Assassin's Creed: Mirage - Die Tochter von niemandem - Maria Lewis - E-Book

Assassin's Creed: Mirage - Die Tochter von niemandem E-Book

Maria Lewis

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Beschreibung

Auf einer Jagd entlang der Seidenstraße nach einem mächtigen, geheimnisvollen Artefakt werden die Geheimnisse von Meisterassassinin Roshans Vergangenheit enthüllt. Kairo, 824 – Tief im Gefängnis gefangen, ist an Flucht nicht zu denken. Das Beste, worauf Roshan hoffen kann, ist ein schneller Tod. Sie rechnet sicher nicht mit einer zweiten Chance, die ihr ein getarnter Fremder bietet, der behauptet, Roshan sei genau das, was sie bräuchten … In Freiheit schließt sich Roshan einer Gruppe zwielichtiger Gestalten an, die ein geheimnisvolles Objekt stehlen sollen, das auf der Seidenstraße nach Persien transportiert wird. Roshans überirdische Intuition erweist sich als lebenswichtig, während sie darum kämpft, ihrer verräterischen Bande einen Schritt voraus zu sein und die Mission zu überleben.

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Seitenzahl: 420

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Für Shohreh Aghdashloo, die OG

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 1

Fustat 824

Niemand überlebte dieses Gefängnis.

Das hatte man Roshan von dem Moment an gesagt, als sie hierhergebracht worden war.

»Du wirst hier verrotten«, hatte der bärtige Wächter gespien, nachdem er sie in die Zelle geschleudert und die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Sie sandte ihm ein Grinsen hinterher, eine grimmige Grimasse, die der Mann nicht mehr wahrnahm.

Zum Glück ging es nicht ums Überleben, sondern ums Entkommen. Da sie ihr ganzes Leben damit zugebracht hatte, den unterschiedlichsten Gefängnissen zu entfliehen, war sie zuversichtlich, dass sie auch hier einen Weg hinaus finden würde, wenn ihr nur genug Zeit blieb. Genau das war das Problem, wie sie bald herausfand.

In dieser Gemeinschaftszelle gab es nur sehr wenige Frauen und noch weniger, die mehr als einen Tag überlebten. Sie hatte gleich doppelt Glück: Ihre Kleidung machte es nicht nur schwer, sie als Frau zu erkennen, ihr Gewand war auch überwiegend heil geblieben, nachdem man sie in die Zelle mit den anderen Gefangenen geworfen hatte. Durch die wallenden Stoffschichten ging sie allenfalls als Straßenkind durch; aber was noch wichtiger war: als männliches. Dennoch war sie weiterhin in Gefahr.

Roshan war seit einer Woche hier und zu ihrem großen Leidwesen würde sie wahrscheinlich bereits frische Luft in Fustat atmen, wenn sie sich nicht ständig hätte verteidigen oder Anschläge auf ihr Leben hätte unterbinden müssen.

Natürlich war die Luft in Fustat alles andere als frisch. Über dem geschäftigen Treiben auf den Märkten der Stadt und der berauschenden Verlockung der verschiedenen Gewürze hing immer auch der Geruch von Dung. Wenn man tief einatmete, war die Chance groß, dass man einen kleinen Haufen des feinen, roten Sandes, der alles bedeckte, hustend wieder ausspuckte.

Und doch vermisste sie es. Zutiefst.

Sie sehnte sich danach, mit den Fingern über den Rand ihres mit den Überresten des jüngsten Sandsturms überzogenes Fensterbrett zu streichen. Sie hatte die Stadt nicht sofort geliebt, als sie hier angekommen war, aber verglichen mit den Eingeweiden des Gefängnisses empfand Roshan die Oberfläche als eine himmlische Oase.

Fustat war berühmt für die hoch aufragenden Pyramiden am Stadtrand, obwohl die Herrscher, die sie erbaut hatten, längst verstorben waren. Ihr entging nicht die Ironie, dass sie sich in einem genauso großartigen Monument befand, das aber unterirdisch errichtet worden war. Ihr Gefängnis stand sozusagen auf dem Kopf und reichte spitz zulaufend tief in die Erde hinein, was es noch verzwickter machte, eine Flucht zu planen. Nicht unmöglich, nur … verzwickter.

Roshan wusste, dass sie einen Weg nach oben finden musste, um hinauszugelangen. Wie sie herausgefunden hatte, gab es unter ihrem Stockwerk noch weitere Ebenen, die noch tiefer in die Erde führten, und einige über ihr. Sie befand sich also nicht ganz unten, was der einzig positive Gedanke war, den sie aufbringen konnte. Soweit sie es einschätzen konnte, befand sich ihre Zelle auf der fünften unterirdischen Ebene.

Blut war aus einer Schnittwunde über ihrem Auge geströmt, als man sie immer weiter nach unten gezerrt hatte. Sie hatte nicht richtig sehen können, also hatte sie die Zahl fünf nur schätzen können, aber sie vertraute ihren Instinkten. Auch wenn sie verletzt war und blutete, behielt sie doch stets ihre Umgebung im Blick. Sie hatte noch immer einen Ausweg gefunden.

Obwohl ihre Verhaftung brutal gewesen war und man sie überrumpelt hatte – sie hatte gedacht, ihre Spuren gut verwischt zu haben –, hatte sie als Erstes dafür gesorgt, wieder sehen zu können. Sie konnte nicht gegen etwas kämpfen, wenn sie es nicht kommen sah. Ein Blick in die angebliche Wassertränke und auf das braune Wasser, in dem Klumpen herumschwammen, genügte und sie wusste, dass ein Tropfen davon in der Nähe einer offenen Wunde ausreichen würde, um eine Infektion herbeizuführen.

Stattdessen hatte sie erst einmal den äußeren Rand der Zelle erkundet, die eigentlich mehr eine Grube war. Die Wände und der Boden waren aus weichem Lehm gemeißelt worden, mit Ausnahme einer Hauptwand, an der unten ein Gitterrost zwischen den Gitterstäben des Gefängnisses und dem Lehmboden verlief. Roshan vermutete, dass er diesem furchtbaren Ort strukturelle Stabilität verlieh. In der Mitte der Wand befanden sich zwei bedrohlich aussehende Gittertürflügel ohne Gitterrost.

Mindestens hundert Gefangene waren an diesem Ort zusammengepfercht. Roshan suchte nach einer Stelle abseits von ihnen, wo sie in Vergessenheit geraten konnte, damit sich alle wieder den Tätigkeiten zuwandten, mit denen sie sich beschäftigt hatten, bevor sie als das neue, glänzende Spielzeug aufgetaucht war. Während sie sich am Rande der Menge bewegte, duckte sie sich immer tiefer, bis sie fast völlig zusammengekauert war. Eine bösartige Aura ging von einem großen, dünnen Mann aus, von dessen Kinn ein langer Bart wie eine heimtückische schwarze Schlange baumelte.

Es dauerte einen Moment, bis sie ihn als die wahre Bedrohung erkannte. Es waren so viele Leute dort, und es war eine Herausforderung bei all den verschiedenen Energien, die Roshan entgegenschlugen, seine herauszufiltern. Selbst in dem gedämpften Licht der flackernden, an der Wand befestigten Fackeln waren seine Augen wie bodenlose schwarze Höhlen, die die Entfernung zwischen ihnen durchschnitten.

In dem Moment, als sie ihn identifizierte, verschwand er in der Menge.

Ganz gleich, wo er war, sie musste woanders sein. Sich klein zu machen und ruhig zu verhalten waren die ersten Schritte. Der nächste war, eine Wand im Rücken zu haben, denn dann musste sie nur nach Gefahren von vorn Ausschau halten. Dann klopfte sie ihre Kleidung so unauffällig wie möglich nach allem ab, was die Wachen womöglich übersehen hatten. Der Vorteil an so vielen Kleidungsschichten war, dass man sie nur schwer auf die Schnelle durchsuchen konnte, und ein paar Dinge besaß sie noch.

Sie trug einen kleinen Gürtel um die Taille. Daran befanden sich ein Beutelchen mit gewürzten Kichererbsen, ein Fläschchen mit ein paar Tropfen Alkohol – der so stark war, dass sie ihn hauptsächlich als Brennstoff benutzte – und eine halb leere Feldflasche mit Wasser. Letztere würde sie so lange wie möglich nicht anrühren, aber die andere Flüssigkeit leerte sie heimlich auf den Stoff ihrer Kopfbedeckung aus und drückte ihn fest an die Platzwunde auf ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen, als der Alkohol in der Wunde brannte, hielt den Stoff aber weiter an Ort und Stelle fest, während sie die Rücken und Beine der Leute vor sich im Blick behielt.

Geschrei vom anderen Ende der Zelle, gefolgt von den unverkennbaren Geräuschen klatschenden, nassen Fleisches und brechender Knochen bedeutete, dass es bereits zu einem Gewaltausbruch gekommen war. Mit einem angewiderten Knurren zog sie ihre Knie an die Brust und versuchte, so wenig Platz wie möglich in Anspruch zu nehmen, während sie nach etwas – irgendetwas – suchte, das helfen konnte, die Blutung zu stoppen. Sie fand Hilfe in Form einer verschwindend kleinen Ameise. Die Einheimischen nannten sie scherzhaft Pharaonen-Ameisen, weil sie einen gelben Körper und ein braunes Hinterteil hatte. Noch nie in ihrem Leben war sie so dankbar gewesen, dieses Ungeziefer zu sehen. Vorsichtig, um sie nicht zu zerquetschen, hob sie sanft eines der Insekten auf, das einer Reihe von Gefährten hinterhergelaufen war.

Sie kniff die Augen zusammen und konnte die winzigen, schnappenden Kieferzangen sehen, als sie sie vor die gebogene Wunde direkt über ihrer Augenbraue hielt. Sie wusste genau, wann die Ameise den Kontakt herstellte, denn sie fühlte den stechenden Biss. Roshan ließ die Ameise dort zappeln und griff nach der nächsten. Dabei schätzte sie die ungefähre Größe und Länge der Platzwunde anhand des Schmerzes ein. Sie brauchte acht Ameisen, und als ihre Kieferzangen sich in ihr Fleisch bohrten, wurden sie zu den Stichen, die Roshan lieber mit Nadel und Faden gemacht hätte. Doch sie hatte nur das hier.

Tut mir leid, Kleine, dachte sie und schnippte den Körper der ersten Ameise davon, gefolgt von ihren restlichen Freunden. Sie hatten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, waren zuvor völlig unbehelligt auf dem Weg zurück zu ihren Königinnen gewesen, und die letzte Handlung ihres Lebens hatte darin bestanden, Roshan bei der Heilung ihrer Wunde zu helfen. Leben war kostbar, und in dem Moment hatte Roshan entscheiden müssen, ob sie ihr eigenes über das der Ameisen stellen sollte.

Das war es wert. Vor allem, als Schwarzauge sich einige Stunden später auf die Jagd nach ihr machte. Sie wusste, dass er es war, noch bevor sich die Menge vor ihm teilte. Er bahnte sich einen Weg durch das Meer an Körpern, indem er seine Macht zeigte und Angst in der Gruppe verbreitete. Sie stand auf und schlich in dem Versuch, nicht dort zu sein, wo ihr Feind sie erwartete, an der Wand entlang. Dabei wäre sie beinahe über die Leiche eines Mannes gestolpert, dessen Aussehen und Geruch darauf schließen ließen, dass er vor Wochen verstorben war.

Dahinter war ein Brocken der Lehmwand weggebrochen. Roshan drückte sich in die dadurch entstandene Nische und benutzte den Toten als Sichtschutz. Sie beobachtete aus der Entfernung, wie der Mann herumschlich. Zwei größere Gefangene folgten ihm, als würden sie auf seine Befehle warten. Sie nahm an, dass sie genau das taten. Sie spitzte die Ohren, als sie Worte in einfachem Türkisch wechselten, was ihr verriet, dass sie der Unterschicht angehörten – wahrscheinlich Berufsverbrecher, und obendrein schlechte, wenn sie hier geendet waren.

»Sucht weiter«, sagte er, gefolgt war etwas, das sich wie »bestechen« anhörte.

Nachdem die Menge sie wieder verschluckt hatte, verstand die immer noch in ihrem Versteck eingezwängte Roshan endlich, was er gemeint hatte: »Mit einer Frau können wir bestechen.« Roshan vermutete, dass er die Wachen bestechen wollte, und die Vorstellung gefiel ihr ganz und gar nicht. Doch wenn sie die Bedrohung analysierte, hieß das, dass die Wachen ihre Verkleidung nicht durchschaut hatten. Ihr Mitgefangener schon. Sie hätte es lieber mit einem dummen Gegner aufgenommen als mit einem gerissenen.

Sie schlief in ihrer zusammengekauerten Haltung, solange sie konnte, und legte den alkoholgetränkten Lappen über ihre Nase, damit sie den ekelerregenden Gestank der verwesenden Leiche nicht einatmete, die ihren Aufenthaltsort verbarg. Sie verströmte nicht länger den süßlichen Verwesungsgeruch, sondern den Würgereiz verursachenden Gestank, bei dem sich sogar die Maden bereits verzogen hatten, weil nichts Nahrhaftes mehr übrig war.

Roshan schreckte auf, als sie spürte, dass der tote Mann sich bewegte. Ein leiser Schrei entfuhr ihr und sie krabbelte eilends aus ihrem Versteck. Sie behielt die verwesende Augenhöhle im Blick, während der Kopf der Leiche sich leicht vor und zurück bewegte. Roshan schauderte und unterdrückte die Erinnerung an eine andere Frau an einem anderen Ort, die ähnlich ausgesehen hatte. Doch der Kopf bewegte sich eigentlich gar nicht, sondern etwas hinter ihm. Roshan kniff die Augen zusammen und sah … ein Kind.

Nein, eher ein Jugendlicher. Es war wegen seines schmutzigen Gesichts und der langen, feuchten Haare schwer zu erkennen. Er beugte sich über die untere Hälfte der Leiche, und als er hochsah, lächelte er sie an. Es war ein breites Grinsen und zum ersten Mal schoss ihr der Gedanke an Kannibalismus durch den Kopf. Was genau aßen die Überlebenden hier unten eigentlich? Es gab nicht genug von dem pampigen Fraß für alle. Voller Entsetzen suchte sie die Leiche mit Blicken nach Bissspuren ab und beschloss, dass es an der Zeit war, sich ein neues Lager zu suchen.

Sie duckte sich und sprang über verschiedene Gestalten hinweg, während sie versuchte, Abstand zwischen sich und das potenzielle Festmahl zu legen.

Die nächsten paar Tage verbrachte sie überwiegend auf ähnliche Weise – eine Bedrohung zeigte sich und Roshan tat ihr Bestes, ihr zu entgehen. Sie tauschte ihre Kopfbedeckung gegen Schutz ein, doch dieser Handel wurde hinfällig, als ihrem neu angeheuerten Beschützer bei einer Schlägerei um Nahrung – einer Schlägerei, die er selbst mit einem anderen Gefangenen vom Zaun gebrochen hatte – das Genick gebrochen wurde, als die Wachen Eimer mit Brei verteilten.

Der Jugendliche schnüffelte weiter herum, aber ihn schienen nur die Toten zu interessieren. Deshalb stellte Roshan mit trockenem Humor fest, dass sie nicht gefressen werden würde, wenn sie am Leben blieb. Vielleicht durchsucht er die Leichen nur nach nützlichen Gegenständen? Der Gedanke war ihr auch schon gekommen, zumal es ein paar Knochen im Brustkorb gab, die sich hervorragend als improvisierte Messer eigneten. Im Moment hatte sie allerdings andere Optionen, und diesen würde sie den Vorzug geben. Sie nahm zwei spitze Haarnadeln und steckte ein paar Stoffschichten so zusammen, dass sie als Kapuze dienen konnten. Damit verbarg sie ihr allmählich heilendes Gesicht. Die anderen Metallklammern zwirbelte sie zusammen, um sie in eine Waffe zu verwandeln. Im Ernstfall würde diese nicht lange halten, aber wenn sie die richtige Arterie zur richtigen Zeit traf … Sie hatte das schon einmal gemacht; nur das eine Mal, aber sie konnte es wieder tun.

»Sie haben uns hier unten reingesteckt, damit wir uns gegenseitig umbringen«, sagte ein Mann mit schwerem griechischen Dialekt, den Roshan seit Jahren nicht mehr gehört hatte. »Niemand überlebt. Niemand entkommt. Wir sterben einer nach dem anderen, und sie werfen immer mehr von uns hier hinein. Wenn ich das gewusst hätte …«

»Hättest du ihn trotzdem umgebracht«, schnauzte sein Kamerad.

»Auf jeden Fall. Aber ich hätte dafür gesorgt, dass man uns nicht erwischt.«

Roshan grinste. Sie hatte im Laufe vieler Jahre so viele Verbrechen verübt, aber sie hatte immer einen Weg gefunden, zu entkommen. Ein Teil von ihr war fuchsteufelswild, weil man sie schließlich wegen etwas erwischt hatte, das sie nicht einmal begangen hatte. Sie dachte wieder an das Gold, das in der Hand eines Soldaten glitzerte, Gold, das sie noch nie im Leben gesehen hatte, und in einer Form, die sie niemals bei ihren Hehlereien akzeptiert hätte. Man hatte sie hereingelegt. Als die Wachen ihre Tür eingetreten hatten, hereingestürmt waren und sie aus dem Bett gezerrt hatten, war sie zunächst davon ausgegangen, dass man sie für ihr jüngstes Vergehen bestrafen wollte – Sachbeschädigung. Sie hatte einen wertvollen, geliebten Gegenstand funktionsunfähig gemacht, nach dem ein Mamluken-General gesucht hatte, der ihrer Meinung nach die letzte Person war, die Zugang zu einem solchen Gerät haben sollte.

Als Roshan das Gerät beschafft hatte, hatte sie getan, was sie immer tat, um solche gestohlenen Kuriositäten zu dokumentieren. Sie hatte den Gegenstand durch verschiedene Kanäle verschoben, einen sauberen Herkunftsnachweis erstellt und Besitzurkunden gefälscht. Nur hatte sie dieses Mal den tief im Design der Spieluhr versteckten Zündfaden unterbrochen. Schon seit ihrer Kindheit besaß sie einen untrüglichen Sinn für derartige Dinge, und er hatte ihr auch diesmal gezeigt, welchen Mechanismus sie ausschalten musste, damit die zerstörerische Vorrichtung nicht mehr wie vorgesehen funktionierte.

»Das geschieht bei Diebesgut ständig«, sagte Dervis in ihrer Vorstellung, um den unzufriedenen Kunden zu beschwichtigen. »Die Art, wie wir diese Gegenstände in unseren Besitz bringen, führt manchmal dazu, dass sie nicht in tadellosem Zustand ankommen, aber das gehört zu der Vereinbarung, mit der Sie sich einverstanden erklärt haben.«

Sie fragte sich, wo der Meisterdieb jetzt war und ob er von ihrer Inhaftierung gehört hatte. Roshan machte sich keine Illusionen über ihre Beziehung. Sie arbeiteten jetzt seit mehr als einem Jahr erfolgreich zusammen. Doch wenn es darauf ankam, würde Dervis sich und sein Geschäft um jeden Preis schützen. Er würde sie zwar nicht unbedingt den Wölfen zum Fraß vorwerfen, aber er würde ihr auch nicht zu Hilfe kommen.

Deshalb hatte Roshan einen Plan ausgebrütet, bei dem sie sich allein auf sich selbst verließ. Die Teile fügten sich allmählich zusammen, während sie in der Zelle eine Gräueltat nach der anderen beobachtete. Der Plan stand auf wackeligen Füßen. Sie musste sich weiterhin durch die Menge der Gefangenen bewegen, in größere Gruppen hinein- und wieder herausschlüpfen, damit sie unbemerkt blieb. Allein wäre sie eine nur allzu verlockende Beute. Durch den Jugendlichen war sie auf eine Idee gekommen, und sie begann, das zu tun, von dem sie hoffte, dass er es ebenfalls tat. Wenn andere Zelleninsassen bei verschiedenen Kämpfen oder durch Krankheit, Verdursten oder Verhungern starben, nahm sie sich etwas von ihnen – sei es eine zerrissene Decke oder ein Stück Stoff. Sie tauschte diese Dinge gegen etwas von sich, sodass ihr Aussehen niemals gleich blieb; insbesondere, weil Schwarzauge immer wieder Jagd auf sie machte.

Offenbar hatte er seinen Verdacht, dass sie eine Frau war, mit niemandem außerhalb seiner kleinen Gruppe geteilt. Diese Information war zu wertvoll, denn sie bedeutete, so gut wie jeder Insasse würde sich auf die Suche nach ihr machen, und ihm würde seine Chance entgehen, Nutzen aus ihr zu schlagen.

Mit ihrer Gürtelschnalle – die Kichererbsen hatte sie gegessen und das letzte Wasser getrunken – grub Roshan. Die lehmartige Beschaffenheit des Bodens war normalerweise hart und zäh, aber sobald er mit Flüssigkeit in Berührung kam, ging es. Sie hätte niemals die letzten Tropfen wertvollen Wassers verschwendet, aber der Inhalt des widerwärtigen Trogs war ideal.

Hier unten gab es zwischen Nacht oder Tag keinen Unterschied. Es gab keine natürliche Lichtquelle, sondern nur die an der Wand angebrachten Fackeln. Dennoch versuchte sie dann zu graben, wenn die meisten der Gefangenen schliefen. Mit dem Rücken zum Gitterrost, die Blicke auf die Insassen vor ihr gerichtet, grub sie im Lehm darunter. Wenn sie tief genug gegraben hatte, ließ sie ihren Fluchtweg trocknen und verbarg ihre Arbeit unter der Leiche eines gerade gestorbenen Mitgefangenen. Immerhin vergriff sich niemand an den Leichen … noch nicht. Die Wachen hatten angesichts der Anhäufung der Toten nur die Gesichter verzogen, als sie vorbeigekommen waren. Roshan hatte ihre Arbeit gut versteckt.

Die abendliche Essenszeit war die blutigste Zeit, weil nur eine Mahlzeit pro Tag ausgegeben wurde. Die Wachen mussten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Türflügel richten, wenn die Masse nach vorn drängte, um sich um das Essen zu schlagen. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die Gefangenen am meisten abgelenkt. Roshan wusste diese Vorteile für sich zu nutzen.

Als sie das metallische Klirren der Schlüssel hörte, das die Ankunft der Wachen ankündigte, hatte Roshan ihre Kleidung so dunkel wie möglich eingefärbt. Wenn sie still und reglos vor den Lehmwänden stand, verschmolz sie mit ihnen. Das musste sie auch. Als die beiden Wachen die Tür aufstießen und sich die Menge wie immer vorwärtsdrängte, setzte Roshan sich in Bewegung.

Sie schlich an einer Seite des Gitterrosts entlang, ging in die Hocke und schob die Leiche aus dem Weg, um das Loch, das sie darunter gegraben hatte, freizulegen. Roshan glitt mit dem Kopf voran hinein. Jetzt war sie am verletzlichsten. Sie ergriff das Ende der gezackten Eisenstangen und zog sich hinunter, herum und darunter hindurch. Hoffnungsvoll zappelte sie sich in eine sitzende Position und ignorierte den schmerzhaften Kratzer, den sie sich in ihrer Eile an ihrem Knie zugezogen hatte.

Die Kraft in ihrem Oberarm war entscheidend, als sie sich geräuschlos in eine stehende Position hochzog. Sie verschwendete keine Zeit und lief blitzschnell an das den Wachen entgegengesetzte Ende des Korridors. Sie sprang hoch und benutzte ihren alten Proviantbeutel, um die nächstgelegene Fackel zu löschen und sich in Dunkelheit zu hüllen. Sie wiederholte diesen Schritt bei der nächsten Fackel, wobei der Beutel von den Flammen jetzt vollkommen zerstört wurde. Sie trampelte ihn mit ihren Füßen aus.

Sie befand sich in Dunkelheit und war unentdeckt geblieben.

Roshan sah sich nicht um, während sie rannte. Sie hielt eine Hand nach rechts ausgestreckt und nutzte die Wand zur Orientierung. Instinktiv zog es sie nach oben, und als sie die erste Treppe erreichte, nahm sie zwei Stufen auf einmal. Auf jeder Ebene befanden sich Markierungen, und sie stellte auf der nächsten Ebene erfreut fest, dass sie sich nur im dritten Untergeschoss und nicht im fünften befunden hatte. Sie lief weiter und löschte die Fackeln weiter mit Stoffresten, während sie tief geduckt an der Wand entlanglief.

Roshan musste langsamer laufen, als sie auf neue Wachen traf, aber die Essensausgabe für die Gefangenen schien auf jeder Etage zu einer anderen Zeit stattzufinden, sodass diese Wachen gerade die Eimer ausleerten. Vorsichtig schlich sie an ihnen vorbei, den Blick auf die Rücken der Wächter geheftet, die sich an einer Reinigungsstation unterhielten. Schnell erreichte sie die nächste Treppe. Als sie hinauflief, zögerte sie. Es gab kein Geräusch, nur eine vage Ahnung, dass sie nicht allein war.

Sie warf einen Blick hinunter in die Finsternis, und ihre Haut kribbelte. Dort war nichts. Niemand war dort.

Roshan wirbelte herum und rannte noch schneller auf die nächste Etage zu, als sie plötzlich spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Ihre Knöchel wurden weggerissen und sie stürzte hart auf die Stufen. Ihre Zähne klapperten aufeinander, als ihr Kinn auf dem Boden aufschlug. Der Fortschritt, den sie gemacht hatte, wurde schnell zunichtegemacht, als sie nach unten gezogen wurde. Die Schwerkraft arbeitete gegen sie, als die gewundene Treppe zu einer Rutschbahn der Verdammnis wurde.

Da war er.

Schwarzer Bart, schwarzes Herz und schwarze Augen, die sie fixierten. Sie hatte gedacht, er hätte aufgegeben. Was für eine Torheit! Wie sich nun herausstellte, hatte er nur beobachtet und abgewartet. Ihre Flucht hatte auch die seine ermöglicht, und sie erkannte an dem Glitzern in seinem scharfen Blick, dass er seine Freiheit für ausreichend greifbar hielt und sich jetzt seine Beute holen wollte. Er würde sich ihrer entledigen, und dann würde er diesen Ort hinter sich lassen. Männer wie er hielten sich für einzigartige, ganz besondere Ungeheuer. Und doch war Roshan ihnen ihr ganzes Leben lang überall begegnet. Die einzige Überraschung war, wie wenig Überraschungen sie doch zu bieten hatten.

Diese Feiglinge wollten immer als Erstes die Hände festnageln. Sie war bereit und stieß ihm ihr Knie hart und schnell mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft in die Stelle, die Männer am meisten schätzen. Er stieß ein schmerzerfülltes Ächzen und einen noch lauteren Schrei aus, als sie ihren Oberschenkel zwischen seinen Beinen nach oben riss und ihn auf diese Weise hoch und über sich hinweg warf. Roshan duckte sich noch tiefer und drehte sich schnellstmöglich um, dabei zog sie die zusammengezwirbelte Waffe aus Haarklammern aus ihrem Ärmel. Während des Kampfes nahm sie Geräusche von unten wahr: Rufe und donnernde, rennende Füße und den Chor randalierender Gefangener.

Ihr mochte es gelungen sein, still und heimlich aus der Zelle zu entkommen, aber es war offensichtlich, dass ihm das nicht gelungen war. Der Idiot war gesehen worden, und Allah wusste, was er hinterlassen hatte. Die Wachen kamen von unten hoch. Roshan konnte schnell laufen, aber es wäre noch besser, wenn sie schneller wäre als er. Die Wachen suchten nach einem entflohenen Gefangenen, und sie würde ihnen einen liefern.

Sie streckte die linke Hand nach oben und schob sein zerrissenes Hosenbein hoch, um die Haut freizulegen. Mit der rechten Hand setzte sie einen Schnitt quer über seine Achillessehne. Er schrie gellend und trat nach ihr, als sein Fleisch zu blutigen Schichten wurde. Roshan wehrte den Versuch ab und stieg über Schwarzauge hinweg, der sich unter ihr wand und zappelte. Sie nahm sich eine Sekunde Zeit, um auf ihn hinunterzusehen.

»Du Heeeeexe!«, heulte er, und die Worte flogen wie Speicheltropfen aus seinem Mund. Er versuchte vergeblich, die Treppe hinter ihr hinaufzukriechen, und zog eine Blutspur hinter sich her. Es wäre so einfach gewesen, sich zu ihm hinunterzubeugen und ihm einen letzten Stich in die Halsschlagader zu verpassen. Sie umklammerte die spitzen, ineinander verdrehten Haarnadeln und ging in die Hocke, sodass sie mit ihm auf Augenhöhe war.

»Du hast Glück, dass ich dich lebend brauche«, flüsterte sie.

Mit ausgestreckter Hand versuchte er, sie zu packen, erwischte aber nur eine Handvoll schmutziger Kleidung. Sie wand sich aus seinem Griff, machte sich aus dem Staub und stürzte sich in den letzten Korridor, der nicht nur von Fackeln erhellt wurde, sondern – dem Himmel sei Dank – auch von echtem Sonnenlicht. Das Licht fiel durch kleine, runde Löcher in den Wänden und durchschnitt mit weißen Strahlen die Dunkelheit. Ihre Sicht verschwamm dadurch etwas, aber sie umlief die Sonnenstrahlen und versuchte, den Blick fest auf das Ende des Korridors zu richten.

Das Ende. Das Ende. Das Ende.

Es musste irgendwo da vorn sein, sie musste einfach nur weiterrennen, bis … Uff. Roshan wurde nach hinten geschleudert, nachdem sie mit einem unsichtbaren Objekt zusammengestoßen war. Ihr Kopf schlug auf dem Boden auf, und während sie versuchte, die vor ihren Augen tanzenden Sterne wegzublinzeln, glaubte sie, etwas vom Himmel herabsteigen zu sehen.

»Engel«, stöhnte sie und richtete sich mühsam auf.

Sekunden verstrichen, und sie überdachte ihre Äußerung noch einmal. Es war etwas von oben gekommen, aber nicht wie ein Engel. Es schien, als wäre die Person aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht, das Gesicht in den Schatten der Kapuze eines Umhangs verborgen. Roshan hörte die herannahenden Wachen, hörte die Schreie des Mannes, den sie hinter sich gelassen hatte, konnte die Freiheit schon beinahe schmecken, und doch … konnte sie sich nicht bewegen. Sie war wie erstarrt, während der Fremde sich ihr näherte und in jedem seiner Schritte der Tod lauerte.

Dämon, berichtigte sie sich in Gedanken. Dies war der Tod in Menschengestalt.

»Ich bin kein Engel«, sagte die Gestalt.

Dann streckte sie eine Hand nach Roshan aus, was wie eine freundliche Geste wirken sollte. Doch Roshan spürte, dass unter den Ärmeln etwas anderes lauerte. Eine Waffe. Eine Bedrohung. Sie wusste es tief in ihrem Inneren.

Und dennoch spürte Roshan, wie ihre Finger unmerklich zuckten, als wäre ihr Körper bereit, die Hand auszustrecken und mit festem Griff einen Handel mit dem Teufel einzugehen.

KAPITEL 2

Bagdad, 819

Roshan war blutüberströmt.

Mehr Blut, als sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Es tropfte an ihr herunter, sie war davon durchtränkt und sie wollte es unbedingt loswerden. Ein Schrei riss sie aus ihrem vorübergehenden Entsetzen. In dem Moment erinnerte sie sich nicht einmal mehr daran … es getan zu haben, ließ die Waffe fallen und rannte los. Das Blut machte den Boden rutschig. Mit zitternden Händen packte sie den Handlauf einer Holzleiter, kletterte nach oben aus dem Frachtraum und suchte verzweifelt nach dem Nachthimmel, auf den sie nur hin und wieder einen verstohlenen Blick erhascht hatte. Auf der Suche nach Freiheit.

Eine der Ehefrauen schrie jetzt noch lauter. Es hatte so ausgesehen, als wäre es Halima gewesen, als der dunkle Haarschopf in den Raum fegte. Komisch, dachte Roshan. Sie hatte sie immer für eine der Stilleren gehalten. Sie glaubte nicht, dass sie von dem Mädchen, seit sie sich kannten, mehr als ein paar Worte gehört hatte. Der einzelne Schrei wurde zu einem Chor verzweifelter Ausrufe, die ihren Aufstieg zum Hauptdeck des Schiffs begleiteten.

Die Nacht war klar und wolkenlos.

Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber die Luft fühlte sich immer noch heiß auf ihrer Haut an, als sie stehen blieb und einen Blick zum Mond warf. Sie starrte auf den abnehmenden Dreiviertelmond. Es war so lange her, seit sie den Himmel in seiner vollen Ausdehnung gesehen hatte. Sie hatte sich diesen Moment jeden Tag vorgestellt, seit man sie an ihrem vierzehnten Geburtstag an den persischen Hafenmeister verkauft hatte. Er hatte ihre Schwestern gewollt.

»Welche, ist mir egal«, hatte sie ihn zu ihrem Vater sagen hören, als sie mit an die Tür gepresstem Ohr gelauscht hatte. Ihre Eltern waren gütige, aber vom Pech verfolgte Leute mit drei Töchtern, aber keinem männlichen Erben. Nicht, dass es viel zu erben gegeben hätte, da sie ihr ganzes Leben am Rande der Armut verbracht hatten, und sie hätten möglichen Freiern nur eine armselige Mitgift anbieten können. Der Hafenmeister – sprich seinen Namen nicht aus, denke ihn nicht einmal – hatte sich als Geschenk des Himmels erwiesen, denn er verzichtete auf eine Mitgift und bot stattdessen ein Brautgeld an. »Das ist ein großzügiger Vorschlag«, hatte ihre Mutter mit leiser Stimme gesagt, als könne sie es kaum glauben. Doch Roshan hatte den Mann auf der Stelle durchschaut, als er mit ihrem Vater nach Hause kam.

Sie hatte sich selbst angeboten. Ihre Schwestern waren süße, unschuldige Mädchen, und der Gedanke, dass eine von ihnen bei diesem Mann gefangen sein würde, bereitete ihr Übelkeit. Sie selbst war von dieser Vorstellung auch nicht gerade begeistert, aber sie hatte nur begrenzte Möglichkeiten. Einige Mädchen ihres Alters waren bereits zu schlechteren Bedingungen mit schlimmeren Männern verheiratet worden. Immerhin hatten ihre Geschwister mit dem Geld, das für sie gezahlt wurde, eine Chance auf bessere Vermählungen. Die Vorstellung einer Liebeshochzeit war ein Märchen, genauso wie ein gut aussehender Ehemann. Sie wünschte sich für ihre Schwestern nur jemanden mit stabilen Geldmitteln, aber vor allem jemanden, der gütig war.

In ihren Augen war das mehr wert als ein vollständiges Gebiss – was der persische Hafenmeister nicht besaß. Natürlich nicht. Ihre Schwestern hatten ihr bei ihrem Aufbruch weinend Halsketten und Armbänder in die Hand gedrückt, die sie selbst angefertigt hatten, und sie hatte versprochen, diese immer in Ehren zu halten. Ihr frischgebackener Ehemann hatte alle Schmuckstücke bis auf eins noch am selben Tag zerstört, und das war erst der Anfang einer langen Liste von für sie wertvollen Dingen in ihrem Besitz gewesen, die er mutwillig zerstört hatte.

Roshans Finger krümmten sich zur Faust und streiften die bunten Perlen, die auf dünne Metalldrähte aufgefädelt an ihrem Handgelenk baumelten. Das war alles, was ihr von ihrer Familie geblieben war; das Letzte, was sie daran erinnerte, wer sie war und wo sie herkam. Und auf brutale Weise auch daran, dass sie nie wieder zurückkonnte. Die Geräusche der anderen Frauen, die sich unter Deck rührten, wurden immer lauter. Ihre Stimmen vermischten sich mit Halimas Geschrei und Roshan hörte, wie jemand versuchte, sie zum Schweigen zu bringen und die Hysterie im Keim zu ersticken.

Schließlich war nicht nur Roshan frei, wenn er tot war. Sie alle waren es. Doch der Schaden war angerichtet. Sie konnte bereits sehen, wie Laternen überall auf den umliegenden Booten in dem Hafen, in dem sie angelegt hatten, angezündet wurden. Hölzerne Stege trennten die Schiffe in einer gewissen Ordnung voneinander. Nur am anderen Ende des Hafens konnte sie den Tigris sehen, der sich in zwei Richtungen erstreckte und die Stadt teilte, von der sie wusste, dass sie dort draußen war, doch nie die Freiheit gehabt hatte, sie zu besuchen. Eine Glocke ertönte, und der Klang schnitt wie eine Klinge durch die Nacht von Bagdad. Soldaten wurden herbeigerufen. Und Roshan war schuldig, nicht nur wortwörtlich, sondern auch sichtbar. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf sich selbst, als sie über Bord in das ruhige Wasser spähte. Das Einzige, was nicht blutüberströmt war, war das Weiße ihrer aufgerissenen Augen, die ihr zublinzelten.

Der Anblick erschreckte sie nicht. Sie war lediglich schockiert, dass sie es getan hatte. In dem Moment war sie ganz ruhig gewesen, aber als die Sekunden verstrichen, schwand dieses Gefühl und wurde von Panik ersetzt.

»Roshan.«

Sie wirbelte herum und packte ein Ruder, das direkt neben ihr unter dem Dollbord festgeschnallt war. Wenn sie geglaubt hatte, eine Waffe zu brauchen, so hatte sie sich geirrt, denn sie sah nur den durchdringenden Blick von Talâyi, der ältesten Ehefrau. Sie war nicht die erste und auch nicht die zweite, aber die dritte gewesen. Ihre Vorgängerinnen wären dickköpfig gewesen und hatten nicht lange überlebt, wie man Roshan erzählt hatte. Talâyi war ebenfalls dickköpfig, aber sie war auch klug. Diese älteren Frauen hatten Talâyi vieles beigebracht, und so hatte sie ihr Leben nicht an ihn verloren, aber er hatte ihr ein Auge genommen. Sie hatte sich geweigert, eine Augenklappe zu tragen, denn das hätte die Wunde kaschiert und ihm Trost gebracht. Stattdessen blieb ihre linke Gesichtsseite vernarbt und das Augenlid fest geschlossen.

»Ich …« Roshan wusste nicht, was sie sagen sollte, was sie sagen wollte.

»Wir haben Halima beruhigt. Nai gab ihr einen Schlaftee. Aber es ist zu spät, du hast die Glocke gehört.«

Roshan sank auf die Knie, Verzweiflung überkam sie. »Was habe ich getan?«

»Was du tun musstest«, sagte Talâyi mit neutraler, gefühlloser Stimme. »Das, von dem andere sich wünschen, sie hätten die Kraft, es zu tun.«

»Habe ich euch dem Untergang geweiht?« Sie sah hoch. Tränen liefen aus ihren Augen und hinterließen einen sauberen Streifen in dem Blut auf ihrem Gesicht. »Habe ich euch alle dem Untergang geweiht?«

Die ältere Frau schüttelte mit grimmigem Gesicht den Kopf. »Nein, meine Liebe. Nur dich selbst.«

Hinrichtung. Das wartete auf sie. Es würde keinen Prozess und keine Anhörung geben, wahrscheinlich würde nicht einmal eine einzige Frage gestellt. Männer wie er konnten ihren Ehefrauen antun, was sie wollten, und die einzigen Konsequenzen bekamen diejenigen ohne Macht zu spüren. Voraussichtlich würde man sie erst foltern und dann hinrichten, und wenn sie Glück hatte, landete sie vielleicht nur in einem brutalen Bordell. Auf diese Art Glück konnte sie verzichten.

Für einen flüchtigen Moment gab sie sich der Hoffnung hin. Nach Hause. Sie könnte nach Hause gehen! Sie könnte ihre Schwestern wiedersehen, das Brennen der scharfen Suppe ihrer Mutter auf der Zunge genießen, ihren Vater auf beide Wangen küssen, in den Arm nehmen …

»Du kannst nicht nach Hause«, schnauzte Talâyi, ihr scharfer Tonfall riss Roshan aus ihren glücklichen Gedanken. »Wage es nicht, auch nur daran zu denken. Ich weiß, dass dir deine Schwestern und deine Familie fehlen, aber du würdest sie mit ins Verderben reißen.«

Die Frau, die sie kennengelernt hatte, kannte Roshans kühnsten Traum ganz genau … denn es war auch ihrer. Alle Ehefrauen verzehrten sich nach ihrer Heimat. Die Rufe von Männern waren in der Ferne zu hören, aber sie waren näher, als ihr lieb war. Roshans Entschlossenheit wuchs. Sie wischte sich die Tränen weg und stand zornig auf.

»Ich habe mein Schicksal damals akzeptiert«, sagte sie und erwiderte Talâyis durchdringenden Blick. »Ich nahm es bereitwillig an, ohne wirklich zu wissen, wie verflucht jeder Tag von diesem Zeitpunkt an sein würde, an dem ich in seiner Gegenwart in diesem Schiffskäfig leben würde, ohne drei Jahre lang einen Fuß an Land setzen zu können.«

»Und du hast deine Rache bekommen«, antwortete Talâyi. »Nicht nur für dich, sondern für uns alle, für all unsere Schwestern, aber du wusstest, dass sie ihren Preis haben würde, Roshan. Du bist klug, tu nicht so, als ob du es nicht wärst. Das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, über das glücklich zu sein, was du uns allen geschenkt hast, und tapfer, mutig und erhobenen Hauptes dein Schicksal zu akzeptieren. Was könntest du sonst noch wollen?«

Der Rhythmus marschierender Schritte erfüllte die Luft und kam schnell näher. Soldaten rannten von irgendwo herbei und in Richtung der Schreie und des Aufruhrs, der sie alarmiert hatte. Roshan konnte gerade noch die Form ihrer Helme erkennen, während sie den Landesteg entlangliefen. Sie warf Talâyi noch einen Blick zu, die so viel gesehen und erlebt hatte, wahrscheinlich Schlimmeres, als Roshan sich je vorstellen konnte. Und doch war sie enttäuscht, dass diese Frau nicht die Möglichkeit dessen sehen konnte, was sie für sich selbst haben wollte.

»Was ich sonst noch wollen könnte?«, wiederholte Roshan die Frage. »Ich will leben.«

Sie hatte nur noch Sekunden, um eine Entscheidung zu fällen, und sie fällte sie aus vollem Herzen. Sie wirbelte herum und rannte vor der ältesten Ehefrau und ihrem früheren Leben davon. Sie hörte, wie Talâyi hinter ihr überrascht nach Luft schnappte, während Roshan um all die Überbleibsel ihrer Welt in den letzten Jahren herumrannte. Der persische Hafenmeister hatte Männern den Zutritt zu seinem Schiff verboten – es war nur für sie, die Frauen – und Roshan war froh darüber, denn es bedeutete, dass niemand sie verfolgte. Noch nicht.

Im Laufen riss sie sich die vielen Lagen ihres Kleides herunter, schleuderte die Schuhe von den Füßen und entledigte sich ihres Gürtels, der bei jeder ihrer Bewegungen klimperte. Sie warf noch einen Blick hinauf zum Mond, dann packte sie den Rand eines Segels, das an der Seite des Schiffs hing, und hielt sich daran fest. Sie kletterte hinauf und ihre Zehen krümmten sich über die Kante des Bugs. Das Holz unter ihren Füßen wirkte beruhigend, als sie sich vorbereitete.

Roshan atmete lang und tief ein, dann tauchte sie ins Wasser. Das Blut, das auf ihrer Haut angefangen hatte zu trocknen, wurde sofort wieder nass, als sie in die Tiefen des kühlen Wassers vordrang, das nach der warmen Luft an der Oberfläche eine Wohltat war. Sie strampelte, um noch tiefer abzutauchen, während ihre Hände das schwarze Wasser seitlich wegdrückten. Da sie eine bessere Schwimmerin geworden war als jede andere auf dem Schiff, konnte sie sich auf diese Weise für lange Zeit fortbewegen und war dankbar für die Stunden, die sie bei ihren täglichen, überwachten Bädern im Wasser des Hafens verbracht hatte. Als sie schließlich wieder an die Oberfläche kam, war sie sehr weit vom Schiff entfernt.

Sie dümpelte eine Weile auf der Stelle und beobachtete die Silhouetten, als würde sie eins der Schattenspiele, die sie als Kind so geliebt hatte, verfolgen. Soldaten versuchten, an Bord des Schiffs zu gelangen, doch Talâyi versperrte ihnen den Weg. Sie schrie auf eine hysterische Weise, die Roshan von ihr überhaupt nicht kannte. Vier der anderen Frauen taten es ihr gleich. Alle zerrten an der Kleidung der Soldaten um sie herum und rissen sogar einen von ihnen auf die Knie.

Sie empfand einen Anflug von Zuneigung für diese Frauen. Viele von ihnen waren wahrscheinlich genau wie Talâyi der Meinung, dass sie hätte bleiben sollen, um ihrem Tod ehrenvoll ins Auge zu sehen. Obwohl sie eine andere Entscheidung getroffen hatte, halfen sie Roshan trotzdem. Sie verschafften ihr Zeit, sorgten für Ablenkung und verhalfen ihr so zu dem Zeitfenster, das sie brauchte. Sie würde es nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Sie paddelte so schnell und geräuschlos wie möglich davon und kraulte erst dann schnell, als sie glaubte, weit genug entfernt zu sein, damit man das Platschen nicht mehr hörte. Roshan mied die Schiffe – Hunderte von ihnen –, weil Menschen an Bord waren, und Menschen konnten anderen erzählen, dass da draußen ein blutverschmiertes Mädchen an Backbord herumschwamm. Also schwamm sie mit ihrem Ziel vor Augen weiter und nach ungefähr einer Stunde erreichte sie das äußerste Ende des Hafens.

Dort führten Steinstufen aus dem Wasser, auf denen oft Fischer saßen, die ihren Fang säuberten und für den täglichen Markt vorbereiteten. Ihr Weg dorthin lag allerdings in direkter Sichtweite einer Gruppe Betrunkener, die auf dem danebenliegenden Steg herumlungerten. Sie versteckte sich direkt unter ihnen und lehnte sich an einen der Holzpfeiler, während sie wartete.

Über ihr wurde gelacht und gejohlt, und Roshan beobachtete die über den Rand baumelnden Füße nervös. Sie machte sich Sorgen wegen der neuen Probleme, die ihr bevorstanden. Sie hatte so viel wie möglich von ihrer Kleidung abgelegt und die blutverschmierten Stoffe weggeworfen, die ihr, wenn sie nass wurden, nur hinderlich gewesen wären. Doch mit nackter Haut wurde sie zu einer auffälligen Zielscheibe, wenn sie durch die Straßen Bagdads lief. Sie hatte nichts zu essen, kein Wasser, kein Geld, keine Kontakte und keine einzige Person, von der sie Hilfe erwarten konnte. Und selbst wenn … Sie war noch nie zuvor von Bord gegangen außer bei den überwachten Sprüngen ins Hafenbecken.

Den Ehefrauen war alles andere verboten gewesen und sie waren verprügelt worden, wenn sie etwas versucht hatten. Sie lebte in dieser Stadt, seit sie ihr Heimatdorf mit ihrem frisch Angetrauten verlassen hatte, und doch war sie noch nie durch eine einzige Straße gelaufen. Sie hatte nichts, um sich zu orientieren, keine Ahnung, wo sie hingehen oder was sie tun sollte. Panik stieg in ihr auf, sie holte tief Luft und ließ sich unter die Wasseroberfläche sinken, wo alles ruhig war. Still. Sicher.

Als sie wieder auftauchte, versuchte sie, ihre Gedanken zu beruhigen. Panik würde ihr nichts bringen. Sie musste sich auf das Problem konzentrieren, das vor ihr lag. Es überwinden. Dann anfangen, am nächsten zu arbeiten. Ihre Welt war bisher stecknadelkopfgroß gewesen und jetzt war sie riesig. Weit. Voller Möglichkeiten. Natürlich auch voller Gefahren, aber die gab es überall. Die Möglichkeiten waren das Risiko wert.

Also wartete sie. Die Kälte des Wassers kroch ihr in die Glieder und betäubte sie. Sie zitterte und versuchte, ihr Unbehagen zu verdrängen. Trotz allem wartete sie auf den richtigen Moment. Schließlich taumelten zwei der Männer nach Hause. Der Einzige der drei, der noch übrig geblieben war, schlief ein. Eine leere Flasche rollte von der Plattform und landete mit einem hohlen Platschen im Wasser. Roshan schwamm leise vorwärts, verließ den sicheren Schatten des Landestegs und machte sich auf den Weg zu den großen Stufen, die an Land führten.

Sie streckte die Hände vor sich aus und suchte im Wasser nach der Oberfläche der ersten Stufe. Als sie sie fand, zog sie sich hoch. Sie bewegte sich, so schnell es ging, und lächelte kurz siegessicher, nachdem sie das Wasser verlassen hatte. Die Geste fühlte sich fremd an, weil es so lange her war, seit sie einen Grund gehabt hatte zu lächeln, und sie klopfte sich unsicher auf ihre Wangen.

Das laute Wiehern eines Pferdes riss sie aus ihrer kurzen Feierlaune. Kurz danach folgte der schneidende Widerhall von Hufen auf dem harten Boden, und sie bog in die nächste Gasse ab, die sie sah. Roshan stolperte und schaffte es nur knapp in das sichere Versteck. Der Reiter rauschte vorbei, und als Roshan sich wieder auf den Weg machen wollte, zeigte sich das Problem erneut: Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Es war, als wäre sie vergiftet worden. Sie hatte Mühe, Halt zu finden, und stützte sich an den Wänden umliegender Gebäude ab, um auf den Beinen zu bleiben. Irgendwann fiel sie auf alle viere und erbrach ihren Mageninhalt. Ich habe diese letzte Mahlzeit dringend gebraucht, und jetzt ist sie weg, dachte sie wütend und wischte sich den Mund ab. Was war mit ihr los?

Die Antwort traf sie bald darauf wie ein Hammer, als sie sich hinsetzte und sich einen Moment erholte. Sie hatte es einige Häuserblocks weit in die Stadt geschafft, aber da die Bebauung dichter wurde, wuchs die Gefahr für sie. Ganze Stadtteile waren rund um die Uhr auf den Beinen, und es wurde immer schwieriger, den Menschen auszuweichen. Sich nicht auf den Füßen halten zu können kam noch erschwerend hinzu, aber klar, natürlich, es war logisch, warum sie es nicht konnte.

Sie war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr auf diesem Schiff eingesperrt gewesen. Jetzt war sie siebzehn und hatte Jahre auf dem Wasser verbracht. Auch wenn sie einen großen Teil dieser Zeit im Hafen gelegen hatten, war sie an den Seemannsgang und das ständige Schaukeln gewöhnt. Ihr letztes Mal an Land war so lange her, dass sie mit festem Boden unter den Füßen nicht mehr zurechtkam.

»Steh. Auf.«

Sie brummte diese Worte nur für sich selbst … zumindest glaubte sie das. Eine streunende Katze, die an ihr vorbeitrottete, blieb beim Klang ihrer Stimme stehen. Roshan kämpfte sich erneut auf die Füße, und als die Katze von dannen huschte, lenkte ihr Weg Roshans Blick auf eine andere Gasse. Diese war voller Kleidung. Stoffe in allen Farben und Formen wehten in der warmen Nachtluft, weil sie zum Trocknen aufgehängt waren.

Sie stolperte vorwärts und erreichte die erste Wäscheleine gerade in dem Moment, als sie das Gefühl überkam, sie würde umfallen. Sie hielt sich daran fest und zerriss sie durch ihr Gewicht. Die feuchte Wäsche glitt herunter und sammelte sich auf einem Haufen vor ihren Füßen. Ob sie trocken war oder nicht, war Roshan egal. Schnell durchsuchte sie alles und fand einen braunen Kaftan, der in etwa ihre Größe hatte, eine Hose, ein Hemd und passende Unterwäsche. Schnell zog sie ihre durchnässte Kleidung aus und schlüpfte in die neuen Sachen. Dann band sie sich eine Schärpe aus rostfarbenem Stoff um die Hüfte und eine weitere in einer passenden Farbe um ihren Kopf, sodass sie eine Kapuze ergab.

Es war ganz in ihrem Sinne, dass es sich um Männerkleidung handelte. Sie nahm sich sogar einen Moment Zeit, um die Bewegungsfreiheit ihrer Beine zu genießen, und schüttelte sie aus. Roshan schlich sich näher an das Fenster des ersten Hauses, das sie sah. Die Wohnungen waren übereinandergestapelt, damit so viele Familien wie möglich untergebracht werden konnten. Das Fenster war nicht verriegelt. Sie schob es behutsam auf und spähte hinein.

Die Küche. Sie zog sich aufs Fensterbrett, streckte eine Hand nach innen und zog ein angebissenes Lavash-Fladenbrot heraus. Sie wollte sich gerade noch etwas holen, das in dem schwachen Licht wie Reis aussah, als sie einen Schrei hörte.

»Hey! Du!«

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie erstarrte und hoffte, dass dieses »du« nicht ihr galt. Unglücklicherweise war es aber so. Sie drehte ihren Kopf und sah in die Augen eines Mannes, der wie ein betrunkener Vater wirkte, der von der nahe gelegenen Taverne nach Hause wankte.

»Dieb!«, schrie er. Er zeigte auf sie und rief mehrmals, und bald wurden Kerzen angezündet, als die Bewohner allmählich aufwachten und erste Blicke aus den Fenstern geworfen wurden.

Zum Glück war sie von der einzigen Person entdeckt worden, die sich genauso wenig auf den Füßen halten konnte wie sie selbst. Als sie sich stolpernd davonmachte, kam sie immer noch schneller voran als er, und der Abstand zwischen ihr und dem wachsenden Tumult wurde immer größer.

Bald wurde Roshan klar, dass sie sich verlaufen hatte und in dem Straßennetz der Stadt umherirrte. Also wandte sie sich wieder dem zu, was sie kannte: dem Wasser. Zu ihrer Erleichterung hatte sie sich ziemlich weit von Bagdads innerem Hafen entfernt, also nutzte sie den Tigris zur weiteren Orientierung. Als sie eine Brücke erreichte, erkannte sie eine Gefahr. Sie hatte freie Sicht auf den Horizont und somit auch den Tagesanbruch. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis die Sonne aufging, aber es wurde hell. Die Vorteile, die sich ihr durch die Dunkelheit boten, wären bald dahin. Auch der Fußgängerverkehr über die Brücke war gefährlich; die vielen Leute, die geschäftig zu ihren frühmorgendlichen Aufgaben eilten, waren ein Risiko.

Oder ein Vorteil …

Sie schlüpfte hinter einem beladenen Karren hervor und schloss sich der größten Gruppe an, die sie sehen konnte. Jemand hatte einen Gehstock an einige Fässer gelehnt. Sie schnappte ihn sich, denn er war eine willkommene Hilfe, während sie auf der einen Seite die Brücke hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinunter in die Stadt humpelte. Ihre Verkleidung als Mann war schon gut, aber auf der Suche nach einem Versteck war es noch vorteilhafter, ein älterer Mann zu sein.

Die Gruppe, der sie sich angeschlossen hatte, bewegte sich langsam, und sie blieb am hinteren Ende, während sie ihnen in der Absicht folgte, sich so schnell wie möglich abzusetzen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Doch je länger sie ihnen nachging, desto mehr andere schlossen sich ihnen an. Viele von ihnen hatten ebenfalls Gehstöcke und so fügte sie sich eher zufällig, aber nahtlos in die Gemeinschaft ein. Sie würde ihnen folgen müssen, wo immer sie hingingen, also senkte sie den Kopf und verbarg so gut wie möglich ihr Gesicht, während sie die Treppenstufen zu einem Gebäude hinaufschlurften, das sie für eine Moschee hielt.

Sie erwartete, Gebete zu hören, aber diese blieben aus. Stattdessen war das Geplapper um sie herum eine Mischung aus der Sprache, die sie kannte und sprach, und anderen, die sie noch nie gehört hatte. Die Stimmen, die sie heraushören konnte, plauderten über Zahlen und Sterne und andere Dinge, und es hätte genauso gut ein anderer Dialekt sein können. Jedenfalls befand sie sich drinnen, und das war entscheidend.

Vorsichtig ließ sie sich zurückfallen, bis sie sich am Rand der Gruppe befand. Sie riskierte einen Blick nach oben und es verschlug ihr den Atem. Wenn dies eine Art Tempel war, hatte sie keine Ahnung, was hier angebetet wurde. Aber es war wunderschön.

Sterne waren hoch über ihrem Kopf an die Decke gemalt, daneben Propheten aus alten Zeiten, deren Reise durch die Zeit, durch die Geschichte und durch den Raum dargestellt wurde. Gold schien auf jeder Oberfläche zu glitzern; das Licht der verschiedenen Kerzen wurde von dem Metall reflektiert und erschuf noch mehr Glanz. Männer setzten ihre Kapuzen ab und begrüßten sich gegenseitig herzlich mit Umarmungen und Händeschütteln.

Sie kannten sich, sie kannten diesen Ort und früher oder später wäre sie auf verlorenem Posten. Umhänge wurden gefaltet und weggelegt. Sie beobachtete jemanden, den sie für einen niederen Arbeiter hielt, und ahmte seine Handlungen nach. Sie nahm einen Stapel Schriftrollen und humpelte hinter ihm her. Er schob sich durch eine Pendeltür, und sie tat es ihm gleich. Dabei nahm sie keine Kerze mit, um im Dunkeln zu bleiben.

Der Anblick hinter der Tür war genauso entmutigend. Eine Landschaft aus Bücherregalen erstreckte sich in endlosen Reihen vor ihr. Eine Bibliothek. Theoretisch wusste sie, worum es sich handelte, aber sie hatte noch nie einen Fuß an einen Ort wie diesen gesetzt. Er sah aus wie eine Miniaturstadt aus Büchern. Sie zog sich tiefer ins Innere dieses Ortes zurück und entfernte sich von der Öffnung. Sie ließ das Stimmengewirr hinter sich und legte schließlich die Schriftrollen, die sie bei sich hatte, aber nicht lesen konnte, behutsam auf einen Tisch. Dann suchte sie den ruhigsten Bereich der Bibliothek, wo die Bände dick mit Staub bedeckt waren und das Quieken einer Ratte ihr verriet, dass sich nur selten Besucher hierhin verirrten.

Mit einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass ihr niemand folgte. Warum sollten sie auch? Sie sah aus, als gehöre sie hierher, und als sie in einen Gang abbog, lehnte sie den Gehstock gegen die Regale. Ihre Füße waren wund und schmerzten, und sie ließ sich auf den Boden sinken.

Sie umklammerte das gestohlene Fladenbrot, das sie zusammengerollt an ihrer Seite trug. Es fühlte sich wie ihr rettender Anker an. Wenn sie vorsichtig war, konnte sie damit eine Woche lang auskommen. Und dann … für danach hatte sie keine Vision. Keine Ideen. Keine Lösungen. Sie war allein. Doch für einen Moment könnte das genug sein. Als sie in das Brot biss, kaute sie erleichtert und schloss die Augen. Sie war allein, aber zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit war sie frei.

KAPITEL 3

Fustat, 824

Roshan ergriff die Hand des verhüllten Fremden nicht. Sie sah, wie ein Hauch von Unmut über sein Gesicht huschte – denn sie konnte unter der Kapuze jetzt erkennen, dass ein Mann vor ihr stand –, dann verschwand er so schnell, dass sie sich fragte, ob sie sich das nur eingebildet hatte. Wie sich herausstellte, gab es eine Lektion, die sie lernen musste. Die Konsequenzen ihrer Ablehnung folgten auf dem Fuß.

Die Wachen stürmten den Korridor hinter ihr entlang und strömten wie Wasser aus einem Trichter in den engen Raum. Im Handumdrehen stürzten sie sich auf sie, Hände packten sie, Füße traten sie und Stimmen schrien durcheinander, während man sie vom Boden hochhob. Sie zerrten Roshan zurück in die Eingeweide des Verlieses. Vergeblich versuchte sie, sich zu wehren, aber es gelang ihr, sich umzudrehen und nach dem geheimnisvollen Mann zu sehen.

Er war verschwunden.

Da war nur Dunkelheit, die von natürlichem Licht durchbrochen wurde. Als sich die Wege zweier Wachen genau an der Stelle kreuzten, wo er gerade noch gestanden hatte, wurde deutlich, dass sie ihn als Einzige gesehen hatte. Es fühlte sich so an, als wäre er nie dort gewesen, und doch … konnte