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Armut im Alter E-Book

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Beschreibung

Altersarmut ist ein Problem, das häufig mit der Alterung unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht wird. Die drohende Verarmung von Millionen älteren Menschen in Deutschland ist aber vor allem auf sinkende Reallöhne, den expansiven Niedriglohnsektor, entsprechende Reformen des Arbeitsmarktes und eine falsche Rentenpolitik zurückzuführen: Mit der Riester-Reform und weiteren Maßnahmen (Aussetzung der jährlichen Rentenanpassung, Beendigung der Beitragszahlungen für Langzeitarbeitslose usw.) wurde das für den Sozialstaat grundlegende Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben. Absehbare Folgen sind eine noch stärkere Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie eine »Reseniorisierung« der Armut. In diesem Band geben Expertinnen und Experten erstmals einen Überblick über die aktuellen Risiken, Erscheinungsformen und Ursachen von Altersarmut in Deutschland. Darüber hinaus diskutieren sie ein ganzes Bündel möglicher Maßnahmen für eine gerechte und solidarische Alterssicherung.

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Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach, Matthias W. Birkwald (Hg.)
Armut im Alter
Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Altersarmut wird häufig mit der Alterung unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht. Die drohende Verarmung von Millionen älterer Menschen in Deutschland ist aber vor allem auf sinkende Reallöhne, den expansiven Niedriglohnsektor, entsprechende Reformen des Arbeitsmarktes und eine falsche Rentenpolitik zurückzuführen: Mit der Riester-Reform und weiteren Maßnahmen wurde das für den Sozialstaat grundlegende Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben. Absehbare Folgen sind eine noch stärkere Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie eine »Reseniorisierung« der Armut.
In diesem Band geben Expertinnen und Experten erstmals einen Überblick über die aktuellen Risiken, Erscheinungsformen und Ursachen von Altersarmut in Deutschland. Darüber hinaus diskutieren sie ein ganzes Bündel möglicher Maßnahmen für eine gerechte und solidarische Alterssicherung

Inhalt

Einleitung
I Altersarmut gestern, heute und morgen
Die Entwicklung des Sozialstaates, Reformen der Alterssicherung und die (Re-)Seniorisierung der Armut
Christoph Butterwegge
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesetzlichen Rentenversicherung: Verhinderung von Armut im Alter?
Winfried Schmähl
Altersarmut und Rentenreformvorschläge: Fallstricke einer einseitigen Debatte
Gerhard Bäcker
Armut im Alter – ein Problem von gestern?
Zur ideologischen Entsorgung der wachsenden sozialen Ungleichheit
Otker Bujard
II Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Altersarmut
Der Arbeitsmarkt als Armutsfalle
Sind die Beschäftigten von heute die Altersarmen von morgen?
Jutta Schmitz
Altersarmut ist überwiegend weiblich
Frauen als Hauptleidtragende des Sozialabbaus
Carolin Butterwegge und Dirk Hansen
Die Entwicklung der Alterseinkünfte in Ostdeutschland: Wende zum Besseren oder Wende zur Armut?
Alfred Spieler
Gesundheitliche Ungleichheit im Alter – ein Armutszeugnis
Antje Richter-Kornweitz
III Demografischer Wandel, »Generationengerechtigkeit« und Teilprivatisierung der Altersvorsorge
Altersarmut und Methusalem-Lüge
Wie die Senkung des Rentenniveaus mit demografischen Mythen begründet wird
Ernst Kistler und Falko Trischler
Altersarmut in einem reichen Land
Zur Logik eines scheinbaren Widerspruchs
Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff
»Generationengerecht« in die Altersarmut
Daniel Kreutz
Rentenpolitik unter Druck
Einflussnahme und Lobbying der Finanzbranche am Beispiel der Riester-Rente
Diana Wehlau
IV Zivilgesellschaftliche Positionen und Aktivitäten gegen Altersarmut
Soziale Sicherheit im Alter – eine Frage der Solidarität!
Annelie Buntenbach
Der Neue Generationenvertrag als Grundlage einer solidarischen Alterssicherung
Hans-Jürgen Urban und Axel Gerntke
Die Gesetzliche Renten- zur Erwerbstätigenversicherung fortentwickeln!
Adolf Bauer
Tafeln gegen Altersarmut?
Grenzen privater Wohltätigkeit in der »Freiwilligengesellschaft«
Luise Molling und Stefan Selke
V Vorschläge aus Parteien in der Diskussion
Sozialdemokratische Konzepte zur Sicherung des Lebensstandards und zur Bekämpfung von Altersarmut
Anton Schaaf und Andrea Franz
Randnotizen zum Rentendisput in der SPD
Ottmar Schreiner und Cansel Kiziltepe
Die Grüne Bürgerrente gegen Altersarmut – garantiert für alle
Wolfgang Strengmann-Kuhn und Dirk Jacobi
Für ein von Armut freies Leben im Alter!
Die Solidarische Mindestrente im Rentenkonzept der LINKEN
Matthias W. Birkwald und Christian Brütt
Daten zur Altersarmut in Deutschland und Europa
Literaturauswahl
Abkürzungsverzeichnis
Autor(inn)en

Einleitung

Während der vergangenen Dekaden galt Armut im Alter hierzulande eher als gesellschaftliche Randerscheinung. Jüngst ist sie jedoch wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung am 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die sie in Anspruch nehmen (müssen), deutlich erhöht. Kein Wunder, dass es immer mehr Ruheständler/innen gibt, die einem Minijob nachgehen. Vielerorts gehören Senior(inn)en, die frühmorgens Zeitungen austragen oder in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, denn auch längst zum »normalen« Stadtbild.
Da die soziale Lage vieler Älterer zu dramatisch ist, um länger totgeschwiegen werden zu können, verweisen etablierte Parteien, Massenmedien und Wissenschaftler zu ihrer Rechtfertigung meist auf die demografische Entwicklung. Wenn die Gesellschaft insgesamt altert und immer mehr gesetzliche Renten über einen immer längeren Zeitraum gezahlt werden müssen, weil die Lebenserwartung der Ruheständler/innen steigt, sind Kürzungen des Rentenniveaus scheinbar unausweichlich. Reformansätze wie die sog. Riester-Rente der Regierung Schröder/Fischer, Ursula von der Leyens »Zuschussrente« oder die »Solidarrente« der SPD bilden jedoch keine sinnvolle Alternative zu einer gesetzlichen Rente, die den Lebensstandard im Alter sichert und Armut verhindert. Denn je größer das Risiko ist, im Alter arm zu werden, desto weniger greifen die genannten Instrumente.
Als die etablierten Parteien das Prinzip der Lebensstandardsicherung bei der gesetzlichen Rente aufgaben, Formen der privaten Altersvorsorge in den Mittelpunkt rückten und eine »neue« Arbeitsmarktpolitik praktizierten, wurden die Weichen in Richtung vermehrter Altersarmut gestellt. Lückenhafte Erwerbsverläufe durch Mehrfach- und Langzeiterwerbslosigkeit, Niedriglöhne und erzwungene Teilzeitbeschäftigung mit entsprechend geringen Beitragszahlungen sowie die Kürzungsfaktoren in der gesetzlichen Rentenformel werden in Zukunft noch tiefere Spuren hinterlassen. Die versproche|9|nen Erträge privater Renten dürften für viele Menschen selbst bei stabilen Finanzmärkten kaum ausreichen, um ein Leben im Alter jenseits von Armut führen zu können. Dies wird vor allem die Einkommensschwächeren treffen.
Dieses Buch behandelt im ersten Kapitel grundlegende Aspekte des Themas. Dort wird nicht nur die Entwicklung des Sozialstaates, der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Altersarmut nachgezeichnet, sondern auch ihr Verhältnis zueinander diskutiert und Reformbedarf angedeutet. Das zweite Kapitel ist den Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Armut im Alter gewidmet. Es geht um die Rolle des Arbeitsmarktes sowie den Einfluss des Geschlechts und der räumlichen Herkunft. Ein Beitrag zu gesundheitlichen Konsequenzen von Armut ergänzt diesen Teil. Im dritten Abschnitt werden bekannte Erklärungsansätze unter die Lupe genommen. Mehrere Autoren widerlegen die üblichen Begründungsmuster für Altersarmut wie Demografie, mangelnde »Generationengerechtigkeit« und ökonomische Sachzwänge. Nicht unerwähnt bleiben auch die von den Privatisierungsgewinnern im Rentenreformprozess angewandten Methoden zur Durchsetzung ihrer Interessen. Im vierten Abschnitt wird die Situation aus der Sicht mehrerer Organisationen beschrieben. Repräsentant(inn)en des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), des DGB und der IG Metall knüpfen daran Überlegungen, wie das Problem gelöst werden kann. Eine wissenschaftliche Analyse der beschränkten Möglichkeiten privater Wohltätigkeit komplettiert dieses Kapitel. Der fünfte Abschnitt enthält Einschätzungen und Alternativvorschläge führender Renten- und Sozialpolitiker von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der LINKEN. Eine kommentierte Datensammlung, eine Auswahlbibliografie, ein Abkürzungsverzeichnis und eine Kurzvorstellung der Verfasser/innen schließen den Band ab.
Den beteiligten Autor(inn)en sind wir für die konstruktive Zusammenarbeit dankbar. Durch ihre unterschiedlichen Sichtweisen konnten viele Facetten des Themas beleuchtet werden. Hoffentlich ist uns damit ein kleiner Schritt in eine solidarischere Zukunft gelungen. Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag danken wir herzlich für die Betreuung und intensive Unterstützung unseres Buchprojekts.
Köln, im Herbst 2012
Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald|10|
Teil I
Altersarmut gestern, heute und morgen
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Die Entwicklung des Sozialstaates, Reformen der Alterssicherung und die (Re-)Seniorisierung der Armut (Christoph Butterwegge)

Um das Problem der steigenden Armut im Alter, seine Ursachen und Folgen für die Betroffenen wie die Gesellschaft insgesamt zu analysieren, sollte man nach einem Blick auf Entstehung, Entwicklung und Struktur der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) drei Ebenen betrachten.1 Auf der institutionellen Ebene haben Strukturveränderungen des Sozialstaates im Allgemeinen und Reformen des Alterssicherungssystems im Besonderen das Armutsrisiko von Ruheständler(inne)n zuletzt deutlich erhöht. Auf der diskursiven Ebene wird der demografische Wandel bevorzugt als Erklärung von und zugleich als Rechtfertigung für jene Reformmaßnahmen missbraucht, die Altersarmut in Zukunft wahrscheinlich vermehrt auftreten lassen. Auf der strukturellen bzw. materiellen Ebene schließlich dürften die Auswirkungen des Sozialabbaus im Alter besonders drastisch spürbar werden, denn von Leistungseinschnitten existenziell Betroffene sind weniger als Jüngere in der Lage, Einschränkungen ihres Lebensstandards durch Ausweitung ihrer sozialen Netzwerke zu kompensieren.

1. Ausbau des Sozialstaates und der Altersvorsorge nach 1945

Das im Kaiserreich begründete mehrgliedrige Wohlfahrtsstaatssystem mit der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Gesetzlichen Unfallversicherung sowie der während der Weimarer Republik ergänzend geschaffenen Arbeitslosenversicherung als Kerninstitutionen wurde in der 1949 gegründeten Bundesrepublik beibehalten und relativ zügig ausgebaut. Konrad Adenauer kündigte nach seiner Bestätigung|13| als Kanzler durch die Bundestagswahl 1953 eine »umfassende Sozialreform« an, mit der alle bisher noch benachteiligten Gesellschaftsschichten besser abgesichert werden sollten. Was nach einem Gesamtkonzept klang und ein großer Wurf werden sollte, beschränkte sich nach jahrelangem Tauziehen innerhalb der Regierungsparteien jedoch auf den Bereich der Alters- und Invaliditätssicherung.2
Adenauer machte die Einführung des Umlageverfahrens, das die weitverbreitete Altersarmut zurückdrängen sollte, zum Wahlkampfschlager und brachte die Große Rentenreform im Januar/Februar 1957 mit Unterstützung seiner eigenen Fraktion, der FVP und der SPD, aber gegen die (seit kurzem gleichfalls in der Opposition befindliche) FDP und bei Stimmenenthaltung der meisten DP-Parlamentarier zum Abschluss.3 Das seit der Bismarck-Zeit angewandte Kapitaldeckungsprinzip wurde durch ein modifiziertes Umlageverfahren ersetzt und die Altersrente dynamisiert, d.h. der Lohn- und Gehaltsentwicklung angepasst. Während man die Arbeiter im Leistungsrecht den Angestellten gleichstellte, entfielen Mindestrenten, Grundbeträge und die Möglichkeit einer freiwilligen Mitgliedschaft (»Selbstversicherung«). Bei der Bundestagswahl am 19. September 1957 erreichten CDU und CSU die absolute Mehrheit der Zweitstimmen, was bis heute nie wieder einer Partei gelang und sowohl unter Demoskopen als auch in Fachkreisen auf die Rentenpolitik des Kanzlers zurückgeführt wurde.4
Besonders stark von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen waren damals ältere Frauen, die keine oder nur geringe Rentenansprüche hatten. Über ein Jahrzehnt nach Kriegsende hausten immer noch zahlreiche Greisinnen auf Trümmergrundstücken und in feuchten Kellern, wo es kalt und die Nahrung knapp war. »Stellten Personen im Rentenalter einen Großteil derjenigen, die in den 1950er Jahren kommunale Fürsorgeleistungen bekamen, so reduzierte sich ihre Zahl bereits im Jahr des Inkrafttretens drastisch.«5 Nicht alle Senior(inn)en profitierten allerdings von der Umstellung des Rentensystems, das sich jetzt stärker am Äquivalenzprinzip orientierte: Haupt|14|gewinner waren gut verdienende Angestellte mit einer kontinuierlichen Erwerbsbiografie, Hauptverliererinnen berufstätige Frauen, die weder ein hohes Gehalt noch lange Beitragszeiten aufwiesen. Vermutlich wurde die positive Wirkung des Reformwerks auf die soziale Lage der älteren Menschen überschätzt: »Auch nach der Rentenreform von 1957 war eine große, zu große Zahl von Renten noch als Zuschuß zu anderweitigen Einkommen und nicht als existenzsichernder, geschweige den Lebensstandard sichernder Lohnersatz bemessen.«6
Das relativ kontinuierliche Wachstum der Wirtschaft, die allgemeine Wohlstandsentwicklung und der Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus schufen in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren ein für die Rentenpolitik ausgesprochen günstiges Klima, wie sie überhaupt verhältnismäßig generöse Leistungen für sozial Benachteiligte und Bedürftige ermöglichten. Unterschiedlich zusammengesetzte Bundesregierungen setzten die Traditionslinie der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung fort, wodurch Armut in Westdeutschland zwar keineswegs beseitigt, aber für mehrere Jahrzehnte eher zu einer gesellschaftlichen Rand(gruppen)erscheinung wurde.7
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges überboten sich die Parteien geradezu im Hinblick auf soziale Versprechungen. Mehr als jeder andere diente der bundesdeutsche, direkt an der Grenzlinie zwischen zwei miteinander um Akzeptanz konkurrierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen gelegene Wohlfahrtsstaat als soziales »Schaufenster des Westens« gegenüber dem Osten. Diether Döring macht zu Recht auf die Schlüsselrolle der Systemkonkurrenz für die Weiterentwicklung des Sozialstaates aufmerksam: »Viele wegweisende Sozialreformen der 50er und 60er Jahre, die in ihrer Summe den Gehalt der Sozialstaatlichkeit der alten Bundesrepublik ausmachten, wurden auch mit Blick auf den östlichen Teil Deutschlands durchgeführt. Die Existenz eines anderen Gesellschaftssystems zwang faktisch die Bundesrepublik, ein sozialeres Profil auszubilden, als dies vermutlich ohne diese Konstellation der Fall gewesen wäre.«8
Im westdeutschen Nachkriegskapitalismus, der meist als »Soziale Marktwirtschaft« bezeichnet wurde und bis zur Rezession 1966/67 vom schnellen Rückgang der Massenarbeitslosigkeit und vom halbwegs krisenfreien Wachstum des »Wirtschaftswunders« geprägt war, galt die Rente noch als|15| »verdienter Lohn für Lebensleistung«, auf die man einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch hatte, um im Ruhestand keine Abstriche vom gewohnten Lebensstandard hinnehmen zu müssen. Seinerzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Senkung des Rentenniveaus vorzuschlagen, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen auch damals schon kontinuierlich stieg und sich die Finanzierung der Altersrenten daher trotz bis zum sog. Pillenknick um die Mitte der 1960er-Jahre relativ hoher Geburtenraten schwieriger gestaltete. Schließlich war es völlig unbestritten, dass man den ökonomischen Wiederaufstieg allen Generationen zu verdanken hatte, die im als vorbildlich gepriesenen (west)deutschen Sozialstaat auch nach Beendigung ihres Erwerbslebens am steigenden Volkswohlstand partizipieren sollten.
Fortschrittlich war auch die zweite, von der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt verwirklichte und eng mit dem Namen seines Arbeits- und Sozialministers Walter Arendt verbundene Rentenreform. Nunmehr konnten langjährig Versicherte schon mit 63 Jahren ohne Leistungsabschläge in den Ruhestand gehen (Einführung der flexiblen Altersgrenze), die sog. Rente nach Mindesteinkommen (Anhebung der Entgeltpunkte von Geringverdienern auf 75 Prozent des Durchschnitts) verringerte das Risiko der Altersarmut für diese Gruppe, Müttern wurde bei der Rentenberechnung ein »Babyjahr« gutgeschrieben und die GRV für Selbstständige, mithelfende Familienangehörige und nicht erwerbstätige Frauen geöffnet. Jens Albers Bewertung dieses Reformwerks spricht denn auch für sich: »Die Rentenreform von 1972 ist das einzige Beispiel einer sozialpolitischen Gesetzgebung, in der der Versuch der Parteien, sich im Kampf um Wählerstimmen zu übertrumpfen, zu einer Addition fast sämtlicher Expansionsvorhaben führte.«9 Zumindest zeitweilig gab es eine »Allparteienkoalition« der Sozialpolitiker/innen im Bundestag, was aber nicht mit grenzenloser Großzügigkeit ihrer Fraktionen zu erklären ist, sondern in der günstigen Konjunkturentwicklung, erfolgreichen Kämpfen der Gewerkschaftsbewegung unter Einschluss spontaner Arbeitsniederlegungen (Septemberstreiks 1969) sowie einer mittlerweile gefestigten Wohlfahrtskultur der Bundesrepublik begründet lag.|16|

2. Vom Modellfall zum Auslaufmodell? – Sozialstaatsentwicklung und Alterssicherung in der Krise

Zu einer historischen Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung führte die Weltwirtschaftskrise 1974/75, denn seither fand mit Ausnahme einzelner Leistungsverbesserungen im Bereich der Familienpolitik und der Einführung der Pflegeversicherung kein weiterer Ausbau des sozialen Sicherungssystems mehr statt.10 Stattdessen wurden zahlreiche Transferleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft und Kontrollmaßnahmen intensiviert.
Otker Bujard und Ulrich Lange konstatierten 1978 in ihrem Buch Armut im Alter, die sich nunmehr verfestigte, mit Blick auf den damaligen Diskussionsstand: »Die Frage nach den Ursachen wird weitgehend ausgeblendet.«11 Stattdessen dominierten individuelle Schuldzuweisungen: Man warf und wirft den Betroffenen immer noch vor, während ihres Erwerbslebens nicht ausreichend vorgesorgt zu haben. Ist die Altersarmut ein gesellschaftliches Problem, können jedoch nur strukturelle Veränderungen erklären, warum Senior(inn)en in einem reichen Land wie der Bundesrepublik zunehmend von Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Den analytischen Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklung bilden Wandlungsprozesse im bestehenden Wirtschafts- bzw. Gesellschaftssystem, darunter nicht zuletzt der »Um-« bzw. Abbau des Sozialstaates. Die steigende Altersarmut ist das Ergebnis der Krisenhaftigkeit des Gegenwartskapitalismus, der Massenarbeitslosigkeit, eines deregulierten Arbeitsmarktes, der dadurch geförderten Prekarisierung vieler Beschäftigungsverhältnisse sowie von Reformen der Alterssicherung, mit deren Hilfe mehrere Bundesregierungen das Rentenniveau sukzessive gesenkt haben.
Vor allem das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Gesetz zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung brachte für die Versicherten spürbare Verschlechterungen mit sich. Die gesetzliche Altersvorsorge für Millionen Menschen wurde nicht mehr verbessert, sondern ihr Leistungsniveau herabgedrückt. Beispielsweise ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, ließ die Rente nach Mindestentgeltpunkten auslaufen, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise auf 65|17| Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind.
Um die Jahrtausendwende setzte sich mit dem Neoliberalismus auch hierzulande eine Wirtschaftstheorie, Sozialphilosophie und politische Zivilreligion durch, die in allen Lebensbereichen marktradikale Lösungen präferierte, den Wohlfahrtsstaat als bürokratischen Moloch dämonisierte sowie mit Begriffen wie »Privatinitiative«, »Eigenverantwortung« und »Selbstvorsorge« das Modell einer kapitalgedeckten Altersvorsorge propagierte. Der neoliberale Zeitgeist, die Wirtschaftseliten und die etablierten Parteien meinten es nicht gut mit den Senior(inn)en. Die sozialen Sicherungssysteme wurden zunehmend Markt-, also Leistungs- und Konkurrenzgesetzen unterworfen. Genauso wie Unternehmen und Gebietskörperschaften sollen sie nach ökonomischer Effizienz streben, während ihr eigentlicher Zweck, Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen, dahinter zurücktritt. »Ganz im Sinne der Ökonomisierung des Sozialen verdrängt dabei ein betriebswirtschaftlich orientiertes Leitbild von Qualitätsmanagement traditionelle Orientierungen von religiös oder ethisch motivierter Nächstenliebe, von Subsidiarität und Solidarität.«12
Typisch für eine »marktgesteuerte Alterssicherung«, wie sie das gesellschaftspolitische Großprojekt des Neoliberalismus implizierte,13 war die nach dem früheren IG-Metall-Funktionär Walter Riester benannte Rentenreform. Riester, Arbeits- und Sozialminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder, begründete die Notwendigkeit einer radikalen Strukturreform damit, dass man den drohenden Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags als Schlüsselelement der »Lohnnebenkosten« in Deutschland verhindern müsse, sowie mit im Gefolge des demografischen Wandels absehbaren Kostensteigerungen. Da die Stabilisierung der gesetzlichen Personalzusatzkosten, präziser: der (die Unternehmensgewinne schmälernden) Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, im Mittelpunkt des Reformprozesses stand, fixierte man Grenzen für den Beitragssatz. Warum dieser 20 Prozent im Jahr 2020 und 22 Prozent im Jahr 2030 nicht überschreiten darf, wenn die Gesellschaft bis dahin so stark altert, wie demografische Horrorszenarien suggerieren, gleichzeitig die Arbeitsproduktivität und das Bruttoinlandsprodukt bis da|18|hin aber vermutlich erheblich stärker steigen, als die Bevölkerungszahl und das Erwerbstätigenpotenzial abnehmen, erschließt sich nur im Rahmen der neoliberalen Standortlogik.

2.1 Die rot-grünen Rentenreformen: Altersarmut per Gesetz

Kurz vor dem Jahrtausendwechsel beschloss der Bundestag mit Zustimmung von CDU/CSU und FDP, jedoch vielleicht gerade deshalb weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, eine Neuordnung der Invalidenrenten. Durch den miteinander gekoppelten Wegfall der Berufsunfähigkeits- und die Einführung der Erwerbsminderungsrente gingen die »gesetzlichen Lohnnebenkosten« zwar zurück. Dafür nahmen aber die Probleme jener Menschen, die ihren erlernten Beruf krankheitsbedingt nicht mehr ausüben können, dramatisch zu. Wer ein »hohes Risiko« darstellt oder schwere Vorerkrankungen hat, bleibt seither ohne Versicherungsschutz oder erhält bei privaten Anbietern geeigneter Policen so schlechte Konditionen, dass ihm die erhoffte Berufsunfähigkeitsrente wenig nützt.14
Nur gut einen Monat später brachte das Parlament die »Riester-Reform« auf den Weg, mit der ein doppelter Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik verbunden war: Zum einen stand nicht mehr das für den Wohlfahrtsstaat nach 1945 jahrzehntelang konstitutive Ziel der Lebensstandardsicherung, sondern die angeblich über die Leistungsfähigkeit des »Wirtschaftsstandortes« und damit die Zukunft Deutschlands entscheidende Beitragssatzstabilität im Mittelpunkt der Alterssicherungspolitik. Für prekär Beschäftigte, Geringverdiener/innen, Langzeitarbeitslose bzw. Mehrfacharbeitslose und Arbeitnehmer/innen mit lückenhaftem Erwerbsverlauf, die sich keine private Altersvorsorge leisten (können), war mit dem bis zum Jahr 2030 sukzessive sinkenden Rentenniveau das Risiko der Armut im Ruhestand verbunden. Es wurde von den Betreibern und Befürwortern der Riester-Reform billigend in Kauf genommen, um mittels der wachsenden Angst eines Großteils der Bevölkerung davor Versicherungskonzernen, Großbanken und Fondsgesellschaften ein neues Geschäftsfeld zu erschließen, ihnen die Zahlung von mehr Provisionen an Vermittler zu ermöglichen und ihren Eigentümern höhere Profite zu verschaffen. »Mit einer Teilprivatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung ließ sich das Marktpotenzial für Altersvorsorgeproduk|19|te beträchtlich steigern.«15 Zum anderen brach nach der Pflegeversicherung nun auch ein »klassischer« Versicherungszweig mit dem Prinzip der paritätischen Finanzierung. Da sich die Arbeitgeber nicht an den Kosten der privaten Altersvorsorge beteiligen mussten, fungierte diese in Riesters Konzept keineswegs als Ergänzung der Gesetzlichen Rentenversicherung, vielmehr als teurer Ersatz für die kollektive, sozialpartnerschaftlich organisierte Alterssicherung, der drastische Leistungskürzungen einschließt.16
Versicherungskonzerne, Großbanken und Kapitalanlagegesellschaften machten sowohl durch Lobbyarbeit im politisch-administrativen Raum als auch durch professionelle Medienkampagnen einerseits Stimmung gegen das umlagefinanzierte Rentensystem und propagierten andererseits die kapitalfundierte Altersvorsorge als einzig mögliche Antwort auf die vermeintlich krisenhafte demografische Entwicklung.17 Seitens der etablierten Politik scheute man selbst vor statistischen Taschenspielertricks nicht zurück, um das Rentenniveau möglichst von der Öffentlichkeit unbemerkt senken zu können. So fiel der private Vorsorgeanteil (ab 2008: 4 Prozent des Bruttoeinkommens) aus dem Nettoeinkommen heraus, zu dem die gesetzliche Rente in Beziehung gesetzt wird, wodurch deren Kürzung, die Andreas Bachmann mit 25 Prozent bis zum Jahr 2050 angibt, moderater erscheint: »Für eine Vielzahl von ArbeitnehmerInnen mit heute typischen unsteten Erwerbsbiografien ist eine Kappung der Sozialversicherungsrenten in dieser Größenordnung ein Einkommensabsturz ins Bodenlose, der bei den angespannten Privatbudgets auch nicht durch private Vorsorge kompensiert werden kann.«18 Trotz der gesetzlichen Niveausicherungsklausel, die eine Bundesregierung zum Eingreifen anhält, wenn ein Rentenniveau von 46 Prozent des entsprechenden Erwerbseinkommens vor Steuern im Jahr 2020 bzw. von|20| 43 Prozent im Jahr 2030 unterschritten wird, nähert sich die Standardrente dem Sozialhilfeniveau immer mehr an.
Die rot-grüne Rentenreform 2001 lief auf eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge hinaus und führte zu einer weiteren Entlastung der Arbeitgeber sowie zur Einschränkung der Leistungen für die Betroffenen. Rentner/innen und Schwerstbehinderte über 18 Jahren mit zu geringen Einkommen erhielten zwar einen Anspruch auf eine gegenüber dem Regelsatz der Sozialhilfe pauschal um 15 Prozent für einmalige Leistungen aufgestockte Sicherungsleistung, ohne dass ein Unterhaltsrückgriff auf Kinder und Eltern stattfand, sofern deren Jahreseinkommen 100.000 EUR nicht überstieg. Das die Riester-Reform flankierende Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ersparte Antragsteller(inne)n aber weder eine diskriminierend wirkende Bedürftigkeitsprüfung, noch fiel die bürokratische Doppelzuständigkeit von Rentenversicherungsträger und Kommune weg. Zum 1. Januar 2005 wurde das Grundsicherungsrecht ins Sozialgesetzbuch (SGB) XII – Sozialhilfe überführt, was seine Ausgliederung aus der GRV noch deutlicher hervortreten ließ. Viel sinnvoller wäre eine Regelung innerhalb des lohn- und beitragsbezogenen Systems selbst gewesen.
Dass es zur Riester-Reform kam, hatte nicht nur – wie oft behauptet – systeminterne Gründe, eine Verstetigung der Altersvorsorge und eine Verringerung der damit verbundenen Risiken betreffend. Vielmehr sollten der Versicherungsbranche auch neue Gewinnmöglichkeiten eröffnet werden. Bei der Riester-Rente handelte es sich nicht zuletzt um eine öffentliche Anschubfinanzierung für die Börse und eine direkte Förderung der Profite auf den Finanzmärkten tätiger Unternehmen und Organisationen.19 Es war auch kein Zufall, dass die Einführung der Riester-Rente auf dem Höhepunkt einer Hausse des Aktienmarktes, d.h. eines länger andauernden Börsenbooms erfolgte, der die Idee, das Umlageverfahren durch den Aufbau eines Kapitalstocks zu schwächen, der Öffentlichkeit plausibel und vielen GRV-Versicherten attraktiv erscheinen ließ.
Durch den 11. September 2001 und seine Folgen für die Aktienmärkte, noch mehr jedoch durch die Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise, deren Verwerfungen fast alle Länder der Welt erfassten, wandelten sich die Rahmenbedingungen für solche Reformen tiefgreifend: »Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 hat sich die Situation von Grund auf verändert, die Mängel und endogenen Risiken der privaten, kapitalgedeckten Or|21|ganisation und Finanzierung der Alterssicherung treten seither offen zutage und die jüngste Krise gibt daher Anlass, das Dogma der Überlegenheit der privaten, kapitalgedeckten Alterssicherung grundsätzlich zu hinterfragen.«20 Dies geschah in Deutschland, als die Riester-Rente ausgerechnet zu ihrem zehnjährigen Jubiläum wegen enttäuschender Renditen in Verruf geriet. Hatte sie bei der Einführung noch mediale Vorschusslorbeeren geerntet, ließen manche Wissenschaftler/innen und Journalisten jetzt kein gutes Haar an ihr, schütteten vielmehr Hohn und Spott über den »Riester-Produkten« aus.21 Seither befindet sich das Kapitaldeckungsprinzip in einer Akzeptanz- bzw. Legitimationskrise, die alle weiteren Debatten über Reformen der Alterssicherung maßgeblich beeinflussen dürfte. Kapitalmarktrisiken überlagern und verstärken demografische Probleme, eine private Altersvorsorge löst oder lindert diese aber nicht. Ähnliches gilt auch für eine staatlich geförderte private Pflegezusatzversicherung (auch »Pflege-Bahr« genannt), mit der die CDU/CSU/FDP-Regierung künftige Beitragssatzsteigerungen in der Sozialen Pflegeversicherung auffangen will.22 Wenn sich die Turbulenzen im Euro-Raum zuspitzen, könnte das Umlageverfahren der GRV einen weiteren Vorteil gegenüber der Kapitaldeckung offenbaren, ist diese im Unterschied dazu doch nicht inflationsgeschützt.
Nach dem Riester-Modell gar nicht gefördert werden jene, die einer zusätzlichen Altersvorsorge am meisten bedürften: Sozialhilfebezieher/innen. Leer gehen auch Erwerbslose und Arbeitnehmer/innen aus, die zu geringe Entgeltersatzleistungen bekommen bzw. nicht genug verdienen, um die von den großen Banken, Versicherungen und Fondsgesellschaften mit erheblichem Werbeaufwand angepriesenen Produkte bezahlen zu können. Hingegen profitieren Besserverdiende davon, dass sie solche Aufwendungen für ihre Altersvorsorge bei der Einkommensteuer absetzen können. »Der steuerliche Sonderausgabenabzug begünstigt vor allem hohe Einkommensgrup|22|pen, da mit zunehmendem Einkommen auch der staatliche Förderanteil steigt (bis zu den gesetzlich festgelegten höchsten Beträgen).«23
Christian Christen, Tobias Michel und Werner Rätz sehen in der Abkehr vom Umlageverfahren, wie sie die Riester’sche Rentenreform darstellt, nur Nachteile: »Kapitalgedeckte Systeme sind teurer, verteilungspolitisch ungerechter und funktionieren für die Masse der Bevölkerung nicht wie versprochen.«24 Eine private Altersvorsorge ist keineswegs »demografieresistent«, sondern unterliegt ähnlichen Risiken wie ein Umlagesystem, ist jedoch zusätzlich den Turbulenzen der Kapitalmärkte ausgesetzt. Dasselbe gilt für Betriebsrenten, deren Höhe enormen Schwankungen unterliegt. Selbst wenn das hieraus erwachsende Sicherheitsrisiko erkannt und in den Medien davor gewarnt wird, dominieren Illusionen, die »Rentenlücke« durch Maßnahmen der betrieblichen Altersvorsorge schließen zu können.25 Diese benachteiligt zudem in kleinen und mittleren Unternehmen tätige Arbeitnehmer/innen – ein weiteres Argument für die Konzentration der finanziellen Ressourcen auf die GRV!

2.2 Rentenkürzung durch Lebensarbeitszeitverlängerung

Die nach der Bundestagswahl 2005 gebildete zweite Große Koalition machte gleich zu Beginn deutlich, dass mit Rentenerhöhungen vorläufig nicht zu rechnen sei, sondern erneut fälschlicherweise als »Nullrunden« bezeichnete Aussetzungen der jährlichen Rentenanpassung anstünden. Zwar schloss der Koalitionsvertrag (nominale) Rentenkürzungen für die ganze Legislaturperiode aus, sah aber zwecks Gewährleistung der Beitragssatzstabilität die Möglichkeit, »nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen«, sowie die »schrittweise, langfristige Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters« vor.26 Während mit einem »Nachholfaktor« im|23| Rentenrecht erreicht werden sollte, dass Kürzungen, auf die zunächst verzichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektakulär – wirksam werden, wollten CDU, CSU und SPD die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demografischen Wandel verlängern und 2007 die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen.
Dem damaligen Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering folgend, beschloss die Bundesregierung am 1. Februar 2006, das gesetzliche Renteneintrittsalter schneller anzuheben, als es die sog. Rürup-Kommission empfohlen und die Große Koalition vereinbart hatte: Nunmehr erhöht sich die Regelaltersgrenze im Jahr 2012 für den Geburtsjahrgang 1947 um einen und für Folgejahrgänge jedes Jahr um einen weiteren Monat, bis der Jahrgang 1958 im Alter von 66 Jahren eine abschlagsfreie Rente ab 2024 bezieht; für die Folgejahrgänge beschleunigt sich die Anhebung der Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahr, bis der Jahrgang 1964 bereits 2031 erst mit 67 Jahren in Rente gehen kann.
Die 1916, nicht etwa zufällig mitten im Ersten Weltkrieg erfolgte Senkung des gesetzlichen Rentenzugangsalters von 70 auf 65 Jahre war eine soziale und kulturelle Errungenschaft von historischem Rang. Dass die Regelaltersgrenze gegenwärtig wieder schrittweise auf 67 Jahre ansteigt, ist ein gravierender Rückschritt, der umso weniger plausibel ist, als der gesellschaftliche Reichtum noch nie ähnlich hoch war wie heute und in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen dürfte. Auch die Rürup-Kommission ging in ihrem auf ein Gutachten der Prognos AG in Basel gestützten Szenario von einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik zwischen 2002 und 2030 in Höhe von 1,7 Prozent jährlich aus.27 Bis zum Jahr 2040 würde sich das Bruttoinlandsprodukt inflationsbereinigt beinahe verdoppeln und die Arbeitsproduktivität pro Kopf im Durchschnitt um 1,8 Prozent jährlich zunehmen. Wie solche Berechnungen zeigen, halten sich die Folgen des demografischen Wandels für die Gesetzliche Rentenversicherung also in Grenzen. »Das heute erreichte Niveau sozialstaatlicher Leistungen basiert auf den Produktivitätssteigerungen der Vergangenheit, und die künftig weiter steigende Leistungsfähigkeit der wohlhabenden Volks|24|wirtschaften ermöglicht bei sachgerechter Organisation von Produktion und Verteilung zumindest die Aufrechterhaltung des erreichten Sozialniveaus.«28
Nur wer mehr als 45 Jahre lang Pflichtbeiträge zur GRV entrichtet hat, kann seine Altersrente weiterhin abschlagsfrei mit 65 Jahren beziehen. Da selbst viele Großunternehmen höchstens auf der Vorstandsetage noch Personen über 50 beschäftigen, führt das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz zu weiteren Rentenkürzungen, zwingt sie doch mehr Arbeitnehmer/innen, vor Erreichen der Regelaltersgrenze – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen. Mit besonderer Härte trifft die Heraufsetzung der Altersgrenze (unter)durchschnittlich Verdienende: »Infolge der in Deutschland sehr unterschiedlichen Lebenserwartung der verschiedenen Einkommenskohorten, mit Differenzen von bis zu neun Jahren, sind die Rentenbezugszeiten für Einkommensschwache nur etwa halb so lang wie für die obere Einkommenskohorte.«29
Die von der CDU/CSU/FDP-Regierung am 1. Januar 2012 eingeleitete Anhebung des gesetzlichen Rentenzugangsalters bedeutet unter dem Strich eine weitere Kürzung der Altersrenten, und zwar nicht bloß für Menschen, die vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden und deshalb Abschläge bzw. höhere Abschläge als bislang hinnehmen müssen. Selbst wenn – wie im günstigsten Fall – durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zwei zusätzliche Entgeltpunkte anfallen, sinkt unabhängig davon, ob es genug Stellen für ältere Arbeitnehmer/innen sowie adäquate Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der beruflichen Weiterbildung gibt, die eine Annäherung des faktischen Renteneintrittsalters an die Regelaltersgrenze erlauben würden, mit der Rentenbezugsdauer für einen Ruheständler – auf die verbleibende Lebenszeit berechnet – die Gesamtsumme seiner Altersbezüge.
Vor allem in Verbindung mit den Hartz-Gesetzen wird hierdurch eine Rückkehr der für weitgehend überwunden gehaltenen Altersarmut in die Mitte der Gesellschaft wahrscheinlich.30 Nach dem Auslaufen der sog. 58er-Regelung, die dafür sorgte, dass ältere Langzeitarbeitslose dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen mussten, um Transferleistungen beziehen zu können, werden die Betroffenen mit 63 Jahren zwangsverrentet, was ihre|25| dürftigen Rentenansprüche weiter verringert. Wer von den Betroffenen eine sog. Riester-Rente abgeschlossen hat, kann darauf nicht zurückgreifen, weil sie auf die Grundsicherung im Alter angerechnet wird. Einer breiten Öffentlichkeit wurde dies bekannt, als die ARD-Fernsehmagazine Monitor mit dem Beitrag »Arm trotz Riester: Sparen fürs Sozialamt« (Sendung am 10. Januar 2008) und Plusminus mit dem Beitrag »Sparen für nichts – trotz privater Altersvorsorge später arm« (Sendung am 15. Januar 2008) die Gemüter derart erhitzten, dass es aus fast allen politischen Lagern wütende Proteste gab. Gleichwohl ist kaum einzusehen, warum Riester-Produkte nicht bloß gegenüber anderen Formen der Altersvorsorge, sondern auch gegenüber allen übrigen Einkommensquellen und Vermögenswerten, die auflösen muss, wer Grundsicherungsleistungen beziehen will, privilegiert werden sollten.
CDU, CSU und SPD hielten unbeirrt an der Generallinie ihrer rot-grünen Vorgängerregierung fest, die Finanzierungsgrundlagen des Sozialversicherungssystems durch materielle Zugeständnisse gegenüber den Arbeitgebern zu untergraben, worunter schließlich seine Akzeptanz bei den Arbeitnehmer(inne)n leidet, was es wiederum »anfälliger« für Reformmaßnahmen macht. Winfried Schmähl, der fürchtet, dass die Altersrenten in ihrem Realwert wie in Relation zum allgemeinen Einkommensniveau weiter zurückbleiben, nennt in diesem Zusammenhang den Beschluss der Großen Koalition zur Beibehaltung der abgabenfreien Entgeltumwandlung. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten den Versicherten zwecks Anschubfinanzierung für die kapitalgedeckte Altersvorsorge bis zum 31. Dezember 2008 befristet das Recht eingeräumt, Teile ihres Lohns in Ansprüche auf betriebliche Altersrenten umzuwandeln, ohne dass Steuern und Sozialabgaben dafür anfielen. Davon profitieren die Arbeitgeber, während die Einnahmenbasis der Rentenversicherungsträger unterminiert und der Leistungsanspruch aller Versicherten reduziert wird: »Nicht nur, dass für diese Entgeltbestandteile keine GRV-Ansprüche erworben werden, ein Anstieg der Entgeltumwandlung mindert zudem auch die Entwicklung der für die Rentenanpassung maßgeblichen Entgelte und reduziert damit auch den Rentenanpassungssatz (sofern es überhaupt eine Anpassung gibt). Dies trifft alle Versicherten, gegenwärtige und künftige Rentner, unabhängig davon, ob sie die Entgeltumwandlung nutzen konnten oder nicht.«31|26|
Aufgrund einer vorübergehenden »Verbesserung« des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentenbezieher(inne)n zu Beitragszahler(inne)n wurden die Altersrenten zum 1. Juli 2007 erstmals seit 2003 wieder geringfügig erhöht, weil der in die Rentenanpassungsformel eingefügte »Nachhaltigkeitsfaktor« zum Leidwesen seiner Befürworter ausnahmsweise rentensteigernd wirkte.32 Als die Große Koalition im April 2008 beschloss, den »Riester-Faktor« für zwei Jahre auszusetzen und die gesetzlichen Renten zum 1. Juli des Jahres um 1,1 Prozent statt nur um 0,46 Prozent anzuheben, erhob sich im deutschen Blätterwald ein Sturm der Entrüstung, obwohl die beiden Stufen der sog. Riester-Treppe später nachgeholt werden sollten. Von den bürgerlichen Qualitätszeitungen bis zum Boulevard beklagte man einen »Sieg der Altenlobby« (SZ) und warf der Bundesregierung einen »Rentenbetrug« (BILD) vor, weil CDU, CSU und SPD die mühsam erreichten Reformfortschritte der letzten Zeit angeblich leichtfertig und aus bloßem »Populismus« – dieser Begriff avancierte damit zu einem Synonym für das Festhalten am Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes und am Solidarprinzip der Gesetzlichen Rentenversicherung – verspielten, um die wachsende Zahl älterer Stimmbürger/innen nicht zu vergrätzen.33 Die mediale Überreaktion zeigte laut Antonio Brettschneider, wie erfolgreich der publizistische Angriff auf den Wohlfahrtsstaat gewesen war und wie stark er das Meinungsklima in Deutschland bereits verändert hatte: »Jede noch so kleine, ja angesichts der allgemeinen Preis- und Inflationsentwicklung geradezu lächerliche Verbesserung sozialer Leistungen wird mit immer schrilleren Tönen bekämpft, wenn sie den übergreifenden Zielen der Haushaltskonsolidierung und der Senkung der ‚Lohnnebenkosten‘ im Wege stehen könnte.«34
Um angesichts erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg sinkender Bruttolöhne zumindest eine nominale Rentenkürzung auszuschließen und den Ruheständler(inne)n die Angst davor zu nehmen, beschlossen CDU, CSU und SPD auf Initiative des damaligen Arbeits- und Sozialministers Olaf Scholz im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 2009 eine Schutzklausel, die zum 1. Juli 2010 erstmals wirksam wurde, als »bloß« eine sog. Nullrunde statt|27|fand. In den Massenmedien erntete die Große Koalition heftige Kritik an ihrer Entscheidung für eine allgemeine Rentengarantie, obwohl an sich fällige Rentenerhöhungen in den Folgejahren mit den nicht ausgefallenen, sondern nur aufgeschobenen Kürzungen verrechnet werden. So räumte Elisabeth Niejahr in der Zeit zwar ein, dass die Rentenreformen in kaum einem Industrieland so weit gegangen seien wie die rot-grünen Kürzungen der jüngsten Vergangenheit, bemängelte allerdings, dass von der Schutzklausel die heutige Rentnergeneration profitiere, der es ohnehin so gut gehe wie keiner vorher und keiner nachher.35 Als hätten künftige Rentnergenerationen mehr zu erwarten, wenn die heutigen Bestandsrenten unter Druck geraten!

3. Demografischer Wandel und »Generationengerechtigkeit« als Diskurse zur Legitimation von Rentenkürzungen

Mit den Plänen zum »Um-« bzw. Abbau des Sozialstaates, also Konzepten der sog. Hartz- bzw. der sog. Rürup-Kommission und Schröders »Agenda 2010«, häuften sich die Bemühungen, bis dahin in der Gesellschaft allgemein gültige Gerechtigkeitsvorstellungen grundlegend zu verändern, weil Reformen wie die genannten sonst kaum Verwirklichungschancen hätten. Der dominierende Gerechtigkeitsbegriff wurde in mehrfacher Hinsicht »umprogrammiert«, wie es Franz Segbers nennt,36 modifiziert bzw. deformiert. Dadurch verschob sich sein Inhalt von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der Verteilungs- zur Beteiligungsgerechtigkeit, von der ausgleichenden zur Tauschgerechtigkeit, von der gemeinschaftlichen zur versicherungsmathematischen Risikogerechtigkeit und von der sozialen zur Generationengerechtigkeit.37 Immer mehr Bevölkerungsgruppen (z.B. Arbeitende und Erwerbslose, Junge|28| und Alte sowie Kinderlose und Eltern bzw. Familien) werden gegeneinander ausgespielt und sozioökonomische Interessengegensätze auf diese Weise relativiert. Nicht mehr der Produktionsbereich oder die damit verbundenen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, sondern der Reproduktionsbereich und die damit verbundenen Familien- bzw. Generationenbeziehungen stehen seither im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Durch seine enge Bindung an die sog. Normalbiografie, das »Normalarbeitsverhältnis« und die »Normalfamilie« hat der deutsche Sozial(versicherungs)staat insofern einen Altersbias, als Transferleistungen ungleich auf die Generationen verteilt sind. Martin Kohli spricht vom Wohlfahrtsstaat als »Umverteilungsmaschinerie zwischen den Generationen«, die »ein charakteristisches Ungleichgewicht« aufweise: »Die öffentlichen Aufwendungen für Kinder und Jugendliche – also der Bereich der Familienpolitik im engeren Sinne sowie derjenige der Bildungspolitik – sind relativ gering; die Kosten des Heranwachsens werden überwiegend den Eltern aufgebürdet. Die Umverteilung zu den Älteren ist wesentlich umfangreicher.«38 Daraus folgt aber mitnichten, dass die Älteren den Sozialstaat und/oder die Jüngeren ausbeuten, wie z.B. der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf behauptet.39 Denn eine Querschnittsbetrachtung, welche die Lage unterschiedlicher Altersjahrgänge vergleicht, lässt außer Acht, »dass die jüngeren Generationen über ein wesentlich höheres Nettorealeinkommen als ihre Eltern verfügen und dass dieses Realeinkommen weiter wächst, selbst wenn in begrenztem Umfang eine prozentual erhöhte Abgabenbelastung erfolgt.«40
Der demografische Wandel, also die kollektive Alterung unserer Gesellschaft und die Tendenz zu einem – vermutlich durchaus moderaten – Bevölkerungsrückgang, wird instrumentalisiert, um die Privatisierung der Altersvorsorge zu fördern. Zu den Hauptschlagworten in diesem Kontext gehört der Vorwurf mangelnder Generationengerechtigkeit.41 Hierunter versteht|29| man im Allgemeinen die Forderung nach einer fairen Aufteilung der Ressourcen und der Lasten zwischen den heute lebenden Generationen, etwa in Bezug auf die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems und die Inanspruchnahme von Transferleistungen. Einen intellektuellen bzw. Erkenntnisgewinn verspricht der Terminus allerdings nicht, wie Albrecht von Lucke bemerkt: »Die Kategorie der Generationszugehörigkeit liegt offensichtlich quer zu den Gerechtigkeitskriterien Bedürfnis, Bedürftigkeit und Leistung und kann schon deshalb kein hinreichendes Kriterium für Gerechtigkeit sein.«42 Von scheinbar ähnlichen Kategorien wie Geschlecht oder Abstammung bzw. Herkunft unterscheidet sich das Alter dadurch, dass man zwar altert, aber in der Regel nicht das Geschlecht wechselt und die ethnische Abstammung bzw. Herkunft für immer festliegt. Wenn man Jüngere rechtlich, ökonomisch und/oder sozialpolitisch gegenüber Älteren schlechter stellt, gleichen sich die Nachteile im Verlauf eines Lebens wieder aus: »Jedes Sicherungssystem, das einen Unterschied aufgrund des Alters des Menschen macht und sie nach moralischen Kriterien scheinbar ungleich behandelt, verfährt im Zeitablauf durchaus moralisch. Denn alle Menschen werden über ihren Lebenszyklus hinweg gleich behandelt.«43
Meist wird die demografische Entwicklung bewusst dramatisiert, legitimiert sie auf diese Art doch Schritte und Maßnahmen zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben. »Generationengerechtigkeit« degeneriert in diesem Kontext zu einem politischen Kampfbegriff. Das verkrampft wirkende Bemühen um mehr Generationengerechtigkeit, der noch nie so viel Beachtung wie heute zuteil wurde, überdeckt die in sämtlichen Altersgruppen, der ganzen Gesellschaft und der übrigen Welt drastisch wachsende soziale Ungleichheit. »Man gewinnt vielfach den Eindruck, dass die Fokussierung der Diskussion auf die Verteilung zwischen Kohorten ablenken soll von Fragen der Verteilung innerhalb von Kohorten.«44
Als »gierige Generation«, meint der Publizist Bernd W. Klöckner, lebten die Alten auf Kosten der Jungen. Er spricht in diesem Zusammenhang von »Ruhestandsluxus« und beklagt das Selbstbewusstsein sowie die große Reiselust deutscher Rentner/innen: »Ob Mallorca, Gran Canaria oder Costa del|30| Sol: die Masse der heute Alten hat offensichtlich keinerlei Grund zu klagen.«45 Das auch in vielen Massenmedien gezeichnete Bild einer intergenerationalen Kluft zwischen Arm und Reich hält der empirischen Überprüfung allerdings nicht stand: Auf der Ebene bedarfsgewichteter Haushaltseinkommen weisen Rentnerhaushalte eine viel geringere Wohlstandsposition auf als Arbeitnehmerhaushalte, was die Hypothese der mangelnden Generationengerechtigkeit jedenfalls zulasten der mittleren Jahrgänge widerlegt.46
Gleichwohl tut man vielfach so, als sei der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit durch einen neuen Grundwiderspruch, nämlich denjenigen zwischen Jung und Alt, abgelöst und Klassenkampf durch einen »Krieg der Generationen« ersetzt worden. Hierbei handelt es sich um eine Fehlinterpretation des gesellschaftlichen Verteilungskampfes, die von der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung abstrahiert. Man versteht nun eher, warum Massenmedien der Armut von Kindern, die es auch oder gerade in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik gibt,47 größere Aufmerksamkeit schenken. Da Rentner/innen heute ein geringeres Armutsrisiko als Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene haben,48 konstruiert man ein Wohlstandsgefälle zwischen Alt und Jung.
Eine »statische Betrachtungsweise«, die Veränderungen der Demografie von der wissenschaftlich-technischen Innovation und Wachstumsprozessen der Ökonomie ablöst, ignoriert für das Resultat zentrale Zusammenhänge: »Die Leistungsfähigkeit eines heutigen Beschäftigten wird auch für das Jahr 2050 unterstellt.«49 Außerdem wird der »Verschlechterung« des sog. Alten- oder Alterslastquotienten (Anteil der von den mittleren Jahrgängen zu versorgenden Menschen, die nicht mehr erwerbstätig sein können) keineswegs, wie es intellektuelle Redlichkeit geböte, die sie bei einer sinkenden Geburtenrate begleitende »Verbesserung« des sog. Jugendquotienten (Anteil der von den mittleren Jahrgängen zu versorgenden Menschen, die noch nicht erwerbstätig sind) gegenübergestellt. Sich daraus ergebende Einsparungen|31| bei Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Jugendhilfe müssten jedoch gleichfalls in Rechnung gestellt werden, will man die Belastung der erwerbstätigen Generation ermitteln. Für mehr Rentner/innen kann diese aufkommen, ohne finanzielle Einbußen zu erleiden, wenn Lohn oder Gehalt stärker als die daraus resultierende Belastung steigen. Entscheidend dafür, ob die Möglichkeit zur Kompensation der »Altenlast« besteht, ist die Höhe der Arbeitsproduktivität. Wenn man bedenkt, dass sich bei einem Produktivitätsanstieg von nur 1,5 Prozent pro Jahr und Vollbeschäftigung das Realeinkommen bis 2050 mehr als verdoppeln würde, kann von einer Überforderung der Gesellschaft durch den demografischen Wandel überhaupt keine Rede sein: »Die Versorgungsleistungen können […] aus dem Produktivitätswachstum bestritten werden, ohne dass die zu Versorgenden oder die Erwerbstätigen den Gürtel enger schnallen müssen.«50
Zuerst wurde den Menschen hierzulande Angst vor einer »Greisenrepublik« gemacht, in der sie die finanzielle Last der Altersrenten nicht mehr tragen könnten, danach die Angst vor einem Fachkräftemangel und dadurch bedingte Wohlstandseinbußen geschürt. Auch der nächste Stoß, welcher sich gegen die »explodierenden« Kosten der Beamtenversorgung (Pensionslasten von Bund, Ländern und Gemeinden) richten dürfte, nimmt bereits Gestalt an.51 Welche enorme Wirkungsmacht die Demografie als Mittel der sozialpolitischen Demagogie in weiten Kreisen der Öffentlichkeit entfaltete – und wohl auch künftig entfalten wird –, zeigt die Tatsache, dass der Einstieg in die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von CDU/CSU und FDP über Bündnis 90/Die Grünen bis zur SPD und von der FAZ bis zur taz begrüßt wurde, wiewohl teilweise mit der Einschränkung, man solle damit noch so lange warten, bis die Mehrheit der 60- bis 64-Jährigen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen.|32|

4. Abbau des Sozialstaates und Anstieg der (Alters-)Armut

Bei der Restrukturierung des Sozialstaates geht es nicht bloß um Leistungskürzungen, die davon Betroffene im Einzelfall hart genug treffen, sondern auch um Strukturveränderungen, die zu einem Systemwechsel führen. Die sog. Riester-Reform war ein politischer Meilenstein auf dem Weg zum Fürsorge-, Almosen- bzw. Suppenküchenstaat und ein Rückschritt in der Entwicklung des Sozialrechts, obwohl sie mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einherging. Als weitere Auslöser für Altersarmut seien hier genannt: die wiederholte Verringerung und schließliche Streichung der Beiträge zur Rentenversicherung, welche die Bundesanstalt bzw. -agentur für Arbeit im Falle der Langzeitarbeitslosigkeit entrichtet; die Einführung des »Nachhaltigkeits-« und des »Nachholfaktors«; die irrigerweise als »Nullrunde« bezeichnete Aussetzung der jährlichen Rentenanpassung 2004 ff. und künftig zu erwartende höhere Abschläge durch die Anhebung des Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre.
Die etablierten Parteien mussten auf das Problem sich im Alter mehrender Armutsrisiken reagieren. So bekundeten CDU, CSU und FDP in dem am 26. Oktober 2009 unterzeichneten Koalitionsvertrag ihre Absicht einer weiteren Rentenreform mit dem Ziel, »dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist.«52 Ein geeignetes Konzept dafür sollte eine Regierungskommission entwickeln, was aber unterblieb, weil die Arbeits- und Sozialministerin mit fast zweijähriger Verzögerung lieber einen »Regierungsdialog Rente« ins Leben rief.

4.1 Bekämpfung der Altersarmut oder Förderung der Versicherungswirtschaft?

Ursula von der Leyen schnürte ein »Rentenpaket«, das in erster Linie aus einer »Zuschussrente« für langjährig versicherte Geringverdiener/innen, leich|33|ten Korrekturen bei der Erwerbsminderungsrente und einer »Kombirente« (vorzeitiger Rentenbezug in Verbindung mit einem Teilzeitjob) bestand.53 Da ihr Konzept nicht nur bei der FDP, sondern auch beim Wirtschaftsflügel der Union und bei Teilen ihrer eigenen Bundestagsfraktion, vornehmlich den als »Junge Gruppe« firmierenden CDU/CSU-Abgeordneten, auf heftigen Widerstand stieß, zog von der Leyen ihren Entwurf für ein »Gesetz zur Anerkennung der Lebensleistung in der Rentenversicherung« (RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz) wieder zurück und legte am 7. August 2012 den Entwurf eines »Gesetzes zur Stärkung der Alterssicherung« (Alterssicherungsstärkungsgesetz) vor,54 dessen Beratung das Bundeskabinett aber verschob. Die von der FDP verlangte Senkung des Rentenbeitragssatzes von 19,6 auf 19,0 Prozent wurde aus dem Gesetzentwurf herausgelöst und separat beschlossen. Davon profitieren erneut die Arbeitgeber, während die Arbeitnehmer/innen zwar auch weniger Beitragsgeld entrichten, dies aber später mit niedrigeren Renten bezahlen müssen.
Ursula von der Leyens umstrittenes Konzept bedeutet für das Problem der Armut im Alter keine Lösung. Aufgrund hoher Zugangshürden (lange Versicherungs- und Pflichtbeitragszeiten sowie jahrzehntelanges »Riestern«) würde die Zuschussrente nur eine kleine Gruppe von Menschen erreichen. Mehrfach- und Langzeitarbeitslose müssten z.B. auf den Rentenzuschuss verzichten, weil sie die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Und selbst bei den Anspruchsberechtigten könnte die Zuschussrente wenig gegen die Altersarmut ausrichten, müssten sie doch von ihren damit auf 850 EUR im Monat aufgestockten Bezügen noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung entrichten. Dass Menschen mit Kindern durch eine »familienbetonte« Hochwertung ihrer Rentenansprüche bei der Zuschussrente bevorzugt würden, ist unter dem Gesichtspunkt der Bedürftigkeit zweifel|34|haft, weil sie wenigstens eine Chance haben, von ihrem Nachwuchs finanziell unterstützt zu werden.
Mit der Zuschussrente wollte von der Leyen entsprechend dem Hartz-Mantra »Fördern und Fordern« nur eine bestimmte Gruppe von Rentner(inne)n besserstellen: »Die Zuschussrente soll die Lebensleistung von Menschen in der Rente besser honorieren, die viele Jahre erwerbstätig waren, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und gleichzeitig für später zusätzlich vorgesorgt haben.«55 Mithin sollte der Lebenslauf »fleißiger Geringverdiener« (Ursula von der Leyen) ein hohes Maß an Kontinuität aufweisen, ging es der Bundesarbeitsministerin doch »um die nachträgliche Belohnung einer Musterbiographie«, wie sie ihr vorschwebt.56
Bisher war die staatlich subventionierte Privatvorsorge freiwillig. Da eine der o.g. Voraussetzungen für den Bezug der Zuschussrente das jahre-, später sogar das jahrzehntelange »Riestern« ist, lässt sich diese als weiteres Förderprogramm für die Versicherungswirtschaft bezeichnen. Denn zumindest für Geringverdiener/innen würde die private Vorsorge nahezu obligatorisch, also ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vorher höchst selten Riester-Verträge abschlossen, weil sie mit ihrem kargen Lohn oder Gehalt ohnehin kaum über die Runden kamen. Das sollte sich jetzt ändern, und nicht zufällig gab die Bild-Zeitung in der Diskussion über drohende Altersarmut dem Allianz-Chef Michael Diekmann die Möglichkeit, per Interview kostenlos für Produkte des größten deutschen Versicherungskonzerns zu werben.57
Ähnliches gilt auch für das unter der Leitung von Sigmar Gabriel erarbeitete Rentenkonzept der SPD, dessen Eckpunkte unter dem Titel »Altersarmut bekämpfen – Lebensleistung honorieren – flexible Übergänge in die Rente schaffen« am 10. September 2008 vorlagen.58 Denn es beinhaltet eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, die ebenfalls dem Finanz|35|sektor zugute käme und implizit eine weitere Schwächung der Gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet. Die – im Gegensatz zur Zuschussrente – ausschließlich steuerfinanzierte »Solidarrente« der SPD in gleicher Höhe (850 EUR monatlich) würde die Arbeitgeber noch stärker aus ihrer Verantwortung für eine solide Alterssicherung der Arbeitnehmer entlassen.

4.2 Armut im Alter: Abwertung der Senior(inn)en statt Anerkennung ihrer Lebensleistung

Aufgrund der »Modernisierung«, Reformierung bzw. Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates vollzog sich in der Bundesrepublik während der 1980er-Jahre eine soziale Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, die hauptsächlich im Gewerkschaftsbereich registriert und als »neue Armut« etikettiert wurde.59 Der Braunschweiger Politikwissenschaftler Klaus Lompe wies damals auf die Tendenz einer gleichzeitigen »Verjüngung« der Betroffenen hin: »War die Population der alten Armut in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß sie arbeitsunfähig, krank und/oder alt war, so ist die der neuen Armut heute vor allem arbeitsfähig, arbeitslos und zum großen Teil jung.«60 Kurz danach sprach der Frankfurter Ökonom Richard Hauser von einer »Infantilisierung der Armut«, weil Kinder und Jugendliche die Rentner/innen als meistbetroffene Gruppe ablösten.61
Gegenwärtig ist eine Reseniorisierung der Armut zu beobachten: Aufgrund der starken Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsbiografien und prekärer Beschäftigungsverhältnisse, von Ehescheidungen und zahlreicher Kürzungen im Sozialbereich verschiebt sich die Struktur der Armutspopulation mittelfristig wieder in Richtung der Älteren. Schließlich gehören Rentner/innen neben den (Langzeit-)Arbeitslosen, Behinderten und Kranken sowie Familien und ihren Kindern zu den Hauptleidtragenden der »Reformen«, die das System der sozialen Sicherung zuletzt bis ins Mark erschüttert haben.|36|
Als die Altersarmut in Deutschland längst unübersehbar und auch empirisch belegt war, leugnete die Bundesregierung den anhaltenden Trend zur (Re-)Seniorisierung der Armut noch immer. So erklärte sie am 29. Juni 2011 beschwichtigend: »Altersarmut ist heute kein verbreitetes Phänomen. Wer im Alter bedürftig ist, dem sichert die Grundsicherung im Alter den Lebensunterhalt. Zudem ist der Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter nicht mit Altersarmut gleichzusetzen.«62 Dabei war die »Armutsrisikoquote« der Über-64-Jährigen, d.h. jener Anteil dieser Altersgruppe, der über weniger als 60 Prozent des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens verfügt, wie das Arbeits- und Sozialministerium einräumte, 2009 mit 13,6 Prozent so hoch wie seit Mitte der 1990er-Jahre nicht mehr.63 Obgleich die Dunkelziffer derjenigen Personen extrem hoch sein dürfte, die trotz einer Kleinstrente keinen Antrag stellen, weil sie z.B. überhaupt nicht wissen, dass es die Grundsicherung im Alter gibt oder dass sie ihnen zusteht, weil sie den Gang zum Sozialamt scheuen oder weil sie aus Unkenntnis den Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder und Enkel fürchten, hat auch die Zahl der Bezieher/innen seit Einführung dieser Transferleistung im Jahr 2003 deutlich zugenommen.
Heinz-Herbert Noll und Stefan Weick halten das Niveau der Altersarmut vor allem in Westdeutschland schon heute für »beachtlich«, zumal es seit 2007 steige, sprechen aus diesem Grund von einer möglichen »Trendwende« und erwarten besonders in Ostdeutschland, wo die gesetzliche Altersrente für die große Mehrheit der Seniorenhaushalte die einzige Einkommensquelle darstellt, künftig noch höhere Armutsrisiken.64 Zweifellos ist mit einer wachsenden Altersarmut zu rechnen, die zwar auch wieder nennenswerte Teile der Bevölkerung erfassen, jedoch vermutlich andere Formen als in der unmittelbaren Nachkriegszeit annehmen dürfte, zumal heute auch großer Reichtum und bis in die Mittelschicht verbreiteter Wohlstand existieren.
Die soziale Polarisierung wird im Seniorenbereich vermutlich besonders ausgeprägt sein, weil sich der Übergang vom Bismarck’schen Sozialversi|37|cherungs- zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat hier noch erheblich stärker als bei Jüngeren bemerkbar macht. Perspektivisch droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohltätigkeitsstaat zu zerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger/innen, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. »Riester-Produkte« und Lebensversicherungen der Assekuranz). Dagegen stellt der »postmoderne« Sozialstaat nur noch euphemistisch »Grundsicherung« genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, gibt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter/innen anheim.
Auch die Massenmedien haben das Problem zunehmender Armut im Alter trotz warnender Stimmen von Wissenschaftler(inne)n und entsprechender Forschungsergebnisse lange ignoriert oder sogar negiert.65 Seit geraumer Zeit häufen sich jedoch die Medienberichte darüber, in denen es vor allem um den Rückgang des Rentenniveaus geht, welcher sich in niedrigeren Altersrenten für Beschäftigte manifestiert, die in den Ruhestand gehen.66 Die meisten mit dem Thema »Altersarmut« befassten Redakteure sehen darin eine »tickende soziale Zeitbombe«, über die sie auf der Grundlage einschlägiger Studien berichten.67
Teilweise beklagen dieselben Journalist(inn)en, denen es bei der Absenkung des Rentenniveaus jahrelang gar nicht schnell und radikal genug zugehen konnte, heute die drohende und teilweise schon um sich greifende Altersarmut, ohne zu konzedieren, dass diese ein zwangsläufiges Ergebnis der von ihnen selbst propagierten Reformen bildet. Genannt sei nur die Zeit-Redakteurin Elisabeth Niejahr, die den damaligen Arbeits- und Sozialmister Walter Riester im Oktober 1999 unter dem Titel »Arme Junge, reiche Alte« ermahnte, seine Rentenreform müsse »die Rentner zur Kasse bitten«, denen|38| es materiell viel besser gehe als nachwachsenden Generationen: »Sie haben relativ geringe Beiträge gezahlt und bekommen dafür relativ hohe Renten.«68 Dagegen beschwor Niejahr im August 2007 die Gefahr einer zunehmenden Altersarmut und prognostizierte: »Die Verteilungskonflikte werden vermutlich nicht zwischen den Generationen ausgetragen, sondern innerhalb der Generationen – Arm kämpft gegen Reich statt Alt gegen Jung.«69
Als die größte Boulevardzeitung der Bundesrepublik im September 2012 unter dem Titel »Die neue Renten-Schock-Tabelle« über ein Schreiben Ursula von der Leyens an junge CDU-Bundestagsabgeordnete berichtete, in dem sie prognostizierte, bei einem Monatsverdienst von 2.500 EUR brutto werde man nach 35 Versicherungsjahren ab 2030 bloß eine Altersrente auf dem heutigen Grundsicherungsniveau in Höhe von 688 EUR bekommen, weitere dramatisierende Rechenbeispiele dieser Art präsentierte und konstatierte, die Legitimität des Rentensystems gerate in Gefahr,70 avancierte das Problem der Altersarmut zum Topthema in den Medien. Es beherrschte am Tag darauf die Schlagzeilen,71 obwohl es sich bei der Veröffentlichung augenscheinlich um einen parteitaktischen Schachzug der Arbeits- und Sozialministerin handelte, um den Widerstand gegen die von ihr geplante Zuschussrente zu brechen.
Altersarmut stellt weder ein Zufallsprodukt noch ein bloßes Zukunftsproblem, sondern eine bedrückende Zeiterscheinung dar, die politisch erzeugt und insofern funktional ist, als sie hauptsächlich Opfer von Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes bzw. zur Restrukturierung des Sozialstaates und solche Menschen trifft, die für den Wirtschaftsstandort »nutzlos«, weil angeblich unproduktiv bzw. wirtschaftlichen Verwertungsinteressen nicht oder nur schwer zu unterwerfen sind. Armut ist für alte Menschen besonders deprimierend, diskriminierend und demoralisierend,|39| weil ihnen die Würde genommen und ein gerechter Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten wird. Zudem wirkt Altersarmut als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument, das Millionen jüngere Menschen nötigt, härter zu arbeiten und einen wachsenden Teil ihres mühselig verdienten Geldes auf den Finanzmärkten in der Hoffnung anzulegen, durch private Vorsorge einen weniger entbehrungsreichen Lebensabend verbringen zu können.
Während die Anzahl der von Armut und Unterversorgung betroffenen Senior(inn)en weiter steigen wird, nimmt deren gesellschaftliche Wertschätzung eher ab. Wettbewerb sowie Wahlfreiheit (für von Klienten zu »Kunden« avancierte Sozialstaatsbürger/innen) beherrschen die Wohlfahrtsstaatskonzeption des Neoliberalismus, und sein Leitbild zielt auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Wirtschaftsstandortes. Ältere haben in diesem Konzept keine positive Funktion, werden vielmehr als »Kostenfaktoren auf zwei Beinen« betrachtet und im »aktivierenden«, d.h. Hilfebedürftige nicht ohne entsprechende Gegenleistung alimentierenden Sozialstaat entsprechend behandelt. Was für Arbeitslose eine Zumutung ist, weil man ihnen unterstellt, »passiv« zu sein – denn sonst müssten bzw. könnten sie ja überhaupt nicht »aktiviert« werden –, bedeutet für Ältere, von diesem Prozess ausgeschlossen, »entbehrlich« bzw. »überflüssig«, weil gar nicht mehr »aktivierbar« zu sein.
Menschen, die früher lange Zeit erwerbstätig waren, Armut im Alter als »Anerkennung der Lebensleistung« zu offerieren, wie es Ursula von der Leyen mit ihrem Entwurf eines »RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetzes« tat, ist purer Hohn. Gerade bei Senior(inn)en wird das im Art. 1 Satz 1 GG zur Fundamentalnorm unserer Verfassung erhobene Gebot, die Würde des Menschen zu wahren, durch ein Leben in Armut missachtet, ohne dass diese Form »struktureller Gewalt« (Johan Galtung) bisher von der Öffentlichkeit als solche erkannt, geschweige denn von einer Bundesregierung ernsthaft bekämpft worden ist.
Da die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie die Flexibilisierung und Prekarisierung eines Großteils der Beschäftigungsverhältnisse später in der Altersarmut von Millionen Menschen kulminiert, muss diese vorrangig skandalisiert werden, will man eine Rücknahme der von mehreren Bundesregierungen verantworteten Reformmaßnahmen erreichen. Schließlich verliert ein Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Alterssicherungssystem, welches nicht verhindert, dass Menschen nach langjähriger Vollerwerbstätigkeit einen Ruhestand in Armut erleben, nicht bloß an Zustimmung in der Bevölkerung, sondern auch seine Daseinsberechtigung.|40|
Soll die bestehende Altersarmut verringert und die Entstehung weiterer sozialer Ungleichheit verhindert werden, ist ein neuerlicher Paradigmenwechsel nötig. Die sich künftig verstärkende Reseniorisierung der Armut muss mit einer Renaissance des Solidarprinzips und des Sozialstaatsgebots im Allgemeinen, einer Revitalisierung der Beschäftigungs- und Alterssicherungspolitik im Besonderen, einer Rekonstruktion des Normalarbeitsverhältnisses (nicht allein für Männer) und einer Rehabilitation der Lohnersatzfunktion wie des Prinzips der Lebensstandardsicherung im GRV-Sektor beantwortet werden.
Lebensstandardsicherung und Bekämpfung der Armut im Alter sind keine Gegensätze, wie Johannes Steffen offenbar glaubt,72 sondern bilden zwei Seiten einer Medaille. Nur wenn der Lebensstandard aller Versicherten im Ruhestand gewahrt bleibt, kann Altersarmut für die Niedrigeinkommensbezieher/innen verhindert werden. Die früheren Erwerbstätigen im Alter auf eine steuerfinanzierte Grundrente zu verweisen, hieße dagegen, den sozialen Abstieg vieler Millionen Menschen vorzuprogrammieren. Dies kann am ehesten durch eine Weiterentwicklung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung integriert ist,73 verhindert werden.|41|

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesetzlichen Rentenversicherung: Verhinderung von Armut im Alter (Winfried Schmähl)

Seit über die Einführung einer gesetzlichen Absicherung für den Fall von Invalidität und Alter diskutiert wird, geht es immer wieder um grundlegende, zum Teil eng miteinander verknüpfte Fragen. Hierzulande betraf und betrifft das insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung. Von zentraler Bedeutung ist, ob primär die Vermeidung von (Einkommens-)Armut im Alter angestrebt wird oder ob die Absicherung im Alter am früheren Einkommen orientiert sein soll, um eine Verstetigung der (Einkommens-) bzw. der (Konsum-)Entwicklung im Lebensverlauf (vor allem beim Übergang von der Erwerbs- in die Nacherwerbsphase und in dieser Phase) zu ermöglichen. In der Art, wie solche Ziele realisiert werden sollen, manifestiert sich die Konzeption des staatlichen Systems der Alterssicherung. Soll der Gedanke der Vorsorge (d.h. einer relativ engen Beziehung zwischen Vorsorgebeitrag und späterer Rentenleistung) und damit die intertemporale Einkommensumverteilung im Lebenslauf maßgebend sein oder der einer Versorgung, mit der primär eine interpersonelle Einkommensumverteilung angestrebt wird?
Um die für relevant erachteten Ziele zu realisieren, sind weitere Entscheidungen zu treffen, so z.B., ob bzw. inwieweit obligatorische Einrichtungen oder Maßnahmen vorgesehen sind (ggf. mit einem Risikoausgleich in einer Versicherung) und welche Personenkreise betroffen sein sollen bzw. inwieweit Altersvorsorge auf freiwilliger Entscheidung – ggf. staatlich gefördert – beruhen soll. Und auf welchem Niveau sollen Leistungen (und deren Finanzierung) liegen und wie sollen sie ausgestaltet sein, also welche Struktur aufweisen? In der über 120-jährigen GRV-Geschichte gehört zu den immer wieder lebhaft diskutierten Fragen auch, welches Finanzierungsverfahren gewählt werden soll: entweder die Umlagefinanzierung, bei der im Prinzip die laufenden Einnahmen zur Finanzierung der laufenden Ausgaben verwendet werden (was faktisch nur in einem staatlichen System realisierbar ist), oder Formen einer »Kapitalfundierung«, bei der im Prinzip eine offen ausgewiesene Ansammlung von Vermögen im Rahmen privater oder staatlicher Institutionen der Alterssicherung erfolgt.|42|
Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen der konzeptionellen Ausrichtung der GRV und ihrer Bedeutung für die Vermeidung von Altersarmut am Beispiel von vier wichtigen Wendepunkten in der GRV-Entwicklung verdeutlicht werden.1

1. Entstehung und Entwicklung der GRV

Angesichts der offenkundig gewordenen Unzulänglichkeit traditioneller Institutionen zur sozialen Absicherung im Falle von Invalidität und Alter (Kirchen, Kommunen, Zünfte, Betriebe und Familienverband) erkannte der Gesetzgeber gegen Ende des 19. Jahrhunderts darin eine wichtige (gesamt)staatliche Aufgabe.2 Angekündigt schon am 17. November 1881 in der von Reichskanzler Bismarck verlesenen »Kaiserlichen Botschaft«, trat zehn Jahre später das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz in Kraft, welches am 24. Mai 1889 (mit relativ knapper Mehrheit) im Reichstag beschlossen worden war. Es bildete den Grundstein der GRV und nahm Weichenstellungen vor, die bis in die Gegenwart fortwirken. So erfolgte zur Absicherung im Falle von Invalidität und Alter eine Pflicht vorsorge im Rahmen einer Sozial- und nicht einer Privatversicherung. Pflichtversichert wurden nicht nur Arbeiter im gewerblichen und landwirtschaftlichen Bereich – unabhängig von der Höhe ihres Lohnes –, sondern u.a. auch »kleinere Betriebsbeamte«, d.h. Angestellte; Letztere allerdings nur bis zu einer Versicherungspflichtgrenze, die für Angestellte übrigens erst 1968 aufgehoben wurde. »Kleine Selbstständige« waren zur Versicherung berechtigt.
Das Versicherungskonzept war bereits 1883 mit der Gesetzlichen Kranken- und 1884 mit der Gesetzlichen Unfallversicherung etabliert worden (Beiträge als Vorbedingung für Leistungen) und im Grundsatz auch für die Rentenversicherung kaum mehr umstritten, obgleich Bismarck lange Zeit eine (aus Einnahmen des Tabakmonopols finanzierte) einheitlich hohe|43| Staatsbürgerversorgung angestrebt hatte. Dennoch setzte sich Bismarck schließlich nachdrücklich für die Einführung der Rentenversicherung ein.3
Die Leistungen waren zunächst primär auf den Fall der Erwerbsunfähigkeit (Invalidität) zugeschnitten. Im Hinblick auf den Tatbestand »Alter« wurde ab dem 70. Lebensjahr Erwerbsunfähigkeit unterstellt. Zur »Regelaltersgrenze« von 65 Jahren kam es erst 1911, zuerst in der inzwischen neu geschaffenen gesonderten Angestelltenversicherung und 1916 auch für Arbeiter. Hinterbliebenenrenten wurden 1911 sowohl Teil der Angestellten- als auch der Arbeiterrentenversicherung (Invaliditätsversicherung genannt).
In der GRV-Gründungsphase dominierte das Ziel, Armut im Alter zumindest zu lindern, übrigens vor allem, um Kommunen bei der Armenhilfe zu entlasten. Renten waren angesichts der geringen Beträge kaum mehr als ein Zuschuss zum Lebensunterhalt, der vielfach durch weitere Erwerbstätigkeit oder Familienunterstützung und zu einem beträchtlichen Anteil weiterhin durch die Armenfürsorge ergänzt werden musste. In der Begründung des 1888 vorgelegten Gesetzentwurfs hieß es zur Leistungshöhe: Dem »Betrage nach wird die Rente so bemessen werden müssen, daß sie einerseits nicht nur eine teilweise Erleichterung der öffentlichen Armenpflege oder ein Taschengeld darstellt, andererseits aber auch nur die Möglichkeit einer bescheidenen Lebenshaltung, wie sie insbesondere der Aufenthalt ab billigem Orte bietet, ermöglicht.«4 Wenngleich man die Leistungshöhe vielfach als unzureichend bezeichnete, werde diese Armenunterstützung »wenigstens ohne entehrende Bedingungen« gezahlt – wie es der seinerzeit bekannte Nationalökonom Lujo Brentano ausdrückte.
Die Rente basierte auf einem einheitlichen, also einkommensunabhängigen Grund betrag, ergänzt durch einen Steigerungs betrag, welcher von der Versicherungsdauer und der absoluten Höhe des Nominallohnes in den einzelnen Versicherungsjahren abhing. Allerdings war der Bezug zum Lohn in dieser Renten(berechnungs)formel nur schwach ausgeprägt, das Rentenversicherungssystem von seiner Konzeption her statisch: So spielte bei der Erstberechnung der Rente das aktuelle Lohnniveau keine Rolle, und von einer Anpassung der individuellen Renten an Löhne oder Preise (»Dynamisierung«) während der Rentenlaufzeit war damals noch keine Rede.5 Die skizzierte Struktur der Rentenformel blieb in der Bundesrepublik bis zur Rentenreform|44| von 1957 gültig und in der DDR sogar bis zur Einführung des westdeutschen Rentenrechts im Sommer 1990.
Die Finanzierung der GRV erfolgte seit Anbeginn zum einen aus dem Sozialversicherungsbeitrag, wobei der Beitragssatz für Männer und Frauen gleich war (es handelte sich also um einen Unisex-Tarif, wie man heute sagen würde). Der Beitrag wurde vom Arbeitsentgelt erhoben und von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in gleicher Höhe gezahlt. Die zweite wichtige Einnahmequelle der Sozialversicherung war ein steuerfinanzierter, erstmals in der GRV durchgesetzter Reichszuschuss. Dieser wurde als einheitlicher Betrag pro Rentenfall errechnet, nicht aber – wie zunächst vorgesehen – als ein Prozentsatz der Rentenausgaben (womit man ursprünglich eine Drittelparität in der Finanzierung zwischen Reich, Arbeitnehmern und Arbeitgebern angestrebt hatte). Der einheitliche Grundbetrag und der pro Rente einheitliche Reichszuschuss bewirkten ein hohes Maß an interpersoneller Einkommensumverteilung bei einem äußerst niedrigen Leistungsniveau.
Bereits damals wurde intensiv über das Finanzierungsverfahren – Umlage oder vorherige Kapitalansammlung – diskutiert.6 Das stand auch in Verbindung mit der Entscheidung über den – privaten oder staatlichen – Träger der Versicherung. Bismarck wandte sich entschieden gegen eine privatwirtschaftlich organisierte, kapitalbasierte Finanzierung bei der Absicherung von sozialen Risiken. Denn man könne doch »den Sparpfennig der Armen« nicht »dem Konkurse aussetzen« oder gestatten, »daß ein Abzug von den Beiträgen als Dividende und zur Verzinsung von Aktien gezahlt würde«.7 Gegen eine Umlagefinanzierung wurde seinerzeit – wie auch heute noch – eingewandt, hierdurch werde die Zukunft zugunsten der Gegenwart belastet. Bismarck hielt dagegen, man beraube sich bei der vorherigen Kapitalansammlung der Möglichkeit (oder schränke sie zumindest stark ein), Leistungen bereits in der Gegenwart einzuführen oder zu verbessern.8 Dieses Argument sollte in der deutschen Geschichte – nach zwei Weltkriegen und Inflationen sowie im|45| Zusammenhang mit der Vereinigung von BRD und DDR – immer wieder politische Entscheidungen mitprägen.

2. Die westdeutsche Rentenreform von 1957

Nach Kaiserreich, Erstem Weltkrieg, Weimarer Republik, NS-Diktatur, Zweitem Weltkrieg und der Teilung Deutschlands erfolgte in der Bundesrepublik ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Alterssicherungspolitik. Zwar gab es wie auch schon in der Zeit des Nationalsozialismus intensive Bestrebungen, eine Staatsbürgerrente zu schaffen, doch setzten sich die Anhänger der Sozialversicherungslösung durch.9 Als der Deutsche Bundestag im Januar 1957 schließlich mit überwältigender Mehrheit eine tiefgreifende GRV-Reform beschloss, wurde durch einen grundlegenden Wechsel in Zielsetzung und Konzeption ein neues Kapitel der deutschen Alterssicherungspolitik aufgeschlagen. Gründe dafür waren die als unzulänglich angesehenen Leistungen der GRV und zugleich ein weitverbreiteter Wandel in den Vorstellungen über die Aufgaben der staatlichen Alterssicherungspolitik.
Das konzeptionell Neue bestand darin, dass die Renten nicht mehr ein »Zuschuss« zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter, sondern »Lohnersatz« sein sollten. Dies erforderte sowohl eine Anhebung des Leistungsniveaus als auch eine Berücksichtigung der Lohnentwicklung, und zwar sowohl im Zeitraum bis zur erstmaligen Berechnung der Rente als auch während der Rentenlaufzeit. Rentner sollten in Zukunft regelmäßig mit ihrer gesetzlichen Rente an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung teilhaben, was durch eine neue Rentenformel realisiert wurde. Danach sollte die Rente ausschließlich auf einem Steigerungsbetrag beruhen, während der einheitliche Grundbe|46|trag entfiel. Bei der Erstberechnung war die Höhe der Rente auch nicht mehr von den absoluten