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»Wer heute über die Liebe schreibt, kann es eigentlich nur so machen.« Süddeutsche Zeitung Es fängt an mit einem Ende. Ein Mann verlässt eine Frau. In einer Krankenhauscafeteria in New York verkündet Jimmy der völlig überraschten Christy, es sei aus, ohne jedoch zu ahnen, dass ihrer beider Geschichte damit erst wirklich losgeht. Christy, zutiefst verunsichert, macht sich auf den Weg zu ihrer Familie nach Texas. Jimmy, der seinen Entschluss sofort bereut, nimmt die Verfolgung auf. Sein mit aller Verve vorgebrachter Heiratsantrag wirftChristy kurzzeitig aus der Bahn. Heiraten bedeutet auch Abschied nehmen. Und so wird ihre gemeinsame Fahrt nach Houston zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, die sie mit den verborgenen Quellen ihrer Ängste, Leidenschaften und Hoffnungen konfrontiert.
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Seitenzahl: 403
Ethan Hawke
Aschermittwoch
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Franca Fritz und Heinrich Koop
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Für Karuna
»Let’s do some livin’, after we die.«
The Rolling Stones
Ich fuhr durch die Gegend, in meinem 69er Chevy Nova 370 mit Vierfachvergaser, Leichtmetallfelgen und Doppelauspuff. Ein Superschlitten. Ich hatte die Schalldämpfer ausgebaut, damit er wie eine Harley klang; die Leute stehen auf so was. Beim Fahren starrte ich die ganze Zeit durchs Fenster in den Außenspiegel und schaute mich selbst an. Das tue ich immer: Ich muss einfach in alles hineinstarren, was spiegelt. Keine besonders schmeichelhafte Eigenschaft, und ich wäre auch froh, wenn ich’s nicht täte, aber ich tu’s nun mal. Ich bin so eitel wie nur was. Einfach widerlich. Und wenn ich in den Spiegel schaue, dann fast immer, um nachzusehen, ob ich überhaupt noch da bin, oder weil ich mir wünsche, ich wäre jemand anderes, ein mexikanischer Bandito oder so was in der Art. Ich habe einen Schnurrbart. Die meisten Typen mit einem Schnurrbart sehen schwul aus, aber ich nicht. Ich fummle nur viel zu viel daran rum. Eigentlich fummle ich ständig daran rum. Ich weiß noch nicht mal, warum ich euch das jetzt erzähle. Ich starre mich einfach immer nur an und wünschte, dass ich’s nicht täte. Denn eigentlich macht es mir überhaupt keinen Spaß.
Meine Finger waren am Lenkrad festgefroren. Albany im Februar ist ein rußigschwarzer Eisbrocken. Die Frau im Radio sagte die Zeit und die Temperatur an: 8.42 Uhr und fünf Grad minus. Es war jetzt fünfzehn Stunden her, dass Christy und ich Schluss gemacht hatten, und ich stand komplett neben mir. Im Augenblick trug ich meine Uniform, die für Paraden, ziemlich eindrucksvoll. In einer Uniform fühlst du dich, als wärst du jemand, jemand mit einem Ziel, selbst wenn du gar keins hast. Du bist was Besonderes, irgendwie verbunden mit der Vergangenheit. Du bist nicht irgendjemand, irgendein Zivilist – du bist edel. Die ganze Sache mit der »schönsten Zeit im Leben eines Mannes« hat nur einen Haken: Es ist nichts als eine beschissene Lüge.
Dies ist meine Geschichte.
Mein Befehl war einfach unglaublich – mein Lieutenant ist ein völlig durchgeknallter Flachwichser. Eigentlich war das hier sein Job. Aber jetzt musste ich der Frau von irgendeinem Typen beibringen, dass jemand ihrem Mann den Kopf weggeschossen hatte. Der Name des Soldaten lautete Kevin Anderson, und er war am Abend vorher vor dem Paradise umgelegt worden. Das Paradise ist eine Bar, in der die ganzen schwarzen Jungs abhängen. Wahrscheinlich Drogen oder irgendein dämliches Besäufnis. Ich hatte ihn überhaupt nicht gekannt.
Abgesehen davon stand ich selbst auch völlig unter Strom. Ich hatte die Nacht nicht geschlafen und ständig Speed eingeworfen: Crystal Meth. Mit Christy Schluss zu machen war ein Riesenfehler gewesen; das wusste ich in dem Moment, als ich ging.
Die Army ist noch bescheuerter, als man sich vorstellen kann. Manchmal befiehlt mein Lieutenant meinen Leuten und mir, in die Stadt zu marschieren und ein paar Parkplätze zu bewachen. Das Gelände sichern. Ich bin damals freiwillig zum Militär gegangen, weil ich irgendwas Nützliches tun wollte. Davor war ich auf dem College, zwei Jahre Kent State, verlorene Zeit. Wer will schon so viel Kohle ausgeben, nur um Bier zu trinken und sich einen Tripper zu holen? Mein Dad war in der Army gewesen, und ich hatte als Junge dermaßen viel Zeit damit verbracht, Bilder von MGs zu zeichnen und von Soldaten, die sich gegenseitig das Gehirn wegpusten, dass ich irgendwann dachte, es wäre sinnvoll, in die Army einzutreten. Ich glaubte, es wäre mein Schicksal, und das stimmte auch, aber nur weil etwas dein Schicksal ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch einen Sinn haben muss.
Ich hatte irgendwie die Vorstellung, ich stehe eines Tages in einem McDonald’s und ein beknackter Irrer reißt eine Automatik aus der Tasche und fängt an, Leute umzulegen, und ich bin der einzige Typ im ganzen Laden, der ihn aufhalten kann; ich dachte, damit könnte ich ein bisschen Zivilcourage und Heldenmut zeigen. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, dass es schwerfällt, sich von den anderen abzuheben. Als ich zwölf war, habe ich eine funktionsfähige Armbrust gebaut, mit Bolzen, die ich total tief in einen Baum versenken konnte. Das war so ziemlich das Coolste, was ich je hingekriegt habe.
Heute ist das einzig Interessante oder Bemerkenswerte an mir mein Auto. Einfach geil. Silbern, mit breiten schwarzen Rallyestreifen in der Mitte. Ich hatte nie Probleme, Bräute aufzureißen.
Ich raste in einem Affentempo durch North Albany in den »schwarzen« Teil der Stadt, auf der Suche nach der Wohnung von diesem Anderson: 2376 1/2 Hawthorne, Apartment B. Seine Personalakte lag neben mir auf dem Beifahrersitz. Die Straßen waren rutschig, und überall sah man dreckverkrustete Schneehaufen. Das Haus war leicht zu finden, ein großer alter Kasten, den man in acht Wohnungen aufgeteilt hatte. Alle Häuser in dieser Straße sahen genau gleich aus. Offensichtlich war das hier mal der protzige Teil der Stadt gewesen – vor etwa achtzig Billionen Jahren.
Ich saß in meinem Nova unter einer riesigen, alten, kahlen Platane, direkt neben der Auffahrt zum Haus von diesem Anderson. Bäume sind was Tolles. Mein Dad stand auf Bäume. Er verdiente sein Geld damit, Bäume zu pflanzen und zu schneiden. Manchmal hing er sechs Meter über der Erde und fuhrwerkte mit einer jaulenden Kettensäge herum, während überall abgestorbene und kranke Aste zu Boden prasselten. Ich liebte meinen Dad. Wenn ich euch spüren lassen könnte, wie es war, acht Jahre alt zu sein und ihm dabei zuzusehen, wie er in irgendeinem gewaltigen Ahorn hing, sich selbst etwas vorsang und mit den Ästen sprach, wenn ihr gehört hättet, wie er nach unten brüllte: »Jimmy, wenn du dreizehn bist und zu mir ziehst, dann werden wir ’ne Menge Spaß haben, mein Junge. Darauf kannst du deinen kleinen Arsch verwetten!« – wenn ihr nur für diesen Augenblick in meiner Haut gesteckt hättet, wüsstet ihr genau, wie es ist, ich zu sein. Als ich älter wurde, arbeitete ich in den Sommerferien immer beim Bodenpersonal mit und half beim Schneiden und Roden. Wenn es ums Landschaftsgärtnern ging, konnte mir keiner was vormachen. Diese Platane vor mir war knapp zweihundert Jahre alt, und solange nicht irgendein Blödmann auf die Idee kam, sie umzuhauen, würde sie auch noch lange nach meinem Tod hier an der Hawthorne Avenue stehen. Keine Ahnung warum, aber irgendwie war das ein gutes Gefühl.
Ich griff mir an die Nase, um zu prüfen, ob sie blutete. Vor vier Stunden hatte ich mir die letzte Line reingezogen, zusammen mit Tony, Eric und Ed. Ed hatte den Stoff besorgt. Zuerst wollte ich nicht mitmachen, aber dann hackten sie das Zeug klein, und ich hatte ja gerade mit Christy Schluss gemacht, und Peng – bevor ich richtig merkte, was los war, redete ich drei Stunden lang nur noch über die Knicks und Patrick Ewing und John Starks. Tony, Eric und Ed sind drei echte Schwachköpfe, aber ich hänge trotzdem die ganze Zeit mit ihnen rum. Der Gedanke, dass ich so bin wie sie, macht mich ziemlich fertig. »Lieber allein sein als sich wünschen, allein zu sein.« Das hat mein Dad immer gesagt, aber ich habe noch nie auf jemanden gehört. Ich sage das ganz ohne Stolz, denn eigentlich ist es gut und richtig, wenn man auf andere Leute hört.
Ich hatte überhaupt keine Lust, aus dem Auto zu steigen. Mein Lieutenant ist ein Flachwichser. Wenn ich nur an ihn denke, zittert mein ganzer Körper vor Wut.
Gerade mal halb neun morgens, und der ganze Tag war schon versaut. »DIE ARMY. SCHON VOR NEUN UHR ETWAS ERLEBEN …« War das nicht der Werbespruch im Fernsehen?
Ich hatte immer wieder mal daran gedacht, zum Militär zu gehen, aber erst der Film »Top Gun« hat mich endgültig überzeugt. Tom Cruise auf der Ninja, wie er mit der Blonden rummacht – absolute Spitze! Das war ich. Klingt idiotisch, und ich kapier’s heute auch nicht mehr; aber als ich aus dem stockdunklen Kino kam und auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums stand, wo mir die brütend heiße Augustsonne auf die Birne knallte, hatte ich das Gefühl, der Film wäre ein Fingerzeig Gottes.
Natürlich hab ich’s nie bis in irgendeine tuntige Elite- Pilotentruppe geschafft. Das bei weitem Aufregendste in meinem Leben waren die Drogen. Dabei hatte ich am Anfang noch Ziele. Ich wollte zu den Special Forces, den Fallschirmjägern oder vielleicht sogar zum FBI. Und jetzt lag mein Selbstvertrauen endgültig in Trümmern. Christy war der Grund für fast alle guten Dinge, die in meinem Leben passiert sind. Ich vermisste sie. Ich wünschte, ich wäre ihr nie begegnet. Ich wollte sterben, um das Unvermeidliche zu vermeiden – sie wieder zu enttäuschen.
»Du willst Schluss machen, oder?«, hatte Christy gefragt.
Sie arbeitete im Krankenhaus, und wir saßen im siebten Stock in der Cafeteria und machten Schluss. Beide in unseren Uniformen. Sie hatte ihre Krankenschwesterntracht an, einen blauen Rock und eine blaue Bluse, dazu ein Schildchen mit ihrem Namen darauf, das auf ihrer Brust festgesteckt war, und ich steckte in meiner üblichen grünen Bürouniform. Ihr langer, schlaksiger Körper wand sich unbeholfen in einem kleinen roten Plastikstuhl, ihre Haut wirkte fast durchsichtig, und ihre großen, besorgten grünen Augen waren hinter den ovalen Gläsern einer Schildpattbrille gefangen. Mein Gott, ich wollte ihr wirklich nicht wehtun.
»Sag schon, Jimmy, du willst Schluss machen, oder?«, fragte sie noch einmal.
»Ja«, antwortete ich.
»Du machst mich krank«, flüsterte sie. »Die Leute haben mir immer davon erzählt, was das für ein Gefühl ist, aber ich hab’s noch nie erlebt. Es ist furchtbar«, sagte sie mit leeren Augen, als ob das Ganze bereits zwei Jahre zurückläge.
Wir waren gut anderthalb Jahre zusammen gewesen, und ich wusste nicht warum, aber sie liebte mich wirklich mit Haut und Haaren.
»Wenn du jetzt zu deinen hohlköpfigen Freunden zurückgehst und denen erzählst, dass du mich verlassen hast und wie labil ich bin, und sie dir erzählen, was für eine verrückte Braut ich bin und den ganzen Quatsch, dann denk daran, dass sie bloß froh sind, dass du wieder da bist und dich mit ihnen besäufst. Sie kennen dich nicht. Du bist ihnen scheißegal. Mir aber nicht. Ich liebe dich von ganzem Herzen, und wenn irgendjemand anders dich irgendwann mal so sehr liebt wie ich, dann denk bitte dran, dass es nichts gibt, was du tun musst – lass es einfach nur zu.« Sie lachte kurz. »Du bist meine größte Enttäuschung.« Sie gab mir keinen Abschiedskuss, sondern warf mir nur noch einen dieser leeren, halb schiefen Blicke zu, stand auf und ging den Flur hinunter. Ihre schwarzen Lederschuhe klackten auf dem glänzenden Krankenhausboden.
Eine Familie kam aus einem der Nachbarhäuser heraus und spazierte den Hawthorne Drive entlang, allesamt in Anzügen, Kostümen und dazu passenden niedlichen kleinen Kindersachen. Sie waren auf dem Weg zur Kirche und sahen richtig glücklich aus. Ich mochte sie. Es ist einfach, Fremde zu mögen; schwierig wird es bei Leuten, die man gut kennt. Ich war mir sicher, ich würde die Andersons mögen. Mein Gott, ich wünschte, Kevin wäre noch am Leben.
Iowa University – mein Lieutenant ist auf die Iowa University gegangen, sonst nichts. Jeder kann auf die Iowa University gehen. Das hier war sein Job.
Mit einer einzigen schnellen Bewegung stieg ich aus dem Wagen aus und schloss die Tür. Am Zuschlagen der Metalltüren konnte ich hören, wie kalt es war. Mein Körper fühlte sich ganz zerbrechlich an – als ob meine ganze Hand aus Glas wäre und zerspringen würde, wenn ich irgendwas berührte. Mein Kopf fühlte sich an, als würde mir jeden Augenblick eine Tarantel aus der Nase kriechen. Wenn ich von Drogen runterkomme, scheinen die Dinge um mich herum immer ganz anders zu sein, als ob die Kids, die in den Bäumen herumklettern, mit den Ästen verbunden wären und die Bäume mit dem Wind und der Wind wiederum mit mir. Wenn mich jemand fragt, ob ich an Gott glaube, dann schüttele ich den Kopf, als ob mich das einen Dreck interessiert, aber in Wirklichkeit glaube ich dran. Ich weiß nur nicht, was ich damit anfangen soll.
Der Vorgarten der Andersons sah aus wie eine überfrorene Version der Vorhölle. Es gab einige Stellen, an denen der Schnee erst geschmolzen und dann wieder zu kleinen Eiswellen gefroren war. Tausende von hässlichen Gräsern bohrten sich ihren Weg hinaus in die Freiheit. Ich konnte Eds widerliches Lachen hören, das sich wie eine hängen gebliebene CD in meinem Kopf über mich lustig machte. Was für ein Vollidiot. Während ich die Auffahrt zum Haus hinaufging, prüfte ich noch einmal, ob meine Nase blutete. Der nächste Drogentest war in ein paar Wochen, und dann wäre ich fällig. Dass ich es auch immer darauf anlegen musste. Ich versuchte, mich nicht sofort über mich selbst zu ärgern. Dazu war später noch genug Zeit.
Auf der Auffahrt der Andersons standen überall grüne Müllsäcke herum. Ich fragte mich, ob die Müllmänner streikten oder ob Kevin den Tag der Müllabfuhr verpennt hatte. Ich wollte da nicht reingehen. Überall auf der Veranda lag kaputtes Spielzeug – ein Dreirad mit völlig abgefahrenen Plastikreifen, Actionfiguren, deren Beine hinter die Schultern oder um den Rücken herum in eine unmögliche Haltung verdreht waren. Jede Menge grauenhaftes neonfarbenes Spielzeug, halb unter dem vereisten Schnee begraben.
Die Veranda war aus Holz und hatte wahrscheinlich vor gut dreißig Jahren zu faulen begonnen. Sie schien nur noch von einer zentimeterdicken Eisschicht zusammengehalten zu werden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis hier jemand ausrutschte und sich alle Knochen brach. Warum hatte Kevin nicht wenigstens vor seiner Haustür Schnee geschippt? Offensichtlich war er nicht gerade ein übermäßig intelligenter Soldat. Sein Tod hätte mir zu denken geben müssen.
Einfach unfassbar, dass ich das hier tun musste. Absolut lächerlich.
Seit Kurzem hatte ich ein Problem, bei dem ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen – oder besser zu heulen: Die Erkenntnis, dass ich niemand war, auf den ich stolz sein konnte, haute mich jedes Mal um. Ich konnte im Blue Sunrise hocken, lachen, trinken, einen Joint rauchen und endlos über Boote quatschen oder Autos oder Knarren oder Muschis oder irgendein neumodisches Etwas, und dann ging ich einfach aufs Klo, setzte mich auf den Toilettendeckel und heulte mir die Augen aus. Ich wollte allein sein, stürzte mich aber auf jede blödsinnige Gelegenheit, mit noch mehr Leuten um die Häuser zu ziehen.
Ich hatte dieses Loch in meiner Brust, eine ungeheure Leere. Ich konnte sie fast hören. Manchmal glaubte ich, ich brauchte nur was zu essen, oder müsste aufs Klo, oder brauchte dringend eine Frau, oder müsste eine rauchen, oder ich trank fünf Kurze schnell hintereinander, um es auszuspülen oder aufzufüllen – aber egal, was ich tat, dieses trostlose Loch in meinem Brustkorb war immer noch da. Genau über meinem Magen und unter meinem Herz.
Wenn ich ganz still dasaß und lang und tief einatmete, konnte ich es packen oder anfassen – fast jedenfalls. Aber immer wenn ich das versuchte, bekam ich’s mit der Angst zu tun, als ob irgendeine große Lüge da drin säße und nur darauf wartete aufzuplatzen.
Verdammt, ich will mich nicht ändern, dachte ich. Ich will einfach nicht.
Mach das Radio an, geh ins Kino, fahr raus zur Absprungzone und spring aus irgendeinem gottverdammten Flugzeug. Tu alles, was du willst. Bleib nur nicht ruhig sitzen.
Als ich mit den bloßen Fingerknöcheln gegen die Hartholztür klopfte, schoss mir der Schmerz durch die Hand. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn jetzt Jesus Christus persönlich die Tür öffnete. Mein Dad hatte Jesus geliebt; er hatte immer von ihm gesprochen, über die Macht der Machtlosigkeit.
Ich überprüfte kurz meine äußere Erscheinung, klopfte mir Hosen und Jackett ab, fuhr mit den Fingern durch mein stoppeliges Haar, strich mir sanft über den Schnurrbart und griff mir noch ein letztes Mal an die Nase, um zu prüfen, ob sie nicht blutete. Der Wind fuhr mühelos durch meine Viskose-Uniform, und meine Zähne begannen zu klappern. Ich klopfte erneut, diesmal mit der ganzen Faust. Von drinnen hörte ich die leisen Geräusche eines Zeichentrickfilms. Als ich klein war, gab’s sonntags keine Trickfilme.
Eine ältere schwarze Frau in einem lila Steppmantel über einem purpurroten Kleid öffnete die Haustür, ließ aber die Fliegentür geschlossen. Bis jetzt hatte noch niemand die Sturmfenster für den Winter eingesetzt. Auf der Matte vor meinen Füßen stand »HAU AB«. Die alte Frau hatte dicke graue Wollsocken über ihre schwarzen Strümpfe gezogen und trug keine Schuhe. Sie war dick und hatte eine gesunde, glänzende Haut. Ihre Augen waren von einem äußerst hellen Braun, sodass das umgebende Weiße blassgelb wirkte. Zwei Kinder, ein vier Jahre alter Junge und ein vielleicht anderthalb Jahre altes Mädchen, saßen hinter ihr in der Küche, aßen Honig-Nuss-Cornflakes und schauten in einen kleinen tragbaren Fernseher, der auf der Plastiktischdecke stand.
»Ja?«, fragte sie. Sie hatte eine weiche, volle Stimme; wahrscheinlich sang sie im Kirchenchor.
Ich sagte nichts.
»Wer ist da? Wer ist da?«, schrie das ältere Kind.
»Niemand«, schrie sie zurück, »iss dein Frühstück und guck weiter.« Dann wandte sie sich wieder mir zu und lächelte. »Wenn du Kevin suchst, der ist nicht da.«
»Nein«, sagte ich. »Ich suche seine Frau. Sind Sie das?«
»Nein, mein Lieber, ich bin seine Mutter. Tangerine ist oben und schläft, aber ich würde dir nicht empfehlen, sie ohne triftigen Grund zu wecken.« Sie lächelte wieder und wartete darauf, dass ich ging.
»Kein Problem. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich vielleicht mit Ihnen reden?« Ich hatte nicht die leiseste Idee, wie ich das hier anpacken sollte. Das war nicht mein Job.
»Klar, komm ruhig rein«, sagte sie und stieß die Fliegentür auf. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, sicher«, log ich und versteckte mit einer schnellen Bewegung Andersons Akte.
»Du siehst nicht gerade gut aus, junger Mann.«
»Nein, alles okay. Mir ist nur kalt.« Ich rieb mir noch mal die Nase. Immer noch kein Blut.
»Kevin steckt doch wohl nicht in Schwierigkeiten, oder? Du bist doch nicht von der Militärpolizei?«
»Nein, nein, ich bin nicht von der Militärpolizei«, lachte ich, als ob es nur um eine harmlose Kleinigkeit ging. Im Haus war es so drückend warm, dass ich Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen. Mein Kopf schwoll an, und ich spürte plötzlich sehr deutlich sein Gewicht.
»Heißt das, dass wir nicht zur Kirche gehen müssen?«, fragte der kleine Junge hoffnungsvoll vom Fernseher herüber.
»Heißt das WAS?«, fragte die alte Frau und schaute sich zu dem Jungen um.
»Du hast gesagt, wenn jemand da ist, der auf uns aufpasst, müssen wir nicht mit zur Kirche gehen«, erklärte er.
»Dieser Mann wird dich nicht retten. Deine einzige Hoffnung war dein Vater, und es sieht nicht so als, als ob er hier pünktlich auftauchen würde.« Sie nahm den Kopf des Jungen in beide Hände und drehte sein Gesicht in Richtung Fernseher. Dann wandte sie sich wieder mir zu, sagte »Setz dich« und nahm ein paar Zeitungen von einem der Stühle, die um den Tisch standen. Ich setzte mich neben den Jungen. Der Tisch war übersät mit Lotterielosen.
»Wie heißt du?«, fragte ich den Kleinen. Er schaute zu mir hoch, niedlich mit kurz geschorenem Haar, hellbrauner Haut und riesigen schwarzen Augen.
»Harper«, sagte er.
»Ein cooler Name.«
»Ich weiß«, nickte er.
»Also, worum geht’s?«, fragte die alte Frau. Sie stand neben dem Kühlschrank und rieb sich durch den Steppmantel hindurch leicht die Arme. Die Küche war ziemlich sauber, mit blau gestrichenen Wänden. Es stand zu viel Nippes und Trödel rum, aber alles in allem machte das Haus einen gepflegten Eindruck.
»Ich hab’s früher auch gehasst, in die Kirche zu gehen«, sagte ich lächelnd.
»Und heute gehst du jeden Sonntag?«, fragte sie spöttisch.
»Nein, ich gehe immer noch nicht oft hin. Eigentlich gar nicht, aber manchmal würde ich gern gehen.« In diesem Moment zog ich die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung.
»Vielleicht solltest du’s wirklich mal versuchen«, erwiderte sie. Sie kam aus dem Süden. Ich fragte mich, was sie so weit nach Norden verschlagen hatte. »Also, worum geht’s?«, fragte sie noch einmal. Es lag nur ein Hauch von Ungeduld in ihrer Stimme. Die Geräusche der stumpfsinnigen Fernsehsendung schienen auf einmal anzuschwellen. Es ist doch erstaunlich, wie sehr Kinder sich in Zeichentrickfilme vertiefen können, ohne ein einziges Mal darüber zu lachen.
»Könnte ich was zu trinken bekommen? Wäre das möglich?«, fragte ich und berührte mein Gesicht. Irgendwas war mit meinem Mund nicht in Ordnung. Das passiert mir immer, wenn ich Drogen nehme. Es ist, als ob ich versuchen würde, mein Gesicht von innen nach außen aufzuessen – ich kann einfach nicht aufhören, mit dem Unterkiefer zu mahlen und auf den Innenseiten meiner Wangen herumzukauen.
»Wir haben nur Tomatensaft«, antwortete sie, ohne sich zu bewegen.
»Das wäre toll.«
»Du willst Tomatensaft?«, fragte sie ungläubig und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sie öffnete den Kühlschrank, holte den Tomatensaft raus und goss etwas davon in eine kleine blaue Plastiktasse.
»Harper, du und deine Schwester, ihr geht ins Nebenzimmer.«
»Warum?«
Seine Großmutter warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Gehen wir nicht zur Kirche?«, fragte er leise.
»Vielleicht nicht«, sagte sie und schaute mich an.
»Ja, ja, ja!«, jubelte er, schnappte sich seine Schüssel und die seiner Schwester und stellte beide in die Küchenspüle. »YABBA-DABBA-DOO, WILMAAAAA!«, brüllte er seiner Schwester zu, packte ihre Hand und zerrte sie hinter sich her in das andere Zimmer, wobei er die ganze Zeit auf sie einschwatzte, wie toll es wäre, nicht in die Kirche zu müssen.
»Also gut, es geht um Folgendes«, sagte ich eine Millisekunde nachdem sich die Tür geschlossen hatte, und klappte die Armee-Akte auf, die ich bis dahin unter dem Arm hielt, »Ihr Sohn, der Soldat Kevin Anderson, wurde letzte Nacht außerhalb der Kaserne bei einem Schusswechsel getötet, und zwar im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung, die sich auf dem Parkplatz der Paradise Bar ereignete. Sein Leichnam befindet sich zurzeit im Fort Sutner Medical Center, wo die exakte Todeszeit, die genaue medizinische Feststellung der Todesursache und eine Schilderung des Tathergangs auf Sie warten.« Bis jetzt lief alles glatt – ich schaute nach unten auf Kevins Akte und dann wieder hoch zu ihr. »Kevin steht ein Begräbnis mit militärischen Ehren zu, das die US-Army ausrichtet. Weitere Beihilfen und ergänzende Informationen erhalten Sie bei der Übergabe des Leichnams. Die US-Army legt größten Wert darauf, die nächsten Hinterbliebenen so schnell wie nöti… wie möglich zu informieren. Und ähh … das wollte ich Ihnen nur sagen.« Der ganze Schwachsinn sprudelte nur so aus meinem Mund heraus. Ich bin schon so lange bei der Army, dass ich das ganze Armee-Kauderwelsch runterbeten kann wie nichts, selbst wenn ich in meinem Mund herumfuhrwerke wie jemand, der auf Koks ist.
Lange Zeit herrschte Stille. Die Frau sah mir nur in die Augen. Ich versuchte, still sitzen zu bleiben.
»Und das ist dein Job bei der Army?«, fragte sie mich ohne sichtbare Reaktion auf die Information, die ich ihr gerade hatte zukommen lassen.
»Nein, eigentlich macht niemand den Job permanent. Es wechselt. In diesem Monat fällt diese Aufgabe in den Verantwortungsbereich meines Lieutenants, der wiederum mich dazu abkommandiert hat. Der Fairness halber möchte ich jedoch noch einmal darauf hinweisen, dass das hier eigentlich nicht mein Job sein sollte.« Ich griff mir noch mal an die Nase und nippte an dem Tomatensaft. Er war warm und schmeckte lausig. Der Kühlschrank musste auch hinüber sein. »Es tut mir wirklich leid«, fügte ich hinzu und fühlte mich ein winziges bisschen besser.
»Hast du Drogen genommen?«, fragte sie mich. Mein ganzer Körper verkrampfte sich, als ob ich gleich einen Anfall bekommen würde. Ich schüttelte leicht den Kopf.
»Hast du Drogen genommen?«, fragte sie erneut.
»Ja«, nickte ich demütig.
»Ist mein Sohn wirklich tot?«
»Ja«, sagte ich.
»RAUS AUS MEINEM HAUS, ABER SOFORT!«, schrie sie und schleuderte die Flasche mit dem Tomatensaft in meine Richtung. Sie prallte vom Tisch ab und rollte auf den Boden, ohne zu zersplittern. Im wahren Leben ist Gewalt so harmlos. Der Deckel war abgegangen, und der ganze Raum schwamm in Tomatensaft. Sie würde Jahre brauchen, um alles wieder sauber zu kriegen. Die beiden Kleinen kamen leise durch den Flur zu ihrer Großmutter getapst und klammerten sich an ihrem Bein und dem Saum ihres Steppmantels fest.
»Was ist los, Grandma?«, fragte Harper und schaute mich an.
»Raus aus meinem Haus«, wiederholte sie, diesmal ruhig und voller Ernst. Ich rührte mich nicht, ich konnte einfach nicht. Ich wollte ihr sagen, dass ich wusste, was sie fühlte. Ich hatte nie zur Army gehen wollen, es war nur eine Schnapsidee gewesen, die sich zu einem zweieinhalbjährigen Besäufnis entwickelt hatte – ich wusste und konnte es besser. Das war so ziemlich der schlimmste Tag meines Lebens.
Mein Vater hatte Selbstmord begangen, und das Leben, das ich eigentlich hätte leben sollen, war mit ihm gestorben. Ich nahm mir selbst das Versprechen ab, wenn ich den nächsten Tag erleben sollte und wenn mir meine Nase nicht abfiel, würde ich mich ändern. Als Erstes würde ich Christy zurückholen, und sie würde mir dabei helfen, einen Weg zu finden, wie ich das hier wieder gutmachen konnte.
Kevins Mutter ging zur Tür, öffnete sie und wartete darauf, dass ich verschwand. Die Akte noch immer in der Hand, machte ich mich auf den Weg nach draußen. An der Tür drehte ich mich um, um ihr noch einmal zu sagen, dass es mir leidtat. In dem Moment schlug sie mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Meine Nase begann zu bluten. Ich machte einen Schritt vorwärts und stieß die Fliegentür auf. Die kalte Luft betäubte mein pochendes Gesicht.
»Hey du!«, rief sie. Ich drehte mich zu ihr um, sah die Tränen der Wut in ihren Augen.
»Wie heißt du?«, schrie sie durch das Fliegengitter.
»Was?«, fragte ich, immer noch eine Hand an der Nase. Jeden Augenblick würde ich anfangen zu heulen.
»Du hast mir deinen Namen nicht gesagt. Du hast dich noch nicht mal ordentlich vorgestellt.«
»James«, antwortete ich. »Staff Sergeant James Heartsock junior.« Mein Vater wäre so enttäuscht von mir gewesen.
»Also, Jimmy Heartsock – ich werde dich nie vergessen.«
Eiskalte Luft brannte in meinen Lungen, als ich über den mit tiefen Löchern übersäten Asphalt marschierte, mir auf die Lippen biss und mit einem großen Schritt in den Adirondack Trailways-Bus stieg.
Oh Heiliger Vater, barmherziger Gott, bitte hilf mir.
Ich zeigte dem Busfahrer meine Fahrkarte und fragte mich, ob er wohl sehen konnte, dass ich schwanger war. Ich konnte Jimmys Atem in meinem Nacken spüren. Geh nicht, Süße, hörte ich ihn flüstern. Ich will mit dir schlafen. Seine Finger, so stellte ich mir vor, umfassten meinen Bizeps, zogen an mir, drehten mich an der Schulter zu ihm herum. Ich ging den Mittelgang entlang, setzte immer einen Fuß vor den anderen. Er hatte nicht angerufen; dabei war ich davon ausgegangen, dass er anrufen würde. Ich konnte einfach nicht mehr weinen. Was wird er wohl sagen, dachte ich, wenn er feststellt, dass ich ein Kind von ihm bekomme, wenn er entdeckt, dass ich weg bin?
Ich ging langsam die Reihen entlang und entschied mich für einen Sitzplatz in der Busmitte, direkt am Fenster. Die Sessel waren aus verblasstem blauen und grünen Plastik. Vor fünfzehn Jahren war dieser Bus sauber gewesen, mit leuchtenden, klaren Farben. Jetzt wirkte alles an ihm nur noch trübe. In den Armlehnen befanden sich kleine, aufklappbare Aschenbecher. Ich sehnte mich nach einer Zigarette. Mir wurde ganz schwindlig vor Verlangen. Ich öffnete meine Handtasche, nahm einen kalten, brüchigen Streifen Pfefferminzkaugummi heraus und schob ihn mir in den Mund. Ich konnte spüren, wie Jimmy mich küsste, die Wärme seiner Zunge fühlen. Er liebte es, sich von der Seite zu nähern und zuerst meinen Mundwinkel zu küssen. Ich spürte die weichen Haare seines Schnurrbarts, die rauen Stoppeln auf seinen Wangen, die mich kitzelten. Mein Hals wurde immer ganz rot und fleckig, wenn wir miteinander rummachten.
Wenn wir uns gestritten hatten oder ich Angst bekam, dass er mich verlassen könnte, nahm ich eine Decke und ein Kissen und schlief auf dem Teppich, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür. Oh Mann, er würde mir echt fehlen.
Ein Mann setzte sich neben mich, rempelte mich an. Ich würdigte ihn keines Blickes. Er roch leicht. Ich wollte allein sein. Der Plastiksitz war hart und kalt. Mein Kissen … ich hatte mein Kissen vergessen. Der Motor des Busses stieß jetzt einen tiefen Seufzer aus, die Räder setzten sich langsam in Bewegung, die Welt, die ich gekannt hatte, zog zentimeterweise an mir vorbei, und in diesem Moment, genau in diesem Moment starb ich.
Du bist ein Nichts, flüsterte ich mir selbst zu und fühlte mich besser. Ich holte tief Luft und strich mir mit den Fingern durchs Haar.
Nichts von dem, was du jemals tun wirst, wird von Bedeutung sein. Dein Leben und das aller Menschen hier im Bus wird keine größere Rolle spielen als das der Bäume an der Straße. Regenwürmer sind genauso bedeutend wie du selbst. Das Leben eines jeden geht vorüber. Das Leben meines Kindes wird kommen und gehen wie schon das meiner Großmutter. Dieser Bus wird eines Tages in einem Haufen anderer Busse verrotten, und niemand wird wissen, dass ich jemals hier drin gesessen habe. Nach meinem Tod wird meine Geschichte in so viele andere Geschichten einfließen, dass meine Stimme ungehört untergeht. Du bist ein Nichts. Nichts ist von Bedeutung.
Das sagte ich mir immer und immer wieder. Ich wusste nicht, wer ich war und was ich war. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie tot.
Das Blöde ist nur, dass ich vorher schon mal gestorben bin.
Wir fuhren aus der Stadt hinaus. Am Straßenrand lagen krustige Schneereste, schwarz und rußig von Autoabgasen und anderem herumfliegenden Dreck. Die gelben Straßenschilder mit ihren Richtungspfeilen zitterten und schwankten im Wind. Ganz Albany war von einem winterlichen Schmutzfilm bedeckt.
Ich war seit sieben Stunden wach und hatte noch keine einzige Zigarette geraucht.
Der Mann neben mir rutschte in seinem Sessel hin und her. Ein gut aussehender Schwarzer mit sehr dunkler Haut. Er roch leicht, aber nicht unangenehm, sondern sanft und salzig, so wie in meiner Fantasie eine Wüste riecht. Seine Haut hatte diese mitternachtsschwarze Tönung, und seine Hände waren kräftig und von breiten Adern überzogen, in denen man das Blut pulsieren sah. Ertrug eine Sonnenbrille mit verspiegelten moosgrünen Gläsern. Das Licht der weißen Februarsonne ließ sein Gesicht hell aufleuchten, aber ich konnte seine Augen nicht erkennen – nur seine hohen Wangenknochen und die Reflexionen des Lichts in den Gläsern.
Wir rollten langsam dahin. Offensichtlich kann ich nur dann zur Ruhe kommen und diese Gelassenheit empfinden, die das Jucken unter meiner Haut lindert, wenn ich in Bewegung bin. In der Hinsicht bin ich fast wie ein Baby. Die Momente, in denen ich auf dem schwarzen Vinylsitz in Jimmys Chevy Nova saß und er mit mir zum Videoladen fuhr, zählen zu meinen schönsten Erinnerungen. In seinem Wagen gab es nichts, was man hätte machen können, nur das Sirren des Asphalts unter uns und das Vibrieren des Motors – alles andere konnte warten, bis wir beim Videoladen waren.
Der Bus hielt an einer Mautstelle an und fuhr dann auf die Interstate 87.
Ich holte erneut tief Luft, versuchte meine Schultern zu entspannen und starrte aus dem Fenster. Jimmys Nova ist silbern mit zwei schwarzen Rallyestreifen in der Mitte – es fiel mir schwer, nicht ständig danach Ausschau zu halten. In der Fensterscheibe konnte ich schwach mein Spiegelbild erkennen. Ich hatte meine Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt. Das ließ mich erwachsener aussehen, aber darunter fühlte ich mich immer noch wie ein Teenager. Ich versuchte, vollkommen ruhig dazusitzen und nicht zu reden. Ich beschloss, während der gesamten Reise zu schweigen.
Der Mann neben mir zog eine seiner Jacken aus, tauchte unter den Sitz zu seinem Rucksack, rempelte mich heftig an und ließ sich mit einer Literdose Bier in einer braunen Papiertüte wieder in seinen Sitz zurücksinken. Zwischen Daumen und Zeigefinger hatte er eine Mondsichel eintätowiert. Grüne Tinte auf schwarzer Haut – man konnte sie kaum erkennen.
Er murmelte fast unhörbar ein paar Worte, bei denen es sich um ein Dankesgebet zu handeln schien, und öffnete die Dose. Das Bier schäumte und sprudelte zischend aus der Öffnung und tropfte in seinen Schoß, aber das schien ihn nicht zu stören. Lässig wischte er die verschüttete Flüssigkeit von seiner Hose.
Obwohl er geradeaus blickte, schien er irgendwie zu spüren, dass ich ihn beobachtete. »Fahren Sie den ganzen Weg bis nach Manhattan?«, fragte er.
Seine Stimme klang etwas höher, als ich erwartet hatte, aber nicht zart oder zerbrechlich, sondern verletzlich und warm. Er trug eine dicke Wollmütze mit groben Nähten und eine Daunenweste über einer schwarzen Jacke. Die Jacke hatte er bis zum Kinn geschlossen, aber am oberen Rand des Reißverschlusses konnte ich den hohen Kragen eines beigefarbenen Skipullovers erkennen. Über seinem rechten Auge hatte er eine kleine Narbe auf der Stirn. Ich konnte den oberen Rand seiner buschigen Augenbrauen sehen, die über seine Sonnenbrille hinausragten. An einem seiner Finger steckte ein großer silberner Ring, auf dem SCHÜTZE MICH VOR MEINEN WÜNSCHEN stand. Sein Gesicht und sein Körper waren breit und kräftig, aber zugleich auch sanft und rundlich. Er war groß, größer als ich. Und man konnte sehen, dass er ziemlich viel wog. Er hatte einen kurzen, gestutzten Schnurrbart, genau wie Jimmy, nur die Haare waren völlig anders. Jimmys Schnurrbart ist ein wenig mickrig. Das darf man ihm natürlich nicht sagen, aber so ist es nun mal.
»Erst mal bis nach Manhattan«, sagte ich und versuchte kurz angebunden zu sein, ohne dabei unhöflich zu klingen. Das Licht war inzwischen weitergewandert und schien mir direkt ins Gesicht.
»Und wohin geht’s dann?«, fragte er.
»Texas«, antwortete ich, und mein Schweigegelübde löste sich in Luft auf.
»Ich will Sie nicht belästigen, wenn Sie sich nicht unterhalten wollen«, fuhr er fort. »Ich meine, ich muss mich nicht unterhalten.« Er wandte sich mir zu und sah mich an. Ich konnte seine Augen noch immer nicht erkennen. »Wenn ich irgendetwas an mir verändern könnte, dann würde ich aufhören zu reden, für immer«, sagte er.
Dann schwieg er. Ich klappte den Aschenbecher auf und zu.
»Wieso?«, fragte ich schließlich. Meine Hände waren noch ganz kalt. Ich wärmte sie, indem ich die Handrücken gegen meinen Hals drückte, als wollte ich mich selbst erwürgen.
»Weil … weil ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas wirklich Bedeutsames gesagt habe.« Er lächelte. »Ich kann mit diesem Mund quasseln, den Leuten erzählen, wie ich mich fühle, sie fragen, wie sie sich fühlen. Aber dadurch wird die Welt nur mit noch mehr Lärm erfüllt.« Er saß vollkommen ruhig da, seine Hände in den Schoß gelegt, die Dose Bier sanft umfasst.
Ich hatte irgendwann mal Sex mit einem Schwarzen. Er war mager und neurotisch, völlig anders als dieser Typ.
»Es ist schön, wenn man verstanden wird«, sagte ich ruhig.
»Vielen Dank«, erwiderte er. Ich war nicht sicher, was er damit meinte.
Ich wühlte in meiner Handtasche, holte ein Streichholzheftchen hervor und begann, mit der Ecke des Kartons vorsichtig zwischen meinen Zähnen zu stochern. Das mache ich schon ewig – mit einem völlig ungeeigneten Gegenstand in meinen Zähnen herumstochern. Eine Angewohnheit, die Jimmy ziemlich nervt. Aber er pult mit dem Finger im Ohr und riecht dann an der Fingerspitze. Das ist das merkwürdigste Verhalten, das ich je gesehen habe.
»Wenn ich könnte, würde ich nicht einmal denken«, sagte ich leise.
»Sie wären gerne so wie ein Tier?«, fragte er und wandte sich mir wieder zu. Aber das Einzige, das ich sehen konnte, waren seine grünen Brillengläser und ein leicht verzerrtes Spiegelbild von mir selbst.
»Naja … ja, aber so was wie ein gutes Tier. Wie eine Eule oder so was Ähnliches.«
»Eulen sind gut?«, fragte er.
Ich nickte. Es entstand eine lange Pause. Er wandte sich ab und blickte unverwandt geradeaus. Seine Bewegungen waren ruhig und bewusst. Er hatte wunderschöne Lippen.
»Eine Eule ist weise? Richtig?«, fragte er.
»Richtig«, erwiderte ich, »weise und gut.«
»Ich wäre lieber ein Bär«, sagte er mit Entschiedenheit. »Bären werden von niemandem gefressen. Oberes Ende der Nahrungskette.«
»Eulen werden auch nicht gefressen. Glaube ich jedenfalls.« Ich hatte zumindest noch nie davon gehört. Wieder entstand eine lange Pause zwischen uns. Es schien, als wäre unser Gespräch beendet.
Ich wünschte, ich hätte mehr Freunde. Ich weiß nicht, was passiert ist – auf der Highschool schien ich massenhaft Freunde zu haben. Der einzige Mensch außer Jimmy, der mir in Albany nahegestanden hatte, war meine langjährige Mitbewohnerin Chance. Aber sie war inzwischen verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Und unsere Freundschaft hatte sich in etwas verwandelt, das ich nicht wiedererkannte.
Der Bus fuhr durch den Staat New York; auf der rechten Seite der Straße lagen alte, verwitterte Gebirgszüge. Die Catskills. Hin und wieder traf ein Windstoß den Bus so heftig von der Seite, dass ich spüren konnte, wie er bis auf die andere Fahrspur versetzt wurde. Wir passierten eine Farm nach der anderen. Um die letzte Jahrhundertwende herum waren achtzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Jetzt waren es nicht einmal mehr zehn Prozent. Jimmy redet ständig über dieses Thema. Er liebt Geschichte.
»Gedanken haben ihren eigenen Wert«, sagte der Mann neben mir und brach damit das Schweigen. »Die Gedanken formen unser Handeln. Ich würde das Denken nicht aufgeben wollen. Man tut nichts, ohne vorher darüber nachzudenken.«
»Trotzdem … wenn ich könnte, wäre ich gerne spontaner, ohne vorher immer alles durchdenken zu müssen, verstehen Sie?«
»Vielen Dank«, sagte er erneut, aber dieses Mal etwas zu laut und ziemlich gedehnt. Dann verstummte er wieder, und ich wusste immer noch nicht, was er meinte.
Eine ganze Weile saßen wir schweigend da, während wir eine Ausfahrt nach der anderen passierten. Der Bus war nur halb voll. Plötzlich wurde mir ziemlich warm, und ich zog meine Jacke und mein Sweatshirt aus. Sie knisterten vor elektrostatischer Ladung. Etwas abgekühlt, lehnte ich mich in meinem schlichten weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt in meinem Sitz zurück. Vielleicht hatte ich gerade eine Hitzewallung erlebt. Das einzige richtige Schwangerschaftsanzeichen, das ich an mir feststellte, war die Tatsache, dass ich mich in jeder Lage und Haltung unwohl fühlte, und das ohne wirklichen Grund. Alles und jedes schien schlecht zu riechen, und alles, was nicht eiskalt war, schmeckte faulig. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen, zog die Beine hoch und schlang die Arme um die Knie. Aber wie ich mich auch hinsetzte, irgendwas war immer falsch. Ich wünschte, ich hätte mein Kissen nicht vergessen.
Hunderte und Tausende von Wagen fuhren zielbewusst in die entgegengesetzte Richtung: rote Wagen, weiße Wagen, Kleinbusse, Geländewagen, Wagen mit Kindern, Wagen mit persönlichen Autokennzeichen und Lastwagen, schwere Lastwagen. Autos sind die Todesursache Nummer eins in diesem Land, und trotzdem will jeder einen neuen Wagen haben.
Der Highway erschien mir wie ein Fluss, der sich entlang des Hudson wand und schlängelte und uns auf seinem Weg hin und her warf, als wären wir Blätter. Wir fuhren an Tankstellen vorbei, an Schnellrestaurants und Reklametafeln, die Glück und Zufriedenheit versprachen. Ich weiß, dass die Bilder in den Zeitschriften und im Fernsehen keine wahren Abbilder der Welt sind; ich meine, das ist offensichtlich. Aber trotzdem empfinde ich ein beklemmendes Gefühl der Enttäuschung, als wäre dies die Welt, die ich sehen sollte.
Etwa alle fünf Minuten nahm der Mann neben mir ruhig und bedacht einen kleinen Schluck von seinem Bier und legte danach die Hände wieder in den Schoß. Das sieht man nicht oft – dass jemand völlig ruhig dasitzt, ohne irgendeine überflüssige Bewegung. Sein Kopf nickte leicht im schaukelnden Rhythmus des Busses. Ich starrte ihn an. Er hatte weder seine Sonnenbrille abgesetzt noch seine Wollmütze abgenommen noch den Reißverschluss seiner Jacke geöffnet.
»Sind Sie blind?«, fragte ich.
»Sie haben es nicht bemerkt?« Er lächelte breit.
»Nein.« Ich studierte sein Gesicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er hätte mich reingelegt.
»Sind Sie blind?«, fragte er und lachte laut und anmaßend.
»Nein. Nur mit mir selbst beschäftigt«, erwiderte ich.
»Vielen Dank!« Er lachte erneut und klatschte zweimal kräftig mit den Händen auf seine Knie. Ich stellte meine Füße wieder ordentlich auf den Boden. Aus irgendeinem Grund machen blinde Menschen mich befangen.
Als ich dreizehn war, zwang mein Dad mich, ein blindes Mädchen, Alison, aus unserer Kirchengruppe mit zum »Wet ’n’ Wild«-Freizeitpark zu nehmen. In diesem Park gab es jede Menge Wasserrutschen und Wellenbäder und Hunderte von halb nackten Teenagern, die mit einer Dose Limo in der Hand durch die Gegend rannten. Alison konnte nicht nur nichts sehen, sie war auch noch extrem klein. Wahrscheinlich gab es da einen Zusammenhang – ich glaube, irgendein Nierenproblem oder so, aber ich war damals schon ziemlich groß, was dazu beitrug, dass ich mich in ihrer Gegenwart noch unwohler fühlte. Ich hielt ihre Hand, während wir durch den Park gingen und uns auf den Minirutschbahnen hintereinander ins Wasser gleiten ließen. Sie war lieb, aber auch eine ziemliche Nervensäge, und das Einzige, was sie wollte, war im Kinderbecken planschen und ihre Vagina direkt über eine der kleinen Wasserdüsen platzieren. »Das fühlt sich fantastisch an«, rief sie laut. »Oh, mein Gott«, schrie sie begeistert. »Wow, das musst du unbedingt probieren!«
Plötzlich klappte dieser Typ im Businessanzug in der Reihe vor mir seine Lehne vollständig nach hinten. Ich konnte seinen putzigen kleinen Kahlschädel arrogant über die Stuhllehne ragen sehen. Es war so unbequem, dass ich hätte schreien können. Genervt versuchte ich, meine Jacke und mein Sweatshirt unter meine Beine und vor die Armlehnen zu schieben. Ich versuchte alles Erdenkliche, um den Raum zwischen mir und den Kanten und Ecken auszupolstern. Den ganzen Weg nach Texas so im Sitzen zurückzulegen – das würde im Leben nicht funktionieren.
»Sind Sie sehr hübsch?«, fragte der blinde Mann.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich stelle mir vor, dass Sie sehr hübsch sind.«
»Wieso?«, fragte ich. Ich konnte nicht sagen, ob er sich dabei ein paar warme Gedanken machte. Ich wollte ihn mögen.
Er schwieg eine Weile und strich mit der ganzen Hand über seinen Schnurrbart. »Ich habe einfach ein Bild von Ihnen im Kopf, und das sagt, dass Sie attraktiv sind. Ich möchte Sie nicht beleidigen oder Ihnen zu nahe treten«, sagte er in einem entschuldigenden Tonfall und nahm einen Schluck von seinem Bier.
»Ist schon okay«, sagte ich und rutschte ein Stück von ihm weg.
Ich vermisste Jimmy. Ich hatte überhaupt keine Lust auf das bescheuerte Texas. Großmutter war inzwischen schon so alt. Sie war die Einzige, die ich überhaupt sehen wollte, und ihr Anblick würde furchtbar deprimierend sein. Wenn ich sie anrief, erzählte sie die ganze Zeit nur von dem Tag, an dem sie Eleanor Roosevelt kennenlernte.
Großmutter gab damals in Abeline Musikunterricht für die Unterstufe, und es ging das Gerücht, dass Mrs. Roosevelt auch ihre Schule im Rahmen eines Besuchsprogramms besichtigen wollte. Großmutter nähte sich ein neues Kleid und trug es Tag für Tag, während sie andächtig auf die Ankunft der First Lady wartete. Nachdem sie elf Tage lang immer das gleiche Kleid getragen hatte, tauchte Eleanor schließlich auf, bemerkte Großmutter und kommentierte tatsächlich das besagte Kleid – es sähe aus wie »Wüstenblumen«. Während Großmutter älter wurde, bekam dieses Erlebnis eine immer größere Bedeutung; jetzt war es ihr einziger Kontakt zu einer Welt, von der sie wusste, dass sie »echt« war.
Ich berührte meinen Bauch; es war noch nicht viel zu sehen, aber wer mich gut kannte, wusste sofort Bescheid. Mein Hintern schien immer mehr in die Breite zu gehen. Wenn Jimmy auch nur einen Funken Verstand gehabt hätte, hätte er es bemerken müssen. Inzwischen verdrückte ich im Durchschnitt drei Eis pro Tag.
Ich starrte aus dem Fenster und dachte an meine Mutter, Mary. Sie gab mich bei den Nachbarn ab, als ich zwölf Monate alt war, und ließ sich danach nicht mehr blicken. Die Nachbarn riefen meinen Dad an, der mich abholte und mich zu Großmutter mit nach Hause nahm. Ich hatte immer gedacht, dass es für dieses Verhalten keine Entschuldigung gibt. Aber jetzt, mit einem eigenen Kind im Bauch, traute ich mich nicht mehr so leicht, jemanden zu verurteilen.
Meine Mutter und ich haben uns bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen; erst danach kam es in Austin zu einer Begegnung bei Woolworth. Das Woolworth-Haus an der Congress Avenue war gigantisch, nicht so klein und unförmig wie die heutigen Läden, sondern wirklich riesig, wie ein richtiges Kaufhaus. Manchmal setzte Dad mich dort ab, um mich für eine Weile zu beschäftigen, wenn er ein Geschäftsessen oder irgendeine andere Verabredung hatte. Ich war gerne dort; die Stunden vergingen wie im Flug. Das Erste, was man beim Reinkommen roch, war Popcorn und Zuckerwatte. Aber wenn man durch die klinisch sauberen Gänge bummelte, entdeckte man in jeder Abteilung einen anderen Geruch – ob Kosmetik-, Eisenwaren- oder Bekleidungsabteilung, alle hatten ihren eigenen Geruch. Die meiste Zeit schlenderte ich herum, blätterte in den Zeitschriften oder genoss einfach die Klimaanlage.
Im hinteren Bereich des Kaufhauses befand sich ein kleines, unansehnliches Restaurant, das nach Hamburgern und Hotdogs roch. Eines Sonntags saß ich dort und trank eine Vanillecola, als eine Frau mit kastanienbraunem Haar, das sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte, an meinen Tisch kam und vor mir stehen blieb. Sie war ziemlich groß. Ich sah zu ihr auf. Sie trug ein dunkelgelbes, langes Kleid mit roten Blüten. Ich trug einen hellbraunen Rock und eine blaue Bluse, Sachen, die ich noch vom Kirchgang anhatte.
»Bist du Christy?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Hi, ich bin Mary Larson. Ich bin deine Mutter.«
»Oh …«, sagte ich, und es entstand eine lange Pause. Sie hätte genauso gut der Sensenmann sein können – ich war augenblicklich versteinert.
Meine Mutter sah hinreißend aus. Hübsche blaue Augen und eine ranke und schlanke Figur. Sie hätte mühelos als Model durchgehen können.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Dein Vater sagte mir, dass du hier wärst.«
Ein schlauer Fuchs, mein Vater.
»Du kannst dich setzen, wenn du willst«, sagte ich. »Ist es das, was du möchtest? Ich meine, möchtest du dich setzen?«
»Ja, gerne«, sagte sie. Sie hatte einen starken Südstaatenakzent. Sie lächelte, strich ihr Kleid über den Beinen glatt und setzte sich.
Dann holte sie eine kleine, in Geschenkpapier gewickelte Schachtel hervor und reichte sie mir. Ich öffnete sie jedoch nicht. Ich hasse es, Geschenke in Gegenwart des Schenkenden zu öffnen. Ich schob die Schachtel auf dem Resopal-Tischchen hin und her, fühlte mich verwirrt.
»Dein Daddy ist inzwischen ein richtig hohes Tier, was?«, fragte sie mit einem zuckersüßen, überfreundlichen Ton. Mein Vater war gerade ins Parlament des Staates Texas gewählt worden.
»Warum bist du hier?«, fragte ich.
Das Lächeln im Gesicht meiner Mutter gefror. Sie begann, systematisch ihre Hände zu wringen, als würde sie sie waschen. »Ich wollte dich kennenlernen.«
»Oh.«
»Das muss sehr schwierig für dich sein«, sagte sie und rieb über ihre leuchtend rot lackierten Fingernägel, »für mich ist es jedenfalls schwierig.« Irgendwie kam sie mir bekannt vor; nicht dass ich sie als meine Mutter wiedererkannt hätte, eher wie jemand, den man vom Fernsehen kennt.
»Wo bist du gewesen?«, fragte ich, während ich unter dem Tisch meine Clogs aus- und wieder anzog.
»Ich wohne hier in Austin.«
»Ach wirklich? Warum?« Ich konnte es kaum glauben.
»Ich weiß nicht. Dies ist mein Zuhause.«
»Ich dachte, du wärst nach Kalifornien gezogen, oder so?«
»Bin ich auch. Aber dann bin ich wieder zurückgekommen«, sagte sie. Sie hörte auf, ihre Hände zu wringen, und schien sich selbst zur Ruhe zu zwingen.
»Ach so. Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, sagte ich.
»Ich bin deine Mutter.« Es entstand eine weitere Pause. Dann beugte Mary sich vor und streichelte behutsam meinen Arm. Ich hätte ihre Hand am liebsten weggeschlagen.
»Machst du irgendeinen Sport?«, fragte sie.
»Was?«
»Du siehst wie ein großes, starkes Mädchen aus«, sagte sie, mit ihrer Hand auf meinem Handrücken.
»Das klingt vielleicht blöde«, sagte ich.
»Tut mir leid«, sagte sie und zog ihre Hand zurück.
»Es klingt einfach blöde.«
»Tut mir leid«, sagte meine Mutter erneut, »du hast recht.«
»Ich meine, nein, ich mache keinen Sport. Du vielleicht?«, fuhr ich fort, überrascht von meiner eigenen Feindseligkeit.
»Hast du einen Freund?«, fragte sie.
Ich konnte sie einfach nicht ansehen. »Nein«, sagte ich.
»Das kommt schon noch, du bist sehr hübsch.«