Hin und weg - Ethan Hawke - E-Book

Hin und weg E-Book

Ethan Hawke

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Beschreibung

»Wer heute über die Liebe schreibt, kann es eigentlich nur so machen.« Süddeutsche Zeitung Auf geradezu elektrisierende Weise erzählt Ethan Hawke in seinem ersten Roman von der magischen Zeit der ersten Liebe: Als der 20-jährige Schauspieler William Harding in einer New Yorker Bar Sarah kennenlernt, katapultiert ihn diese Begegnung in einen ganz neuen Kosmos: Hin- und hergerissen zwischen fiebriger Erwartung, Momenten von unvergleichlicher Zartheit und Tagen voller Unsicherheit erlebt er in nur drei Monaten sämtliche Höhen und Tiefen der ersten Liebe, den alles übertreffenden Irrsinn und den heftigsten Schmerz.

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Seitenzahl: 241

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Ethan Hawke

Hin und weg

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Kristian Lutze

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Ethan Hawke

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungHinweis zum BuchEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigDanksagung
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für lynn

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Die Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

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Eins

Bevor ich in meiner alten Wohnung Möbel hatte, saß ich manchmal auf der Fensterbank und starrte auf New York City. Die einzige Aussicht bestand aus einem riesigen Wohnblock, und ich beobachtete, wie die Leute das Gebäude durch die verschiedenen Drehtüren betraten oder verließen. Klingt langweilig, und das war es oft auch, mein Blick verschwamm, bis ich mehr mein eigenes Spiegelbild als das kreisende Leben draußen betrachtete – aber manchmal, meist gegen Mitternacht, kamen die Paare von ihren Verabredungen um die Ecke geschlendert und hielten sich viel zu lange vor dem Haus auf. Ich saß da und beobachtete sie, versuchte, nicht zu viel zu rauchen, wartete auf meine Möbel und dachte: ›Yeah, ich bin wirklich hier, wenn jemand mich anrufen will, muss er die Vorwahl von New York City wählen.‹

Ich traf Sarah in einer Bar, dem Bitter End. Es war am 15. August. Rückblickend würde ich gern sagen, dass es Liebe auf den ersten Blick war, aber in Wahrheit war sie vermutlich nur ein interessanter Kontrast zu den beiden Frauen, mit denen ich damals ausging. Der Name der einen Frau ist so peinlich, dass ich ihn hier nicht erwähnen werde, um mir mein kleines bisschen Glaubwürdigkeit zu bewahren. Das andere Mädchen ging mir einfach bloß tierisch auf die Nerven. Ich traf mich nur deswegen weiter mit ihr, weil sie die seltsame Fähigkeit hatte, mir das Gefühl zu vermitteln, es wäre ein gigantisches Versagen meinerseits, wenn ich sie verlassen würde. (»Ich kenne dich«, sagte sie immer.)

Sarah war gerade aus Seattle gekommen und mit ein paar Leuten da, die wir beide kannten. Nebeneinander platziert hatte uns ein Künstlerfreund von ihr, der darauf bestand, eine Vagina zu haben.

»Sarah glaubt nicht, dass Männer Vaginas haben«, sagte er.

»Ich weiß, dass ich keine habe«, sagte ich.

»Hast du wohl.«

»Nein, eigentlich bin ich mir sogar ziemlich sicher.«

Er sah mich beleidigt an, als hätte ich irgendwas nicht verstanden, und ließ uns beide allein.

»Hi«, sagte ich. »Ich bin William.«

Sie sagte gar nichts. Sie lächelte bloß und blickte zu Boden. Sie war vollkommen ruhig. Ihr ganzer Körper, ihre Augen, ihre Brüste, ihre Arme und Hände, die ordentlich in ihrem Schoß lagen, waren ruhig. Nur ihr Haar tanzte in undisziplinierten Locken aus der Reihe, als gehörte es nicht zu ihr. Ihre Haut war unnatürlich weiß, und ihre Nase wirkte in ihrem Gesicht fehl am Platz. Man könnte wohl sagen, dass sie komisch aussah.

Wir lauschten einer Band, die ich schon zigmal gehört hatte, und ich redete die ganze Zeit auf sie ein, sagte Sachen wie: »Die nächste Nummer musst du dir anhören, die ist super.« Wahrscheinlich habe ich das über jeden einzelnen Song gesagt, den sie gespielt haben. Ich hörte etwa bis zum Ende des Intros zu und stürzte mich dann in einen Monolog darüber, was für ein prickelnder Typ ich war (manchmal öde ich mich selbst an), und sie lächelte freundlich, während sie sich ihre komischen Haare um die Ohren wickelte.

»Ich rede nur Scheiße«, sagte ich, »glaub kein Wort von dem, was ich sage. Ich bin Schauspieler. Ich dachte bloß, ich erzähl dir das gleich, damit du später nicht enttäuscht bist. Hast du je Raumschiff Enterprise gesehen?«

Sie antwortete nicht.

»Nun, ich bin so ähnlich wie Spock … in dieser Folge, wo er den Replikanten erzählt, dass alles, was er sagt, gelogen ist. Und sie sagen: Aber wenn alles, was du sagst, gelogen ist, dann lügst du jetzt auch, weil du die Wahrheit sagst, und das heißt, du lügst, und dann quillt Rauch aus ihren Ohren, und sie haben eine Funktionsstörung, und er kann entkommen. Weißt du, du machst auf mich einen ziemlich steifen Eindruck, und ich will bloß sichergehen, dass du kein Replikant bist.«

»Du bist seltsam«, sagte sie.

»Ja, das bin ich«, sagte ich. »Aber du fühlst dich auf unerklärliche Weise zu mir hingezogen, stimmt’s?«

Sie sah mich an.

»Du hast schöne Zähne«, sagte sie. »Schöne schiefe Zähne.«

»Danke.«

»Du hast wirklich eine total merkwürdige Energie«, sagte sie. Daran kann ich mich noch genau erinnern.

»Energie?«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass wir Wörter wie Energie verwenden. Und wann habe ich dich überhaupt um dein Urteil gebeten?«

»Ich weiß nicht, mir kommt es bloß so vor, als ob du eine Menge Aufmerksamkeit brauchst.«

»Ach ja?«

»Ja. Bist du nervös?«, fragte sie.

»Nein. Warum sollte ich nervös sein?«

»Ich weiß nicht.«

»Also, ich bin nicht nervös«, sagte ich.

Wir schwiegen und sahen beide wieder der Band zu.

»Okay, ja«, sagte ich. »Ich bin dauernd nervös. Ich weiß nicht, warum.«

»Ich auch«, sagte sie.

Ich fing wirklich an, sie zu mögen. Aus Prinzip widersprach ich allem, was sie sagte. Sie war auf die Cornell University gegangen – das brachte uns eine Weile über die Runden. Sie stammte aus Farmington, Connecticut, hatte nur Bücher von schwarzen Autorinnen gelesen und gerade eine dreijährige Beziehung beendet. Ich war verliebt.

 

Wir saßen lange da und redeten über Musik. Ich konnte nicht alles verstehen, was sie sagte, aber ich beobachtete sie. Ich bemerkte, wie sich ihre Augen bewegten und wie sie mich diesen Tick zu lange ansah – mein ganzer Körper wurde still. Sie hatte offenbar Angst, mit der Kellnerin zusammenzustoßen. Ihre Schultern wölbten sich über ihre Brüste, wenn sie sich, bemüht, mich zu verstehen, vorbeugte. Ich erklärte ihr, dass ich Angst hatte, der Mensch zu werden, der zu sein ich in der Highschool vorgetäuscht hatte.

Als ich erwähnte, dass ihre Freunde gegangen waren, sagte sie: »Ich weiß.«

»Dann gefällt dir die Band also?«, fragte ich. Der Lead-Sänger hatte sich mittlerweile bis auf eine gepunktete Boxer-Shorts ausgezogen und tanzte über die Bühne.

»Eigentlich nicht«, sagte sie.

»Warum bist du dann noch hier?«

Sie sah weg – vielleicht lächelte sie.

»Kann ich dich nach Hause bringen?«, fragte ich.

 

Ich brachte sie durch den dunklen Washington Square Park nach Hause, ohne ihre Hand zu halten, ich ging einfach neben ihr her, langsam, während meine Augen die Bewegungen der Stadt um uns aufnahmen. Polizeiwagen kurvten im Schritttempo um den Park, Studenten der N.Y.U. lungerten um den stillgelegten Brunnen herum, tranken Wein und zerschlugen Glasflaschen, aus dem Gebüsch zischten die Penner: »Coke? Smoke?«

»Eigentlich bin ich Texaner«, sagte ich und trat aus dem Schatten ins Licht, das vom Washington Monument zurückstrahlte. »Ich habe nur meine ersten fünf Lebensjahre dort verbracht, aber ich kann mich daran erinnern. Manchmal möchte ich dorthin zurückkehren und leben wie ein echter Mann, der im Holzlager einkauft, weißt du, und mit irgendeinem Typ namens Jimbo rumflachst. ›Ganz schön heiß heute, was, Jim?‹ Und er sagt: ›Aber hallo.‹«

Ich hatte keine Ahnung, wohin diese Vorstellung führen sollte, ich redete nur wirklich gern mit ihr.

»Dann komme ich nach Hause, pfeif die Hunde an, reparier irgendwas, was kaputt ist, bis es so heiß wird, dass ich Feierabend mache. Ich setz mich auf die Veranda vorm Haus und leg die Füße hoch – Fliegengitter gibt’s keine, obwohl ich schon seit Jahren verspreche, welche anzubringen. Ich trage ein T-Shirt mit Dr.-Pepper-Flecken, zünde mir eine Marlboro an, mach mir ein Bier auf, klimper auf meiner Gitarre herum und nuschel einen Song, dessen Text ich nur halb kenne.« Sie sah mich, scheinbar interessiert, an, doch vor allem achtete sie darauf, wo wir langgingen.

»Dann kommt meine Frau aus der Haustür, in einem alten ausgeblichenen Kleid, das ganz träge im Wind flattert, weißt du?« Sarah nickte. »Sie singt leise vor sich hin, lehnt sich an einen dieser Verandapfosten und sagt: ›Junge, heute war es echt heiß.‹ – ›Aber hallo‹, antworte ich, stell die verdammte Gitarre ab, trete hinter sie und umarme sie – und es fühlt sich schön an, obwohl wir beide verschwitzt sind, und dann fangen wir ganz langsam wie aus Versehen an, uns zu küssen.«

Ich erzählte ihr meinen von der Stadt inspirierten Traum vom Leben auf dem Lande, während wir im Schatten der schmutzigen Bäume Manhattans weiter durch den Park gingen.

»Was macht deine Frau?«, fragte sie.

»Was macht sie?«

»Ja, was macht sie, während du dich im Holzlager vergnügst?«

»… ich weiß nicht.«

»Ich glaube, du solltest aufpassen«, sagte sie, streckte die Arme aus und drückte sie rasch wieder eng an ihren Körper, »sie könnte eine Affäre mit Jimbo haben.«

»Meinst du?«, fragte ich.

»Ich will bloß sagen, du solltest in deiner Fantasie vielleicht noch ein wenig Platz lassen.«

Ich weiß noch, wie ich genau in diesem Augenblick Angst bekam, dass ich mich, sollte ich je mit ihr schlafen, mit meinen mickrigen Talenten als Liebhaber vor ihr blamieren würde – dieses Haar, der perfekt übergewichtige Körper, das lose sitzende grüne Kleid, die Beine wundervoll umhüllt von einer passenden grünen Strumpfhose – all das war wahrscheinlich mehr Frau, als ich bewältigen konnte.

»Und was ist deine Geschichte, hm?«, fragte ich. »Was willst du?«

»Am liebsten würde ich mein Leben damit verbringen, in einem Zimmer zu sitzen und Songs zu schreiben.« Sie sagte das wie jemand, der nicht auf besonders viele Partys eingeladen worden ist.

»Muss man sie nicht irgendwie jemandem vorspielen?«

»Nein, das ist der Teil, wo man sich den ganzen Stress machen muss, von wegen was die Leute über einen denken.«

»Das kann dir doch egal sein.«

»Ich weiß, aber es ist leichter, wenn erst gar keiner kommt«, sagte sie. Sie sprach langsam und bedächtig und beobachtete dabei, wie sich die Sohlen ihrer Schuhe leicht auf das Pflaster drückten. »Außerdem kenne ich eigentlich niemanden.«

»Mich kannst du kennen«, sagte ich.

»Ja?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, ich bin unkompliziert«, sagte ich.

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem verstohlenen, schelmischen Lächeln. »Mag sein«, sagte sie, »aber ich bin mir immer noch nicht sicher, dass ich dich zu mir einladen will.«

Ein Bullenauto rollte hinter uns her und verkündete über den Lautsprecher auf dem Dach: »Der Park wird jetzt geschlossen, Kinder, turtelt zu Hause weiter.«

Ich winkte ihnen zu, leicht verärgert, dass sie uns als Kinder bezeichnet hatten, doch ich glaube, Sarah war es peinlich, dass sie das Wort ›turteln‹ benutzt hatten. Sofort stapfte sie voraus, aus dem Dunkel des Parks durch den hell erleuchteten Bogen des Washington Monument. Manchmal stelle ich mir vor, dass der Torbogen ein Fenster zwischen New York und Paris ist, und wenn ich nur richtig hindurchgehen könnte, würde ich auf den Champs-Élysées landen.

»Was machst du? Wovon oder wofür lebst du oder was auch immer?«, fragte ich und hastete ihr ins Licht und durch das Monument hinterher.

»Im Moment habe ich einen Job, bei dem ich auf ein paar Kinder aufpasse, aber eigentlich bin ich Sängerin.«

»Echt? Singst du in einer Band?«

»Das hab ich auf dem College gemacht. Dann hab ich ein Jahr aufgehört und bin nach Seattle gegangen, aber ja, deshalb bin ich zurückgekommen.«

»Spielst du ein Instrument?«

»Eigentlich nicht, ich meine, ja, ich spiele Gitarre und Klavier, aber nicht vor Leuten … ich bringe ja kaum den Mut auf zu singen. Vor einem Klavierabend in der Highschool habe ich mir mal die Hand gebrochen, um nicht vorspielen zu müssen.«

»Was soll das heißen, du hast dir die Hand gebrochen?«

»Ich hab meine Hand in den Türrahmen gesteckt, und meine beste Freundin Gaby musste die Tür zuschlagen. Sie war nicht wirklich gebrochen, aber immerhin knallblau angelaufen.«

»Diese Gaby war deine beste Freundin?«

Sie lächelte, und etwas an ihrem Gesichtsausdruck weckte in mir die Lust zu lachen. Ihre Lippen waren nur ein bisschen zu groß und zu rot für ihr Gesicht. Sie wollte unbedingt, dass ich sie mochte.

»Das ist nicht dein Ernst?«, fragte ich.

»Doch.«

Und so war es. Ich mochte dieses Mädchen. Ich mochte die Art, wie sie mit ihrem Rucksack auf dem Rücken ging. Sie hatte den erotischen Gang eines einfachen irischen Bauernmädchens. Beim Reden schien sie ständig im Begriff, die Hände zur Hilfe zu nehmen, hielt sich dann aber immer zurück.

Außerdem konnte ich mich selbst in ihrer Nähe besser leiden, als ich mich in letzter Zeit leiden gemocht hatte. Als ich sie fragte, wohin wir gingen, sagte sie 111 East 10th Street. Genau das Gebäude, das ich so viele Stunden von meinem Fenster aus beobachtet hatte.

»Von meinem Fenster aus kann ich deine Haustür sehen«, sagte ich.

 

Als wir vor ihrem Haus ankamen, fühlte ich mich, als hätte ich eine Bühne betreten. Sie zeigte auf mein Apartment, wir lächelten uns verlegen an und fingen an, unsere jeweiligen Rollen zu spielen.

Ich stopfte meine Hände in die Taschen der braunen Wildlederjacke, die ich immer trug, und begann wie wild auf sie einzureden. Sie fummelte am Saum ihres Kleids herum, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und lachte bereitwillig. Sie hatte ein wundervolles Lachen. Ihre ganze Stimme, die Art, wie sie sprach, klang wie wunderschönes unbehandeltes Holz. Sie war gleichzeitig weich und hart. Ich wollte nicht, dass sie mir entglitt.

Ich griff nach ihrer Hand, verfehlte sie jedoch und bekam gerade noch ihren Ärmel zu fassen. Als ich das tat, blickte sie erschrocken auf und setzte sich auf der Stelle hin. Sie ließ sich auf die Treppe vor dem Haus fallen, nahm ihren Rucksack ab und zog ein Buch heraus.

Na großartig, dachte ich.

Das Buch hieß The Fact of a Doorframe von Adrienne Rich.

»Ist Adrienne Rich schwarz?«, fragte ich.

Sie lächelte. Ich setzte mich neben sie und hörte zu, wie sie mir ein paar Gedichte vorlas, irgendwas über die Unmöglichkeit der Männer. Beim Lesen kräuselte sie die ganze Zeit ihre Nase und kratzte sie, was mich sehr ablenkte.

Ich fing an, ein Gregory-Corso-Gedicht zu rezitieren, das ich auswendig kannte (alle vier Seiten, wie ich hinzufügen könnte), ein Gedicht über das Verhältnis von Liebe und Ehe: »Nicht dass ich zur Liebe nicht fähig wäre, nur finde ich die Liebe so seltsam wie Schuhe tragen.«

Wenn ich uns von meinem Fenster aus beobachtet hätte, wäre ich vor Erwartung verrückt geworden und hätte mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt.

 

Als sie anfing, mit ruhiger, fester Stimme das nächste Gedicht vorzulesen, das Buch mit beiden Händen im Schoß haltend und ohne an ihrer Nase herumzuspielen, unterbrach ich sie mitten im Satz mit einem Kuss. Sie erwiderte ihn mit all dem Feuer, all der Wärme, der Feuchtigkeit und echten Wonne, die sich ein junger Verliebter nur wünschen konnte – Augenblicke später standen wir, taumelten und stießen gegen die Drehtüren – und küssten uns, küssten uns wieder und immer wieder. Diese schüchterne Frau mit ihrem wilden widerspenstigen schwarzen Haar schwebte jetzt drei Zentimeter über dem Boden in meinen Armen. Ich hielt sie so fest, liebkoste ihre Lippen, ihre tiefroten feuchten Lippen, ohne zu merken, dass ich sie hochgehoben hatte. Wir mussten einen Moment innehalten und unsere Fassung wiedergewinnen, weil ein neugieriger Türsteher seinen Kopf durch die Tür steckte, um nach dem Rechten zu schauen.

Sarah machte einen Schritt zurück, strich ihr Haar hinter die Ohren und zupfte ihr Kleid wieder züchtig zurecht. Ihre Hand lag sanft über ihren Brüsten, als müsste sie zu Atem kommen. Eine volle irische Röte überzog ihr Gesicht und ging in das Rot ihrer Lippen über.

Wir sahen uns an und lösten uns voneinander, beide ein wenig benommen. Unsere Blicke trafen sich. Zum Teufel mit dem Türsteher. Wir küssten uns noch einmal.

Ein alter Mann drückte sich mit verstohlenen Blicken an uns vorbei und schleppte sich ins Haus. »Also wirklich«, hüstelte er.

Sarah sammelte sich wieder und versuchte ein ernstes Gesicht zu machen.

»Wo ist mein Buch?«, fragte sie.

»In meiner Hand.« Ich hielt es ihr hin.

»Du hast das Buch festgehalten, während du mich geküsst hast«, sagte sie.

»Ja, hab ich.« Wir verabschiedeten uns nicht, sie griff bloß nach ihrem Buch, verstaute es ordentlich in ihrem Rucksack und trat ins Haus.

 

Als ich wieder an meinem Fenster stand und auf die Tür hinabblickte, die jetzt ihre war, hatte ich das tiefe Gefühl, dass sich mein Leben verändert hatte. Wirklich. Wie ein kleiner Junge, der spät nachts im Bett wach liegt, an die dunkle Decke starrt und zum ersten Mal begreift, dass er, selbst er, sterben wird. Das Gefühl, die letzten Worte eines großartigen Romans gelesen zu haben, das letzte Bild vor der Abblende eines fantastischen Films.

 

Wenn ich heute, mit Möbeln in meiner neuen Wohnung, zurückblicke, wird mir klar, dass ich recht hatte, mein Leben hatte sich verändert. Allerdings nicht so, wie ich gedacht hatte. Ich hatte nicht die Frau getroffen, mit der ich alt und grau werden würde – ich war zwanzig, und als ich einundzwanzig war, hatte ich ein gebrochenes Herz. Das wusste ich damals noch nicht. Ich starrte bloß aus dem Fenster, fragte mich, welches Licht ihres war, nahm ein riesiges Stück Papier, schrieb mit einem schwarzen Edding in großen fetten Blockbuchstaben GUTEN MORGEN darauf und hängte es ins Fenster.

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Zwei

Jedes Mal wenn meine Mutter sich mit mir zu einem ernsten Gespräch an den Küchentisch setzte und darüber lamentierte, wie schlecht ich in der Schule war, sagte ich: »Hey, hör mal, Mom, das wird schon werden. Ich mag die Schule einfach nicht, aber das Leben mag ich.« Sie wurde wütend und meinte, dass die Welt so nicht funktionieren würde. »Na, für mich schon«, sagte ich dann.

Ich bekam ein Stipendium fürs College und fühlte mich bestätigt. Meine Mutter wurde nur noch trauriger. Sie sagte, ich sollte vorsichtig sein, weil ich ein Bluffer wäre, und es gäbe keine traurigere Gestalt auf Gottes Erde als einen gut aussehenden Bluffer, weil ihm alles in den Schoß fiel, ohne dass er je etwas Gescheites damit anfangen würde.

Nach etwa einem halben Jahr schmiss ich das College und zog nach New York. Dort lebte ich jetzt seit etwas mehr als einem Jahr, arbeitete ziemlich regelmäßig als Schauspieler (ich zahlte meine Miete selbst) und konnte deshalb erhobenen Hauptes meine Tage verbummeln. Die meiste Zeit hing ich mit einem befreundeten Stückeschreiber namens Decker rum.

Decker war groß und schlaksig mit langen, fettigen, dunklen Haaren, aber einem sehr attraktiven Gesicht. Er hatte scharf geschnittene Züge und ging immer leicht vorgebeugt, als müsste er sich den Weg durch irgendwas bahnen. Er litt seit frühester Kindheit an Arthritis, sodass seine Gelenke ein bisschen zu groß waren und wegen der Medikamente, die er ständig nahm, gut geölt wirkten. Er zappelte dauernd irgendwie rum.

Er war der jüngste von acht Brüdern, und seine Mutter hatte sich umgebracht, als er fünfzehn war. Eines Tages hatte sie ihm das Frühstück gemacht und ihn gefragt, ob er nicht blaumachen könnte, um ihr Gesellschaft zu leisten. Er sagte, er würde eine wichtige Arbeit schreiben, was nicht stimmte, und ließ sie allein. Sie war sehr launisch, manchmal war sie ihm richtig unheimlich. An jenem Tag hatte er es aus irgendeinem Grund besonders eilig, nach Hause zu kommen. Dort fand er seine Mutter. Sie hatte sich selbst die Kehle aufgeschlitzt.

»Meine Mutter war wie viele gute Katholiken: Sie mochte Babys und Blut. Sie wollte ihre Kuh gleichzeitig melken und schlachten. Und, ich meine, am Ende hat sie sie dann geschlachtet«, so ging ein Witz, den ich ihn oft erzählen hörte.

Manchmal trafen wir uns um zwei oder drei Uhr nachts in einer Pizzeria am St. Mark’s Place und redeten, bis die Sonne aufging. Er war der schlaueste Mensch, den ich je getroffen habe. Er gab mir alle möglichen Bücher, die ich immer so schnell wie möglich las, um mit ihm darüber sprechen zu können, bevor er das Interesse verlor.

Wir lernten uns kennen, als ich in einem Stück mitspielte, das er geschrieben hatte. Es hieß The Poem is You und handelte von einem Haufen Brüder auf der Beerdigung ihrer Mutter. In diesem Stück mitspielen zu dürfen, war eines der wenigen Dinge, die mir an der Schauspielerei je Spaß gemacht haben.

Wir beide waren den ganzen Juni über in einer, wie wir es nannten, »unermüdlichen Mission zur Befreiung der Mautwächter Amerikas« quer durchs Land gefahren. Als Kind hatte Decker immer Mautwächter werden wollen – er dachte, sie dürften das Geld behalten.

Nach dem Tod seiner Mutter recherchierte er zum Thema Selbstmord und fand heraus, dass Mautwächter nach Zahnärzten die zweithöchste Selbstmordrate hatten. Und auch wenn er nach wie vor kein echtes Mitgefühl für Zahnärzte aufbrachte, empfand er doch eine geradezu irritierende Nähe zu all den geschundenen Mautwächtern. Wenn wir also mit einem in Kontakt kamen, begrüßte er ihn oder sie jedes Mal mit fast schwachsinnigem Enthusiasmus.

»Hey, wie geht’s denn so?«, fragte er einen übergewichtigen Mann in einem Mauthäuschen im Norden des Staates New York.

»Gut.«

»Alles in Ordnung?«

»Bestens. Das macht einen Dollar fünfundzwanzig, bitte.«

»O ja, klar. Sagen Sie – wie weit ist es noch bis zu den Niagara-Fällen?«

»Ungefähr hundert Meilen«, sagte der Typ und wartete auf sein Geld.

»Müssen schön sein, die Niagara-Fälle?«, stimmte ich ein.

»Nachts sind sie okay«, meinte er, »weil sie von ganz vielen Scheinwerfern angestrahlt werden, wisst ihr? Aber tagsüber ist es einfach nur eine Menge Wasser.«

»Sie sind doch nicht depressiv, oder?«, fragte Decker.

»Seit ihr beiden zwei Witzbolde oder was?«

 

Wir fuhren einmal quer durchs Land und zurück, ohne irgendwo länger als eine Nacht zu bleiben. Das heißt, Decker fuhr nie. Er hatte nicht einmal einen Führerschein. Er erledigte seinen Teil der Arbeit, indem er unkontrolliert redete.

Auf der Fahrt nach Chicago las er mir die ganze Nacht, die langen, dünnen Beine und die knochigen Knie gegen das Armaturenbrett gedrückt, im Licht einer am Rückspiegel befestigten Taschenlampe mit wilder Leidenschaft Heinrich V. vor, in voller Länge. Am nächsten Morgen war seine Stimme ziemlich hinüber, weil er gegen das Gedröhn unseres 83er Toyotas angebrüllt hatte. In Chicago beschloss Decker, dass er das Grab seiner Mutter besuchen wollte, etwas, was er bisher nie getan hatte. Während wir versuchten, die Ortschaft am Stadtrand von Chicago zu finden, in der er aufgewachsen war, leerten wir still eine Flasche Wild Turkey, und Decker entwarf einen Brief an seine Mutter. Er schrieb etliche Fassungen, las sie mir mit seiner kratzigen Shakespeare-Stimme vor und fragte mich, welche ich besser fand. Es waren hauptsächlich Auflistungen von Dingen, die er getan hatte, er erzählte ihr von den Mädchen, die er mochte, stellte mich vor, fragte sie, ob sie sein Stück gesehen hätte, und erklärte ihr, dass er das Gefühl hatte, dass sie es gesehen hätte. Ich erklärte ihm, dass für mich alle Versionen gut klangen. Als wir fast da waren, verfiel er auf die Idee, dass der Brief getippt werden müsste.

»Meine Mutter war ein echter Ordnungs-Fanatiker«, meinte er lachend.

Wir gingen zu einem Pfandleiher, und ich versuchte die Besitzerin mit Small Talk über den Weg zum Friedhof und gute Billard-Salons in der Gegend bei Laune zu halten, während Decker sich im hinteren Teil des Ladens vor eine alte mechanische Schreibmaschine hockte, die zu verkaufen war, und schnell seinen Brief tippte.

Wir fuhren auf den Friedhofsparkplatz, und Decker entschied, dass er es doch nicht tun könnte. Er sagte, ich sollte rasch rüberlaufen und den Brief hinterlegen. Ich erklärte ihm, dass er es selbst machen müsste, weil er es sonst gleich hinterher bereuen würde. Doch er beharrte darauf, und schließlich gab ich nach.

Ich brauchte fast eine Stunde, um das Grab zu finden, während der Wind von Illinois mir so kräftig in die Augen blies, dass ich die Namen kaum lesen konnte. Als ich das Grab schließlich gefunden hatte, sah ich, dass in den Grabstein ein in Glas gefasstes Bild von ihr eingelassen war. Sie war wunderschön. Sie hatte ein rundes, junges Gesicht. »Der Mutter, Schwester und Ehefrau«, lautete die Inschrift. Ich wollte den Brief dalassen und mich so schnell wie möglich vom Acker machen, aber so wie der Wind wehte, wusste ich, dass er den Brief sofort wegblasen würde, wenn ich ihn einfach ablegte. Ich kniete mich hin, stemmte mich gegen die Böen und fing an mit den Händen zu graben. Ich hatte schreckliche Angst, Deckers Mutter könnte ihre Hand aus der Erde strecken und nach ihrem Sohn verlangen, aber ich wollte wenigstens so tief graben, dass ich den Brief sozusagen einpflanzen konnte, damit er nicht weggeweht wurde.

Als ich ihn schließlich ordentlich unter einem Grasbüschel deponiert hatte, saß ich einen Moment lang da und fühlte mich leicht betrunken, entweder von dem Wild Turkey oder vor Angst. Während der Wind mir die Haarsträhnen ins Gesicht blies, dachte ich, noch immer auf Knien, dass ich zum ersten Mal einen richtigen Freund hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich so abgedrehten Mist machte, aber ich hatte es noch nie für jemand anderen getan.

Als ich zum Wagen zurückkam, fragte Decker mich nicht, warum ich so lange gebraucht oder was ich wegen des Windes unternommen hatte. Er saß einfach schweigend da, als wir losfuhren. Ein paar Meilen jenseits der Staatsgrenze von Illinois fing er dann an, sich darüber auszulassen, was für eine unterschätzte Band AC/DC war.

 

Als ich in jenem Sommer zurück nach New York kam, hatte ich für eine kleine Rolle in einem Low-Budget-Film, der in Paris gedreht werden sollte, vorgesprochen und den Part bekommen. Frankreich hörte sich cool an.

Als ich Sarah kennenlernte, zog ich schon seit Längerem durch die Stadt, trank viel und wartete darauf, dass es losging. Das letzte Mädchen, mit dem ich geschlafen hatte, war mir in einer Bar im East Village über den Weg gelaufen, die The Cherry Tavern oder so ähnlich hieß. Ich hatte mich von Decker und einem ganzen Haufen seiner Freunde losgeeist, nur um dort zu landen und für mich alleine weiterzutrinken. Im hinteren Teil stand ein kleiner Billard-Tisch, und nach ein paar Minuten kam dieses Mädchen in einem engen schwarzen Minirock, ihr T-Shirt zwischen den Brüsten verknotet, auf mich zu und fragte, ob ich ihr Partner sein wollte. Wir spielten ein paar Spiele, und unsere Hände berührten sich ein bisschen zu oft. Ich fing an, ihr bei ihren Stößen zu helfen, die Hand auf ihrer nackten Taille, während ihr Hintern sich an meinem Schenkel rieb. Irgendwann kam sie zu dem Barhocker, auf dem ich saß, beugte sich ganz weit vor und flüsterte mir direkt ins Gesicht: »Ich würd dich gern um den Verstand ficken.« Wahrscheinlich war ich zu betrunken, um zu merken, wie schockiert ich eigentlich war, aber ich ging trotzdem mit ihr nach Hause.

Den ganzen Weg die Treppe hoch befummelten wir uns, sodass wir, sobald wir in ihrer Wohnung waren, einfach losvögelten. Irgendwann unterbrach sie mich, stand nackt auf, ging ins Bad und fing an zu kotzen. Sie kann nicht älter als neunzehn gewesen sein. Ich bin sicher, sie war jünger als ich.

 

Sarah war gerade erst in der Stadt angekommen und wohnte vorübergehend bei einigen Freunden gegenüber, bis sie in ihre neue Wohnung konnte. Gleich am Abend nach unserem ersten Treffen trat sie in derselben Bar, dem Bitter End, auf. Ich nahm Decker mit, damit er sie sich anschauen konnte. An diesem Abend sah er aus wie ein Junkie. Seine Haare trieften vor Fett, und sein langer, schlaksiger Körper wirkte vor Schlafmangel ganz ausgezehrt. Als wir reinkamen, war der Laden gerammelt voll mit Leuten, die sich alle gegenseitig zu kennen schienen.

Ich sah Sarah. Sie stand neben der Bühne und fummelte an ein paar Kabeln und einer Box herum, während sie versuchte, ein Gespräch mit zwei anderen Mädchen in Gang zu halten. Die Kabel hatten sich verheddert, und sie stolperte ständig über ihre eigenen Füße.

»Das ist sie«, erklärte ich Decker.

»Welche?«, fragte er.

Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als er das fragte. Welche?, dachte ich. Wie konnte er das nicht wissen?

»Das Mädchen gleich da vorne, das mit den Kabeln herumspielt.«

»Ja«, antwortete er. »Süß.« Er schenkte ihr überhaupt keine Beachtung. »Was meinst du?«, sagte er. »Denkst du, dass es was Ernstes wird? Ich meine, denkst du, ich sollte ein paar andere Damen anrufen?«

Ich beobachtete Sarah, die verzweifelt so tat, als würde sie sich dafür interessieren, was die beiden Mädchen sagten.

»Was ist denn mit ihren Haaren?«, fragte Decker.

»Ich weiß. Total verkorkst, was?«, sagte ich grinsend.

Ich ging zu ihr rüber. Decker kämpfte sich an die Bar vor. Ich war mir ziemlich sicher, dass Sarah wusste, dass ich da war, bevor sie sich zu mir umdrehte.

»Hi«, sagte sie.

»Nett, dich zu sehen«, sagte ich. »Wie war noch mal dein Name?«

»Du weißt meinen Namen nicht mehr?«

»War bloß ein Witz.«

Sie lächelte nicht. Wir musterten uns schweigend. Sie hatte noch immer die verhedderten Kabel in der Hand und sah mich an, als hätte ich sie beim Klauen erwischt.

»Das ist nicht witzig«, sagte sie. »Ich bin ein bisschen nervös.«

Das konnte man sehen. Sie stand vollkommen still, während ihre Blicke durch den Raum wanderten. »Wie hast du herausgefunden, dass wir auftreten?«

»Ein paar Leute haben es mir erzählt.«