Opal und Luca die ganze Zeit von ihr erwartet hatten.

»Wie geht es ihm? Wie geht es Luca?« Auf der Straße war es still – es war spät und diese Gegend bestand praktisch nur aus Lagerhallen. Trotzdem sprach Mab leise.

»Das weiß ich nicht«, sagte Cordelia. »Sie haben mich rausgeschickt, bevor das … bevor es passiert ist.«

»Massaker«, fauchte Mab. »Nennen wir es beim Namen. Wäre schön, wenn das mal jemand machen würde, denn im Radio tun sie’s nicht. ›Erfolgreiche Razzia‹, bei meinen Titten.«

»Aber sie haben doch Laufsteg-Mitgliedern Unterschlupf gewährt«, widersprach Sofie. »Der CIS dachte, dass die Chuli …« Dann blieb sie mitten auf dem Gehsteig stehen und starrte Cordelia an. »Mutter und all ihre Söhne. Und wir jetzt auch. Nicht wahr?«

Cordelia antwortete nicht. Was nicht bedeutete, dass es nicht stimmte.

Im ersten Jahr nach seiner Gründung hatte der Laufsteg einige Eisenbahnstrecken attackiert, die nach Amberlough herein- und wieder hinausführten, und wie immer hatte es sich herumgesprochen – still und schnell, stets mit der klaren Botschaft: Was, ich? Ich betreibe bloß Konversation. Schließlich hatten sie in einigen Städten Funker, die Nachrichten weitergaben, ebenso wie eine Handvoll Streiter-Zellen. Und dann jagte eine eigenständige Agentin – eine Chuli-Frau – den Güterbahnhof in Farbourgh in die Luft; ein Attentat, das man dem Laufsteg zuschrieb. Plötzlich wurden Cordelias Leute in der Presse mit der kleinen, aber hartnäckigen Widerstandsbewegung im Cultham-Gebirge in Verbindung gebracht, wo geddische Bauern, von der Ospie-freundlichen Polizei ungehindert, angestammte Weidegründe für sich beanspruchten.

Deshalb ging Cordelia dorthin, als es ihr in Amberlough zu heiß wurde, gemeinsam mit Opal und einigen anderen – um diese in der Presse erdachte Allianz Wirklichkeit werden zu lassen.

Sie hatte eine ganze Weile bestanden, eine beträchtliche Menge an Leuten angezogen, die kämpfen wollten, bevor der CIS davon erfahren und ihnen einige Terrier in den Bau hinterhergeschickt hatte. (Bei dem inzwischen als Central Intelligence Services bekannten Geheimdienst hatte es sich ehemals um die als FOCIS bekannte Behörde gehandelt; »Federal Office« und damit den Begriff »föderal« hatten die Ospies umgehend aus der Abkürzung entfernt, sobald sie die Zügel fest in der Hand hielten.)

»Mab. Nicht wahr?«, fragte Sofie.

»Hab keine Ahnung«, entgegnete Mab tonlos. »Und will eigentlich auch nich’ fragen. Sie ist eine Freundin meiner Familie, die in der Klemme sitzt.«

»Deiner Familie«, zischte Sofie. »Ich bin deine Familie. Nadia ist deine Familie. Die haben deinen Arsch vor die Tür gesetzt. Und jetzt schicken sie die zu dir?«

»Zu Hause, Fee.«

Mit zitternder Hand zeigte Sofie auf Cordelia. »Ich bringe sie nicht zu unserer Tochter ins Haus.«

»Die Ospies haben Chuli-Kinder umgebracht, Fee.« Flehend streckte Mab die Hände aus. »Drei davon nicht mal zehn Jahre alt. Egal, wer sich unter dem Wagen oder in der Herde versteckt oder wie schlecht du zielst. Man erschießt keine Kinder und nennt das dann korrekt.«

Das war an dem Tag geschehen, nachdem Cordelia hinten in den Laster gestiegen war. Wahrscheinlich war sie gerade über die Grenze geschaukelt, als die Miliz, vom CIS angestachelt, dort eingetroffen war und einige Fragen zum Laufsteg gestellt hatte. Hatten von der falschen Person Widerworte bekommen, sagten sie. Sagten, dass sie um ihr Leben gefürchtet hätten. Wer wusste schon, was wirklich passiert war – die Miliz beharrte darauf, dass die Chuli zuerst nach den Waffen gegriffen hätten, also vermutlich ein Schürhaken oder eine uralte Flinte, mit der sie Wölfe verjagten. Die Meinung der Chuli aus dem Lager war in keinem einzigen Zitat erwähnt worden.

»Ich sage ja nicht, dass es richtig war«, fuhr Sofie fort. »Ich sage, dass sie ausreichende Gründe hatten, die Razzia durchzuführen, und jetzt haben sie einen Grund, um das immer und immer wieder zu tun.« Sofie presste die Lippen aufeinander, war ganz blass im Gesicht. »Du hast es im Radio gehört. So viele Verhaftungen, dass in den Gefängnissen kein Platz mehr ist. Sie halten sie unter freiem Himmel eingepfercht, wie Schafe.«

Davon hatte Cordelia noch nichts gehört.

»Du tust so, als würde ich das nicht wissen«, meinte Mab.

»Du weißt viel mehr, als du bisher zugibst, glaube ich. Wie oft hat Luca dir geschrieben? Ist das ganze Kleingeld dafür draufgegangen?«

Mab knirschte mit den Zähnen, sodass sich an ihrem Hals die Sehnen abzeichneten. Cordelia überlegte, ob das raue Leben in den tzietanischen Gebirgsausläufern, mit den Füchsen auf den Fersen, nicht doch besser gewesen wäre als das hier.

»Zu Hause«, wiederholte Mab ein weiteres Mal, diesmal in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Sie stritten die ganze Nacht lang. Den Großteil davon verschlief Cordelia. Inzwischen hatte sie sich an Schreie und Wut und viele andere Geräusche im Dunkeln gewöhnt.

Ihre Räumlichkeiten waren nicht groß – Schlafzimmer und Wohnküche mit Sofa über einem Laden, der bei ihrer Ankunft geschlossen gewesen war. Dem Fettgeruch nach zu urteilen servierten die Nachbarn unten wahrscheinlich leckere Pfannengerichte. Cordelia hatte das Bett für sich, die Frauen blieben in der Küche, damit sie etwas Privatsphäre hatten, während sie sich gegenseitig in der Luft zerrissen.

Am frühen Morgen wachte Cordelia auf, weil sich jemand Kleines, Warmes an sie presste und ein Schluchzen unterdrückte. Mab und Sofies Töchterchen Nadia war aus ihrem Kinderbett in der Ecke geklettert und hatte sich zu ihr ins Bett gelegt. Auf ihrer Oberlippe glänzte Schnodder. Sie umklammerte eine Puppe aus einem Strumpf mit Haaren aus Fäden und einer Schleife um den Hals. Auch diese glänzte vor Schnodder.

Als die kleine Schwester hatte Cordelia selbst nie besonders gut mit Kindern umgehen können. Sie war diejenige gewesen, der man den Po abgewischt und die Windeln gewechselt hatte, nicht andersherum. Unbeholfen tätschelte sie Nadia die dunklen, wirren Haare.

»Streiten die oft so?«, fragte sie.

Nadia schüttelte den Kopf. Dann, nach kurzer Pause, nickte sie einmal.

»Wo ist denn dein Dad, hm?«, fragte Cordelia. Für drei Personen war das Bett zu schmal und sie hatte nirgendwo eine Spur des Ehemanns entdeckt.

Erneut schüttelte Nadia den Kopf.

Seufzend rutschte Cordelia zur Seite, machte dem schniefenden Kind mehr Platz und verfiel dann erneut in Tiefschlaf.

Als sie am Morgen aus dem stickigen Schlafzimmer wankte, saß Mab mit einer aufgeschlagenen Zeitung am Tisch und rauchte Pfeife. Sofie hatte sie den Rücken zugewandt, diese hantierte an der Arbeitsplatte mit einem Messer.

»Morgen!«, sagte Mab und klappte die obere Hälfte ihrer Zeitung herunter.

Cordelia nickte und ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken, wobei sie Sofie misstrauisch im Blick behielt. Deren Schultern wirkten angespannt, genau wie ihr Nacken unter den hochgesteckten Haaren.

»Schläft Nadia noch?«

Wieder nickte Cordelia.

Seufzend legte Mab ihre Zeitung auf den Tisch. »Sofie und ich haben geredet und wir können Sie nich’ hierbehalten.«

Allmählich fühlte Cordelia sich wie ein Springteufel, dessen Kopf an einer Stahlfeder vor und zurück wippte.

»Im Augenblick ist es für uns in Porachis schon schwer genug«, fuhr sie fort. »Wir haben nicht die richtigen Papiere, um hierbleiben und arbeiten zu dürfen, und zurzeit sind Geddaner nicht gerade beliebt. Meistens geht es mir noch besser als Sofie, wegen meiner Hautfarbe, vor allem bei Leuten, die auf dem Laufenden sind, was die Nachrichten aus dem Ausland angeht. Das Massaker in Tannover ist hier nicht gerade gut angekommen, nicht für die Ospies. Porachis hatte nach dem Gewürzkrieg schon genug Speichel gesammelt, um Gedda anzuspucken. Jetzt warten sie nur auf eine passende Gelegenheit, ihn loszuwerden.«

»Also wollen Sie mir damit sagen, dass es für mich auch schwer werden wird?«, fragte Cordelia.

»Wir kennen einige Leute in der Gegend. Wenn wir andeuten, was Sie gemacht haben und wo Ihre Sympathien liegen, können wir Ihnen vielleicht helfen, Arbeit zu finden. Sie können in der Herberge der Königin bleiben: laut königlichem Mandat drei Nächte kostenlos und auch danach nicht besonders teuer. Aber mit Ihrer Haut und so wie Sie reden, behandelt man Sie da vielleicht etwas rauer.«

Danach hörte Cordelia nicht weiter zu. Nicht, weil es ihr egal war, sondern weil ihr Blick auf Mabs Zeitung gefallen war, auf die aufgeschlagene Seite mit dem Rotodruck, der mehrere Fotos zeigte. Mit dem Finger tippte sie auf ein Bild. »Was ist das hier?«

Mitten im Satz unterbrochen, brauchte Mab einen Augenblick, um sich zu fangen. »Wie bitte, der Rotodruck?« Dann folgte sie mit dem Blick Cordelias steifem Finger und sagte: »Ach, Makricosta? Kennen Sie den etwa?«

Cordelia zog den Finger weg und hinterließ auf der glänzenden Seite einen Schmierfleck. »Seinetwegen bin ich hier, wenn man die Ursprünge betrachtet.« Mab und Sofie hatten sie also tatsächlich nicht erkannt. Gut.

»Ist kurz nach uns hier aufgetaucht.« Mab klopfte die Pfeife an der Tischkante aus. »Schon komisch. Wir haben ihm so viel gezahlt, damit er uns herausbringt, und dann kommt er hinterhergerannt.«

Krachend landete eine Joghurtschale auf dem Tisch, sodass es spritzte. Danach stellte Sofie ihnen einen Teller mit matschigen, grob gehackten Feigen hin. »Mab Cattayim, manchmal frage ich mich, ob dir von dem ganzen Zeug, das du so laberst, nicht irgendwann der Kiefer abfällt.«

»Jetzt können sie ihn deswegen ja nicht mehr verhaften.«

»Um ihn mache ich mir keine Sorgen.« Sofie knallte zwei Löffel auf den Tisch.

Amüsiert nahm Mab sich einen. »Wem soll sie denn bitte was erzählen?«

Zum ersten Mal, seitdem Cordelia die Küche betreten hatte, schaute Sofie sie direkt an und zog skeptisch einen Mundwinkel herunter.

»Ich gehe raus«, verkündete sie schließlich und schnappte sich eine Handtasche von der Lehne des dritten leeren Stuhls.

Nachdem die Tür geknallt hatte, lehnte Mab sich seufzend zurück, sodass der Stuhl knarzte. »Wird eine Zeit dauern, diesen Riss zu kitten.«

»Tut mir leid«, sagte Cordelia.

Mab winkte ab. »Sie müssen für mich nicht die Schuld auf sich nehmen.« Mit den Händen rieb sie sich übers Gesicht. »Ich wollte einfach helfen.«

»Wenn Sie Luca Geld geschickt haben, haben Sie das auch getan«, sagte Cordelia. »Sie haben ihm und uns geholfen. Vielleicht haben wir damit einen Jagdhund geschmiert oder den einen oder anderen Abend was zu essen gekauft.«

»Wahrscheinlich Abende, an denen wir gehungert haben. Gesegnete Steine, ich hätte es ihr sagen sollen.«

»Sie hätten sie fragen sollen«, meinte Cordelia und fügte hinzu: »Tut mir leid. Geht mich nichts an.«

Mab zuckte mit den Schultern und ließ den Kopf sinken. Die Zeitung lag direkt unter ihrer Nase, darum konnte sie bald das Thema wechseln. »Aber was Makricosta angeht: Sie haben sein Gesicht erkannt.«

Cordelia zog den Rotodruck näher heran, um das Bild genauer zu betrachten.

Er hatte sich verändert. Hatte sich zum einen die Locken abgeschnitten, außerdem waren seine Haare inzwischen von silbernen Strähnen durchzogen, besonders an den Schläfen. Auf dem Foto hing ihm eine kleine Porachinerin mit breiten Hüften am Arm. Cordelia fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte, konnte es aus der Bildunterschrift aber nicht erkennen. Die Porashtu-Schrift bestand aus gewundenen Linien, Punkten und Strichen, die sie nicht lesen konnte. »Verstehen Sie das hier?«

»Langsam wird es besser«, sagte Mab. »Zeitung lesen hilft.«

»Dieser riesige rosa Junge hat seine Nase schon immer in Zeug gesteckt, das ihn nichts anging.« Cordelia berührte die Tinte, mit der Aris Gesicht gedruckt worden war, und fragte sich, ob das Fluch oder Segen war. »Was macht er hier?«

»Arbeitet beim Film, drüben in Anadh.«

»Beim Film?« Auf diese Idee war sie noch gar nicht gekommen. Sie hatte nicht viel weiter gedacht als bis zur Landung in Mab und Sofies Nest. Doch in Anadh gab es eine große Filmindustrie – viel größer als in der Heimat, wo diese nie richtig Fuß gefasst hatte – und nun wurde Cordelia hinausgestoßen und musste flügge werden. »Bekommt man da leicht Arbeit?«

»In Anadh findet man kaum andere Arbeit, selbst wenn man aus Gedda stammt. Sehen Sie die da, Phoebe Francis?« Mab tippte einer älteren Frau ins strenge Gesicht, blass, mit weißen oder blonden Haaren, die sie zu einem ordentlichen Dutt gesteckt trug. »Im Ausland geboren, aber ihre Eltern waren echte Nuesklener.« Mab nahm sich eine Feige. »Jedenfalls ist das alles, was ich über Anadh weiß. Fee und ich reisen nicht viel. Aber es ist eine große Stadt, sogar größer als Myazbah – so heißt die Hauptstadt. Viele Leute aus aller Welt.«

»Ist sie weit weg?«

Mab zuckte mit den Schultern, aß die Feige. »Mit dem Wagen ein paar Stunden die Küste hinunter. Vielleicht kenne ich da jemanden, der Sie fahren könnte, wenn Sie wollen.«

Cordelia war sich nicht sicher, ob sie das wollte, doch wohin sollte sie sonst gehen?

KAPITEL

2

Geschlagene fünf Minuten stand Lillian im Vorzimmer der Abteilung für Regionale Angelegenheiten und hielt das Telegramm zwischen den Fingerspitzen. Wenn sie es richtig in die Hand nähme, würde sie diese zur Faust ballen und es zerknüllen. Das Blatt anschließend wieder glatt zu streichen erschien ihr unwürdig, vor allem angesichts dessen, was hier gerade vor sich ging. Zumindest weigerte sie sich, es zu tun.

Endlich öffnete sich die Tür und Lillian schrak auf.

»Botschaftsrat Flagg empfängt Sie jetzt«, sagte die Sekretärin und strich sich über den Rock. »Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung.« Sie bedeutete Lillian einzutreten, schloss dann hinter ihr die Tür. Diese fiel mit einem lauten, metallischen Klacken ins Schloss. Andere Büros in der Botschaftskanzlei konnte man abschließen, doch keine mit einem derart raffinierten Mechanismus, die meisten öffnete man mit Schlüsseln, nicht mit einer Tastenkombination. Lillian fragte sich, wie oft sie die Zahlenreihen änderten. Fragte sich, ob jemals jemand eingeschlossen worden war.

»Ah, Ms. DePaul.« Hinter dem Schreibtisch streckte Flaggs Assistent die Arme über den Kopf. »Sie sieht man in unserem langen, dunklen Flur nur selten.«

»Ich arbeite als Presseattachée, Mr. Memmediv. Den Großteil meiner Sabotage pflege ich vom Rednerpult aus zu betreiben.«

Sein Lachen klang angenehm: tief und sanft, kombiniert mit einem Lächeln, bei dem seine Augenwinkel Fältchen bildeten. Beinahe hätte sie es für echt gehalten.

Vasily Memmediv war später als die anderen Ospie-Mitarbeiter hergekommen, deshalb traute Lillian ihm weniger. Allerdings traute sie den Ospies ohnehin nicht besonders – doch sie wusste, wo sie bei ihnen stand. Als Acherby die Macht übernommen hatte, hatten sie all ihre Kollegen beseitigt – zumindest diejenigen, die ihre Posten nach Erhalt der Nachricht nicht bereits selbst geräumt hatten. Jeden Einzelnen hatten sie durch jemanden ersetzt, der sich an Geddas neue Linie hielt.

Sogar Lillian hatten sie gefeuert, bis sie herausgefunden hatten, dass sie ein nützliches Geheimnis verbarg. Ganze drei Tage lang war sie arbeitslos gewesen, in denen sie sich bemüht hatte, ihren Bruder ans Telefon zu bekommen und zu entscheiden, ob sie nach Hause zurückkehren oder vor Ort bleiben sollte. Dann hatte es bei ihr an der Tür geklopft.

Damals war sie Maddox Flagg zum ersten Mal begegnet. Er hatte ihr die dicke Akte überreicht, an deren Deckblatt innen Cyrils Foto befestigt war, mit einem schockierenden roten Stempel auf dem Gesicht: verstorben. Die meisten Namen und Daten waren geschwärzt, doch die verbliebenen Informationen hatten ausgereicht, um ihr Angst zu machen. Als Nächstes hatte er die Akte ihres Sohnes aus der Tasche geholt. Sich der Wiedereinsetzung als Presseattachée zu widersetzen war keine Option gewesen.

Vor sechs Monaten war schließlich Memmediv aufgetaucht, der sich offensichtlich bereits vorher bei Flagg beliebt gemacht hatte. Was in Flaggs Büro vor sich ging, darüber wusste Lillian kaum etwas, doch sie konnte es sich vorstellen.

Acherbys Einmischung an der Grenze zwischen dem Königreich Liso und der Nordlisoanischen Republik hatte die internationalen Beziehungen in Wallung gebracht, vor allem die zum langjährigen royalistischen Alliierten Porachis. Der Botschaftsrat benötigte in der Belegschaft mehr Füchse. Anscheinend bestand zwischen ihm und Memmediv irgendeine geheime berufliche Verbindung, denn Memmedivs Spezialgebiet lag ausschließlich in der Innenpolitik und Porashtu sprach er etwa so gut wie ein Grundschulkind.

Ein glaubhaftes Narrativ zu erschaffen, das beherrschte Lillian ausgezeichnet, deshalb machte sie so einen guten Job. Doch das war nicht der Grund, weshalb die Ospies sie behalten hatten, als sie alle anderen hinauswarfen. Die Aufgabe, für die die alte Garde sie bezahlt hatte, erledigte sie einwandfrei und die Ospies – die zum damaligen Zeitpunkt bis zum Hals in Ungnade gesteckt hatten, da sie mehrere Dutzend porachinische Einwandererfamilien aus Gedda abgeschoben hatten – brauchten ihr Talent und Fingerspitzengefühl.

»Und dann wäre da noch die Kleinigkeit mit Stephen«, sagte Flagg damals, als er ihr gegenüber an ihrem Couchtisch saß. »Im Herbst schicken Sie ihn zur Schule, nicht wahr? Cantrell? Seine Ausbildung wird vollständig von der Regierung bezahlt. Als Ausdruck unserer Dankbarkeit für Ihre harte Arbeit.«

Doch eigentlich meinte er etwas anderes, eher in Richtung: Ihr Sohn ist eine Leine, die wir Ihnen um den Hals gelegt haben, und die halten wir möglichst kurz, damit Sie genau das tun, was wir Ihnen sagen. Oder zumindest nahm sie das an, bis sie erfuhr, dass es nicht um ihre Stellung im Auswärtigen Dienst, sondern um die Familie von Stephens Vater ging.

»Er benimmt sich aufmüpfig«, hatte Flagg ihr mitgeteilt. »Wir möchten, dass Sie mit gutem Beispiel vorangehen.«

Oder eher: Wir möchten Sie in unserer Nähe haben, damit wir Ihnen das Messer an die Kehle halten können, falls er sich sperrt. Sie wieder ans Pressepodium zu setzen war nur das saure Sahnehäubchen auf dem Kuchen gewesen.

Memmediv zog sie aus dem Sumpf ihrer Vergangenheit. »Ist das für uns?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Telegramm.

»Nein, nein«, sagte Lillian und schüttelte ihre alte Angst ab, um die neue besser ertragen zu können. »Trotzdem muss ich mit Flagg darüber sprechen. Die Sekretärin hat gesagt, dass er …«

»Sie jetzt empfängt, ja.« Maddox Flagg trat aus seinem Büro, das eine in sich abgeschlossene Festung innerhalb einer Festung darstellte. Mit grauen Haaren und grauen Augen, blassem Teint, der in schlechtem Licht ebenfalls grau wirkte, retteten ihn nur die roten Ränder um seine Augen vor absoluter Monochromie: Sie waren die Auswirkung davon, dass er sein Leben lang in Drei-Stunden-Intervallen geschlafen hatte. Hohe, hervorstehende Wangenknochen und eine feine Nase verliehen seinen Zügen einen verkniffenen, missbilligenden Ausdruck. Das schmale Gesicht war von Falten durchzogen, eingemeißelt durch stets berechnend zusammengekniffene Augen und unablässig gerunzelte Brauen.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Ms. DePaul?«

»Nein, vielen Dank.« Bei Flagg gab es den stärksten Kaffee des Auswärtigen Dienstes. Wenn sie nun einen tränke, würde wahrscheinlich ihr Herz explodieren. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.«

Mit leicht verwirrter Miene nahm er ihr das Telegramm ab, beim Lesen verstärkte sich der Eindruck. »Meint sie das ernst?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe noch nie mit ihr gesprochen.«

»Tatsächlich?« Flagg fing mit blutunterlaufenen Augen über den Zettel hinweg ihren Blick ein. »Mit einigen Mitgliedern der königlichen Familie sind Sie doch recht eng.«

»Nicht mit diesem Zweig«, erwiderte Lillian schroff und hasste ihn dabei.

»Und das hat sie Ihnen nach Hause geschickt?«

»Das hat sie. Heute Morgen. Na ja, gegen halb vier. Also ist sie gestern Abend vermutlich lange aufgeblieben. Vielleicht hat sie etwas getrunken?«

Flagg lachte auf. »Zweifellos. Aber ich glaube, dass das ihre Einschätzung dieser speziellen Angelegenheit nicht beeinflusst hat.«

»Würde mich bitte jemand aufklären?« Memmediv legte die Füße auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Sie haben doch von Satris Film gehört«, sagte Flagg. »Diese als Historienfilm verkleidete Attacke gegen uns?«

Memmediv grinste. »Mir gefallen Filme. Eine wirklich nette Sache.«

»Anscheinend hat Ms. DePaul sich eine kurzfristige Einladung zur Premiere verdient. Die findet …«

»Morgen statt«, unterbrach Memmediv und pfiff. »Na, was habe ich Ihnen gesagt? Satri ist schlauer, als sie aussieht.«

Lillian nickte zustimmend. »Sie kann genau zwei Sachen von uns wollen, wenn sie das hier so kurzfristig schickt. Wenn ich absage, kann sie uns als Feiglinge bezeichnen. Schlimmer noch, sie kann behaupten, man hätte mich an der Teilnahme gehindert. Das öffentliche Ansehen Geddas erhält einen Dämpfer. Wer würde mich schon davon abhalten, einen Film über meine eigene Großmutter anzuschauen?«

Flagg verzog das Gesicht und fragte: »Und die zweite Möglichkeit?«

»Wenn ich zusage und mich kaum vorbereiten kann, hofft sie, dass wir uns irgendwie blamieren.«

»Nach Mooreheads Fehltritt letzten Monat müssen Sie sich bemühen, makellos zu erscheinen«, meinte Flagg und gab ihr das Telegramm zurück. »Vor den Porachinern können wir es uns nicht leisten, uns weiter die eigenen Stiefel zu lecken.«

Kürzlich hatte der geddische Verteidigungsminister den Truppen in Nordliso bei ihrem Vorhaben, die Demokratie südlich der Grenzlinie zu verbreiten, seine Unterstützung zugesagt. Seine Rechtfertigung – die selbst dann zu spät gekommen wäre, wenn er sie zuerst genannt hätte – lautete, dass seine Unterstützung nur persönlicher und moralischer Natur war, nicht offizieller, militärischer oder finanzieller. Lillian hatte hinter ihm die Wogen geglättet, sich darum bemüht, die aufgewühlten diplomatischen Beziehungen, die seine Dummheit hinterlassen hatte, zu beruhigen. Doch die porachinische Presse hatte dies nicht hingenommen. Die Experten waren sich einig, dass Gedda sich auf einen Stellvertreterkrieg in Liso vorbereitete. Auch Lillian war sich dessen recht sicher, doch das durfte sie keinesfalls sagen.

»Also gehe ich zur Premiere?«, fragte sie.

»Es sei denn, Sie können eine wasserdichte Erklärung verfassen, mit der Sie Ihre Abwesenheit entschuldigen.«

»Ich beherrsche meine Arbeit zwar sehr gut, Herr Botschaftsrat, aber auch ich drücke mich mit Worten aus, um meine Haltung zu vermitteln.« Lillian faltete das Telegramm in der Mitte zusammen und zog die Kante mit den Fingern glatt: ein kleines Zugeständnis an ihre angespannten Nerven, das etwas ordentlicher aussah, als das Papier einfach zu zerknüllen. »Meiner Erfahrung nach können andere mit diesem Werkzeug genauso gut arbeiten wie ich. Egal, was ich sage, sie wird mir die Worte im Mund herumdrehen.«

»Die Einladung gilt für Sie und eine ›Begleitung‹.« Flagg tippte sich ans Kinn. »Mr. Memmediv, gibt es irgendwelche gut aussehenden Kerle, die wir mit ihr hinschicken können? Nicht zu exotisch. Keiner der Playboy-Füchse unter unserer Aufsicht, niemand, der zu oft in den Boulevardblättern erscheint. Jemand Respektables, der ein Auge auf sie hat.«

»Herr Botschaftsrat«, fragte Memmediv mit ironischem Unterton, »für was für eine Art von Einsatz halten Sie das hier?«

Doch den Humor bei der Abteilung für Regionale Angelegenheiten überließ Flagg ganz seinem Assistenten. »Für einen zweckmäßigen. Finden Sie jemanden.«

»Könnte ich nicht gehen?« Memmediv nahm eine Zigarette aus seinem Etui und entzündete ein Streichholz. Dieses Laster wurde von der OSP nicht gebilligt, doch wer würde schon davon erfahren, wenn es hinter einer verschlossenen Stahltür geschah? »Ich bräuchte mal wieder etwas Urlaub.«

Lillian erwartete, dass Flagg rundweg ablehnte, stattdessen neigte er den Kopf und überdachte den Vorschlag. Fieberhaft nachdenkend kniff er die Augen wie Eisenspäne zusammen, die von einem Magneten angezogen wurden.

Mit der Zigarette nachlässig in der Hand wirkte Memmediv, völlig entspannt hinter seinem Schreibtisch, nicht wie ein Arbeitssklave der Botschaftskanzlei. Er wirkte nicht einmal wie ein Fuchs, sondern auf harmlose Art charmant: mittleres Alter, fahle Haut und eine düstere Anziehungskraft. Offenbar hatte Flagg dasselbe gesehen, denn schließlich zuckte er mit den Achseln. »Sie haben ja gesagt, dass Ihnen Filme gefallen. Ms. DePaul, was meinen Sie?«

»Meine fachliche Meinung?«

»Die allein zählt.«

Was bedeutete, dass Memmediv mitgehen würde, ob es ihr gefiel oder nicht, solange Flagg dadurch keine Probleme bekam. »Die meisten Leute, die sich ansatzweise mit dem Diplomatischen Dienst auskennen, wissen ein wenig darüber, was er tut und für wen er arbeitet. Dadurch werden sie misstrauisch, was gut für uns sein könnte. Außerdem stellt seine Anwesenheit eine sehr subtile Drohung dar, mir und Porachis gegenüber, allerdings eine, die Sie aussprechen können, ohne eine Szene zu machen. Abgesehen davon wissen Sie ja, dass Sie ihm vertrauen können.«

Als Lillian an jenem Abend die Botschaftskanzlei verließ, wartete unten an der Treppe ein Wagen auf sie. Fußgänger und andere Fahrzeuge umrundeten ihn mit großem Abstand, weil das Diplomatenkennzeichen sie argwöhnisch machte. Lillian vermutete, dass aus Ehrerbietung – oder Abscheu – noch einige Zentimeter dazukamen, da die Motorhaube grauweiße Ospie-Fahnen zierten. Als sie näher kam, öffnete der Fahrer ihr die hintere Tür. Dahinter kamen Knie in einer stahlblauen Nadelstreifenhose zum Vorschein.

Nur einen kurzen Augenblick hielt Lillian im Laufen inne, was man leicht auf eine hervorstehende Steinplatte oder ein Steinchen im Schuh hätte zurückführen können. Unmittelbar danach hatte sie sich wieder im Griff und ließ sich auf den Rücksitz sinken.

»Herr Botschaftsrat«, sagte sie kühl und kontrolliert. »Wohin fahren wir?«

»Es ist heiß. Sie hatten einen langen Tag. Ich fahre Sie nach Hause.« Seine Stimme klang dabei so eigenartig ausdruckslos, dass dies eindeutig nicht der Wahrheit entsprach, oder zumindest nicht der ganzen.

»Geht es um die Filmpremiere?«, fragte Lillian, nachdem sie losgefahren waren.

»Sozusagen.« Flagg hielt inne und blickte auf die Straße, die draußen hinter dem Fenster vorbeizog. »Wie gut kennen Sie Vasily?«

»Nicht gut, Sir. Angesichts seiner Vorgeschichte hat es mich eher verwundert, dass Sie ihn überhaupt hergeholt haben.« So weit hätte sie sich nicht vorgewagt, wenn er es nicht angesprochen hätte. »Meines Wissens lautet der Auftrag Ihres Büros etwas anders als das, was für die restliche Mission gilt, aber …«

Jeder andere Mann hätte versucht, seinen Widerwillen irgendwie zu verbergen: hätte sich die Hose glatt gestrichen oder die Fingernägel betrachtet. Hätte irgendetwas anderes getan, statt konzentriert wie ein Raubvogel vor sich hinzustarren. »Er hat den Posten angefordert«, erklärte Flagg schließlich.

»Warum? Er scheint kein andauerndes Interesse an der porachinischen Politik zu haben oder auch nur über Grundkenntnisse der Kultur zu verfügen.«

»Neue Kulturen, neue Länder: Das kann man alles lernen. Aber Memmediv und mich verbindet eine gemeinsame Geschichte: Während der Wahlen vor drei Jahren haben wir für denselben Vorgesetzten gearbeitet. Für den Erfolg der Partei in Amberlough war er immens wichtig.«

Diese Beschönigungen hatte Lillian bei Pressekonferenzen schon dermaßen häufig verwendet, dass sie nicht mehr schmerzten.

»Ich wusste, dass er seine Aufgabe gut erfüllen würde«, sagte Flagg. In seiner Stimme schwang jedoch ein unausgesprochenes Aber mit. Sie konnte es wahrnehmen wie Elektrizität, wie Rauchgeruch, der in der Luft hing. Bei der Abteilung für Regionale Angelegenheiten lief nicht alles rund.

»Aber«, setzte sie an, da er das Wort offensichtlich nicht aussprechen wollte.

Über Flaggs Züge huschte Reue wie der Schatten einer schnell vorbeiziehenden Wolke. Dass er überhaupt Gefühle zeigte, erstaunte Lillian, es verdeutlichte noch einmal, wie ernst die Situation war.

»Er hat den Posten angefordert«, wiederholte Flagg. »Das hat mir geschmeichelt, doch im Nachhinein war das dumm. Seine Motive haben immer in der Innenpolitik gelegen, seine Familie hat bei den Sonnenwendunruhen in Dastya vor über dreißig Jahren alles verloren. Ihr Geschäft, ihr Zuhause, ihren gesellschaftlichen Stand. Sein Vater war Ratsherr und landete letzten Endes im Gefängnis. Memmediv war gerade so alt, dass er die Konsequenzen verstehen konnte, aber noch zu jung, um zu kämpfen. Seine Bereitschaft, bei den Wahlen mit den Ospies zusammenzuarbeiten, hing allein von Acherbys Wahlversprechen ab, dass er Dastya an Tatié zurückgeben würde.«

»Und in dem Punkt ist Acherby sehr langsam vorgegangen.«

»Mir müssen Sie nicht in den Arsch kriechen. Die ganze Angelegenheit mit dem Waffenstillstandsabkommen mit Tzieta ist für Leute wie Memmediv ein Schlag ins Gesicht. In deren Augen sollte diese Grenze, dieser Hafen das wichtigste Anliegen jedes Politikers sein. Seit Jahrzehnten kämpft Tatié um einen eigenen Hafen. Acherby hat ihnen versprochen, diesen Kampf zu beenden, und das hat er: indem er ihn überflüssig gemacht hat.«

Tatié war an die Ospies gegangen, da Acherby auf die militärische Kraft angespielt hatte, auf die Solidarität des Staates, darauf, dass er die Schifffahrtsmonopole von Amberlough und Nuesklend beenden würde. Dieses Versprechen hatte er eingelöst, indem er die Zölle an den Staatsgrenzen aufgehoben hatte. Doch es gab keinerlei Bemühungen, Tatiés ehemalige Hauptstadt zurückzuverlangen, die in einem fünfzig Jahre alten Vertrag, den viele Tatiener immer noch nicht anerkennen wollten, Tzieta zugesprochen worden war.

Aber weshalb sich die Mühe machen und diesen Hafen zurückerobern, so Acherbys Argumentation, wenn im Vereinten Gedda ein freier Warenfluss möglich war? Mit Terroristen im eigenen Land und einem Stellvertreterkrieg hatte Acherby vermutlich mehr als genug zu tun. Darum fanden nun Friedensgespräche mit Tzieta statt, zum Missfallen vieler Tatiener, die auf dem rissigen, trockenen Boden in der Hoffnung Blut vergossen hatten, dadurch einen Hafen zu gewinnen. Auch zum Missfallen Memmedivs, wie Lillian annahm.

»Sobald Vasily den Eindruck bekam, dass ihn die regionalistische Regierung enttäuscht hatte, verriet er sie und machte mit uns gemeinsame Sache. Doch da die OSP jetzt das Joch lockert …«

»Sorgen Sie sich, dass er mit jemand anderem gemeinsame Sache macht. Aber wen gäbe es da?«

»Tatienische Separatisten«, meinte Flagg. »Man munkelt von einer Abspaltung.«

»Er wäre ein Narr. Die Miliz steht auf der Seite des Bundes.«

»Auf dem Papier. Glauben Sie wirklich, dass er sich freiwillig für diese Reise nach Anadh gemeldet hat, weil er Filme mag? Sie haben doch sicher eine Ahnung von Pulan Satris Vergangenheit?«

»Wobei ›Vergangenheit‹ das entscheidende Wort ist. Meines Wissens hat sie nach dem Tod ihres Vaters sein gesamtes Vermögen in das Studio gesteckt.«

»Das bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht einmischt, sondern nur, dass sie gelernt hat, Geheimnisse für sich zu behalten. Oder dass andere dies für sie tun.«

»Ich nehme an, dass Sie sie im Blick haben.«

Flagg schloss die Augen. »Das fällt hauptsächlich in Memmedivs Zuständigkeitsbereich. Eine weitere Aufgabe, für die er sich freiwillig gemeldet hat. Und jetzt, als Sie im letzten Augenblick zur Filmpremiere eingeladen werden, hebt er erneut die Hand.«

Im Laufe des Gesprächs wurde Lillian allmählich bewusst, dass sie nicht auf dem Weg in ihr Viertel waren, sondern die Stadt verließen. Hier in der äquatorialen Region war der Abend inzwischen ganz in die Nacht übergegangen. Sie folgten dem gewundenen Wasserlauf, fuhren an Reisfeldern vorbei, die sehnlichst auf die Winterüberschwemmungen warteten. Dunkelheit drückte gegen die Wagenfenster.

Lillian lehnte sich noch weiter zurück, damit man nicht sehen konnte, wie verkrampft ihre Haltung war. Die Hände faltete sie sittsam auf dem Schoß, ließ die Spannung in die Unterarme ziehen, nicht in die Fäuste.

»Fahren wir einen Umweg?«, fragte sie leichthin.

Auf ihren Scherz ging Flagg nicht ein. »Wenn mein Verdacht sich bestätigt, kann ich meinen Netzwerken nicht vertrauen, und auch niemandem in der Abteilung. Niemandem, der eng mit Memmediv zusammenarbeitet.«

»Deshalb führen wir dieses Gespräch unterwegs und nicht in der Botschaftskanzlei.«

»Genau.«

»Und der Fahrer?«, fragte sie, um das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Spricht kein Geddisch.«

»Aber mir vertrauen Sie«, sagte Lillian.

»Ich weiß genau, was für Sie auf dem Spiel steht.«

Mit aller Kraft beherrschte sie sich, um nicht zu fauchen oder sich die Haare zu raufen. Lillian biss sich auf die Unterlippe und erwischte exakt die wunde Stelle, die sie immer nutzte, wenn sie Gefahr lief, etwas Unkluges zu sagen oder zu tun. »Es tut mir leid, aber Ihrer Zielperson stehe ich nicht besonders nahe.«

»Das lässt sich ändern«, meinte Flagg. »Ab morgen Abend.«

Lillian rutschte das Herz in die Hose. »Ich bin Journalistin, Pressesekretärin. Keine Prostituierte.«

»Sie sind genau das, was ich brauche!« Flagg wurde nur selten laut, darum war Lillian wie vom Donner gerührt. »Er bietet mir eine Gelegenheit und ich werde sie nicht vergeuden.«

»Wie können Sie so etwas auch nur andeuten?«, fragte sie empört. Jede Woche ging Flagg in den Tempel. An hohen Feiertagen hatte sie ihn mit Aschestreifen auf den Handrücken gesehen, wenn er in den frühen Morgenstunden zur Gebetsstunde ging, um keine Arbeitszeit zu verpassen. Er trank und rauchte nicht. Soweit Lillian wusste – und mehr wollte sie ganz sicher nicht wissen –, war er seiner Frau treu. »Sie sind doch ein guter Herder.«

»Ja, aber Sie nicht«, entgegnete er. »Sie sollten keine Vorbehalte haben. Und falls doch …« Er griff in die Jackentasche und holte einen Briefumschlag heraus, der bereits geöffnet war.

Lillian betrachtete die Kleberänder der Lasche, die raue Kante, an der das Papier mit einem Messer durchtrennt worden war.

»Bald sind Sonnenwendferien«, sagte Flagg. »Ich nehme an, dass Sie ihn sehen wollen. Und er hat von Gedda offensichtlich die Schnauze voll.«

Lillian zog einige gefaltete Briefbögen heraus. Seit Jahresbeginn hatte sich Stephens Handschrift verbessert. Er hasste es, sich in Schönschrift zu üben, hier prangte allerdings jede Serife und jeder Strich ordentlich und gerade auf dem körnigen Papier. Es war die schriftliche Version seines mustergültigen Verhaltens und zugleich eine Bitte um Belohnung.

Subtil verzog Flagg den Mund. Wäre er jemand gewesen, der seine Gefühle offener zum Ausdruck brachte, hätte man es ein Lächeln nennen können, wenn auch kein freundliches. »Die Verhandlungen mit Tzieta sollten etwa zur Sonnenwende abgeschlossen sein, wenn alles nach Plan verläuft. Ich möchte diese Störungen im Vorfeld beenden. Falls Memmediv die Separatisten erfolgreich mit Waffen beliefert, macht das jede Chance auf einen Waffenstillstand zunichte. Konflikte an drei Fronten kann Gedda nicht bestreiten. Wir können nicht den Laufsteg ausmerzen, mit Liso kämpfen und gleichzeitig einen Bürgerkrieg führen.«

»Also liegt es in meiner Verantwortung«, meinte Lillian. »Wenn der Frieden hält, sehe ich meinen Sohn wieder?«

»Wenn Sie mir zum Ende des Herbsttrimesters von Cantrell etwas bieten können, kann ich Ihnen im Gegenzug vielleicht ebenfalls etwas bieten.«

Den Brief steckte sie in die Innentasche ihrer Jacke, wo er an ihrer Brust knisterte.

»Ach, und Ms. DePaul«, sagte Flagg. »Es wäre … furchtbar beschämend, wenn Ihre Aufgabe ans Licht käme. Ich möchte alles still und leise bereinigen und den Anschein von Ordnung vermitteln. Was meine Vorgesetzten in der Heimat angeht, sind Sie weiterhin nur die Presseattachée und Memmediv weiterhin mein loyaler Stellvertreter.«

»Selbstverständlich«, bekräftigte sie und wünschte sich, dass es der Wahrheit entspräche.

Flagg setzte Lillian an den Eingangsstufen ihres Hauses ab. Obwohl in anderen Vierteln von Myazbah vermutlich noch das Nachtleben pulsierte und Märkte stattfanden, war in ihrer Straße außer den Grillen und dem gelegentlichen Gesang einer Nachtigall nichts zu hören.

Lillian hoffte, dass ihre Hausmeierin, Waleeda nicht auf sie gewartet hatte, vor allem nach dem langen Umweg. Gezwungenermaßen hatte Lillian sie bereits zu häufig bis spät in die Nacht wach gehalten, darum wollte sie es auf keinen Fall ohne triftigen Grund tun. Wahrscheinlich ließ Waleeda sich von irgendjemandem bestechen, genau wie alle anderen Mitarbeiter Lillians, doch das war nur ein Grund mehr, sie respektvoll zu behandeln. Saure Milch brachte keine Katze zum Lächeln.

Lillian wählte nicht den Vordereingang, sondern schloss das Seitentor auf und schlüpfte durch einen kühlen, engen Bogengang in den Innenhof. Von der gewölbten Decke hallte das Plätschern des Brunnens wider, die Abendluft war von Jasminduft geschwängert.

Seufzend ließ sie sich auf eine Bank unter einem Überhang aus Zieroregano sinken. In den letzten Jahren hatte sich der Innenhof zu ihrem Lieblingsort im Haus entwickelt. Er schenkte ihr die Hoffnung, dass irgendwo, weit hinter den von ihr errichteten Mauern, begraben unter Druck und Angst, noch Stille und Schönheit existierten.

Sie holte Stephens Brief aus der Tasche und strich ihn auf dem Knie glatt.

Liebe Mummy, so fing er an und stieg direkt in einen detailreichen Bericht über die Bowlingpartie am Trimesterende ein, die sein Team in nicht geringem Ausmaß dank seines scharfen Auges und seiner raffinierten Wurftechnik gewonnen hatte.

Lillian lachte auf. Ganz offensichtlich hatte er die Bescheidenheit von seinem Vater geerbt – nämlich überhaupt keine. Dieser Gedanke ließ sie ernst werden. Schwereren Herzens und mit zitternder Hand las sie weiter.

Im ersten Jahr hatten Stephens Briefe – kurze Nachrichten in krakeligen Großbuchstaben – geradeheraus gebettelt: Mummy, du fehlst mir. Wann kann ich nach Hause kommen? Nun hatte sich seine Taktik verändert und er versuchte zu feilschen und zu manipulieren.

Muss ich zur Sonnenwende wieder bei Mrs. Hallerlight bleiben?, schrieb er. Bei ihr gibt es jeden Abend Kartoffeln und angebranntes Hammelfleisch, und im Haus ist es sehr feucht und kalt. Am Ende des Sommers habe ich sie gefragt, ob ich wiederkommen muss, und sie hat gesagt, dass das von dir abhängt und du viel zu tun hast und ich da im Weg sein würde.

Dieses Spiel ging er sehr geschickt an – schließlich war er der Sohn einer Diplomatin und eines Höflings, also lagen ihm solche Strategien im Blut. Doch es wäre nicht nötig gewesen. Lillian wollte ihn wieder hier im Land haben, wenn auch nur für die Sonnenwendferien.

Wenn sie die Wahl gehabt hätte, hätte sie ihn dennoch nach Cantrell geschickt, schließlich hatten alle DePaul-Kinder stets diese Schule besucht. Ihr Name stand auf einer Plakette des Debattierclubs im Trophäensaal. An der Wand des Direktorzimmers sah man sie und Cyril auf Gruppenfotos der Abschlussklassen in schwarzen Roben. Ihr Vater war dort gewesen, genau wie ihre berühmte Großmutter (von Letzterer hing in der Bibliothek ein hübsches Ölgemälde, denn sie hatte dort eine historische Sammlung gestiftet).

Doch Lillian hatte keine Wahl gehabt. Nach Flaggs Ankunft hatte seine erste Amtshandlung darin bestanden, Stephen aus Lillians Haus zu holen und ihn hinter den hohen Backsteinmauern von Geddas angesehenster Schule wegzusperren. Seitdem hatte sie ihn nur wenige Male zu Gesicht bekommen, stets mit der stillen Mahnung, dass diese Besuche durch die Gnade der OSP stattfanden. Und wenn sie wollte, dass diese auch in Zukunft stattfanden, musste sie lächeln und nicken und gelegentlich seinen Vater besuchen, um an den Zügeln zu zupfen und ihn wissen zu lassen, dass sein Kopf nicht ihm gehörte.

Lillian sorgte sich, wie die anderen Kinder in Cantrell wohl mit ihrem Sohn umgingen. Sie und Cyril waren wegen des Gewürzkrieges gehänselt worden. Ihre Großmutter hatte durch ihr entschlossenes Handeln enge Verbündete gewonnen, daneben jedoch auch erbitterte Feinde. Und an der Universität hatte Cyril sich zum Narren gemacht, die Gerüchte hatten kein Ende genommen. Glücklicherweise war er anschließend dermaßen in die Bedeutungslosigkeit abgetaucht, dass der Skandal großteils in Vergessenheit geraten war. Dafür wollte sie nicht dankbar sein: Hätte Cyril sich weiterhin in aller Öffentlichkeit Fehltritte erlaubt, wäre vielleicht noch etwas von ihrer Familie übrig.

Und wenn er nicht in den Schatten operiert hätte, wäre sie gar nicht erst in dieser Situation. Seine Ausfertigung ihres Testaments enthielt zusätzlich einen versiegelten Brief an Stephen. Nicht einmal ihr Bruder hatte gewusst, was darin stand. Doch das Siegel war den Füchsen nicht heilig gewesen, als diese nach seinem Tod seine Sachen durchsucht hatten, und so war der Inhalt durch mehrere Sicherheitsüberprüfungen gerast und schließlich auf Maddox Flaggs Schreibtisch gelandet, des neuen Leiters der CIS-Zweigstelle in Myazbah.

Kinder besaßen kein Taktgefühl, darum würden Stephens Klassenkameraden ihm garantiert unangenehme Fragen stellen: Wenn deine Mummy aus Gedda kommt, warum bist du dann so dunkel? Warum hat sie dich so weit weggeschickt? Wo ist dein Daddy? Ist er Porachiner?

Stephens Antworten wären nur teilweise gelogen und er wüsste es nicht besser, da sie es ihm nie erzählt hatte. Weil sie noch am Leben war, würde er den Brief niemals sehen. Weil Cyril gestorben war, hatte Flagg es getan. Und weil sie einst den falschen Mann geliebt und er ihr ein Kind geschenkt hatte, würde sie nun vorgeben, einen anderen zu lieben, und hoffen, dass er ihr Geheimnisse verriet, die sie gegen ihren Sohn eintauschen konnte.

KAPITEL

3

Aristide stand am Mansardenfenster von Pulans Boudoir und seufzte gereizt auf. »Wir müssen los, Pulan, sonst haben wir in der Stadt nicht einmal Zeit, uns umzuziehen oder etwas zu essen. Wenn du noch länger brauchst, verpasst du deinen eigenen dämlichen Film.« Unten in der Wendeschleife dirigierte Daoud einen doppelt so großen Chauffeur beim Einladen des Gepäcks. Auf dem Kies standen Aristides blauviolette Ledertaschen, darauf gestapelt Daouds kleinere, unscheinbarere Koffer. Hoffentlich hatte er an alles gedacht, doch falls nicht, konnte man auch in Anadh noch Zahnbürsten und Unterwäsche erwerben.

»Mein Film ist nicht dämlich. Jede Rezension bezeichnet Katunjaan als grandiosen Erfolg.« Pulan öffnete einen Lippenstift, betrachtete ihn und entschied sich dann für einen anderen Farbton.

Aristide verdrehte die Augen. Er hatte sich bereits vor zwanzig Minuten fertig angezogen und seit dem Vorabend alles gepackt. Dass Pulan für ihre Vorbereitungen dermaßen lange brauchte, verschaffte ihm einerseits Genugtuung, ärgerte ihn allerdings auch ein wenig. Ging es anderen Leuten so, wenn er sie warten ließ?

»Das sagt man so, tut mir leid«, meinte er. Pulan sprach zwar fließend Geddisch, doch manchmal entgingen ihr die Zwischentöne. »Können wir bitte abfahren? Je schneller dieser Tag zu Ende geht, desto schneller kann ich mich an der Kleiderstange aufhängen.« Nicht, dass er das täte – was für ein entwürdigendes Ende. Wenn schon, dann bitte Tabletten oder ein Revolver.

»Damit würdest du zwar ganz sicher die Klatschblätter in Erregung versetzen und für hervorragende Presse sorgen«, sagte Pulan, »aber mir wäre es doch lieber, wenn du dich in einem Sumpf aus Sex, Drogen und Alkohol ertränkst.«

»Willst du damit sagen, dass du mich vermissen würdest?«

Als sie von ihrem Schminktisch aufstand, rauschte die Seide ihres Kleides. »Damit will ich sagen, dass ich es lieber nicht herausfinden will.«

»Nun ja, du musst mindestens eine Woche lang ohne mich auskommen. Ich habe in Anadh einige Reservierungen getätigt. Wenn diese ganze scheußliche Angelegenheit beendet ist, freue ich mich sehr auf meinen Urlaub.«

»Ganz ehrlich«, meinte Pulan und nahm ihren kleinen Koffer. »Du bist nicht der größte Verlust. Die Diener von der Agentur sind nie so gut wie Daoud.«

»Die Dienste, die er mir erbringt«, erwiderte Aristide, »sorgen dafür, dass ich nach meiner Rückkehr deutlich weniger mürrisch sein werde.«

»Und allein aus diesem Grund habe ich ihm erlaubt, dich zu begleiten. Bei der Arbeit an diesem Film bist du ein echtes …« Sie verzog den Mund. »Monster?«

»Monster«, stimmte er zu.

»Monster gewesen.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich nie dafür verantwortlich sein wollte«, fauchte er. Wie oft hatte er genau diese Worte in ebenjenem Ton gesagt … »Ich weiß nicht, warum du darauf bestanden hast.«

»Weil du Geddaner bist«, sagte Pulan, ebenfalls zum tausendsten Mal. »Ein Emigrant, aus deiner Heimat vertrieben. Das ist romantisch. Die Leute lieben so was.«

»Ich weiß«, gab Aristide unglücklich zu. Die Produktion und die anschließende Hetze in der Klatschpresse hatten extrem an ihm gezehrt, doch er hatte sie wie ein Herder-Büßer in Kutte und voller Aschestreifen ertragen, der hungernd auf einem kalten Steinboden ausharrte. Ja, er hatte gut gegessen und auf Seidenlaken geschlafen, doch seelische und geistige Qualen verdarben selbst den größten Luxus. »Warum der Gewürzkrieg? Warum keine Liebesgeschichte oder Musikkomödie? Ich hätte mit allem arbeiten können.«

»Ich weiß, dass du keine Nachrichten liest«, sagte Pulan, »und eine ungesunde Abneigung gegen das Radio hast, aber die aktuelle politische Situation kann an dir nicht völlig vorbeigegangen sein. Liso steht kurz davor, wieder in den Krieg zu ziehen, an der Grenze kommt es täglich zu Kämpfen. Der Film ist brandaktuell. Außerdem wollte Inaz unbedingt an einem dramatischen Stoff arbeiten, die Leute dachten allmählich, dass sie nur geistlose und erotische Rollen spielen könnte. Aber als Generalin Ojo ist sie hervorragend.«

Das war sie. Und ein atemberaubender Gegensatz zur Grande Dame Phoebe Francis, die als ihre Gegenspielerin, die geddische Strategin Margaretta DePaul, besetzt worden war.

Nach etwas mehr als drei Jahren als Regisseur bei Hadhariti Studios hatte Aristide geglaubt, auf festem Grund zu stehen. Doch mit diesem Film hatte Pulan ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein besonderes Projekt für ihn, hatte sie gesagt. Nur er könnte ihm Genüge tun. Als er herausgefunden hatte, worum es ging, wollte er ihr Genüge tun. Auf die unsanfte Art.

Pulan wusste kaum etwas darüber, was ihn aus Gedda vertrieben hatte. Ganz sicher wusste sie nichts über Cyril. Und er wollte von ihr nicht noch mehr Mitleid, als er bereits über sich ergehen lassen hatte, nachdem er arbeits- und staatenlos vor ihrer Tür aufgetaucht war. Also hatte er die Zähne zusammengebissen und den Film gedreht. Und er hatte gute Arbeit geleistet.

Natürlich waren die Ospies fuchsteufelswild, mussten es aber aus diplomatischen Gründen verbergen. Schließlich drehte Pulan nur Filme, was in keinem vernünftigen Land gegen das Gesetz verstieß. Und auch wenn Caleb Acherbys Regierung in Gedda mit harter Hand gegen künstlerische Freiheit und politische Kritiker vorging, stellte ein Film über den Gewürzkrieg in Porachis lediglich exotische historische Unterhaltung dar.

Doch das war er ganz und gar nicht. Unter dem Deckmantel der glaubhaften Abstreitbarkeit handelte es sich um gezielte Kritik. Acherby hatte einige Wahlkampfversprechen fallen lassen, um sich an der Grenze zwischen dem Königreich Liso und der vermeintlichen Demokratie im Norden stärker einzumischen. Oberflächlich betrachtet handelte es sich um schärfere Maßnahmen gegen den Handel mit Betäubungsmitteln, Aristide hingegen witterte einen Akt der Vergeltung. Im Vormonat war von einer haarigen Situation berichtet worden, die beinahe zu Kämpfen geführt hatte, doch er hatte sich fein herausgehalten. Allerdings war ein beliebter porachinischer Film, der Royalisten früherer Zeiten in einem romantischen Licht darstellte, ganz eindeutig das Letzte, was sich die Ospies angesichts der hochkochenden Spannungen wünschten.

Zwischen Liso und Porachis bestand seit Jahrhunderten ein Bündnis, durch Ehen gefestigt und mit Blut getränkt. Dieser Tage drückte es sich in Verträgen und sorgsam neutral formulierten Pressemitteilungen aus, doch unterschwellig galt stets: Wer sich mit Porachis anlegte, legte sich mit Liso an und umgekehrt. Heutzutage bezog sich das auf die Monarchie – Gedda stand bei den Porachinern auf der schwarzen Liste, seit es sich erstmals in den Gewürzkrieg eingemischt hatte, und vor allem, nachdem es die Aufspaltung Lisos in zwei Teile ausgehandelt, den Norden der Kontrolle der Königsfamilie entrissen und ihn dabei unterstützt hatte, ein System aufzubauen, das man höchstens an guten Tagen als Demokratie bezeichnen konnte.

Also konnte Aristide sich gewissermaßen bei Cyrils Familie für sein Asyl bedanken.

An den Stufen erwartete sie Daoud, die Leinenhose zerknittert, ein Staubflecken auf der gelben, gestrickten Baumwollweste. In porachinischer Kleidung sah Aristide ihn selten, er vermutete, dass es an seiner Statur, seinem Aussehen und seinem Platz in der Gesellschaft lag. Als schlanker junger Mann mit Wimpern wie ein Kamel und einem Mund wie eine reife Feige, der sich den Respekt anderer Leute erarbeiten wollte, schien Daoud sich für maskuline, ausländische Mode als Mittel entschieden zu haben, um das einzufordern, was ihm nur wenige Menschen zollten.

Jedenfalls schmeichelte sie seiner Figur.

Unter den hochgekrempelten Ärmeln kamen zarte Unterarme zum Vorschein, auf denen sich die Sehnen einer geübten Schreibkraft abzeichneten, außerdem eine zweckmäßige Armbanduhr aus Leder und Stahl. Auf diese warf Daoud demonstrativ einen Blick, als Aristide und Pulan in die drückende Nachmittagshitze traten.

»Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr«, sagte er auf Geddisch statt Porashtu. Das bedeutete, er war wütend und wollte sichergehen, dass Aristide ihn verstand. »Pramit verbrennt hier draußen seit fast zwanzig Minuten Benzin, weil er den Motor laufen lässt.«

»Tut uns furchtbar leid.« Aristide tippte mit dem Fingernagel auf Daouds grässliche Uhr. In Anadh würden sie ein paar Einkäufe erledigen müssen, falls er diesen Abend überlebte. »Jemand musste sich noch die Nase pudern und ausnahmsweise war ich es nicht.«

Daoud warf Pulan einen giftigen Blick zu, doch diese zuckte mit Unschuldsmiene die Schultern, als wäre sie ein naives junges Ding mit großen Augen und keine vierzigjährige Führungskraft. »Also echt, ihr beiden!« Er warf die Hände in die Luft und scheuchte sie zum Wagen.

»Mach lieber etwas langsamer«, mahnte Daoud und legte die Hand an den Stiel von Aristides Cocktailglas. Er sprach leise, damit er bei dem Gelächter und den Gesprächen ihrer Tischnachbarn nicht zu hören war, und im Gegensatz zu ihrem zischenden Porashtu auf Geddisch. »Auf dem roten Teppich werde ich nicht da sein, um dich aufzufangen, wenn du stolperst.«

Gereizt entzog Aristide ihm das Glas. »Prinz Asiyah hält sich auch nicht gerade zurück.«

»Seine Königliche Hoheit kann sich bei Inaz abstützen.« Daoud nahm Aristide den Martini ab und tauschte ihn gegen sein eigenes Glas Wasser aus.

Am anderen Tischende kippte Prinz Asiyah Sekibou, ein unbedeutender Spross ganz am Ende der lisoanischen Thronfolge, ein weiteres Schnapsglas Sorghumwhiskey hinunter und zog seine Geliebte noch enger an sich.