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Eine Mine, Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, hat sich von ihrer Verankerung vor der französischen Atlantikküste gelöst, hat den Ozean überquert und treibt bei den Bermuda-Inseln im Meer. Jacob Thaden, seine Frau und sein Kind sind als einzige Passagiere auf der 'Mellum', einem Frachter, unterwegs nach Rotterdam. Eines Nachts eine Detonation: Das Schiff wird in zwei Teile gerissen, die Urlauberfamilie wird getrennt. Auf dem Seelenverkäufer 'Capricho' geht ein SOS ein. Der Funker kann gerade noch Hilfe ankündigen, bevor er Opfer einer Geiselnahme wird. Mit Waffengewalt verhindert ein illegaler Passagier die Rettungsaktion. Jacob Thaden verliert Frau und Sohn und tritt vier Monate später die Suche nach den Schuldigen an. Die Spur führt über Dänemark und die USA nach Mittelamerika.
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Seitenzahl: 560
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Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman:MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«
Werkausgabe Romane Band 23
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Eine Mine, Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, hat sich von ihrer Verankerung vor der französischen Atlantikküste gelöst, hat den Ozean überquert und treibt bei den Bermuda-Inseln im Meer.
Jacob Thaden, seine Frau und sein Kind sind als einzige Passagiere auf der »Mellum«, einem Frachter, unterwegs nach Rotterdam. Eines Nachts eine Detonation: Das Schiff wird in zwei Teile gerissen, die Urlauberfamilie wird getrennt. Auf dem Seelenverkäufer »Capricho« geht ein SOS ein. Der Funker kann gerade noch Hilfe ankündigen, bevor er Opfer einer Geiselnahme wird. Mit Waffengewalt verhindert ein illegaler Passagier die Rettungsaktion.
Jacob Thaden verliert Frau und Sohn und tritt vier Monate später die Suche nach den Schuldigen an. Die Spur führt über Dänemark und die USA nach Mittelamerika.
Hinrich Matthiesen
Atlantik-Transfer
Roman
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Bs
Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 23
Im nachtschwarzen Wasser des Atlantiks trieb eine Mine aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie befand sich zweihundertfünfzig Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln, und eine etwa viermal so große Strecke trennte sie vom Äquator. Eigentlich sprach alles gegen diesen Standort. Die seit Jahrtausenden konstant gebliebenen, durch Druckverhältnisse, Windschub und Erdrotation erzeugten großen Meeresströmungen ließen es so gut wie ausgeschlossen erscheinen, dass das bauchige Relikt aus Europas dunkelster Zeit sich in diese Gegend verirrt hatte. Die mit Minen verseuchten Seegebiete waren längst geräumt worden, und wo die tückischen Kugeln nicht hatten geborgen werden können, waren sie zumindest geortet, registriert und in Seekarten eingetragen. Geriet dennoch so viele Jahre nach dem Krieg eine Mine auf einen der für die Seeschifffahrt freigehaltenen Kollisions-Schutzwege, so geschah das vornehmlich in den Gewässern der Nord- und Ostsee, in denen, wie allgemein bekannt, noch allerlei anderer bedrohlicher Schrott aus jener Zeit abgelegt worden war.
Das Exemplar von den Kapverden war eine Ankertaumine. Bei diesem Typ bedeutet gerade die Tatsache des Vagabundierens meistens die Bannung der Gefahr, weil das Losreißen vom Ankerstuhl in der Regel zur Zündunfähigkeit führt. Indes ist auf dieses Kausalgesetz kein hundertprozentiger Verlass.
Der Ausreißer, der sich – westwärts treibend – ungefähr auf der Höhe von Tarrafal befand, stammte von der französischen Atlantikküste. Dort hatten nach der Besetzung durch Hitlers Armeen die Engländer in zahllosen nächtlichen Aktionen vor den deutschen Marinestützpunkten Brest, Lorient, St. Nazaire und La Rochelle ihre Minengürtel ausgelegt. Die auf die Reise gegangene Kugel stammte aus dem westlichsten dieser Unterwasserdepots. Sie hatte fast ein halbes Jahrhundert zwischen der Île dʼOuessant und dem Festland zugebracht, in der Schwebe gehalten durch ihren auf den bretonischen Schelfsockel gesetzten Ankerstuhl. Das Gebiet war in den Karten der europäischen Gewässer alsDanger Areaausgewiesen; auch die von der britischen Admiralität herausgegebene SammlungNEMEDRI–North European and Mediterranean Routing Instructions– führte es auf, also wurde es von den Schiffen weiträumig umfahren.
Dass die Mine sich aus ihrer Verankerung hatte lösen und aus der markierten Zone entfernen können, mochte auf ein unglückliches Zusammentreffen von Materialermüdung und Witterungseinfluss zurückzuführen sein, oder Herstellungsfehler hatten eine Rolle gespielt. Jedenfalls machte sie sich eines Tages unbemerkt auf den Weg, erwischt den Golfstrom, der in seiner Hauptstoßrichtung zwar nach Nordosten zielt, jedoch mit seinen südlichen Auslegern nahe der Biskaya und vor der portugiesischen Küste fast auf Gegenkurs geht. Mag sein, dass die im Durchmesser etwa metergroße Kugel mehrfach ihre Richtung änderte und im Spiel der freien Kräfte mal ein Stück nord-, dann wieder ein Stück südwärts trieb, vielleicht auch sich bei ihrem Tanz in den Wellen ebenso oft nach Osten wie nach Westen bewegte. Genauso war es möglich, dass sie sich in einem Fischernetz verfangen und später, nach einigen hundert Meilen, wieder losgerissen hatte; aber irgendwann wurde sie von dem mächtigen Kanarenstrom gepackt, der dann für einen längeren Zeitraum ihren Kurs bestimmte. Sie driftete an Nordafrika vorbei, kam in die Nähe der Kapverden, hielt schließlich auf das allerdings noch weit entfernt liegende Guayanabecken zu und befand sich damit auf einer Route, die kein Ozeanograf oder Meteorologe, so ihm der bretonische Ausgangspunkt bekannt geworden wäre, vorausgesagt hätte.
Sie war solide gearbeitet, denn sie stammte aus den ersten Kriegsjahren, einer Zeit also, in der die Metallmäntel der Seeminen noch nicht aus dem billigeren Stahl, sondern aus einer korrosionsbeständigen Bronzelegierung hergestellt wurden. Das sprach für eine gewisse Haltbarkeit in ihrem Innern. Sie trug einen Bart aus Algen, Tang, Muscheln, Seesternen und anderen Organismen der Meeresflora und -fauna, so dicht und so dick, dass die zwölf Bleikappen fast darin verschwanden. Doch die Köpfe dieser im Volksmund als Hörner bezeichneten, etwa zwanzig Zentimeter langen Stäbe guckten noch heraus, und daher würde, sofern die Zündfähigkeit erhalten geblieben war, das massige Polster bei einem Aufprall der Mine auf ein Schiff, eine Bohrinsel oder eine Kaimauer die Detonation wohl nicht verhindern können. Vermutlich würde dann alles ablaufen, wie vor einer Ewigkeit geplant. Die im Horn befindliche Glasröhre würde bersten, die Säure auslaufen und das galvanische Element jenen kleinen Stromstoß erzeugen, der die Zündung bewirkt. Die ganze abscheuliche, von Experten ausgetüftelte Kettenreaktion käme in Gang, und das hieße im Endeffekt: Die zweihundert Kilogramm Sprengstoff, einst von den Arbeitern einer britischen Munitionsfabrik in den Mantel gepackt, würden ihr Zerstörungswerk vollbringen, sehr verspätet und ohne jeden Sinn. So gesehen, stellte die metallene Kugel eine zynische Version der Flaschenpost dar. Ihre Botschaft war die Bombe.
Ähnlich wie in den kalten Zonen die Eisberge hielt die Mine sich zu etwa neun Zehnteln unter Wasser. Da sie aber viel beweglicher war als die in den Polarmeeren treibenden weißen Blöcke, geriet sie hin und wieder, je nach Stärke und Verlauf der Wellen, ganz unter die Oberfläche. Ob sie je auf ein Schiff treffen würde, hing von verschiedenen Faktoren ab; von der Wachsamkeit des Ausguckpostens, von der Frage, ob das Radargerät ein so kleines Objekt überhaupt erfassen konnte, von den Lichtverhältnissen und natürlich in erster Linie von ihrem Kurs und dementsprechend vom Kurs der Schiffe.
Manchmal buckelte sie sich aus dem Wasser wie ein Stück Walrücken, aber selbst das weiß schimmernde Mondlicht ließ sie nicht aufglänzen, weil sie ihren flächendeckenden Bewuchs mit sich herumschleppte. Es waren Haie in der Gegend, und hin und wieder kam einer von ihnen dem Fremdling bedrohlich nahe, drehte dann aber ab. Vielleicht waren Hunger und Neugier nicht groß genug, um den Exoten näher in Augenschein zu nehmen oder gar sich auf einen Kontakt mit einem der zwölf Fühler einzulassen. So konnte die Mine ihre Reise ungehindert fortsetzen, und wenn ihr vorher nichts in die Quere kam, würde ihr weiterer Weg wahrscheinlich auf halber Strecke zwischen dem afrikanischen und dem südamerikanischen Kontinent entschieden werden. Dort nämlich, wo die Passatdrift sich gabelt, hatte sie die Chance, weiter auf die brasilianische oder guyanische Küste zuzutreiben und dann von der südlichen Variante dieser so mächtigen Meeresströmung in die Karibische Straße und schließlich in den Golf von Mexiko transportiert zu werden oder aber auf der nördlichen Route zu verbleiben, an den Antillen und an Florida vorbeizugleiten und später, an der Küste derUSA, überzuwechseln in den nordwärts führenden Golfstrom. Dann könnte sie – immer vorausgesetzt, sie kollidierte nicht und würde auch nicht entdeckt werden – den Nordatlantik diagonal überqueren, an Irland und Schottland vorbei in Richtung Spitzbergen schwimmen, vielleicht aber auch vorher nach rechts abbiegen und in einen der zahllosen Fjorde des norwegischen Festlandes einfahren. Sollte sie dort aus dem Wasser gefischt oder als Strandgut aufgefunden, also unversehrt geborgen werden, würden fachkundige Hände sie ausweiden. Ihr Deckel fände vielleicht in irgendeinem Vorgarten als Blumenschale Verwendung. Es wäre ein glückliches Ende ihrer langen Reise. Doch einstweilen war sie noch unterwegs. Und sie war intakt.
»Mein Gott, sind wir braun!«
Sigrid Thaden kämmte sich vor dem Spiegel, der links neben der Kabinentür hing, und hatte nicht nur sich selbst, sondern im Hintergrund auch ihren Mann, Jacob Thaden, und den kleinen Arndt, die auf den Kojen saßen, im Blick. Breitbeinig, wie eine Bäuerin auf dem Kartoffelacker, stand sie da, versuchte sich auf diese Weise Halt zu geben, denn das Schiff schlingerte stark.
Es war Mitte Januar, und die drei machten eine Seereise. Jacob Thaden, sechsunddreißig Jahre alt und Inhaber einer im Norden Hamburgs gelegenen Baumschule und Gärtnerei, hatte sich für den Urlaub etwas Besonderes einfallen lassen: mit Frau und Kind auf einem Frachter den Atlantik zu überqueren. Dreieinhalb Wochen sollte die Reise dauern; eine war schon herum.
Ein Flugzeug hatte sie nach Brasilien gebracht, und in Tubarão waren sie an Bord gegangen. Das Schiff, der sechsundzwanzigtausend Tonnen große BulkcarrierMELLUMder Bremerhavener ReedereiMAHRENHOLT & SÖHNE, befand sich jetzt auf der Fahrt nach Paramaribo in Guayana; von dort würde es nach kurzem Aufenthalt weitergehen nach Quebec und dann, wiederum nach nur kurzer Liegezeit, Richtung Rotterdam. Sie waren die einzigen Passagiere an Bord und hatten allen Grund, sich wohl zu fühlen. Tagsüber waren sie fast immer draußen, entweder achtern, wo die fünf Decks derMELLUMaufeinandergeschichtet waren und wo, auf der dritten Etage, auch das Schwimmbecken lag, oder vorn auf der Back, auf der sie ihre Sonnenbäder nehmen konnten, ohne dass die Geräusche der Maschine sie erreichten. Arndt dann stets bei Laune zu halten war nicht leicht, denn natürlich hatte er keine Lust, einfach nur in der Sonne zu liegen. Hin und wieder, wenn das Schiff ganz ruhig fuhr, gelangen ihnen im Windschutz des Schanzkleides Spiele wieMENSCH, ÄRGERE DICH NICHT,MEMORYoderMAUMAU, zu denen Figuren und Würfel und Karten gehörten, lauter Dinge, die schon bei geringem Wind in Bewegung gerieten. Aber meistens mussten die Eltern sich reine Kopfspiele ausdenken: das Aufzählen von Pflanzen und Tieren mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben oder Rechenexempel, oder sie erzählten ganz einfach Geschichten. Der Vorrat an solchen Einfällen war nicht unerschöpflich, und darum freuten sie sich, wenn Kapitän Baumann den Jungen holte und ihn auf die Brücke oder aufs Peildeck mitnahm. Arndt liebte seine Eltern und war gern mit ihnen zusammen, aber an der Hand von Herrn Baumann auf Entdeckungsreise zu gehen war im Moment das Größere. Einen Vater und eine Mutter hatte schließlich jeder, aber wer hatte schon einen Kapitän ganz für sich?
Sigrid Thaden kontrollierte im Spiegel ihr Aussehen, war zufrieden. Das ärmellose Kleid aus hellem Leinen unterstrich ihre Bräune, ebenso wie ihr blondes Haar es tat. Seit dem Auslaufen aus Tubarão hatte sie auf jegliches Make-up verzichtet. Das täglich frisch ins Schwimmbecken gepumpte Atlantikwasser, die Sonne und der Seewind hatten ihrem Teint eine Beschaffenheit verliehen, an der nichts zu korrigieren war. Auch Lippen- und Augenbrauenstift lagen seit Beginn der Seereise ungenutzt im Badezimmerschränkchen.
»So«, sagte sie, »von mir aus kannʼs jetzt zum Abendessen gehen.«
Sie begaben sich ein Stockwerk tiefer in die Offiziersmesse und setzten sich an den schon gedeckten Tisch. Eine Weile später kamen der Kapitän sowie die wachfreien Offiziere und Ingenieure. Es gab Rinderrouladen und Reis. Reis gab es zu fast jeder Mahlzeit, weil die Mannschaft zu achtzig Prozent aus Asiaten bestand; die meisten der Männer kamen von den Philippinen.
Der Erste Offizier, ein junger Inder aus Madras, hatte statt der Roulade ein halbes Hähnchen auf seinem Teller. Dem kleinen Arndt war eine ähnliche Abweichung vom allgemeinen Speiseplan schon am ersten Tag der Reise aufgefallen, und später, in der Kabine, hatte er seinen Vater gefragt, warum Herr Maharani etwas anderes zu essen bekomme. Jacob Thaden hatte es ihm erklärt, und daraufhin hatte der Junge gemeint: »Wenn sie die Kühe verehren, müssen sie ihnen eigentlich auch immer ganz freundlich guten Tag sagen. Tun sie das?« – »Frag Herrn Maharani danach!«, hatte der Vater gesagt, »er kann ja ein bisschen Deutsch.« Das hatte Arndt bis jetzt noch nicht gewagt. Aber vor Ende der Reise sollte es unbedingt geschehen, denn es war etwas, wovon er zu Hause seinen Freunden erzählen wollte. Und bestimmt war es auch noch etwas für den Sommer, wenn es losging mit der Schule! Sein Lehrer würde staunen, wenn er das mit den heiligen Kühen erfuhr!
Das Schlingern war stärker geworden.
»Wir haben ein kleines Sturmtief erwischt«, sagte Frank Baumann. Er war Mitte Vierzig, nicht sehr groß, aber schlank und durchtrainiert, hatte fast schwarzes Haar und braune Augen. Man konnte ihn sich gut vorstellen als Kapitän auf einer Mittelmeerfähre. Aber er war Deutscher.
Das Geschirr geriet in Bewegung, und immer wieder griffen Hände über den Tisch, um eine Schüssel zu halten oder einen Teller oder ein Glas. Die Tischkante hatte zwar kleine erhabene Ränder, die das Herunterrutschen von Gegenständen verhindern sollten, aber bei zu starkem Seegang nützte selbst diese Barriere nichts. Arndt fand die unruhige Tafel lustig.
Der Zweite Offizier, Jürgen Krämer, war ein schweigsamer Mann, ein Deutscher aus Greifswald, der sich vor einigen Jahren in Kiel von einemDDR-Schiff abgesetzt hatte und seitdem auf derMELLUMfuhr. Er bedachte Sigrid Thaden mit bewundernder Aufmerksamkeit, reichte ihr die Platten und Schüsseln, auch wenn sie ihr zum Greifen nah waren, hätte ihr bestimmt vor jedem Essen den Stuhl zurechtgerückt, wenn der nicht am Fußboden festgeschraubt gewesen wäre, und streifte sie oft mit verstohlenen Blicken. Aber seine Bewunderung hatte nichts Aufdringliches, und Jacob Thaden rechnete sie der besonderen Lage zu, in die Seeleute kommen, wenn plötzlich eine schöne junge Frau an Bord ist. Er mochte den Mann, der sich auch ihm gegenüber freundlich verhielt und ihm schon das ganze Schiff gezeigt hatte.
Nach dem Essen wollte Jacob Thaden noch einmal aufs Vorschiff, um ein paar Fotos zu machen. Wegen des starken Seegangs und der Ölflecken, die sich hier und da auf den eisernen Platten ausbreiteten, scheuten Sigrid und Arndt den gut hundertfünfzig Meter langen Weg dahin, und so ging er allein.
Auf der Back stellte er sich an die Schanz und sah nach achtern. Das musste ein beeindruckendes Bild geben: das Schiff in seiner gesamten Länge! Der Blick über die fünf Luken hinweg auf die emporragenden Aufbauten wie auf ein mitten im Meer errichtetes Haus! Dazu ganz im Vordergrund ein riesiges Gold, denn da verlief die Ankerkette, die mit ihrer leuchtenden Rostschicht wie tausendfach vergrößerter indianischer Schmuck aussah. Und ganz hinten der Abendhimmel, ein ins Violett spielendes Rosa, durchsetzt vom Grau der schmalen, waagerecht gezogenen Wolkenstriche.
Er hob die Kamera an die Augen, drückte mehrmals auf den Auslöser, jeweils mit geringfügigen Positionsveränderungen, dachte dabei voraus, stellte sich vor, dass eins der Bilder schon bald nach der Rückkehr vergrößert und gerahmt in seinem Büro hängen würde, zur Erinnerung an die schönen Tage auf dem Atlantik, aber auch als Ausdruck dessen, was er unter Ferien verstand. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, einen Musikdampfer zu besteigen, mit einer Heerschar von Pensionären an Quizveranstaltungen teilzunehmen, sich bei jeder Mahlzeit von mindestens drei im Range unterschiedlichen Stewards bedienen zu lassen und die durchorganisierten Tropennächte in der ganzen lärmenden Herde zu verbringen.
Jacob Thaden war ein in sich gekehrter Mann, und im Grunde gab es nur zwei Menschen auf der Welt, die Zugang zu seinem Innern hatten: seine Frau und sein Kind. Glück war für ihn das Glück zu dritt.
Die Mine war ein großes Stück weitergetrieben und hatte dabei einen Bogen geschlagen. Vom Guayanabecken aus war sie nämlich nicht in die Karibische Straße eingefahren, sondern nordwärts gezogen, hatte die Kleinen und die Großen Antillen wie auch die Bahamas links liegengelassen und sich in die östlich von Georgia befindlichen Gewässer begeben. Dort war sie, weit entfernt von der Küste, in die Fänge des Golfstroms geraten und also doch noch, wenn auch erst nach Abschluss ihrer südlichen Eskapade und an einer ganz anderen Ecke der Welt, zum Spielball jener mächtigen Strömung geworden, die sie eigentlich schon von Brest aus nach Norden hätte führen müssen.
Wenn sie hätte denken und fühlen können, wäre sie vermutlich stolz gewesen auf ihren Standard. Freilich, sie war in die Jahre gekommen und vermochte mit den überzüchteten Artgenossen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht zu konkurrieren, aber verglichen mit ihren Ahnen, war auch sie ein schon hochentwickeltes Geschöpf, neben dem zum Beispiel ihr vermutlich ältester Vorläufer, dasGriechische Feuer,ein von Pech und Harz zusammengehaltenes und auch unter Wasser brennbares Gemisch aus Schwefel, Naphtha und Salpeter, drastisch abfiel. Dieser Neandertaler unter den nautischen Feuerwerkskörpern soll bereits vor über dreizehnhundert Jahren bei der Verteidigung von Konstantinopel eingesetzt worden sein. Aber wenn die ihm einverleibten Steine bei der Explosion auch mit Getöse durch die Gegend flogen, hier ein paar Schiffsplanken zerbrachen und dort einigen Seeleuten die Knochen zerschmetterten, so war ein solcher Effekt doch eher kläglich gegenüber der Sprengkraft, die der Ausreißerin von Brest innewohnte. Auch die bei der Belagerung von Antwerpen im Jahre 1585 mit Pulver und Steinen gefüllten SchiffeFORTUINundHOOP, die gegen eine von den Spaniern errichtete Brücke in Marsch gesetzt wurden, gehörten, obwohl von eindrucksvoller Wirkung, noch zur primitiven Form, ebensodie floating petards,die schwimmenden Sprengbüchsen, mit denen die Engländer 1628 gegen die französische Flotte vorgingen. Da war die von David Bushnell konstruierte Unterwasserbombe, die erstmals im amerikanischen Freiheitskrieg zur Anwendung kam, schon eher eine richtige Mine. Sie bekam den Namen des elektrischen Fisches, des Zitterrochens, hieß alsoTorpedo,was so viel wie Lähmung bedeutet und sehr treffend ist, wenn man sich den Zustand eines von ihr beschädigten Schiffes vor Augen führt. Sie wurde unter dem Kiel aufgesetzt und mit einem Zeitzünder versehen. Das Anbringen des Sprengkörpers war eine komplizierte Verrichtung. Er konnte lediglich mit einem eigens für seinen Transport konstruierten Kleinst-U-Boot vor Ort gebracht werden. Der Lenker dieses ebenfalls von Bushnell erbauten Unterwasserfahrzeugs hatte sich zu beeilen, denn ihm stand nur für eine halbe Stunde Sauerstoff zur Verfügung. Der Mann musste einen mitgeführten Haken von unten in den Schiffsrumpf schrauben, die Mine daran aufhängen und dann dem Wirkungskreis der Bombe so schnell wie möglich entfliehen.
Bushnells Konstruktion war, wie es bei Waffen so oft der Fall ist, eine zugleich geniale und teuflische Erfindung. Dennoch galt ein anderer als der eigentliche Vater der Seemine, nämlich Bushnells Landsmann Robert Fulton, jener amerikanische Ingenieur, der auch dieCLERMONTdas erste einsatzfähige Dampfschiff, erbaute. Es mag grotesk erscheinen, dass ausgerechnet dieser Mann, der für die Weiterentwicklung der Seefahrt so viel geleistet hatte, auch – und das fast zeitgleich mit Bushnell – einen Apparat schuf, mit dem man Schiffe versenken konnte. Doch galt Fultons Leidenschaft beim Entwerfen seiner Mine allein dem Bemühen, das Meer von Kriegsschiffen freizuhalten. So war also schon in jenen Jahren, lange vor dem Atomzeitalter, eine Waffe immer nur so gut oder so schlecht wie ihr Verwender. Was Fulton baute, mochte noch so nachdrücklich als Präventivmittel konzipiert gewesen sein, der Einsatz seiner Erfindung und ihrer Nachfolger machte zuletzt keinen Unterschied zwischen Kriegs- und Handelsschiffen. Allein im Zweiten Weltkrieg wurden 670.000 Seeminen entweder von Schiffen gelegt oder von Flugzeugen abgeworfen, und sie zerstörten neben zahlreichen Kriegsschiffen Tausende von Handelsdampfern. Auch diese zu treffen war erklärtes Ziel, weil sie militärischen Nachschub transportierten.
Nun, die Vagabundin von Brest konnte weder denken noch fühlen, und die Erfolge ihrer Ahnen waren ihr so gleichgültig wie ihr eigener Weg. Sie besaß keine Seele, war ein lebloses Ding. Dennoch musste jeder, der ihr nahekam, sie fürchten, denn der Mensch hatte sie mit einer seiner übelsten Eigenschaften ausgestattet: der Tücke.
Als dieMELLUMden guayanischen Hafen Paramaribo, wo sie Bauxit geladen hatte, verließ, legte – viertausend Seemeilen entfernt – ein anderes Schiff von einem Kai im irländischen Belfast ab. Es unterschied sich deutlich von Kapitän Baumanns Bulkcarrier, hatte nur sechstausend Tonnen und führte zwar, wie dieMELLUM, eine ordnungsgemäß deklarierte Ladung, nämlich Stückgut und Container für Philadelphia, aber seit Jahren betrieb die Schiffsleitung nebenher ihrmonkey business,beförderte heimlich Waffen, Drogen, Gold, Alkohol, lauter Waren, die strengen Ausfuhrbestimmungen unterlagen; und von Zeit zu Zeit befand sich sogar Diebesgut in der Ladung. Auch diesmal hatte dieCAPRICHO– so hieß das im chilenischen Antofagasta beheimatete Schiff – etwas an Bord, was illegal außer Landes gebracht werden sollte.
Schon während des ersten Teils der Reise, auf der Strecke Antwerpen-Belfast, hatte es, neben seiner legalen Fracht, Waffen für die IRA befördert. Für den zweiten Abschnitt, den von Irland nach Nordamerika, waren in den beiden Ladeluken und auf Deck ganz normale Container mit Maschinenteilen verstaut worden, detailliert aufgeführt in den Manifesten; und für die dritte Phase, das Teilstück von Philadelphia nach Veracruz, war wiederum saubere Fracht in Containern vorgesehen. Aber auf der gesamten Strecke von Antwerpen über Belfast und Philadelphia nach Veracruz würde dieCAPRICHOein Geheimnis bergen, von dem nur der deutsche Kapitän, der chilenische Erste Offizier und der Chief-Ingenieur, ein Kolumbianer, wussten. Hätten Vertreter einer der großen Klassifikations-Gesellschaften wie derGERMANISCHE LLOYD, dasBUREAU VERITAS, dasNORSK VERITASoder auchLLOYDʼS REGISTERsich die Aufbauten derCAPRICHOgenauer angesehen, so hätten sie auf demCaptainʼs Deckeinen etwa sechs Kubikmeter großen Raum gefunden, den man nur durch eine verborgene Tür betreten konnte und der auf dem offiziellen Schiffsplan gar nicht vorhanden war. Man hatte ihn durch veränderte Maßangaben einfach weggezaubert.
Dieses nur an der Schiffsaußenseite von Stahl-, sonst von Holzwänden umschlossene Geviert lag zwischen dem Zoll-Store, der Zigaretten, Tabak, Getränke und einige weitere für den Verkauf an die Besatzung bestimmte Artikel enthielt, und dem Kapitänssalon, und natürlich hatte es kein Bullauge. Während der letzten Jahre waren in derbodega,wie die wenigen Mitwisser die kleine Kammer nannten, schon Hunderte von MPs und Schnellfeuergewehren, aber auch Edelmetalle und Kunstgegenstände übers Meer transportiert worden, natürlich gegen hohes Frachtgeld, das der Kapitän kassierte und nach einem festgelegten Schlüssel unter den Eingeweihten aufteilte.
Diesmal barg das Versteck einen Passagier: den Deutschen Ernst Pohlmann, der unter dem Namen Eberhard Leuffen in Antwerpen an Bord geschleust worden war.
Dass diebodegaschon über so viele Reisen hin nicht nur den offiziellen Besuchern wie Maklern und Zollbeamten, sondern auch der Besatzung verborgen geblieben war, ließ sich leicht erklären. Die einzige Messstrecke, mit deren Hilfe man die Existenz des nur anderthalb Meter breiten Raumes hätte nachweisen können, war der am Kapitänssalon und am Store entlang verlaufende Gang; aber wer käme schon auf die Idee nachzuprüfen, wie tief dahinter einerseits die Regale des Warenlagers waren und wieviel Wohnfläche andererseits dem Kapitän zur Verfügung stand? Achtundzwanzig Jahre war die
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