Ästhetik der List - Benedikt Descourvières - E-Book

Ästhetik der List E-Book

Benedikt Descourvières

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Beschreibung

Wilhelm Hauffs Märchen gehören bis heute zu den viel gelesenen und sehr populären Texten in der deutschen Literatur. In der Wissenschaft stoßen sie jedoch nur vereinzelt auf ein ernsthaftes Echo: Sie gelten oft als Modetexte, die sich um des kurzfristigen Publikumserfolges willen unkritisch dem populären Geschmack im Biedermeier angepasst hätten. Descourvières liest ausgewählte Märchen Hauffs vor dem Hintergrund zentraler Denkfiguren aus dem Werk des französischen Kulturtheoretikers Michel de Certeau. Der Autor zeigt in Hauffs Texten Modelle eines findigen, subversiven und kreativen Umgangs der Menschen mit hegemonialen Strukturen auf. Das Denken Certeaus kann zu einer kulturwissenschaftlich gestützten Neubewertung und Würdigung der Märchen Hauffs beitragen, die hinfort nicht nur ihrer Popularität wegen, sondern auch um ihrer ästhetischen Komposition willen anerkannt werden sollten.

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Inhaltsverzeichnis

IEinleitung

IIPositionen der Forschung

II.1Wilhelm Hauff – eine Schattenexistenz in der Literaturwissenschaft

II.2Die Märchen Wilhelm Hauffs – beliebt, aber kaum gewürdigt

IIIDenkfiguren Michel de Certeaus

III.1Die Reise in die Geschichte

III.2Die Überwindung der Abwesenheit des Anderen

III.3Das Gehen

III.4Räume und Orte

III.5Der Alltag

III.6Lesen – Wildern in Texten

IVHauff trifft Certeau: Räume, Listen, Reisen

IV.1Räume und Orte

IV.2Bewegung und Reise

IV.3Listen, Finten und Coups

IV.4Die List als poetologisches Programm

VExkurse

V.1Exkurs I: Der literarische Text als relativ autonomes ästhetisches Objekt

V.2Exkurs II: Robinson und Freitag – Ort der Schrift und Raum der Stimme

V.3Exkurs III: Hauffs

Alltag

versus Hoffmans

Himmelsleiter

V.4Exkurs IV: Vom Märchen zur Novelle

V.5Exkurs V: Erholung und Vergnügen im Kunstgenuss

VIOrte, Räume und Coups in ausgewählten Märchen Wilhelm Hauffs

VI.1Der Scheik von Allessandria: „Der Zwerg Nase“

VI.2Die Karawane: „Die Errettung Fatmes“

VI.3Die Karawane: „Die Geschichte von dem kleinen Muck“

VI.4Der Scheik von Allessandria: „Der Affe als Mensch“

VIIZusammenfassung

VIII  Literaturverzeichnis

VIII.1 Siglen

VIII.2 Primärliteratur

VIII.3 Forschungsliteratur

I Einleitung

Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.

Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog. Abram nahm seine Frau Sarai mit, seinen Neffen Lot und all ihre Habe, die sie erworben hatten, und die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten. Sie wanderten nach Kanaan aus und kamen dort an.

Abram zog durch das Land bis zur Stätte von Sichem, bis zur Orakeleiche. Die Kanaaniter waren damals im Land. Der Herr erschien Abram und sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land. Dort baute er dem Herrn, der ihm erschienen war, einen Altar. Von da brach er auf zum Bergland östlich von Tet-El und schlug sein Zelt so auf, daß er Bet-El im Westen und Ai im Osten hatte. Dort baute er dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an. Dann zog Abram immer weiter, dem Negeb zu.1

Dieser alte Text von der Berufung Abrahams und seiner Wanderung nach Kanaan hebt als zentrale Praxis das Wandern, das ‚Sich auf den Weg-Machen‘ eines Menschen hervor. Abrahams Leistung besteht zuerst darin, dass er nicht an einem Ort verharrt, sondern im Ur-Vertrauen auf Gott ein völlig neues Leben beginnt. Er steigt mit seiner Familie aus allen ihm bekannten sozialen Beziehungen aus, um eine neue Identität zu suchen. Fortan wandert er von Ort zu Ort. Die Verbindung von anstrengender Bewegung, Unsicherheit und fortwährenden Ortswechseln beeindruckt, weil Abraham bereits ein hohes Alter erreicht hat. Obwohl die Zahlenangaben in der Bibel nicht als historische Daten gelesen werden dürfen, sondern mit hohem Symbolgehalt ausgestattet sind, vermittelt der Text doch die Botschaft, dass auch alte Menschen noch aufbrechen und träumen können, nicht nur junge.

Neben seiner Reisetätigkeit stechen im Buch Genesis zweitens Abrahams pragmatische Taktiken hervor, mit denen er gefährliche Konfliktsituationen meistert, indem er in schwierigen Machtkonstellationen nach Problemlösungen mit dem jeweils geringst möglichen Risiko sucht. Als Fremder in Gerar etwa2 nimmt er eine nüchterne Situationsanalyse vor: In Gerar ist er fremd, militärisch unterlegen und mutmaßlich in einem gottfernen Land. Er vermutet, dass sich der vermeintlich lüsterne König Gerars, Abimelech, seiner Frau Sara um jeden Preis bemächtigen will. Also rechnet er damit, als Ehemann Saras umgebracht zu werden, damit Sara als Witwe in Abimelechs Harem eingegliedert werden kann. Nach reiflicher Überlegung gibt er Sara als seine Schwester aus und überlässt sie mit ihrem Einverständnis Abimelech, um den anscheinend unvermeidlichen Zugriff auf Sarah nicht durch geltende Ehebruchsgesetze zu erschweren, mithin den Zorn des Königs darüber nicht heraufzubeschwören und schließlich die drohende Eskalation zu vermeiden. Dass sich Abimelech als feinfühlig und gerecht erweist, gibt der Geschichte eine glückliche Wende, ändert aber nichts am taktischen Verhalten Abrahams. Dazu gehören List, Cleverness sowie eine pragmatische Güterabwägung. Die Geschichten von Abraham schönen nichts. Abraham ist wandlungsfähig, auch unsicher, er wird aus seiner angestammten Umgebung gerissen, wandert von Ort zu Ort und wird in der Fremde immer wieder mit konkreten menschlichen oder politischen Problemen konfrontiert, die er pragmatisch löst. Er wird keineswegs als Held vorgestellt – die Bibel kennt grundsätzlich keine Heldengeschichten im Gegensatz zur Textsorte Heldenepos der umliegenden Großreiche des Vorderen Orients –, sondern eher als cleverer Taktierer, der – mehr Schlitzohr als Glaubensheroe – sich in höchst problematischen Situationen durchschlagen muss.

Unabhängig davon, dass er die Lage falsch einschätzt und dass die Rolle der Frau aus heutiger Perspektive befremdlich wirkt, lässt sich aus Abrahams Verhalten ein Handlungsschema ableiten, das auch für viele Märchentexte des literaturwissenschaftlich weithin unterschätzten Dichters Wilhelm Hauff (1802– 1827) charakteristisch ist und das der französische Kulturwissenschaftler Michel de Certeau (1925-1986) als ‚Kunst taktischen Handelns‘ thematisiert hat. Die Geschichte Abrahams, wie sie das Buch Genesis überliefert, enthält drei für die folgende Untersuchung aufschlussreiche Aspekte:

Reisen als heuristisches Prinzip

Von seiner Berufung durch Gott an durchquert Abraham den Nahen Osten auf der Suche nach etwas, das noch nicht sichtbar anwesend ist – dem gelobten Land und damit einer maximal möglichen Gottesnähe. Sehr wohl anwesend ist aber das Bewusstsein, dass das Gesuchte und Ersehnte abwesend ist; diese spezifische Abwesenheit soll durch das Reisen überwunden werden.

Orte

Abraham durchquert zahlreiche Orte und macht dort unterschiedliche Erfahrungen mit den bestehenden Gesetzen und Mächten, denen er als schutzloser Fremder nicht entkommen kann, denen er aber auch nicht erliegt. Er analysiert die Situation an dem jeweiligen Ort mit seinen spezifischen Macht- und Sozialverhältnissen nüchtern und stellt fest, dass er aus einer Position der Schwäche heraus agieren muss.

Listen

Abraham erliegt den Mächten der fremden Orte nicht, weil er sehr listig und pragmatisch mit den bestehenden Machtverhältnissen umgeht. Sein Ziel besteht darin, Konflikte zu minimieren und dennoch seinem Ziel näher zu kommen. Er laviert geschickt und zäh zwischen seiner Schwäche und den Standortvorteilen der jeweiligen Ortsvertreter.

Diese drei Aspekte markieren im Werk Certeaus zentrale Denkfiguren, mittels derer sich die Märchen Hauffs als Modelle eines findigen, subversiven und kreativen Umgangs der Menschen mit hegemonialen Strukturen beschreiben lassen. Bei vielen Protagonisten Hauffscher Märchenerzählungen3 findet sich ein ähnliches Verhaltensmodell wie bei Abraham. Sie treffen auf widrige Verhältnisse, diagnostizieren die realen Machtgefüge und versuchen, durch listige Taktiken ihre Ziele gegen übermächtige Widersacher oder repressive Verhältnisse, die in Hauffs Texten häufig durch dekadente, korrupte und inkompetente Herrscherfiguren repräsentiert werden, durchzusetzen.

Den Zusammenhang zwischen der permanenten Suchbewegung nach Möglichkeiten eines besseren und gerechteren Lebens in repressiven Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen und einer subversiven Praxis der List denkt Certeau vor dem Hintergrund eines spezifischen Alteritätskonzeptes als Heterotopie, als Wechsel zwischen Orten, Sprachen, Zeiten und Zuständen. Gegenüber den Orten, die eine eigene Machtposition konstituieren, die durch Gesetze und Regeln strategisch gesichert wird, benennt Certeau in seinem Grundlagenwerk „Kunst des Handelns“4 die Räume als spezifische Größen von begrenzter Dauer, die nicht strategisch kontrolliert werden. In ihnen schaffen sich Menschen durch subversive findige Taktiken einen gewissen Frei-Raum; diese Taktiken funktionieren nicht selten durch einfallsreiche Listen und Finten. Das handlungstheoretische Modell taktischer Operationen in Räumen, mit deren Hilfe die Macht der Orte bisweilen gebrochen oder zumindest relativiert werden kann, eröffnet nicht nur der gesellschaftlichen und politischen Diskussion neue Perspektiven, sondern auch der Textanalyse. Im Zuge des Spatial Turn, der den Raum als „ureigenstes Element des (literarischen) Kunstwerks“5 diskutiert, tritt die Bedeutung des Raumkonzeptes Certeaus für die Analyse literarischer Texte zutage. Susanne Ledanff beispielsweise greift auf Certeau Denken im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung der „Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes“ zurück.6

In Hauffs Märchen werden viele Phänomene, die Certeau ca. 150 Jahre später begrifflich benennt, ästhetisch vorweggenommen. Gerade der Ansatz Certeaus kann entscheidend zu einer kulturwissenschaftlich gestützten Neubewertung und Würdigung der Märchen Hauffs beitragen, die hinfort nicht nur ihrer Popularität wegen, sondern auch um ihrer ästhetischen Komposition willen anerkannt werden sollten, – stoßen sie doch bis heute in der Literaturwissenschaft nur vereinzelt auf ein ernsthaftes Echo: „Eine Revision ist fällig.“7 Die in der vorliegenden Studie durchgeführten Beispielanalysen8 zu „Der Zwerg Nase“, „Die Errettung Fatmes“, „Die Geschichte vom kleinen Muck“ und „Der Affe als Mensch“ verdeutlichen das bisher verkannte politische Potenzial der Märchen Hauffs jenseits der sattsam bekannten und wenig fruchtbaren Diskussion um die Epochenabhängigkeit und die biographischen Voraussetzungen der literarischen Produktion Hauffs. Bevor aber die aufschlussreichen Berührungspunkte zwischen Hauffs Märchentexten und Certeaus kulturwissenschaftlichem Kaleidoskop näher skizziert werden9, folgen im Anschluss ein ausführlicher Forschungsüberblick, der die bisherige häufig sehr einseitig geführte Forschungsdiskussion zu Hauff darstellt und bewertet, sowie die Erläuterung zentraler Schlüsselbegriffe und Überlegungen Certeaus.10 Auch wenn mit dem Kapitel über Certeau nicht beansprucht wird, Certeaus Denken und Schaffen umfassend darzustellen, so versteht es sich doch als fundierte Einführung in die Gedankenwelt des in Deutschland fast unbekannten Philosophen. Daraufhin wird dargelegt, wie Certeaus Ansätze den Blick auf die ästhetischen Finessen Hauffs schärfen können, um schließlich die analytische Fruchtbarkeit einer Annäherung an Hauffs Märchen mittels der kulturwissenschaftlichen Kategorien Certeaus in vier Textanalysen exemplarisch aufzuzeigen.

„Der Zwerg Nase“ stellt, wie auch die „Geschichte vom kleinen Muck“, das Schicksal des sozialen Außenseitertums dar. An „Der Zwerg Nase“ lässt sich sehr klar aufzeigen, wie die Brutalität und die machtvolle Wirkung eines Ortes auf den Menschen, der sich dem Ort und seinen Gesetzen nicht entziehen kann, erzählerisch dargestellt wird. Die Analysen von „Die Errettung Fatmes“ und „Die Geschichte vom kleinen Muck“ konzentrieren sich auf die von taktischen Operationen geprägte, unablässige Bewegung gesellschaftlich Ausgeschlossener beziehungsweise Unterlegener innerhalb fest gefügter, mächtiger Orte. Schließlich werden in der gelungenen Kleinstadtsatire „Der Affe als Mensch“ die Folgen mangelnder Bereitschaft zur Bewegung und Veränderung aufgezeigt: Wenn Menschen nicht mehr bereit sind, ihren festen Ort zugunsten einer erfinderischen Bewegung in Räumen zu verlassen, verschenken sie wertvolle Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten.

1 Buch Genesis 12, 1-9.

2 Vgl. Buch Genesis 20, 1-18.

3 Der Märchenbegriff lässt sich als Gattungsbezeichnung nur bedingt auf Hauffs Märchentexte anwenden, da sie im Vergleich mit den Volksmärchen und den romantischen Kunstmärchen weniger phantastisch-wunderbare Elemente aufweisen und verstärkt Züge realistischen Erzählens tragen. Zur Gattungsdiskussion vgl. die grundlegenden Studien von Klotz 1985, S. 7-30 und Mayer/Tismar 1997. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, wird verschiedentlich die Notwendigkeit einer alternativen Textsortenbezeichnung für Hauffs Märchen diskutiert; vgl. Smith 2002, S. 65-67 und Neuhaus 2002, S. 9 und S. 98.

4 Der in Deutschland noch wenig bekannte und rezipierte Certeau hat ein sehr heterogenes und vielschichtiges Werk hinterlassen, von dem bislang nur ein kleiner Teil in deutscher Übersetzung vorliegt. „Kunst des Handelns“ erschien im französischen Original 1980 unter dem Titel „Art de faire“ und bildet ein wegweisendes Grundlagenwerk für das Verständnis Certeaus.

5 Mehigan 2013, S. 15; vgl. einführend Hess-Lüttich 2013, S. 31-39.

6 Vgl. Ledanff 2013, S. 147-166. Im Anspruch ähnlich, in der analytischen Validität aber weniger elaboriert ist Katrin Scheidings Untersuchung „Raumordnungen bei Theodor Fontane“ (2012) angelegt. Sie greift die Terminologie Certeaus zwar auf, nutzt sie aber lediglich, um die Poetisierung des Raumes – gleichsam im Sinne einer szenographischen Beschreibung ausgewählter Romane Fontanes – darzustellen.

7 Oesterle 2005, S. 90. Zur Forschungslage vgl. ausführlich Kapitel II.

8 Vgl. Kapitel VI.

9 Vgl. Kapitel IV.

10 Vgl. Kapitel III.

II Positionen der Forschung

II.1 Wilhelm Hauff – eine Schattenexistenz in der Literaturwissenschaft

Der jung verstorbene Publizist, Autor und Satiriker Wilhelm Hauff11 hinterließ mit seinen 25 Lebensjahren ein quantitativ erstaunlich umfangreiches Textkorpus, das er insbesondere am Ende seines kurzen Lebens zwischen 1825 und 1827 schuf.12 Gelangte er zu Lebzeiten zu großer Bekanntheit, so verblasste sein literarischer Ruhm nach seinem Tod zunehmend,13 auch wenn einige seiner Texte noch längere Zeit fast kanonisches Ansehen genossen.14 In der literaturwissenschaftlichen Forschung fristen sie jedoch bis heute eine undankbare Schattenexistenz als vermeintlich „epigonal, kolportagehaft, trivialliterarisch“15. Das „notorische Desinteresse der Forschung“16 mag zum Teil darin begründet liegen, dass Hauff schon während seiner aktiven Schaffenszeit zumeist als oberflächlicher Schreiber marktgängiger Trivialliteratur rezipiert wurde und sich dieses Urteil bis heute gehalten hat,17 was sich etwa darin zeigt, dass ein Beitrag Friedrich Pfäfflins zu Hauff unter der Überschrift „ein Erfolgsschriftsteller im 19. Jahrhundert“18 steht; Friedrich Sengle fällt gar das vernichtende Urteil über Hauffs vermeintlich saloppen Umgang mit literarischen Traditionen und Motiven, indem er dessen Novellen als „kaltblütige Produktionen für den Effekt und den Geschmack“19 bezeichnet.

Die Liste der Kritikpunkte ist lang: Eklektizistische Epigonalität,20 stereotype Figuren und unoriginelle Handlungsmuster,21 biedermeierlich-affirmative Produktion kleinbürgerlicher Idyllik,22 Provinzialismus, der Hauff „seinen angeborenen Konservatismus nie überwinden“23 lasse, künstlerische Oberflächlichkeit,24 Marktkonformismus25mit einem „Spürsinn für das, was dem Zeitgeist entspricht“,26 und politischer wie gesellschaftlicher Opportunismus,27 der sich bisweilen in einen Antisemitismus gesteigert habe, werden ihm beziehungsweise seinen Texten vorgeworfen. Insbesondere die Novelle „Jud Süß“ (1827/28) und die Erzählung „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat“28 dienen Teilen der Forschung und der Literaturkritik als Beleg für Hauffs vermeintlichen Judenhass.

Der mögliche Antisemitismus Hauffs ist kontrovers diskutiert worden: Unmittelbaren antisemitischen Hass wirft Hauff niemand vor, wohl aber eine durch die Mode bedingte Judenfeindschaft, mit der er sich dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack habe anbiedern wollen.29 Eine solche Anbiederung habe die ‚performative Kraft des antisemitischen Stereotyps‘ verstärkt, was die judenfeindliche Wirkung seiner journalistischen und schriftstellerischen Äußerungen insgesamt vergrößere, auch wenn Hauff kein persönliches Hassgefühl gegen Juden unterstellt werden könne.30 Gegen die Etikettierung Hauffs als Antisemiten aus Marktopportunismus findet sich insbesondere das Argument, dass allein die dichterische Darstellung der grausamen Behandlung von Juden die bestehenden Vorurteile entlarve. So teilt Stefan Neuhaus nicht die

Auffassung, dass die Novelle [„Jud Süß“] sich klar gegen eine ‚deutsch-jüdische’ Heirat ausspricht. Im Gegenteil: Gerade durch die Folgen des Verbots einer solchen Heirat wird die Grausamkeit und Unbegründetheit des Verbots unterstrichen.31

Er führt aus, dass „Jud Süß“32 eine „differenzierte und intentional philosemitische Darstellung der problematischen Lebensverhältnisse der Juden“33 entwerfe. In ihrem umfangreichen Grundlagenwerk zur Jud Süß-Thematik in der Literatur gibt auch Barbara Gerber zu bedenken, dass Hauffs Novelle von einer seriösen Literaturwissenschaft nicht ernsthaft als Urquelle der antisemitischen Süß-Rezeption bewertet werden könne:

Um Hauffs Novelle in dieser Weise beanspruchen zu können, musste man sie rigoros auf eine antisemitische Lesart einebnen, aus der kritische Einsprengsel, etwa zur Sündenbockfunktion des Süß, und die von menschlichem Mitgefühl getragenen, aufklärerischen Reflexionen über das Unglück des Judentums und das christliche Vorurteil völlig ausgeblendet wurden.34

Die Erzählung „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat“ hingegen läuft eher Gefahr, ein stereotypes, antisemitisches Juden-Bild zu zeichnen:

Juden, wie du weißt, gibt es überall, und sie sind überall Juden: pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt, verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden, ihrer Verschlagenheit sich bewußt und sich etwas darauf einbildend.35

Die durchaus problematische Tendenz dieser rassistischen Stereotypisierung darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritik an unerträglicher Herrscherwillkür im Vordergrund dieses Textes, der zudem als Satire gelesen werden muss, steht: Der Jude Abner wird unzweifelhaft zum unschuldigen Opfer ungerechter, brutaler Herrschaft und demütigenden Spotts.36 Diesen Bedingungszusammenhang zwischen skrupelloser Machtausübung einerseits und Ohnmacht des jüdischen Opfers andererseits deckt der Text schonungslos auf und er lässt keinen Zweifel an der moralischen Bewertung der Gesamtsituation. An dieser textimmanenten Kritik ändert auch die Spekulation darüber nichts, ob sie bewusst vom Autoren Hauff konzipiert oder aber eher unfreiwillig produziert wurde, wie Kittstein vermutet.37

Weiterhin betont Wolf-Daniel Hartwich in seiner Analyse des Hauffschen Romans „Mitteilungen aus den Memoiren des Satan“ (1825) einen den Antisemitismus entlarvenden und verurteilenden Grundzug, da dem Satan, als dem Inbegriff eines Feindes der Menschheit, antisemitische Ansichten zugewiesen werden. Infolgedessen zeigen die „Mitteilungen“ den „inhumanen, in seiner zerstörerischen Negativität satanischen Charakter des antisemitischen Vorurteils“38.

Für viele Interpreten steht die Gesamtbewertung des Schriftstellers Wilhelm Hauff in der Form fest, wie sie Engelhard nüchtern vorträgt:

Wilhelm Hauff gehört nicht zu den Klassikern der deutschen Literatur im engeren Sinne und zählt nicht zu den großen schöpferischen Gestalten deutscher Dichtung.39

Ein Problem, dass Hauff in der wissenschaftlichen Bewertung bis heute zum Nachteil gereicht, ist die Schwierigkeit, seine dichterischen Produkte zwischen Romantik und Realismus40 literaturgeschichtlich einzuordnen. Als Vertreter des Übergangs „zwischen den Zeiten“41 haftet ihm der Makel an, keinen ausreichenden literarischen ‚Eigenwert’ geschaffen und sich damit auch nicht in einer Epoche Maßstäbe setzend profiliert zu haben. Der ‚Übergangsschriftsteller’ ist dem Verdacht ausgesetzt, nichts Bleibendes realisiert haben zu können und bestenfalls auf das viel versprechende Kommende, das dem gewaltigen Vergangenen ebenbürtig folgen sollte, vorausgedeutet zu haben. Der Zwischenstellung zwischen zwei bedeutenden Literaturepochen scheinen Unreife und Mangel an Orientierung in einem politisch wie kulturell vermeintlich farblosen Zeitraum immanent zu sein. Die bisherige Beschäftigung mit Hauffs Texten leidet u.a. unter der meist fraglos vorausgesetzten Junktimierung von politischer Stagnation ab 1815 und ästhetisch eher vorläufigen wie unreifen Suchbewegungen. Die vorgeblich „langweilige Windstille dieser Jahre“ nach 1815 habe „keine namhaften [wissenschaftlichen] Erträge“42 versprochen und daher die Forschung abgeschreckt. Einen gesamten Zeitraum unter dem Generalvorbehalt historischer Langeweile und Windstille zu bewerten, ist kein Ruhmesblatt für die wissenschaftliche Reflexion und historisch fragwürdig.43

Die von Friedrich Sengle eingeführte Epochenbezeichnung Biedermeier hat sich für Hauff als dem vermeintlich „repräsentativen Autoren der frühen Biedermeierzeit“44 fast durchgesetzt, birgt aber auch die Tendenz, als literaturhistorisches Pendant zum politischen Begriff der Restauration eher abwertend verwendet zu werden. Die Bezeichnung „Biedermeier“ lässt gleichermaßen an restauratives Denken und die Abwesenheit ästhetischer Kreativität und Innovation denken: „Restauration bedeutet stets Widerstand gegen eine grenzenlose Ausweitung des Bewusstseins, gegen Differenzierung, gegen den Verlust des ursprünglichen Ganzen […].“45 Autoren des Biedermeier dachten und schrieben demnach restaurativ, d.h. affirmativ und regressiv. Infolgedessen habe die ästhetisch harmlose Unterhaltungsfunktion biedermeierlicher Literatur zu „dem allgemeinen Entspannungsbedürfnis nach den Jahren der Revolution“46 gepasst.

Eine weitere Voraussetzung für die Vorbehalte gegen Hauffs Werk liegt in der abschätzigen Qualifizierung seiner Texte als epigonaler und eklektizistischer Nachahmungen bestehender Vorbilder. Es stimmt, dass sich Hauff inhaltlich wie formal auf bestehende Stoffvorlagen beziehungsweise literarische Produktionsmuster stützte. Einflüsse von Sir Walter Scott, E.T.A. Hoffmann47, Ludwig Tieck und Carl Heun treten insbesondere bei den Romanen zutage, stoffliche Anleihen aus verschiedenen Märchenstoffkreisen oder dem Motivkatalog der Romantik finden sich in seinen Märchen. Grundsätzlich tendiert die Hauff-Forschung, so sie denn überhaupt stattfindet,48 dazu, sich darin zu erschöpfen, weitere Quellen und Vorbilder zu suchen, derer sich Hauff epigonal bedient hätte:

Der Großteil der Sekundärliteratur zu Hauff, wo sie nicht von vornherein aus beschaulichen oder verschrobenen Liebhaberverklärungen bestand, widmete sich seit je der Suche nach möglichen Einflüssen. Was hatte Hauff von wem woher? Von Clauren über Cooper zu Hoffmann über Scott bis Zschokke geht die Reihe der vermeintlichen oder tatsächlichen Fundstücke.49

Reicht dies aber aus, um Hauffs Texte als epigonale Kompilationen abzuschreiben? In der Diskussion um den Eklektizismus-Vorwurf gegen Hauff weist Günter Oesterles Forschungsbeitrag „Die Wiederkehr des Virtuosen?“ auf Wurzeln eines bisher fast völlig ignorierten poetologischen Konzeptes Hauffs hin. Darin wird Hauffs Schaffen gegen den Vorwurf eines wahllosen beziehungsweise beliebigen Eklektizismus, wie er Hauff gerne unterstellt wird,50 verteidigt, indem luzide und fundiert „hinter den Marktstrategien Hauffs ein literaturästhetisches, ja sogar literaturpolitisches Konzept“51 aufgezeigt wird, das sich einem konzeptionellen52 Eklektizismus verpflichtet gefühlt habe. Diesen leitet Oesterle aus Hauffs Rezeption des interkulturellen Programms der 1824 gegründeten Pariser Zeitschrift „Le Globe“ ab, die sich zum Ziel gesetzt hatte, durch eine ästhetisch virtuose Vermittlung der Nationalliteraturen verschiedener Länder deren Entwicklungen und Erkenntnisse zu sublimieren.53 Die fortschrittliche Literatur-Zeitung, die übrigens auch von Goethe geschätzt wurde, wandte sich gegen einen ästhetischen Dirigismus und Dogmatismus, favorisierte die dezentralisierte künstlerische Produktion und wollte kulturelle Leistungen – gleich welcher Herkunft –, die „sich das Wahre und Nützliche aneignete[n], wo immer es zu finden war“, zu einer übergeordneten „geistige[n] Kultur“54 amalgamieren. Hauff zeigte sich von diesem Programm begeistert und hoffte, ihm auch in Deutschland zum Durchbruch verhelfen zu können, wie es aus einem Brief aus Paris vom 26. August 1826 an seinen Bruder Hermann unmissverständlich hervorgeht:

Im ganzen genommen, glaube ich, daß es jetzt an der Zeit wäre mit einem guten, im Geiste des französ. Globe geschriebenen Blatt, das Literatur und Sitten auf eine eigene piquante Manier behandelt, furore zu machen.55

Die zahlreichen Bezüge, die Oesterle zwischen Hauff und „Le Globe“ aufgespürt hat, leisten einen bedeutenden Beitrag dazu, Hauffs literarisches und publizistisches Schaffen aus einer bisher unbeachteten, aber nichtsdestotrotz sehr aufschlussreichen Perspektive zu bewerten und ihm in diesem Kontext auch gerechter zu werden.

Das in Hauffs Brief zitierte „furore“-Machen spielt auf markt- und verkaufsstrategische Überlegungen an, die Hauffs Produktion durchaus sehr prägte. Diese Prägung zu leugnen oder zu ignorieren, wäre ebenso falsch und unwissenschaftlich wie ihre Krönung zum einzigen ästhetischen Beurteilungskriterium für Hauffs Werk. So stimmt es, dass Hauff sehr geschickt auf die Erfordernisse des Literaturmarktes und des populären Geschmacks reagierte. Dabei muss Hauffs literarische Motivation im Kontext grundsätzlicher Veränderungen des zeitgenössischen Literaturbetriebes, der „immer weniger vom Idealismus romantischer Prägung, zunehmend jedoch vom Markt und daher von rein ökonomischen Bedingungen bestimmt“56 wurde, gesehen werden.

Als Beleg für den Umgang Hauffs mit den ökonomischen Herausforderungen wird häufig sein Roman „Der Mann im Mond“ herangezogen, den er 1825 unter dem Pseudonym H. Clauren veröffentlichte und mit dem er ein gerichtliches Verfahren provozierte, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihn und seine Texte lenkte.57 Unter dem Künstlernamen „H. Clauren“ publizierte seinerzeit der preußische Hofrat und Erfolgsschriftsteller Carl Heun, der sich gerichtlich gegen den Missbrauch seines Künstlernamens „wegen rechtswidriger Täuschung des Publikums durch Angabe eines falschen Verfassers“58 wehrte. Der literarische Skandal war da. Pikanterweise fand Hauffs Buch reißenden Absatz, der durch die juristische Auseinandersetzung zwischen Heun und ihm noch angefacht wurde. Den Prozess verlor Hauff zwar, aber es war ihm gelungen, mit einem Schlag in der Literaturszene und auf dem Buchmarkt bekannt zu werden.

Im Anschluss an das gerichtliche Verfahren verfasste Hauff die „Kontrovers-Predigt über H. Clauren und den Mann im Mond“, mit der er in Form einer moralisierenden Paränese den trivialen Stil Claurens und die Empfänglichkeit des Publikums für seichte Unterhaltung parodierte. Die „Kontrovers-Predigt“, die nach Erhard Schütz das bis heute aktuelle und treffende „Grundinventar zur Diskussion um Trivialliteratur“59 enthält, provozierte den weiteren Vorwurf gegen Hauff, exakt diejenigen trivialen Mechanismen und Erfolgsperspektiven verfolgt zu haben, die er bei Heun pathetisch verurteilt hatte.60 Noch weiter geht Helmut Bachmaiers Kritik, die Hauffs gesamtes Schreiben als „Arrivierungskonzept“ bewertet, das der bürgerliche junge Schriftsteller mit der Schwäche für aristokratischen Lebensstil verfolgt habe, um seinen sozialen Aufstieg zu forcieren.61 Um Hauff als Parvenü des Literaturmarktes zu disqualifizieren, wurde gar das Adorno-Diktum vom Berichterstatter auf dem Markt geistiger Erzeugnisse bemüht. Die Berichterstatter agieren nach Adorno zwar nicht bar jeder Sachkenntnis, aber sie bleiben

Agenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher. […] Nicht nur richtet der Geist auf seine marktmäßige Verkäuflichkeit sich ein und produziert damit die gesellschaftlich vorwaltenden Kategorien. […] Sondern er ähnelt objektiv dem Bestehenden sich an, auch wo er subjektiv nicht zur Ware sich macht. Immer enger werden die Maschen des Ganzen nach dem Modell des Tauschakts geknüpft.62

Zum Agenten des Verkehrs, der in Kauf nimmt, seinen Geist zu vermarkten, statt zum schöpferischen Dichter erklärt, galt und gilt Hauff seinen Interpreten als cleverer Werbefachmann in eigener Sache und als Paradigma eines erfolgsgierigen „Marketing-Typus“63, eines „Frühvollendeten des Marktes“64, der sich ohne Einschränkung an „literarisch populären Geschmackskonventionen“65 orientiert habe.

Wie bereits angedeutet, korrelieren der treffsichere Instinkt Hauffs für Publikumsgeschmack und sein Sensorium für gute Unterhaltung nicht zwingend und a priori mit einer ästhetischen Niveaulosigkeit, wie sie Hauffs Texten allenthalben unterstellt wird. An diesen Unterstellungen haben auch systemtheoretische Ansätze, die den Literaturmarkt als konstitutive Umwelt für das System Literatur beschreiben,66 nichts geändert, da sie sich eher Autoren widmen, die ohnehin „sicher unter dem Schutz des literarischen Kanons stehen und über ästhetische Zweifel in einem Maß erhaben sind, daß sie trotz ihrer inzwischen nachgewiesenen professionellen Marktstrategien“67 anerkannt sind.

Hauffs beruflicher Ehrgeiz hängt mit der „Erfahrung eines Bürgerlichen in absolutistischen Verhältnissen“68 und mit der Selbstbehauptung eines jungen, anfangs noch fast unbekannten Schriftstellers auf dem Forum des durch zunehmende Konkurrenz geprägten Literaturmarktes zusammen. Sein Streben nach einer eigenen Handschrift, die „ungegöthet, ungetieckt, ungeschlegelt und ungemeistert“69 bleiben sollte, mag auch ökonomisch motiviert gewesen sein; diese Teilmotivation des Autors sollte hingegen nicht als alleinige Bewertungsgrundlage seiner literarischen Strategien und Produkte dienen.70

Das starke Übergewicht, mit dem Hauffs Orientierung am Publikumsgeschmack in der Forschung betont wird, verstellt den Blick auf subversive Potenziale seiner Texte. Stefan Neuhaus, der oben bereits mehrfach zitiert wurde, gehört zu den wenigen Literaturwissenschaftlern, die sich der Mühe unterzogen haben, über die Stereotypien vieler bisheriger Interpretationsansätze hinaus das Werk Hauffs in einem informativen Überblick zu würdigen und mittels exemplarischer Einzelanalysen gegen viele bis heute gängige Vorwürfe zu verteidigen.71 Auch der 2005 erschienene Sammelband „Wilhelm Hauff oder die Wiederkehr der Einbildungskraft“72liest sich vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungssituation wie eine spannende Reportage, die mit kriminalistischem Eifer Lücken und Fehlurteile in der Bewertung Hauffs aufspürt und fundiert demontiert. Insgesamt aber unterziehen sich bis heute nur wenige Arbeiten der Mühe, die Potenziale aufzuspüren, die Hauffs Werk, das sich literaturhistorisch nicht eindeutig klassifizieren lässt, bietet.73 Hauffs Texte als Werk eines unter schwierigen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen „neue Wege suchenden Künstler[s]“74 zu befragen, muss noch immer als wissenschaftliche Pionierleistung bezeichnet werden.

Unabhängig davon, wie der Autor Hauff biographisch beurteilt werden mag, ist sein individueller Lebensweg für die ästhetische Bewertung seiner Texte nur bedingt aussagekräftig, da schließlich jeder fiktionale Text als ästhetisches Objekt relativ autonom75 wirkt, was in der literaturwissenschaftlichen Analyse und Bewertung berücksichtigt werden muss. Leider verwischen sich häufig die Grenzen zwischen der Beurteilung des Autors und der Analyse seiner Texte, zwischen der Kopie und der Parodie zitierter Vorbilder.

Die Texte Hauffs sind im Vorstellungs- und Denkhorizont des Biedermeier entstanden und weisen demnach sicherlich eine biedermeierliche Problematik76 auf, indem sie Elemente enthalten, die auf diesen textexternen empirischen Diskurs referieren: Hierzu zählen beispielsweise die Betonung der Familie, des mittelständischen Erwerbslebens, der Heimatverbundenheit sowie die Verdrängung jeglicher Erotik.77 Gleichwohl produzierte Hauff mit seinen literarischen Texten ästhetische Objekte, deren poetische Wirkungsmacht über die historischen Entstehungsbedingungen der Texte und die individuellen Überzeugungen des Autors hinausweist.

Viele Deutungsansätze zu Hauffs Werk begeben sich nicht selten – und dies ist wahrhaft erstaunlich – elementarer texttheoretischer Erkenntnisse: Sei es die Gleichsetzung von Autor und Erzähler beziehungsweise von Autor und Figur, sei es der einseitige biografische Textzugang oder sei es die Ignoranz gegenüber dem Status relativer Autonomie ästhetischer Objekte – alles dient dazu, die Texte Hauffs lediglich als exemplarischen Ausfluss trivialen Schreibens zu bewerten und ihnen nur noch einen literaturhistorischen und –soziologischen Erkenntnisgewinn zuzusprechen, da sie die unpolitische Naivität des Biedermeier fast ungebrochen reproduzierten.78

Vor dem Hintergrund der textontologischen Autonomie einer „gegen die empirische Welt abgeschlossene[n] Sphäre“79 der Fiktionalität kommt es bei der Analyse literarischer Texte darauf an, die Textstrukturen zunächst in ihrem internen, autonomen Wirkungszusammenhang zu untersuchen, ohne sie vorschnell in eine Abbildrelation zur historischen Wirklichkeit zu setzen. Dem Anspruch einer textimmanenten Analyse, die den Status textontologischer Autonomie anerkennt, muss die Literaturwissenschaft auch im Falle Wilhelm Hauffs gerecht werden, denn zusammengefasst gilt auch für die populären Märchen Neuhaus‘ ernüchterndes Resümee der Forschungsdiskussion, die

in Hauff einen zweitklassigen Autor sieht, ohne dass dies argumentativ nachvollziehbar abgesichert würde. Werturteile werden tradiert und bestätigen sich auf diese Weise ‚automatisch’. Ein durchgängiges ironisches, reflektiertes und über sich selbst reflektierendes Werk bleibt noch zu entdecken.80

Im Folgenden stehen Hauffs Märchen im Zentrum der Untersuchung. Sie gelten zwar bis heute als die meist gelesenen Texte Hauffs, aber auch ihnen wird eher der Status >beliebte Kinderliteratur< zuerkannt als >ästhetisches Objekt<. Gerade aber die Märchen dürfen einen weitaus größeren ästhetischen Eigenwert beanspruchen, als ihnen weithin zugebilligt wird, denn sie bieten nicht nur ausgezeichnete Erzählkunst, sondern auch eine ausgeklügelte, humorvolle, kritische Bestandsaufnahme menschlicher Handlungsweisen in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen.

II.2 Die Märchen Wilhelm Hauffs – beliebt, aber kaum gewürdigt

Die Märchen Hauffs genießen heute im Gegensatz zu seinen Novellen und Romanen fast ungebrochene Aufmerksamkeit. Sie erleben Neuauflage um Neuauflage:

Um ihretwillen ist Hauffs Name noch bekannt, um ihretwillen wird er wieder und wieder neu gedruckt. Diese Märchen wurden Weltliteratur […].81

und

Kein andrer deutscher Märchendichter hat hierzuland eine so große Breiten- und Dauerwirkung erzielt wie Wilhelm Hauff (1802-27). In schlichten wie in reich bebilderten Ausgaben behaupten sich seine Erzählungen noch immer als Hausbuch in bürgerlichen Familien […]. In Deutschland jedenfalls dürften Zwerg Nase und Kalif Storch […] beinah so nachhaltig zum geläufigen Bild vom Märchen beigetragen haben wie etwa Schneewittchen und Froschkönig.82

Hauffs Märchen genießen heute wahrscheinlich eine noch größere Popularität als zu Hauffs Lebzeiten, während derer sich die Novelle „als Ersatzform für die traditionelle Märchenerzählung“83 entwickelte. Hauffs Novellen fanden anfangs eine große Beachtung, nicht aber seine Märchen.84 Diese veröffentlichte er deshalb in der damals beliebten Form des Almanachs, um sie auf dem Markt platzieren zu können. Die Märchenalmanache, nach Pfäfflin die „eigentliche schriftstellerische Leistung des Frühverstorbenen“,85gelten immerhin als Leistungen, die im Gegensatz zu den Romanen und Novellen Hauffs nicht unter das pauschale Verdikt des trivialen, marktorientierten Erfolgsschriftstellertums fallen, weil sie nicht mit dem primären Ziel geschrieben worden seien, Profit auf dem Buch- und Literaturmarkt zu erwirtschaften.86

Die Situation hat sich heute grundlegend geändert. Hauffs schriftstellerisches Schaffen wird fast ausschließlich mit seinen Märchen in Verbindung gebracht, wohingegen all seine anderen Texte am Rezeptionshorizont weitgehend verschwunden sind.87 Gleichwohl stößt die Popularität der Märchen auf wenig und sehr skeptische Resonanz in der Forschung, in der zwar die Breitenwirkung der Märchen, nicht aber deren künstlerischer Wert anerkannt wird: „Ein solches Missverhältnis zwischen fragwürdiger literarischer Qualität und großer, fortdauernder Lesergunst hat es zuvor in der Geschichte der Kunstmärchen nirgends gegeben.“88

Sabine Beckmann würdigt zwar die kunstvolle und komplexe Verknüpfung zwischen Binnen- und Rahmenerzählungen der Märchenalmanache, zeigt sich abschließend jedoch von ihrem eigenen Ergebnis ‚überrascht’, da „Hauff – und im Hinblick auf seine Novellen- und Romanproduktion wie einen Teil seiner Märchen mit Recht – im Ruf eines zwar recht guten Unterhaltungsschriftstellers, nicht aber Dichters von Rang steht.“89 Zudem betont sie „Hauffs ungewöhnlich starkes Anlehnungsbedürfnis an literarische Vorlagen“90. Hauffs vermeintlich „geringe Originalität, die Abhängigkeit von Angelesenem“91 löst bei Pfäfflin Verwunderung darüber aus, dass Hauff überhaupt noch gelesen wird. Hans-Heino Ewers spricht Hauff den „unverwechselbaren Stil“92 ab und Heinz Rölleke bezeichnet Hauff gar als „große[n], zumeist fast skrupellose[n] Nehmer vorgegebener Motive, Sujets und ganzer Stoffe“93. Stefan Neuhaus steht in der ohnehin kargen Forschungsdiskussion zu Hauff fast allein, wenn er den mehrheitlich vertretenen Vorwurf der Epigonalität und des Kolportagehaften vehement zurückweist:

Der kleine Muck oder Zwerg Nase sind unverwechselbare Figuren, und das nicht nur auf der Ebene der Hauff stets zugestandenen und von seinen Bewunderern akzentuierten Anregung der „Phantasie“ junger Leser. Die Handlung der meisten Märchen folgt keinem auffindbaren Muster, auch wenn Hauff Motive und Themen literarischer Traditionen aufnimmt und – mit ihnen spielt. Ein solches Spiel gilt bislang, wenn es nicht dem Selbstzweck dient, als positiv begriffenes Kennzeichen moderner, vor allem aber postmoderner Literatur, es findet sich bei Autoren von Theodor Fontane über Thomas Mann und Kurt Tucholsky bis Robert Gernhardt, also bei Autoren verschiedenen Stils, die eine mehr oder weniger deutliche ‚Arrivierung’ im Leben wie im Kanon erreicht haben.94