Aschenputtel - Silvia Götschi - E-Book

Aschenputtel E-Book

Silvia Götschi

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  • Herausgeber: Cameo
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Hinter den farbigen Masken der Luzerner Fasnacht verbergen sich Lügen, Gewalt und ein Mord, der für Chaos sorgt. Werden die Wahrheit und der Mörder im bunten Treiben der Feiernden verborgen bleiben? In Luzern gerät die Fasnacht aus den Fugen, als ein Mann brutal ermordet wird. Thomas Kramer, Chef des Ermittlungsdienstes, verfolgt eine Spur, die ihn von dem wilden Treiben in den Straßen Luzerns ins malerische Tessin führt. Dort gerät er in eine Welt voller Lügen und Gewalt, verborgen hinter der glänzenden Fassade einer scheinbar perfekten Familie. Während Kramer versucht, die dunklen Fäden eines Falles zu entwirren, der ihn zunehmend aus dem Gleichgewicht bringt, gerät auch seine persönliche Existenz mit jedem Schritt, den er näher an den Täter herantritt, ganz unmittelbar in Gefahr.

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Weitere Titel der Autorin im Cameo Verlag:

Mord im Parkhotel

Kramer-Reihe

Engelfinger

Rigigeister

Künstlerpech

England-Reihe

Auf der schwarzen Liste des Himmels

Silvia Götschi, 1958 in Stans (CH) geboren, zählt heute zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Schweiz. Ihre preisgekrönten Werke erwecken weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse.

Seit ihrer Jugend zählen Schreiben, Fotografieren und Psychologie zu ihren Leidenschaften. Nach der Handelsschule und dem Abschluss der Kaufmännischen Berufsschule arbeitete sie während längerer Zeit in der Hotellerie und Gastronomie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Götschi hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann im Kanton Aargau.

www.silvia-goetschi.ch

Silvia Götschi – Aschenputtel

1. Auflage 2023

Copyright © 2023 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Bärbel Philipp, Jena

Korrektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung: Cameo Verlag GmbH, Bern

Layout, Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-03951-033-7

eISBN: 978-3-03951-040-5

Printed in Germany

SILVIAGÖTSCHI

EIN FALL FÜR KRAMER

ASCHENPUTTEL

KRIMINALROMAN

CAMEO

Inhalt

Weitere Titel der Autorin im Cameo Verlag

Donnerstag, 31. Januar

Freitag, 1. Februar

Samstag, 2. Februar

Sonntag, 3. Februar

Montag, 4. Februar

Dienstag, 5. Februar

Mittwoch, 6. Februar

Donnerstag, 7. Februar

Freitag, 8. Februar

Samstag, 9. Februar

Sonntag, 10. Februar

Epilog

Anmerkung und Dank

Ein kaum wahrnehmbares Knistern bahnt ihm den Weg vom Traum in die Wirklichkeit. Der fremde Geruch ist plötzlich überall. Tarek setzt sich auf. Zuerst sieht er nur vage den Widerschein eines flackernden Lichts durch den Türspalt zum angrenzenden Atelier. Ob er vergessen hat, das Licht auszumachen? Auf einmal weiß er, was er beim Aufwachen gerochen hat: Terpentin. Oder ist es Benzin? Tarek springt mit einem Satz aus dem Bett. Er erreicht die Tür, bleibt jedoch unvermittelt vor ihr stehen. Aus dem Raum dahinter hört er ein Knacken und Prasseln, das ihn an einen Kamin erinnert. Früher hatte Dedecek, sein Großvater in Bratislava, Holzscheite in den Herd geschoben, alte Zeitungen zerknittert und dazu gesteckt, damit das Feuer genug Nahrung fand.

Feuer! Auf einmal sind seine Gedanken so klar, als hätte jemand ganz plötzlich den Schleier der Schlaftrunkenheit von seinen Augen gerissen. Im Atelier brennt es!

Er versucht, sich zu erinnern, ob er vor dem Schlafengehen eine Kerze angezündet und vielleicht vergessen hat, sie auszupusten. Eine Weile steht er vor der Tür und lauscht. Er muss sie öffnen, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuscht. Der Türgriff ist heiß, der Rauch, der durch die Türritze dringt, beißend. Tarek stößt sie dennoch auf. Bleibt erstarrt stehen. Die gegenüberliegende Wand scheint es nicht mehr zu geben. Flammen fressen sich wie tausend rote Zungen allmählich durch den Raum und verschlingen seine Bilder. Die Monde verschwinden im Wirbel glühender Spiralen. Die düsteren Landschaften verwandeln sich in höllische. Augen brechen auseinander, Gesichter zerfließen zu Purpur.

Kunst entsteht als Ereignis in der Gegenwart, schießt es Tarek durch den Kopf. Er müsste diesen Moment festhalten, der sich vor seinen Augen wie ein Gemälde entfaltet.

Die Farben! Er muss die Farbkübel entfernen. Tarek macht einen Schritt vorwärts, hinein ins Inferno. Die Hitze ist unerträglich. Er bückt sich, kriecht über den Boden und erreicht an der hinteren Wand das Regal mit den Acrylfarben. Die Kübel sind verschlossen, ihre Außenwände heiß. Konzentriert trägt Tarek sie durch den beißenden Qualm in sein Schlafzimmer. Stellt sie hin, kehrt zurück und rettet, was zu retten ist. Nur ein paar Bilder noch sind unversehrt. Er könnte schreien.

Von weit her vernimmt er das Horn der Feuerwehr, den tiefen Zweiklang, der sich nur wenig vom Martinshorn unterscheidet. Ein aufheulendes Motorengeräusch, das schnell wieder stotternd erstirbt. Irgendwo draußen. Vielleicht vor dem Haus. Tarek reißt das Fenster auf.

In diesem Moment schlagen die Flammen aus dem Atelier zu wie eine Faust. Einer riesigen Schlange gleich schnellen sie seinem Körper entgegen. Tarek springt zur Seite, macht eine Rolle und langt geistesgegenwärtig nach dem alten Teppich vor seinem Bett. Benommen bleibt er liegen.

Die Wohnungstür fällt nach innen. Zwei behelmte Gestalten nähern sich ihm. Das Zischen des Wassers hat etwas Beruhigendes. Der Strahl trifft ihn mitten ins Gesicht.

«Sind Sie verletzt?» Einer der Männer zerrt ihn aus dem Zimmer ins kühle Treppenhaus. Dort steht die alte Dame von nebenan in ihrer Tür. Signora Vasallo. Sie sieht gespenstisch aus in ihrem langen grauen Nachtgewand. Tarek nimmt sich vor, sie zu malen. Wenn er überhaupt jemals wieder malen wird.

Was ist aus seinen Bildern geworden? Er setzt sich auf den untersten Treppenabsatz und legt den Kopf in die verschränkten Arme. Er weiß nicht, wie das alles hat geschehen können. Irgendjemand muss in sein Atelier eingedrungen sein und das Feuer gelegt haben. Er fühlt sich zu müde, um darüber nachzudenken. Aber er weiß, dass er wieder Feinde hat. Solche, die ihm sogar nach dem Leben trachten. Der Überfall neulich in Zürich steht vielleicht im Zusammenhang mit dem Brand. Er hätte das nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen.

«Kann ich Ihnen einen Tee machen?», fragt die Gespenstische.

«Danke, davon werde ich krank», lehnt Tarek ab. Ein Whisky wäre ihm lieber.

«Hat man denn bei Ihnen eingebrochen?» Neugierig reckt die Alte den Hals. Ein faltiger Hals, stellt Tarek fest. Sofort sind diese Bilder da, wie sie immer da sind, wenn er sich mit Ungewöhnlichem konfrontiert sieht – oder mit den gewöhnlichen Dingen des Alltags. Künstler erleben alle Eindrücke auf verschiedenen Ebenen, hat ein Lehrer ihm mal erklärt.

«An meiner Tür hängt so eine Vorrichtung, wissen Sie, so ein Schloss mit Kette, die ich immer einhänge, wenn ich zu Hause bin. Da kommt gar keiner rein, sage ich Ihnen …» Signora Vasallo starrt ihn irritiert an. «Sie sind ganz rußig im Gesicht.»

Tarek erhebt sich erschöpft. Er will nichts erwidern. Nicht jetzt. Aus dem Innern seiner Wohnung vernimmt er geschäftiges Rumoren. Ein Durcheinander an Rufen. Als einer der Feuerwehrmänner zu ihm kommt, geht er mit diesem die Treppe hinunter. «Sieht es schlimm aus?» Eigentlich will er die Antwort gar nicht hören.

«Ich bin vorsichtig», erwidert der Uniformierte, «aber ich denke, dass Ihre Bilder großen Schaden erlitten haben. Doch dank der Bauweise haben Sie unendlich viel Glück gehabt. Das Haus besteht mehr oder weniger aus Stein. Das Feuer ist so gut wie unter Kontrolle.»

Tarek weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. »Und wann kann ich wieder zurück in meine Wohnung?»

«Im Moment gibt es ziemliche Wasserschäden, die in nächster Zeit behoben werden müssen. Ich glaube, dass Sie sich vorübergehend eine andere Unterkunft suchen müssen. Sind Sie versichert?»

Tarek schüttelt den Kopf. «Versicherungen sind etwas für Pessimisten.»

Der Mann hustet verlegen. «Die Polizei könnte sich für Ihre Wohnung interessieren. Allem Anschein nach wurde das Feuer mutwillig gelegt. Die Tür auf der anderen Seite Ihres Ateliers wurde aufgebrochen.»

Donnerstag, 31. Januar

Der Notruf traf um sieben nach fünf in der Zentrale der Kantonspolizei Luzern ein. Thomas Kramer hatte soeben seinen Dienst angetreten und war den Umständen entsprechend noch nicht richtig wach. Er hatte den Abend zuvor mit Freunden am Fasnachtsball im Hotel Schweizerhof verbracht. Sein Kopf schmerzte,¸ und sein Hals fühlte sich taub an.

«Du solltest», hatte seine Frau Isabelle am Morgen beim Kaffeetrinken gesagt, «in deinem Alter keine solchen Partys mehr besuchen, wenn du das nicht verträgst.» Im Dezember hatte er seinen 48. Geburtstag gefeiert.

Marion, die Empfangssekretärin, verband ihn mit der Anruferin. Die Stimme am Telefon klang hysterisch, nicht sehr gut verständlich, weil im Hintergrund laute Paukenschläge und blechern klingende Musik zu vernehmen waren. Beunruhigende Wörter wie «viel Blut, kein Puls und Kollaps» drangen an Kramers Ohr. Vergeblich versuchte er die Frau zu beruhigen. Ihre Stimme zitterte. «Ich glaube, sie sind angeschossen worden. Zwei Männer liegen auf dem Boden. Einer rührt sich nicht mehr …»

«Geben Sie mir den Standort an.» Kramer hangelte nach einem Streifen Papier, der vor ihm auf dem Pult lag.

«Auf dem Kapellplatz, in der Nähe des Brunnens …»

«Des Fritschi-Brunnens?»

«Weiß ich, wie der heißt?» Die Frau klang auf einmal ungehalten. Offensichtlich stand sie unter einer schweren seelischen Belastung.

«Wir werden in einigen Minuten bei Ihnen sein.» Kramer bat darum, die Verletzten möglichst ruhig zu lagern und, wenn es ging, nichts im Umfeld zu berühren. «Ich werde sofort den Notfalldienst verständigen.» Er drückte die Aus-Taste, dann wählte er die Nummer des Kantonsspitals. Er forderte bei der Empfangsdame Arzt und Krankenwagen an: «Bitte zum Kapellplatz. Mir wurde soeben mitgeteilt, dass dort zwei Verletzte liegen, wahrscheinlich mit Schusswunden.»

«Sie sind schon der Dritte, der uns deswegen anruft», antwortete sie. «Können Sie den Tatort genauer beschreiben?»

«In der Nähe der Peterskapelle, neben dem Fritschi-Brunnen. Es scheint ein ziemliches Chaos zu herrschen … heute ist Schmutziger Donnerstag», fügte Kramer hinzu, rügte sich aber für diesen unnötigen Kommentar. Das wusste die Frau am Telefon auch ohne ihn. Er beendete das Gespräch. Seine nächsten beiden Anrufe galten seinen Mitarbeitern, Armando Bartolini vom Ermittlungsdienst und Guido Amrein von der Spurensicherung. Bartolini erreichte er sofort. Bei Amrein musste er es eine Weile klingeln lassen.

Kramer wusste nicht, was ihn erwartete. Er hatte einen hektischen Monat hinter sich, mehrheitlich im Büro, nachdem man ihn nach dem grässlichen Fall im letzten November befördert hatte. Sein Vorgänger Sidler hatte ihm ein schwieriges Erbe hinterlassen, das es nun zu strukturieren galt. Doch seit einer Woche richtete Kramer seine Tätigkeit wieder vermehrt nach außen. Die Gewaltakte jugendlicher Täter hatten zugenommen, in zwei Fällen hatte Kramer mit seinen Leuten aufgrund häuslicher Gewalt ausrücken müssen, und bereits dreimal war er zu Kleinunternehmen gerufen worden, wo ein Angestellter seinen Chef bedroht hatte.

Kramer zog den Mantel über, griff nach seiner Mappe, in der er sein Diktafon, einen Schreibblock und mindestens fünf Stifte untergebracht hatte, und verließ sein Büro im dritten Geschoss. Er schloss die Tür ab und betrachtete währenddessen das Schild und den Text, der über seinem Namen stand: «Chef des Ermittlungsdienstes». Er nickte für sich und schritt stolz zum Aufzug.

Seit Anfang letzten Jahres hatte sich vieles geändert. Nicht nur, dass er in der polizeilichen Hierarchie eine Sprosse höher gekommen war; er hatte den beruflichen Aufstieg zum Anlass genommen, endlich wieder seinen Körper zu ertüchtigen. Seine Frau Isabelle hatte ihm zu Weihnachten ein Abonnement für den Migros Fitnesspark an der Haldenstrasse geschenkt, den er regelmäßig besuchte. Er fühlte sich richtig gut. Der Aufzug befand sich auf seinem Stockwerk. Die automatische Tür öffnete sich. Kramer stieg ein und fuhr ins Erdgeschoss.

Marion vom Empfang winkte ihm zu. «Alles klar?» Sie schüttelte ihre blonde Mähne und blickte über den Brillenrand. «Du hast die Anruferin hoffentlich besser verstanden als ich.»

«Es ist mir ein Rätsel, was da geschehen ist», entgegnete Kramer. «Es könnte eine Schießerei gegeben haben. In ein paar Minuten weiß ich hoffentlich mehr.» Er teilte ihr mit, dass er auf seinem Mobiltelefon zu erreichen sei, falls ihn jemand suchte. Einen Augenblick blieb er stehen und sah zu Marion hinüber. Sie sah glücklich aus. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie mit Guido Amrein in einer harmonischen Beziehung lebte. Er dachte an seine eigene Ehe und fragte sich, wann er zum letzten Mal mit Isabelle geschlafen hatte. Im letzten Dezember? Es war schon eine Ewigkeit her.

Armando Bartolini wartete auf dem Parkplatz vor dem Gebäude der Kantonspolizei. Seit er mit seiner neuen Lebensabschnittspartnerin Nora Helbling zusammengezogen war, wohnte er zwei Straßen neben der Kasimir-Pfyffer-Strasse und war schnell zur Stelle. Kramer stieg ein. Er warf einen kurzen Blick auf die Fassade des Polizeigebäudes, in dessen Fenstern sich der dunkle Morgen spiegelte.

«Was genau ist eigentlich passiert?» Bartolini rieb sich die Augen. Er startete den Motor und fuhr los.

«Zwei Verletzte, einer davon schwer, wie ich vermute.» Kramer legte sich den Sicherheitsgurt um.

Aus der Dunkelheit kamen plötzlich vier Gestalten mit riesigen Köpfen auf sie zugelaufen. Instinktiv trat Bartolini heftig auf die Bremse. «Maledetto, ich hasse die Fasnacht», empörte er sich. «Che cretini stupidi! Ich hätte sie fast überfahren.» Er setzte das Blaulicht und das Martinshorn in Betrieb, und die vermummten Figuren hasteten erschrocken über die zweite Straßenhälfte.

Kramer lehnte sich angespannt in den Sitz und sah nach draußen, wo sie jetzt an grauen Häuserzeilen entlangfuhren. Aus den dunklen Schlünden der Gassen tauchten ab und zu ein paar Kostümierte auf. «Ich mag die Fasnacht», sagte er. «Aber das versteht man nur, wenn man hier aufgewachsen ist.»

Sie bogen in die Hirschmattstrasse ab und rasten in Richtung Pilatusplatz. Sie überfuhren das Rotlicht, vorbei an Autos, die ausgeschert waren und am Straßenrand warteten. Sie überholten einen Linienbus und erreichten den Bahnhofplatz. Vor dem Bahnhof standen Musikanten in bunten Gewändern und brachten schmetternd Beethovens fünfte Sinfonie in wohltuender Disharmonie zu Gehör. Über die Seebrücke und dem Quai entlang wand sich ein kilometerlanger Blechwurm. Zwischendurch sah man immer wieder auf und ab hüpfende Gipsköpfe. Eine Guggenmusik kam aus entgegengesetzter Richtung. Im fahlen Schein der Straßenleuchte wirkten ihre riesigen Köpfe unheimlich. In Viererformation zogen sie über die Bahnhofstrasse die Reuss entlang. Auf Pauken einschlagende Gnomen und dahinter im Gleichschritt ziehende Figuren an der Spitze eines Wagens, der an Graf Draculas Schloss erinnerte. Der Zug wirkte düster, fast morbid. Kramer sah ihm nach. Er wäre jetzt gern mitgelaufen.

Bartolini trat aufs Gaspedal und raste an einem weiteren Tross vorbei. Kramer forderte ihn auf, seine Energien im Zaum zu halten.

«Ist etwas mit deiner Stimme?», wunderte sich Bartolini.

Kramer seufzte. «Zu viel gesungen, zu viel getanzt.»

«Das fängt ja gut an. Die Fasnacht hat noch nicht mal richtig begonnen, und du leidest schon an ihren Folgeerscheinungen.»

«Ich wurde gestern von Andy Heer, dem Gemeindepräsidenten von Meggen persönlich, eingeladen. Sonst meide ich solche Bälle grundsätzlich.»

«Und Isabelle?»

«Sie zieht die Straßenfasnacht vor.»

«Das kann ich nicht nachvollziehen.» Bartolini gab noch ein wenig mehr Gas.

«Ganz unter uns», erwiderte Kramer, der die Bemerkung nicht auf sich beruhen lassen wollte, «kann ich das Theater um Fußball, wie du es manchmal veranstaltest, genauso wenig nachvollziehen.»

«Das ist etwas anderes. Das sind Emotionen. Das ist Sport.» Bartolini ereiferte sich jetzt dermaßen, dass er ganz vergaß, wo er sich befand. «Das ist Herzblut! Amore! Passione!»

«Wenden!», schrie Kramer, als sie vor der Hofkirche ankamen. Die zwei Türme bohrten sich gespenstisch in den Nachthimmel. «Wir müssen zum Kapellplatz, schon vergessen?»

Bartolini riss das Steuer herum. Sie fuhren ins Stadtinnere zurück. An jeder Ecke standen Musikgruppen in bunten Gewändern und mit kunstvoll gestalteten Masken und Köpfen. Vor dem Hotel Schweizerhof hatte ein Wagen des Lokalradios geparkt. Ein Sprecher dokumentierte mit sich überschlagender Stimme die Gestaltung des Schmutzigen Donnerstags und sparte nicht an Lob für den diesjährigen Zunftmeister. Er hatte wohl keine Ahnung, was nur ein paar Meter weiter geschehen war. Bartolini musste das Tempo drosseln. Die Narren gingen nur langsam auseinander. Blaulicht und Martinshorn hatten nicht die gewünschte Wirkung. Die Polizei war ungewollt Teil der Fasnacht geworden. Jemand bewarf den Wagen mit Konfetti.

Nach dem Schwanenplatz bogen sie auf den Kapellplatz ein. Der Polizeiwagen fuhr durch eine schmale Gasse von Maskierten, welche den Weg zum Platz, auf dem ein Krankenwagen stand, nun freihielten. Bartolini brachte das Auto zum Stehen, und Kramer sprang vom Sitz auf und rannte los.

Außer Atem langte er bei den Männern des Rettungsdienstes an. Einer von ihnen hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete auf den Boden. Kramers Blick fiel auf einen Mann, der seltsam verkrümmt in einer riesigen Blutlache auf dem Kopfsteinpflaster lag. Der Boden war übersät von Papierfetzen und Konfetti. In der linken Brusthälfte des Mannes klaffte ein Loch.

«Wir konnten leider nichts mehr für ihn tun.» Der Sanitäter erhob sich, während er Kramer die Hand entgegenstreckte. «Dieter Habermacher, Notfallarzt.»

Der Kapellplatz glich einem Hexenkessel. Aus der Gasse dahinter ertönten rhythmische Trommelschläge, Pfeifen. «Der Mann muss sofort tot gewesen sein. Ein Schuss durchs Herz. Wir haben den Platz hier notdürftig gesichert.» Er wies nach hinten zum Sanitätswagen. «Dort sitzt ein weiteres Opfer: ein Mann, am Arm verletzt … wahrscheinlich vom Durchschuss des Projektils. Er hat Glück gehabt. Außer einer Fleischwunde hat er nichts abbekommen.»

«Halten Sie sich zu unserer Verfügung», bat Kramer den Arzt. «Der Gerichtsmediziner Dr. Lohmeyer und die Leute der Spurensicherung werden bald hier sein.» Er beobachtete Bartolini, der den Tatort mit einem Plastikband absperrte.

Kramer kehrte zum Dienstwagen zurück. Er setzte sich hinein und schloss die Tür. Der Lärm drang gedämpft ins Innere. Kramer rief den neuen Chef der Kriminalpolizei, Marc Linder, an und schilderte ihm in groben Zügen den Tatort und den Verdacht auf Tötung durch Erschießen. «Einen weiteren Mann hat es ebenfalls getroffen. Er schwebt aber nicht in Lebensgefahr. Er wird vor Ort behandelt. Ich werde sofort die erforderlichen Maßnahmen ergreifen und, sobald die Spurensicherung eingetroffen ist, den Tatbestand aufnehmen und mit der Zeugenbefragung beginnen.» Er beendete das Gespräch, nachdem Linder ihm versprochen hatte, den Untersuchungsrichter Anton Galliker sofort zu informieren.

Kramer ging zurück zu Bartolini und zog sich Vinylhandschuhe über. In diesem Moment bog der weiße Camion des Technischen Dienstes auf den Platz ein. Guido Amrein und Leo Brunner stiegen aus. Hinter ihnen erschien der Fotograf Benno Fischer. Kramer vermutete, dass Amrein ihn auf dem Weg aufgegabelt hatte. In der Regel war Fischer nämlich immer zu spät. Auch nach seiner Blitzscheidung Mitte Dezember. Jetzt war er mit einer jungen Frau zusammen und erfand neue Ausreden.

«Das muss mal ein gut aussehender Mann gewesen sein.» Kramer wandte sich an Bartolini, der neben ihn getreten war. Er kniete nieder und streifte dem Toten die Handschuhe ab. Er drehte die Handfläche des Opfers nach außen. «Er hat eine außergewöhnlich dunkle Haut. Siehst du diese Streifen da? Nur Schwarze haben solche Hände.»

Bartolini pflichtete ihm bei. «Dann verstehe ich nicht, weshalb er Schminke im Gesicht trägt.»

«Während der Fasnachtstage muss man nicht alles verstehen.» Kramer wandte sich seinem Mitarbeiter zu. «Ich lasse dich dann mal den Tatbestand aufnehmen. Ich nehme an, Dr. Lohmeier wird bald eintreffen. Ich werde mich um das zweite Opfer kümmern.» Er ließ Bartolini bei dem Toten zurück.

Ein Mann mittleren Alters in einem Froschkostüm saß im Ambulanzwagen. Der rechte Oberarm war bandagiert. Sein grün geschminktes Gesicht schien vor Schmerz verzerrt.

«Mein Name ist Thomas Kramer von der Luzerner Kantonspolizei.» Er zückte seinen Ausweis. «Fühlen Sie sich imstande, mir ein paar Fragen zu beantworten?»

«Wenn es sein muss», gab sich der Frosch bedeckt und stöhnte.

«Können Sie mir Ihre Personalien nennen?»

«Was soll ich? Ich bin doch kein Krimineller. Ich dachte immer, dass ich hier meinen Frieden habe.»

«Den werden Sie auch in Zukunft haben, hoffe ich.» Kramer suchte nach den richtigen Worten, während der Frosch ihn unterbrach.

«Ich habe mich in der Schweiz gut angepasst. Ich mache sogar bei der Fasnacht mit.» Sein Froschmaul zog sich an beiden Enden in die Höhe.

«Das ist offensichtlich.» Obwohl Kramer die Nationalität seines Gegenübers erahnte, fragte er: «Wie heissen Sie? Woher kommen Sie ursprünglich?» Dabei beförderte er Block und Schreibstift aus der Mappe. Das Diktiergerät ließ er dort, wo es war.

«Yusef Costic. Ich wohne in Kriens.»

«Ihre Nationalität?»

«Ursprünglich aus Serbien», antwortete der FroschI..

Kramer notierte das. «Erinnern Sie sich, wie spät es war, als Sie getroffen wurden?»

«Beim Urknall.» Costic lehnte sich zurück. «Ich dachte zuerst, der Mann neben mir würde mich in den Arm zwicken. Dann traf mich der Schmerz mit voller Wucht. Wenn niemand neben mir gestanden hätte, wäre ich wahrscheinlich gleich zu Boden gegangen. So fiel bin ich mit Verzögerung gefallen.»

«Was ist dann geschehen?»

«Ich wusste nicht, dass jemand geschossen hat.»

Das war nicht die Antwort auf seine Frage. «Mögen Sie sich an irgendwelche Einzelheiten erinnern?», fragte Kramer weiter. «Haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt?»

«Der Mann neben mir zeigte auf meinen Arm. Da war viel Blut.» Der Frosch hustete.

«Und den Mann, der jetzt da am Boden liegt, haben Sie nicht gesehen?»

«Doch, klar. Aber er war schon tot.» Costic fuchtelte mit dem unverletzten Arm über seinem Kopf herum. «Ich weiß natürlich, wie ein Toter aussieht …»

Kramer reichte ihm seine Karte. «Ich muss Sie bitten, heute Nachmittag um halb zwei zur Kriminalpolizei zu kommen. Wir müssen Ihre Aussage protokollieren und Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Melden Sie sich da bitte bei Frau Mathieu.»

Costic schnitt eine Grimasse. «Ich glaube nicht, dass der Schuss mir gegolten hat.»

«Davon ist auszugehen. Trotzdem dürfen wir diese Möglichkeit nicht außer Betracht lassen. Zudem geht es noch ums Versicherungstechnische. Es tut mir leid, dass Sie in diese unangenehme Situation geraten sind.»

Costic verzog erneut den Mund. «Bekomme ich Geld, wenn ich unschuldig bin?»

Die Frage blieb unbeantwortet. Kramer verließ den Sanitätswagen und kehrte zum Tatort zurück.

Später kamen noch ein weiterer Camion der Kantonspolizei und ein Leichenwagen dazu, der den Toten nach den ersten Untersuchungen vor Ort in die Gerichtsmedizin nach Zürich fahren würde. Männer in weißen Overalls sperrten nun den Platz um den Tatort mit Latten weiträumig ab und stellten Halogenleuchten und eine Schutzwand auf. Kramers Befehle gingen im Lärm der Musik unter. Er zitierte Bartolini an seine Seite.

Dieser hatte zwischenzeitlich beim Toten Schlüssel und Geldbörse gefunden. «Zumindest wissen wir jetzt, wer er ist», sagte er. «Tarek Husseini. Dem Namen nach müsste er Araber sein.» Er hielt Kramer einen Ausweis hin. «Geboren am 22. Juni 1976. Heimatort …» Er drehte die Karte um und sah auf die Rückseite. «… Bern. Hm. Also, wie ein Berner sieht der aber nicht aus.» Er schüttelte ungläubig den Kopf. «Im Portemonnaie hat es diverse Quittungen. Unter anderem auch von einem Hotel. Den Namen konnte ich jedoch nicht identifizieren, da die obere Hälfte abgerissen und nur der Teil eines Namens sichtbar ist.»

Kramer griff danach. Nur die ersten beiden Buchstaben waren zu erkennen. «M … a …» Kramer holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und schüttelte den Kopf. «Keine Ahnung.» Er stellte die Nummer von Elsbeth Rotenfluh ein. Seit seiner Beförderung war sie seine persönliche Sekretärin. Dies war für sie Anlass genug gewesen, auf ihre hochhackigen Schuhe zu verzichten. Schließlich wollte sie ihrem Chef nun auf Augenhöhe begegnen.

Doch ihre üblichen Macken hatte sie beibehalten. So auch jetzt, als Kramer sie auf der Leitung hatte. Sie war gerade dabei, einen ihrer berüchtigten Apfelkrapfen zu verzehren. «Was gibt’s?», fragte sie deshalb mit vollem Mund.

Kramer gab ihr die Koordinaten durch und bat sie nebst dem Checken der Personalien, sämtliche Hotels in Luzern und Umgebung mit den Anfangsbuchstaben Ma herauszusuchen. «Wie lange wirst du dafür brauchen?»

«Gib mir eine Stunde. Ich werde mich beeilen.» Dann hängte sie auf.

Bartolini steckte das Portemonnaie in einen Asservatenbeutel. Dann hielt er Kramer ein weißes Säckchen unter die Nase. «Das habe ich auch in seiner Jackentasche gefunden.»

Kramer musterte den kleinen Beutel. «Was kann das sein?»

«Ich tippe auf Koks.»

«Gibt es noch mehr davon?»

«Nein, das ist alles.»

«Nimm es mit ins Labor. Sie sollen den Stoff untersuchen. Haben sich schon Zeugen gemeldet?»

Hinter der Absperrung hatten sich viele Kostümierte versammelt und verfolgten die Arbeit der Polizei. Bartolini hielt Kramer seinen Schreibblock hin. Ein paar Namen waren vermerkt. «Sie warten neben dem Wagen.»

Kramer sah Gestalten neben einer der Halogenleuchten. Sie standen herum in ihren farbigen Gewändern, in Masken und bizarren Hüten, und warteten geduldig. Im ersten Moment schaffte es niemand genau zu sagen, wie alles geschehen war. Eines aber war gewiss: Der Mann auf dem Boden war erschossen worden. Hinterhältig und brutal. Dies zeigten die ersten Resultate der Spurensicherung.

Später kam Dr. Lohmeier dazu und bestätigte dies. «Das Geschoss hat das Opfer von hinten ins Herz getroffen und ist vorn wieder ausgetreten, wo es den unmittelbar davor stehenden Mann getroffen hat.» Er legte den Todeszeitpunkt fest und stellte den Totenschein aus: «31. Januar 2008, 05.00 Uhr.»

Die Techniker suchten nun fieberhaft nach dem Projektil und der Patronenhülse, was in Anbetracht des mit Konfetti bepflasterten Bodens zu einem schwierigen Unterfangen wurde.

Kramer hatte zwei kostümierte Männer zur Seite genommen. Runde Gestalten, die ihre Gipsköpfe nun auf dem Arm trugen. Er konnte nicht erkennen, was sie darstellten. Ihre Gesichter wirkten blass vor Kälte oder wegen des Schocks. Sie behaupteten, genau zum Zeitpunkt neben dem Erschossenen gestanden zu haben, an dem der Bollerschuss die Tagwache angekündigt hatte. Doch das Chaos sei enorm gewesen. Als sie den Mann bewusst wahrgenommen hätten, habe er bereits auf dem Boden gelegen.

Kramer machte sich Notizen in seiner Kurzschrift. «Kommt Ihnen irgendetwas in den Sinn, das für uns wichtig sein könnte?»

«Nein!», sagten beide einstimmig. «Aber es ist unheimlich, wenn mitten in so einer Veranstaltung ein solches Verbrechen verübt wird», ergänzte der Jüngere der beiden.

«Ich muss Sie bitten, heute Nachmittag um zwei ins Präsidium zu kommen.» Kramer händigte seine Karte aus. «Melden Sie sich dort bei Lucille Mathieu. Es tut mir leid, aber wir brauchen Ihre exakte Aussage, um die Tat zu rekonstruieren.» Er bemerkte, wie sie einander erstaunt anblickten und dann nickten, und bedankte sich.

Während der Fasnacht drehte die ganze Stadt durch. Die Plätze, Gassen und Straßen in der Altstadt quollen über von Maskierten und Kostümierten, Wagen und Guggenmusiken. Für den Mörder war es also ein Leichtes gewesen, den Schuss abzugeben, ohne dass dies jemand hörte. Vielleicht war er selbst kostümiert gewesen. Dennoch, die Kaltblütigkeit dieser Tat ließ Kramer erschauern. Der Täter musste in unmittelbarer Nähe des Opfers gestanden haben, sonst hätte er nicht so genau zielen können. Das bestätigten später auch die Ballistiker. Der Schuss war aus einer Distanz von ungefähr einem Meter abgegeben worden und hatte dem Opfer buchstäblich die Brust auseinandergerissen.

Kramer fragte die nächsten zwei Leute – ein Mann und eine Frau – und nahm ihre Personalien ebenfalls auf. «Wer hat sich als Erster um das Opfer gekümmert? Können Sie sich erinnern?»

«Wir beide», beantwortete die Frau Kramers Frage. «Und ich … also ich bin die, die die Polizei angerufen hat.»

«Haben Sie auch die Ambulanz gerufen?»

«Das war ich!» Der Mann wirkte gefasster als seine Begleiterin. «Wir wussten ja nicht, wie schwer es den Mann getroffen hatte. Ich habe auf ihn eingeredet, aber er hat das, glaube ich, gar nicht mehr mitbekommen.»

Kramer bat auch diese beiden, am Nachmittag bei der Kantonspolizei vorbeizukommen. Er nannte die Zeit, notierte den Namen seiner Mitarbeiterin auf der Visitenkarte und überreichte diese. «Melden Sie sich bei Lucille Mathieu.»

In der Zwischenzeit war auch Marc Linder eingetroffen. Er schätzte die Lage ein und kam dann auf Kramer zu. «Wie sieht es aus?» Linder war in Kramers Alter, großgewachsen, mit graumelierten Haaren und dunklen ausdrucksvollen Augen, Thurgauer Dialekt. «Weiß man schon etwas über den Toten?»

«Man hat verschiedene Gegenstände gefunden», erwiderte Kramer, «eine Identitätskarte, ausgestellt auf den Namen Tarek Husseini. Frau Rotenfluh prüft gerade, wo er wohnt. Aus seiner Hautfarbe zu schließen, würde man meinen, er sei ein Secondo oder ein Tourist, der an die Fasnacht nach Luzern gekommen ist.» Kramer hielt einen Moment inne. «Tatsächlich aber ist sein Heimatort Bern. Ob er da auch wohnt, wird noch abgeklärt. Zudem haben wir eine kleine Menge von einer Droge gefunden. Es könnte sich um Kokain handeln.»

Linder warf einen Blick auf die verdunkelte hintere Scheibe des Krankenwagens. «Aha, das klingt interessant. Sind wir in ein Drogennest getreten?»

«Das kann ich nicht aus dem Stegreif sagen», hielt sich Kramer bedeckt.

«Was meinen Sie, wann können Sie mit dem Rapport beginnen?»

«Um acht Uhr sollte ich bereit sein.» Kramer verstaute seinen Notizblock in der Mappe. «Bis dahin müssten die wichtigsten Infos zusammengetragen sein.»

«Gut, Sie können mir danach das Protokoll zukommen lassen. Wie sieht es aus mit einer Pressekonferenz? Da gibt es eine Dame, die nicht lockerlässt. Seit einer halben Stunde liegt sie mir in den Ohren.»

«Tanja Pitzer etwa?» Als Linder nickte, sagte Kramer: «An die müssen Sie sich erst noch gewöhnen. Ihre Berichte erscheinen unter dem Kürzel ‹Tapi›. Bestimmt haben Sie auch schon etwas von ihr gelesen. Die wird Ihnen noch oft auf die Pelle rücken. Aber nehmen Sie es locker. Für einen Bericht für die Presse dürften wir heute Mittag soweit sein.» Trotzdem war ihm das nicht geheuer. Woher hatte diese Tapi so schnell erfahren, was hier passiert war?

Linder schien fürs Erste zufrieden. Er übte sein Amt erst seit Januar dieses Jahres aus. Nachdem sein Vorgänger Sven Glanzmann seinen Platz bei der Kantonspolizei Luzern hatte räumen müssen, war er Ende Dezember vereidigt worden. Er war am Bodensee aufgewachsen und hatte dort nach erfolgreich bestandenem Anwaltspatent seine Karriere bei der Polizei gestartet. Er hatte sich in Romanshorn unter anderem in der Abteilung für Leib und Leben emporgearbeitet und war so zum Chefposten der Kriminalpolizei gekommen, als der Ende letzten Jahres ausgeschrieben war. Linder war verheiratet und kinderlos.

Anfänglich hatte es in den Abteilungen einiges über den Neuen zu meckern gegeben, der nicht nur frischen Wind gebracht, sondern auch mit eigenwilligen Methoden für Furore gesorgt hatte. Auch Kramer bekundete Mühe, da er ihm direkt unterstellt war. Linder war einer, der die Nase in alles steckte, auch in Dinge, die ihn nicht unmittelbar betrafen. «Wenn der so weitermacht, wie er begonnen hat», hatte Bartolini zu Kramer gesagt, «wird er als Herzinfarktkandidat enden.» Kramer hatte ihm widersprochen: Es sei immer schwierig, wenn ein Neuer in ein gut eingespieltes Team komme und man einfach einmal abwarten müsse, wie sich das Ganze entwickle. Dass er selbst nicht lange dabei zusehen würde, hatte er für sich behalten und sich vorgenommen, seine Sympathiepunkte beim Polizeichef Hürzeler zu nutzen, die er seit dem letzten Fall auf sicher hatte.

Allmählich wurde die Stadt in ein bläulich flimmerndes Licht getaucht. Der Morgen dämmerte, wenn auch nur zaghaft. Der Pilatus ragte gestochen scharf in den Himmel. Seit Anfang Januar war es der erste nebelfreie Tag.

Kramer fuhr mit Bartolini zurück zum Polizeirevier. Unmittelbar vor der Treppe, die zum Gebäude führte, parkte ein Polizeiwagen. Zwei Beamte zogen zwei Männer in Handschellen von den Sitzen. Einer von ihnen hatte eine blutende Schramme im Gesicht. Kramer grüßte seine Kollegen und schritt Richtung Eingang. Er winkte Marion zu. «Ich glaube, es gibt Arbeit», sagte er, mit dem Kopf nach draußen nickend.

«Ich weiß. Das Übliche an solchen Tagen. Es geht irgendwie nie ohne Gewalt. Und bei dir? Was ist da auf dem Kapellplatz geschehen?»

«Ein Schuss aus nächster Nähe», antwortete er. «Es gibt einen Toten.»

Marion schwieg bedrückt.

Kramer nahm die Treppe, weil die Aufzüge unterwegs waren. Er steuerte das Großraumbüro an, wo der erste Lagebericht gemacht werden sollte.

Auch der Untersuchungsrichter Anton Galliker war anwesend. Er hatte sich von seiner Herzoperation erholt, und nach dem Kuraufenthalt in Seewis ging es ihm wieder gut. Er hatte sogar abgenommen. Elsbeth Rotenfluh – mit ihrem Laptop fast zusammengewachsen – saß neben Lucille Mathieu, hatte ihre eigene Meinung zum Geschehen und ereiferte sich: «Es wundert mich, dass nicht schon früher etwas geschehen ist. In diesem Chaos ist es ein Leichtes, jemanden umzubringen. Da fällst du als Maskierter nicht auf!» Sie strich sich behutsam über ihre Dauerwelle und presste ihre rosa geschminkten Lippen aufeinander.

Lucille hob nur die Schultern. Seit zwei Monaten lebte sie mit Kramers Sohn Stefan unter einem Dach. Sie hatten in der Luzerner Altstadt eine Altbauwohnung bezogen, ein schmuckes Domizil mit vier Zimmern an der Zürichstrasse in der Nähe des Bourbaki und waren jetzt daran, ihr eigenes Zuhause einzurichten.

Nach und nach fanden sich alle im Großraumbüro ein: sechs Ermittler, drei Männer des Technischen Dienstes sowie ein Pressesprecher, zwei Juristen und die Sekretärin. Es schien, als wäre Kramer nicht der Einzige, der die letzte Nacht nicht im Bett verbracht hatte. Auch einige andere Kollegen litten anscheinend am Fasnachtsvirus und hielten sich jetzt mit einer Tasse schwarzen Kaffees wach.

Kramer beorderte Elsbeth an seine Seite. «Hast du schon herausgefunden, wo unser Opfer wohnte?»

Elsbeth legte Dokumente auf den Tisch. «Nun, das war gar nicht so schwierig. Soll ich gleich beginnen?»

«Einen Augenblick, bitte.» Kramer bat vorab die Anwesenden um ihre Aufmerksamkeit. «Ich begrüße Sie zum ersten Rapport im Fall Husseini. Er wurde heute Morgen um fünf Uhr auf dem Kapellplatz von einem unbekannten Täter erschossen. Wir können davon ausgehen, dass der Schuss ihm gegolten hat.» Er wandte sich an Elsbeth, die sich in der Zwischenzeit wieder vor ihren Computer gesetzt hatte. «Du konntest das Opfer identifizieren?»

Elsbeth machte sich für das Schreiben des Protokolls bereit. «Die Angaben auf der ID genügten. Ich habe den Namen gegoogelt. Er ist kein Unbekannter. Er hat sogar eine eigene Website, wo er ein paar seiner Bilder präsentiert. Nicht sehr professionell. Es scheint, als hätte er die Seite seit längerer Zeit nicht mehr aktualisiert. Er hat ein Atelier in Ascona und bezeichnet sich selbst als freischaffenden Kunstmaler.» Elsbeth tippte, während sie sprach. «Vielleicht werden jetzt die Preise für seine Bilder steigen.»

Ein Raunen ging durch den Raum.

Kramer wollte das überhört haben. «Sonst noch etwas zu seiner Person?»

«Ich habe mit den Zuständigen der Gemeinde telefoniert. Die gaben mir bereitwillig Auskunft. Seit zehn Jahren habe er allein in einem heruntergekommenen Atelier als sogenannter Wochenaufenthalter gewohnt. Seine Eltern leben», Elsbeth hielt kurz inne, «man höre und staune, hier in der Stadt. Sein Vater sei ein Rebell aus dem Osten, ein Ehemaliger des Prager Frühlings, der in der Schweiz eine Afrikanerin geheiratet habe, sagte man mir. Aus dieser Verbindung stammt unser Opfer.»

«Da sieht man wieder einmal, wie multikulturell doch unsere Schweiz ist.» Bartolini grinste die anderen an.

«Daher die dunkle Hautfarbe.» Lucille runzelte die Stirn. «Sein Vater ist ein Tscheche? Existierte nicht ein islamischer Geistlicher mit diesem Namen? Ist jedenfalls ein sonderbarer Name für einen Tschechen. Oder ist er arabischen Ursprungs? Warum hat er nicht bei seinen Eltern übernachtet?»

Kramer konnte Lucilles Äußerungen nicht nachvollziehen. «Er war ein erwachsener Mann.» Er überlegte. «Vielleicht wollte er nicht, dass man seine Begleitung kennenlernt.»

«Das würde schlussendlich auch erklären, weshalb sie das Weite gesucht hat.»

«Falls er tatsächlich in Begleitung hier war», ergänzte Bartolini.

Kramer fuhr fort: «In seiner Geldbörse war die Quittung eines Hotels – mit dem Datum von gestern.» Er wandte sich erneut an Elsbeth. «Konntest du bereits herausfinden, in welchem Hotel unser Opfer logiert hat?»

«Im Hotel Magic.»

«Aha. Kennt das vielleicht …?»

«Das kennt doch jeder», unterbrach ihn Bartolini.

«… jemand?»

Dessen ungeachtet redete Bartolini weiter. «Es befindet sich über der Brasserie Bodu. Ist ein Themenhotel, ein bisschen wie ein Film von Walt Disney. Man kann dort in einem Piratenschiff schlafen.»

«Ja, das kenne ich auch», ergänzte Elsbeth. «In diesem Hotel werden Kindheitsträume ausgelebt.» Mit einem Seitenblick auf Bartolini schmunzelte sie ein wenig. «Soll ich das auch protokollieren?»

«Oder auch Erwachsenenträume …», ergänzte Bartolini.

Kramer überging das. «Lassen wir uns nicht zu sehr vom Fasnachtsvirus infizieren», sagte er. Und nach einer kurzen Pause: «Bei dem Toten wurden Drogen gefunden.» Er wandte sich an Guido Amrein. «Weiß man schon, welche?»

«Knapp zwanzig Gramm Kokain, wie vermutet. Es sieht danach aus, als hätte man schon davon konsumiert. Das müsste einen Marktwert von circa tausendsechshundert Franken haben.»

«Vielleicht war er ein Gelegenheitskonsument», vermutete Bartolini. «Es gibt mehr Leute, die sich ab und zu eine Linie reinziehen, als man denkt.»

«Warum besaß Husseini für eineinhalb Ameisen Koks, wenn er nur gelegentlich konsumierte?» Kramer schüttelte den Kopf. «Das geht nicht auf.»

«Vielleicht hat er die Droge unter die Leute bringen wollen.»

«Wir sollten unsere Kollegen vom Betäubungsmitteldezernat beiziehen.» Kramer wandte sich erneut an Bartolini. «Setze dich nach dem Rapport gleich mit ihnen in Verbindung. Vielleicht findet man im Vorstrafenregister einen Namen, der uns nützlich sein könnte.» Er zögerte. «Es gibt noch ein zweites Opfer. Yusef Costic, gebürtiger Serbe, wohnhaft in Kriens. Er wurde ambulant behandelt. Aufgrund des Durchschusses. Das Projektil ist vorher abgebremst worden …» Er ließ ein paar Sekunden verstreichen. «Wir müssen davon ausgehen, dass sich Costic zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hat. Trotzdem möchte ich, dass sein Umfeld näher untersucht wird.»

«Bei denen muss man mit allem rechnen», sagte Bartolini.

Kramer warf seinem Untergebenen einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte er sich an Lucille. «Ich bitte dich, seine Aussage zu protokollieren und seinen Leumund zu prüfen. Yusuf Costic wird um halb zwei in dein Büro kommen. Danach sind weitere Zeugen vorgeladen.» Kramer reichte eine Namensliste über den Tisch. «Bitte teilt euch die Arbeit, du und Bartolini.»

Lucille nickte. «Alles klar, Chef.» Das hatte sie noch nie zuvor zu ihm gesagt.

«Was wissen wir noch?» Kramer wandte sich wieder an Elsbeth. «Hast du mit dem Hotel bereits Kontakt aufgenommen?»

«Ja, habe ich. Husseini ist anscheinend nicht allein dort abgestiegen. Eine Dame soll ihn begleitet haben.»

«Hat die Dame auch einen Namen?»

«Leider nein.» Elsbeth zog die Augenbrauen hoch. «Vielleicht müsste man mit der Empfangssekretärin sprechen, die gestern Dienst hatte. Die vorliegenden Angaben stammen vom Anmeldeschein. Mehr konnte man mir nicht sagen. Scheinbar ist nur eine verschlossene Reisetasche des Toten zurückgeblieben.»

«Der Technische Dienst soll sich gleich nach dem Rapport darum kümmern», wandte sich Kramer an Guido Amrein. «Vielleicht werdet ihr noch mehr von dem Zeug finden.» Und an den Rest seines Teams gewandt: «Sie haben eine Menge Arbeit, die auf Sie wartet. Fangen Sie im Hotel an. Und du, Elsbeth, wirst sämtliche Kostümverleihe in der Stadt Luzern anrufen. Wenn unser Toter seine Kleider geliehen hat, so muss er oder seine Begleitung einen Namen hinterlassen haben, oder die Verleiherin erinnert sich an ihn.» Kramer grinste schief. Er ärgerte sich über seine Müdigkeit und schwor sich, nie mehr einen Tropfen Alkohol anzurühren, wenn er anderntags arbeiten musste. «Vernehmt alle noch verbliebenen Zeugen. Ich werde indes die Hinterbliebenen ausfindig machen.» Und wieder an Elsbeth gewandt: «Das Protokoll kannst du gleich Linder bringen.»

Später rief er Isabelle an und erklärte ihr, dass er etwas später zum Mittagessen kommen werde.

Husseini. Prager Frühling. Der Name passte nicht zur Tschechoslowakei. Auch mit dem Prager Frühling brachte Kramer anderes in Zusammenhang. Als in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 die fünf Staaten des Warschauer Pakts in der tschechoslowakischen Hauptstadt einmarschiert waren, hatten sich seine Eltern mit den Menschen dort solidarisch erklärt. Fähnchen aufgehängt, rot-blau-weiße Banner an der Heckscheibe des Autos, sogar am Küchenfenster. Kramer erinnerte sich, dass seine Mutter oft geweint hatte, weil sie das grenzenlose Leid nicht begreifen konnte. Sie hatte den Zweiten Weltkrieg miterlebt, und die militärische Intervention im Osten hatte alte Wunden wieder aufgerissen. Die Bilder von sowjetischen Panzern auf dem Wenzelsplatz in Prag hatten sie sehr bewegt, und sie hatte mit den Ereignissen gehadert, die man seit der Erfindung des Fernsehers am Abend direkt ins Wohnzimmer geliefert bekam.

Vor ihm tauchte eine Villa auf. Ein hellgelbes Gebäude mit Sprossenfenstern direkt am Waldrand und unverbauter Aussicht auf den See und die Alpen. Kramer stellte das Auto etwas abseits an den Straßenrand und begab sich zu einem Tor in einer langen weißen Umzäunung, klingelte an der dort angebrachten Glocke und wartete. Der Park war weitläufig und mit regelmäßig angeordneten Sträuchern bestückt. In dieser Jahreszeit trugen sie keine Blätter. Ein Kiesweg führte vorn zu einer Treppe und einem markanten Eingang. Links und rechts davon standen Säulen. Kramer rätselte, welchen Beruf man ausüben musste, um sich ein solches Anwesen leisten zu können. Dann vernahm er das Summen des Türöffners.

Er öffnete das Tor und begab sich auf den Weg. Schon von weitem sah er, wie die Haustür geöffnet wurde und eine dunkelhäutige, füllige Frau vor den Eingang trat. Sie trug eine weiße Schürze und darunter ein dunkelblaues Kleid. Ihre krausen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Kramer fiel es schwer, ihr Alter zu schätzen.

«Sie wünschen?» Sie sprach akzentfreies Deutsch. «Wollen Sie zu Dr. Van den Broegh? Dann muss ich Sie enttäuschen, der kommt erst in zwei Monaten wieder.»

«Nein, ich möchte zu Herrn und Frau Husseini.» Kramer unterließ es, seinen Ausweis zu zeigen. Die Frau – er nahm an, dass sie die Mutter des Toten war – stieß die Tür weit auf und bat ihn, einzutreten. «Ich werde sofort meinen Mann holen.»

Jetzt verschwanden Kramers letzte Zweifel.

«Kommen Sie und setzen Sie sich in die Küche.» Und weg war sie.

Die Küche war ganz in Weiß gehalten und so groß wie ein halbes Volleyballfeld. Die lackierten Kästen reichten bis unter die Decke und hatten runde Messinggriffe. Mitten im Raum stand ein langer, eleganter Tisch mit acht Stühlen. Der Boden war aus Carrara-Marmor und auf Hochglanz poliert. Irgendwie konnte Kramer das Haus nicht mit den Husseinis in Verbindung bringen.

«Wir sind schon seit zehn Jahren bei Familie Van den Broegh angestellt», erklärte ihm die Frau, als sie in die Küche zurückkehrte. Vielleicht konnte sie Gedanken lesen. «Mein Mann wird gleich kommen. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?»

Kramer bejahte. Sie betätigte die moderne Kaffeemaschine, die auf einer Ablage stand, und holte Tassen und Teller aus dem Schrank. «Sie wollten Pjetr sprechen?»

«Ich wollte Sie beide sprechen», korrigierte Kramer. «Draußen am Türschild steht Husseini, und in den Adressbüchern sind Sie auch unter dieser Anschrift zu finden. Wie kommt das?»

«Dr. Van den Broegh wohnt in den Niederlanden und nutzt dieses Haus hier nur im Urlaub«, sagte die Frau. «Er möchte hier nicht erkannt werden. Wir machen den Abwart und wohnen ganzjährig hier. Ich heiße übrigens Faizah Husseini. Verzeihen Sie mir, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe.»

Ein schlanker Mann trat in die Küche. «Entschuldigen Sie», sagte er höflich, «meine Frau hat mich über Ihr Kommen informiert. Aber ich hatte im Treibhaus zu tun.»

Kramer stellte sich mit Namen und Ausweis vor.

«Was führt Sie denn zu uns?» Husseini blickte Kramer mit durchdringenden blauen Augen an. Nicht unfreundlich, aber aufmerksam. Er ging zur Spüle und wusch sich die Hände.

«Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten.» Kramer sah, wie Faizah Husseini zusammenfuhr, als hätte sie erst mit Verzögerung begriffen, wer er war.

«Sie sind von der Polizei?»

«Wann haben Sie Ihren Sohn Tarek zum letzten Mal gesehen?»

Die beiden schauten einander verunsichert an. «An Weihnachten», antwortete Husseini, während er sich die Hände an der Hose abtrocknete.

«Ja, er war zu Weihnachten hier», doppelte Faizah nach. «Er kommt selten zu uns, weil er ja immer so viel zu tun hat. Obwohl er eigentlich in Luzern wohnt. Er ist hier angemeldet. Wissen Sie, er malt wunder …»

Husseini winkte ab. «Warum wollen Sie das wissen?» Er hatte die Hände aufgestützt, lehnte sich über den Tisch und fixierte Kramer mit starrem Blick.

«Seither nicht mehr?» Kramer wollte diese Nachricht nicht überbringen. In solchen Momenten verwünschte er seinen Beruf, hätte sich lieber als Postbeamten gesehen oder als Verkäufer in einem Supermarkt.

«Seither nicht mehr.» Der Vater war jetzt äußerst angespannt.

«Kommen Sie.» Faizah ging voraus in ein helles Wohnzimmer. Kramer folgte ihr zögernd und gelangte in einen ebenso edel ausgestatteten Raum, wie schon die Küche hatte erahnen lassen. Auch hier war alles in Weiß gehalten. Eine weiße Wohnlandschaft auf hellem Boden, ebenfalls aus Carrara-Marmor. Gemälde zierten die Wände. Kramer ließ sich für einen Augenblick von der Schönheit eines Bildes bezaubern – einer unwirklichen Schönheit allerdings, die von übergroßen Planeten und Kometen in einer Winterlandschaft beherrscht wurde. Auf einem anderen Gemälde leuchtete ein Mond über einer unwirtlichen Gegend. Davor im Halbschatten magere Baumgerippe, die am Rande eines surrealen Sumpfes standen. Nebelschwaden in Form eines Frauenkörpers überzogen die Leinwand.

«Diese Bilder hat unser Sohn gemalt», erklärte Faizah, und Kramer meinte, an ihrer Haltung erkennen zu können, dass sie seine Nachricht nicht erfahren wollte. «Das war eine frühe Phase seines Schaffens», ergänzte sie. «Heute wählt er freundlichere Motive.»

Husseini, der in der Küche geblieben war, rief sie zurück. «Du solltest Herrn Kramer die Gelegenheit geben, den Grund seines Besuchs zu nennen.»

«Selbstverständlich.» Faizah nickte Kramer zu. «Kommen Sie, ich serviere Ihnen den Kaffee.»

Kramer folgte ihr und blieb dann stehen. Ihm war unbehaglich und er fürchtete sich davor, diesen Menschen mit der Realität zu konfrontieren, mehr noch, ihr Leben zu zerstören. Er schluckte leer. «Ihr Sohn ist heute Morgen in der Stadt gefunden worden.»

«Er ist in Luzern?» In Faizahs Augen stand Überraschung.

«‹Gefunden?›» Husseinis Hände verkrampften sich. «‹Gefunden› – das bedeutet nichts Gutes, oder?»

«Hat er sich betrunken?» Faizah klammerte sich an die letzte verbliebene Möglichkeit, bevor sie sich dem Unfassbaren stellen musste. «Das sähe ihm ähnlich. Er weiß doch, dass er Alkohol nicht verträgt, dieser Narr.»