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Anleitung für ein aufrechtes Leben Der Schauspieler und Autor Ethan Hawke hat sich für sein neues Buch eines sehr charmanten Tricks bedient: Er lässt einen angeblichen Vorfahren, den Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke, einen Brief voller kluger Tipps und Lebensweisheiten an seine Kinder schreiben, die – natürlich – bis heute Gültigkeit haben. Was ist wirklich wichtig im Leben? Diese Frage stellt sich der Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke im Jahr 1483 am Vorabend einer großen Schlacht. Aus Furcht, seine vier Kinder vielleicht nicht aufwachsen zu sehen, hinterlässt er ihnen einen langen Brief. In zwanzig wunderschönen kleinen Fabeln schildert er, wie ein jeder seinem Leben Schönheit und Bedeutung verleihen kann, indem er Werte wie Dankbarkeit, Freundschaft und Ehrlichkeit zur Grundlage seines Handelns macht. Im Gewand eines mittelalterlichen Handbuchs für Ritter, versehen mit zwanzig feinen Zeichnungen seiner Ehefrau Ryan, erzählt Ethan Hawke eine bezaubernde Geschichte, die uns erkennen lässt, worauf es wirklich ankommt.
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Seitenzahl: 96
Ethan Hawke
Regeln für einen Ritter
Der letzte Brief von Sir Thomas Lemuel Hawke
Deutsch von Kristian Lutze
Illustrationen von Ryan Hawke
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Dieser Brief wurde Anfang der 1970er nach der Beerdigung meiner Urgroßmutter im Keller unserer Familienfarm bei Waynesville, Ohio, gefunden. Wie er dorthingelangt und ob er echt ist, sind Fragen, die immer noch Ursache zahlreicher, ergebnisloser Diskussionen sind. Aber unsere Familie nimmt tatsächlich für sich in Anspruch, direkt von den adeligen Hawkes von Cornwall abzustammen, und Sir Thomas Lemuel Hawke war einer der 323 Männer, die im Winter 1483 in der Schlacht von Slaughter Bridge gefallen sind. Brief und Rubriken waren auf Kornisch geschrieben und zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung schwer beschädigt. Zusammengestellt, adaptiert und rekonstruiert wurden sie von mir, Ethan Hawke, nach einer wortgetreuen Übersetzung, die Dr. Linda Shaw von der Missouri University in St. Louis erstellt hat. Ich habe versucht, einen Ton zu finden, der der Entstehungszeit des Briefes Rechnung trägt, während er ihn gleichzeitig meinen Kindern zugänglich macht. Ich bitte alle offenkundigen Irrtümer zu verzeihen und versichere, dass sie nicht die Fehler von Sir Thomas oder Dr. Shaw, sondern allein meine sind. Bei dem Bemühen, Sir Thomas’ Denken zu vermitteln, habe ich Ausdrücke und Wendungen benutzt, die ich in den Schriften anderer (im Anhang aufgeführter) Ritter gefunden habe, um auszudrücken, was ich selbst nicht zu sagen vermochte. Die Illustrationen wurden mit dem Original gefunden und von meiner Frau Ryan Hawke für dieses Buch rekonstruiert und arrangiert. Die Hawkes waren ursprünglich Hawkers, Falkner, die mit Habichten, Falken und anderen Vögeln arbeiteten. Wir sind eine Familie mit einer langen ornithologischen Geschichte.
E.H.
Cornwall 1483
Meine lieben Kinder Mary-Rose, Lemuel, Cvenild und Idamay,
ein dunkler Wind murmelt mir Geheimnisse ins Ohr, während ich euch heute Abend schreibe. Vielleicht ist dieses Flüstern nur die trügerische Stimme der Furcht, doch ich muss gestehen, dass ich Angst habe, euch nie mehr wiederzusehen.
Dieser Krieg gegen den Than von Cawdor hat an Heftigkeit zugenommen, ebenso wie mein Glauben, dass ich die Freuden des folgenden Friedens nicht mehr erleben werde. Seit ich in der Schlacht von St. Faegan’s Fields nur knapp dem Tod entronnen bin, fühle ich mich gedrängt, Großvaters »Regeln« an euch weiterzugeben. Sein Leitfaden wird euch bei eurer Unterweisung helfen, sollte ich nicht mehr in der Lage sein, sie selbst vorzunehmen. Wichtig ist, dass ihr, Mary-Rose, Cven und Ida, begreift, dass diese Regeln zwar für mich als jungen Mann auf seinem Weg zum Rittertum geschrieben wurden, jedoch gewiss ebenso für eine hochstrebende junge Dame gelten.
Sollte ich heil aus der morgigen Schlacht zurückkehren, umso besser; wenn aber nicht, dann wendet euch an diese Seiten, wann immer ihr bei meiner Stimme Rat suchen möget. Ich möchte nicht, dass ihr Kinder meinen verfrühten Tod oder irgendeinen anderen Rückschlag des Lebens als Entschuldigung nutzt, um keine Verantwortung für euch selbst zu übernehmen.
Ida, du bist an diesem 21. Juli erst vier Jahre alt, und wenn meine Befürchtungen sich als berechtigt erweisen, wirst du dich kaum an mich erinnern. Darüber bin ich am traurigsten, aber keines von euch Kindern kennt mich bisher als etwas anderes als den großen Menschen, der euch tadelt und ermutigt, oder eine Stimme, die mit eurer Mutter spricht, während ihr einschlaft. In den vergangenen zehn Jahren habe ich zu hart gearbeitet und bin zu viel gereist, und nun scheint es, als könne ich eure Kindheit ganz verpassen. Das trifft mich wie ein Schlag. Ich habe mich darauf gefreut, euch aufwachsen zu sehen, und gehofft, wir könnten uns im Laufe der Zeit auf eine bedeutungsvollere Weise besser kennenlernen.
Heute werde ich einige der wertvolleren Geschichten, Begebenheiten und Augenblicke meines Lebens mit euch teilen, damit diese Lektionen und meine Erfahrungen irgendwo tief in den Nischen eurer Einbildungskraft weiterleben und euch von Nutzen sein mögen.
Als ich ein junger Mann war, wusste ich nicht, wie ich leben sollte. Abends zog ich mit meinen Freunden umher, zechte, kämpfte und richtete die ganze Nacht hindurch Unheil an. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben, und als Halbwüchsiger habe ich diese Tragödie als Vorwand für mein zerstörerisches Verhalten verwendet. In nachdenklichen Augenblicken suchte ich manchmal die Einsamkeit einer Kapelle, mein Herz übervoll von Reue über das Leid, das ich mir selbst und anderen zugefügt hatte. Meine Seele fühlte sich wild an, und ich konnte den Grund nicht erkennen, aus dem ich geboren war. Dieser Mangel an Sinn lastete so schwer auf mir, dass ich mich bisweilen mutlos und niedergedrückt fühlte, als wäre ich aus Blei und würde auf den Grund des Ozeans sinken. Dann wieder empfand ich mein nutzloses Wesen als so leicht und unbedeutend, dass ich Angst hatte, ich könnte davongeweht werden. Schließlich schwoll meine innere Krise zu einem ohrenbetäubenden Trommelschlag an. Ich beschloss, den weisesten Mann zu suchen, den ich finden konnte, und ihn zu bitten, mir zu sagen, wie ich leben sollte.
Der Vater meiner Mutter, euer Urgroßvater, lebte auf einem bewaldeten Hügel in den entlegensten Ausläufern unseres Heimatlandes, jenseits von Lanhydrock, unweit von Pelynt Barrow. Euer Urgroßvater war als Elfjähriger einer der vier überlebenden Pfeilsammler für die Langbogenschützen von König Heinrich in der Schlacht von Azincourt. Später wurde er von König Heinrich persönlich zum Ritter geschlagen. Großvater, der überall in Cornwall große Bewunderung genoss, war ein kräftig gebauter Mann mit einer breiten Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ich hatte ihn nur bei einer Handvoll Gelegenheiten getroffen, da er und mein Vater ein schwieriges Verhältnis hatten. (Lemuel, du erinnerst dich vielleicht an Großvater. Als er dir einmal einen hölzernen Spielzeugdolch schenken wollte, hast du gerufen: »Er sieht aus wie ein Toter!« Großvater hat gelacht.)
Ich kam an seine Tür und klopfte. Als er öffnete, erklärte ich kühn: »Alle sagen, du seiest der weiseste Mann des Königreiches. Bitte sag mir, wie ich leben soll. Warum sollte ich nicht betrügen und stehlen? Wie vermeide ich schreckliche Anfälle von Furcht? Warum bin ich so wankelmütig? Warum tue ich etwas, von dem ich weiß, dass ich es nicht tun sollte? Bin ich schwach oder stark? Bin ich gütig oder grausam? Denn all das bin ich schon gewesen. Nicht einmal den Unterschied zwischen richtig und falsch, zwischen gerecht und ungerecht verstehe ich wirklich. Und welche Rolle spielt das alles, wenn jeder, den ich kenne, schon bald in der Erde verfaulen und den Würmern als Futter dienen wird?«
Der alte Mann fragte: »Möchtest du Kräutertee?«
»Ja«, antwortete ich, unsicher, ob er gehört hatte, was ich gesagt hatte.
»Dann nimm einen Augenblick Platz.«
Unruhig tat ich wie geheißen.
Mein Großvater deckte zwei blaue Tassen auf und goss Kräutertee in die erste, hörte jedoch nicht auf zu gießen, als sie voll war. Er goss weiter und weiter, bis die heiße Flüssigkeit über den ganzen Tisch floss und auf den Boden tropfte.
»Was machst du?«, rief ich und sprang auf, als der heiße Aufguss meine Beine verbrannte.
»Du bist wie diese überlaufende Tasse«, sagte mein Großvater. »Du kannst nichts aufnehmen und festhalten. Es geschieht zu viel auf einmal, und du spritzt in alle Richtungen und verbrennst, was immer du berührst.«
Ich starrte ihn an.
»Schau diese Tasse an«, sagte er und wies auf die andere kleine blaue Keramiktasse, die auf dem weißen Tischtuch stand. »Sie ist nicht eifrig oder ängstlich bestrebt, gefüllt zu werden. Sie steht geduldig da, unbeweglich und leer.« Behutsam goss er ein wenig Kräutertee hinein. »So musst du sein«, erklärte er mit einem schelmischen Lächeln und wies auf den Dampf, der sanft aus der Tasse aufstieg. »Die Antworten auf deine Fragen werden kommen, aber wenn du nicht ruhig und leer bist, kannst du nie etwas festhalten.«
Ich ließ die Schultern sacken und spürte, wie sich ein Lächeln über mein Gesicht breitete.
»Ich wusste, dass ich an den richtigen Ort gekommen bin«, gratulierte ich mir selbst.
»Hm«, murmelte mein Großvater.
Danach war es lange still.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist, Thomas«, sagte er und durchbohrte mich mit seinen alten blauen Augen. »Ich hatte schon lange gehofft, dass du dich vor meiner Tür blicken lässt, und ich nehme dich mit Freuden als meinen Knappen auf, wenn du das willst. Aber als Erstes musst du begreifen, dass du nirgendwohin hättest gehen müssen. Du bist stets zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort und bist es schon immer gewesen.«
Er hielt inne und sah mich noch eindringlicher an. »Weißt du, warum die Ritter von König Artus den Gipfel des Sca Fell nicht sehen konnten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weil sie« – er lächelte milde – »darauf standen.«
Ich war siebzehn, als mein Großvater mich als seinen Lehrling annahm. Damit war ich für einen Knappen recht alt. Und ich hatte eine Menge über das Rittertum zu lernen. Als Erstes erhielt ich eine handgeschriebene Liste mit dem Titel »Regeln für einen Ritter«.
Schaffe Zeit für dich. Wenn du Klarheit und Weisheit des Geistes suchst, ist Stille ein hilfreiches Werkzeug. Die Stimme deiner Seele ist leise und nicht zu hören, wenn sie sich gegen andere durchsetzen muss. Genauso wie es unmöglich ist, sein Spiegelbild in aufgewühltem Wasser zu sehen, so ist es mit der Seele. In der Stille können wir die Ewigkeit spüren, die in uns schlummert.