Die Variante - Hinrich Matthiesen - E-Book

Die Variante E-Book

Hinrich Matthiesen

4,6

Beschreibung

Hinrich Matthiesens großer Roman um die Identitätskrise eines fünfzigjährigen Industriellen, der das Gleichmaß seines Alltags gegen das Abenteuer Freiheit tauscht. Der reiche, vom Erfolg verwöhnte Lübecker Fabrikant Johannes Görgens wird von drei jungen Männern entführt. Die Lösegeldforderung: anderthalb Millionen. In den Tagen der Gefangenschaft hat Görgens Zeit, über sein Leben nachzudenken. Er kommt zu einer entmutigendes Bilanz. Zwar hat er ein Millionen-Unternehmen aufgebaut und kann sich jeden materiellen Wunsch erfüllen – aber ist das genug? Nichts in seinem Leben geht noch wirklich unter die Haut. Er sieht sich am Scheideweg: entweder den ausgetretenen Pfad weitertrotten oder den Absprung ins Ungewisse wagen. Görgens ergreift die Chance: Er steigt aus. Er verlässt die Familie, die Fabrik, Lübeck und… Er versucht die andalusische Variante seines Lebens. Das Dasein in Freiheit wird für ihn zum vermissten Erlebnis. Und als er noch die junge Catalina findet, die seine Liebe leidenschaftlich und kompromisslos erwidert, meint er, alle alten Bindungen vergessen zu können. Aber seine Vergangenheit lässt ihn nicht mehr los. Ein spannender, konfliktgeladener Roman.

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Hinrich Matthiesen

 

Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexiko. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.

1969 erschien sein erster Roman:MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung nd virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.

Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.

 

»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden.«

Deutsche Tagespost

 

»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«

Deutsche Welle

 

»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal.«

FAZ-Magazin

Werkausgabe Romane Band 7

Herausgegeben von Svendine von Loessl

 

Der Roman

 

Hinrich Matthiesens großer Roman um die Identitätskrise eines fünfzigjährigen Industriellen, der das Gleichmaß seines Alltags gegen das Abenteuer Freiheit tauscht.

Der reiche, vom Erfolg verwöhnte Lübecker Fabrikant Johannes Görgens wird von drei jungen Männern entführt. Die Lösegeldforderung: anderthalb Millionen.

In den Tagen der Gefangenschaft hat Görgens Zeit, über sein Leben nachzudenken. Er kommt zu einer entmutigendes Bilanz. Zwar hat er ein Millionen-Unternehmen aufgebaut und kann sich jeden materiellen Wunsch erfüllen – aber ist das genug? Nichts in seinem Leben geht noch  wirklich  unter die Haut. Er sieht sich am Scheideweg: entweder den ausgetretenen Pfad weitertrotten oder den Absprung ins Ungewisse wagen.

Görgens ergreift die  Chance: Er  steigt aus.

Er verlässt die Familie, die Fabrik, Lübeck und… Er versucht die andalusische Variante seines Lebens. Das Dasein in Freiheit  wird für ihn zum  vermissten  Erlebnis. Und als er noch die junge Catalina findet, die seine Liebe leidenschaftlich und kompromisslos erwidert, meint er, alle alten Bindungen vergessen zu können. Aber seine Vergangenheit lässt ihn nicht mehr los. Ein spannender, konfliktgeladener Roman .

 

 

Titelverzeichnis der Werkausgabe in 31 Bänden am Ende des Buches

Hinrich Matthiesen

Die Variante

Roman

:::

Bs

Werkausgabe Romane

Herausgegeben von Svendine von Loessl

Band 7

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Um den beruflichen Hintergrund der Hauptfigur glaubwürdig darstellen zu können, habe ich die Lübecker Firma Schöning & Co. und Gebr. Schmidt als Modell benutzt.

Ich danke der Firmenleitung, dass sie mir nicht nur die Erlaubnis dazu gab, sondern darüber hinaus die Gelegenheit, den technischen und personellen Bereich des Betriebes kennenzulernen.

Westerland/Sylt, 1978

H. Matthiesen

Teil 1

1.

 

Johannes Görgens hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf seinen Reisen nicht nach dem schönsten, sondern nach dem ruhigsten Hotelzimmer zu fragen. Manchmal gab man ihm dann eines, das sozusagen in den Wolken lag, oder, bei Häusern geringerer Höhe, eins auf der Rückseite, aus dessen Fenstern er in dunkle Schächte und triste Höfe oder auf benachbarte Mietshäuser blickte. Es war nicht immer leicht, beides zu bekommen, das Erstklassige und die Stille. Er war fünfzig Jahre alt und hatte sich grundsätzlich zugunsten der Stille entschieden.

Diesmal lag sein Zimmer im fünften Stock. Er hatte nicht den Luxus der nach vorn gelegenen Räume, aber es war sauber und die Einrichtung solide. Die Nische mit Sesseln und rundem Tisch, das Fernsehgerät und das breite Bett bewiesen sogar ein gewisses Maß an Komfort. Das Bad war weinrot gekachelt, geräumig, mit drei Sorten von Handtüchern versehen. Für die Nacht jedenfalls, wenn es auf den Blick aus dem Fenster ohnehin nicht ankam, hatte er eine erträgliche Unterkunft. Gedämpft, wie von weit, drangen die Geräusche des Straßenverkehrs bis hierher, aber Görgens genoss sie, weil es reduzierte Geräusche waren, abgefangen von dem Geflecht alter Mauern, genoss sie fast mehr, als er die totale Stille hätte genießen können. Sie gaben ihm das Gefühl, sich mit Erfolg gegen Belästigung gewehrt zu haben.

Es war Nachmittag. Er stand schon eine ganze Weile am geöffneten Fenster und betrachtete die Rückwand eines großen grauen Wohnblocks, der sich in etwa zwanzig Metern Abstand vom Hotelgebäude hinter einer Reihe schmaler, spärlich blühender Gärten erhob. Er zählte die Fenster. Hundertfünfzig waren es, sechs Etagen zu je fünfundzwanzig, dazu ein halbes Hundert Balkons; in die oberen fiel Nachmittagssonne.

Er sah Geranien, Kaffeegeschirr, Wäsche. Er sah auch Menschen. Unter einer rot-weiß gestreiften Markise den Kopf einer jungen Frau. Nur den Kopf, in Schräglage der Sonne zugekehrt. Der übrige Körper war von der Balustrade verdeckt. Er fragte sich, ob ein Blick aus höherer Position von Vorteil gewesen wäre.

Auch zu den Geranien gehörten Leute. Ein Rentnerehepaar. Er war schnell mit der Zuordnung. Die beiden Grauköpfe, die Hosenträger, das Strickzeug und die werktags um halb vier aufgeblätterte Zeitung genügten ihm. Und schließlich, falls er sich irrte, war es ohne Bedeutung.

Um das Kaffeegeschirr herum saßen Frauen, fünf Frauen, fast zu viele für den kleinen Balkon. Er konnte nicht erkennen, wie alt sie waren, aber das lag an der Sitzordnung. Zwei kehrten ihm den Rücken zu, und sie verdeckten die drei anderen fast ganz. Außerdem saßen alle fünf im Schatten. Es war ein Balkon im dritten Stock, und die Sonne reichte nicht bis dorthin. Die Frauen klapperten mit ihren Tassen. Er hörte es über die Zwanzig-Meter-Distanz. Was sie sich zu erzählen hatten, verstand er nicht. Nur einmal wehte das Wort ›Meerschweinchen‹ ganz deutlich bis zu ihm herauf, und sofort ging eine Bewegung durch die Gruppe. Ein weißer, ziemlich fleischiger Arm zeigte in eine Balkonecke, und zumindest die beiden Köpfe, die er sehen konnte, gingen in die gleiche Richtung. Gewiss halten sie sich da eines auf dem Balkon, dachte er, und die Besucherinnen finden das in Ordnung, schließlich sind sie eingeladen.

Zur Wäsche im obersten Stock gehörte im Augenblick niemand. Tür und Fenster hinter der längsgespannten Leine waren geschlossen. Die Hemden und Strümpfe wirkten wie ausgesperrt.

Er wandte den Kopf, mehrmals, und für eine Weile, während sein Blick ziellos über die Front aus Stein und Glas hinwegglitt und dabei die Buntheit der Blumen, Markisen und Kleider überging, war nur die grob gerasterte Fläche da, eine Wand von kalter Symmetrie, bis seine Augen sich wieder irgendwo festklammerten. Zwei Kinder mit einem Ball. Behutsame Würfe. Er sah das Zögern, den gedrosselten Schwung der Arme. Eine Etage tiefer begann eine Frau zu zetern, nicht von einem der Balkons, sondern aus einem Fenster, den Leib weit herausgebeugt und den Nacken bizarr verdreht. Das Auf und Ab des roten Kopftuchs begleitete die geharnischte Rede. Der Ball kam zur Ruhe. Die Kinder holten ihre Mutter. Es musste wohl die Mutter sein, Görgens jedenfalls legte das so fest. Worte hin und her, vom Fenster zum Balkon, vom Balkon zum Fenster, die ihn aber nicht mehr interessierten.

Auf dem Balkon daneben saßen drei Männer und spielten Karten. An einem der Spieler entdeckte er Hosenträger, und es war immer noch nicht viel später als halb vier, aber alle drei waren nicht älter als er selbst und schon gehörten sie für ihn zu der runden Million bundesdeutscher Arbeitsloser.

Sein Blick ging weiter, ließ nun, von einem Moment zum anderen, die Balkons außer Acht, konzentrierte sich auf Fenster. Sie waren geheimnisvoller, hatten mehr Tiefe, in der das Licht versickerte und die Gestalten sich wie Schatten bewegten. Das trieb seine Fantasie an, und so unterstellte er den Schemen allerlei Ungewöhnliches, in einem Fall sogar einen Selbstmord, statt, was nähergelegen hätte und auch freundlicher gewesen wäre, den verschwommen wahrgenommenen Vorgang als Montage einer Deckenleuchte zu deuten. Aber das Unverbindliche beflügelte ihn.

In einem Zeitraum von nur wenigen Minuten gewahrte er einen Kuss, eine Ohrfeige und eine Nackte, die jedoch nur erschien, um sich zu verbergen: sie zog die Vorhänge zu.

Er zündete sich eine Zigarette an und begann, mit seinen Beobachtungen zu spielen, projizierte plötzlich das ganze vertikal verteilte Geschehen in die Ebene und riss die Trennwände ein. So hatte er nun statt der aufragenden Honigwabenfront die Schrebergartenversion, ein Feld von den Ausmaßen eines halben Fußballplatzes, und darüber hingebreitet hunderterlei Verrichtungen, eine dichtgedrängte, turbulente Szenerie. Er sorgte, was nahelag und ihn oberflächlich erheiterte, für ein paar Grenzüberschreitungen. Die Ohrfeige zum Beispiel! Sie weckte um sich herum Parteinahme und schwoll an zu einem Generationskonflikt. – Der Nackten fehlten die Vorhänge, und so erzeugte sie, je nachdem, Vergnügen und Ärgernis. – Es bot sich geradezu an, den Ball der Kinder ins Kaffeegeschirr zu lenken, sodass für einen Moment das Klirren der Scherben dominierte. Hier konnte er dem Drang nicht widerstehen, haltlosen Frauenzorn zu inszenieren, der darin gipfelte, dass eine energisch geschwungene Kuchengabel den Ball in einen Beutel verwandelte. Es sah, fand er, beinah wie Mord aus, und er vergaß, dass er selbst es war, der für die Abfolge so heftiger Reaktionen sorgte.

Er seufzte leise: Mein Gott, wie wichtig die Wände in unserem Leben sind!

 

Er schloss das Fenster, setzte sich in einen Sessel, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, sah auf die Uhr.

Es war kurz vor vier. In ein paar Minuten muss sie hier sein, dachte er. Er empfand eine tiefe Freude, wie immer, wenn er Renate erwartete, hatte das Spiel mit den Fenstern und der Ebene am Ende nur betrieben, um sich abzulenken. Er gab sich der Erwartung hin, nahm einiges vorweg, ihren Eintritt ins Zimmer zum Beispiel, scheute sich nicht, sie mit Attributen wiemajestätischundköniglichzu versehen, denn ihr Erscheinen, wiewohl voller Heimlichkeit, hatte in der Tat immer etwas Hoheitsvolles. Er malte sich aus, wie es ablaufen würde: Sie klopft, kurz nur, wartet die Antwort nicht ab, tritt ins Zimmer, schließt die Tür, setzt ihre Reisetasche ab, bleibt stehen, rührt sich nicht. Es ist wie ein Zeremoniell, aber er weiß, dass es mehr ist und dass sie sich gar nicht königlich fühlt. Und er weiß ebenso: In diesem Augenblick darf er nicht auf sie zugehen, sie nicht umarmen, noch nicht, sie kaum ansprechen. Hoch aufgerichtet steht sie da, verweist ihn wortlos in seine Schranken, ja, verbirgt sich ihm mehr, als dass sie sich ihm zeigt, ist von Kopf bis Fuß in ein verweigerndes Schwarz gehüllt, trägt lange schwarze Hosen, einen schwarzen Trenchcoat mit breitem hochgeschlagenem Kragen, eine Sonnenbrille mit großen dunklen Gläsern, und ihr glänzendes kupferblondes Haar verdeckt zusätzlich einen Teil ihres Gesichtes.

Renate Meinerts liebte Johannes Görgens, aber sie hasste das Verfahren, das ihre Zusammenkünfte erforderten, den Aufwand an Heimlichkeit, das Versteckspiel. Sie hasste die verschwiegenen Hotels, die er aussuchte, ebenso wie die Bediensteten, deren servile Bereitschaft zur Diskretion schon fast wieder indiskret war. Sie liebte Görgens, aber sie litt auch durch ihn, litt unter dem Gebot, ihre Liebe in solchen Hotelzimmern zu verbergen. Darum brauchte sie diese Wartezeit, musste immer, bevor sie ihren Mantel oder gar mehr abstreifte, erst einiges andere abstreifen, zum Beispiel das Bewusstsein, ihren Arbeitsplatz an einem Schreibtisch der FirmaGörgens & Co.in Lübeck zu haben.

Wieder sah er auf die Uhr. Sie müsste schon hier sein, überlegte er; mittwochs verlässt sie um zwei den Betrieb. Vor zwei Stunden also ist sie nach Haus gefahren, hat sich für die kleine Reise zurechtgemacht und ist wohl so gegen drei in ihren Fiat gestiegen. Sie hat die Autobahn sehr nah, braucht eine halbe Stunde bis Hamburg-Horn und dann noch einmal zwanzig Minuten über die Hammer Landstraße, die Borgfelder Straße und die Große Allee bis in die Altstadt. Sie könnte, ja, sie müsste eigentlich jeden Augenblick ins Zimmer treten. Er wurde ungeduldig, hielt sich nun nicht länger auf mit dem schönen abweisenden Bild, sondern malte sich Renate rigoros auf das breite Laken, ihren hellen, schlanken Leib.

Es klopfte. Er antwortete nicht, lächelte nur. Aber die Tür öffnete sich nicht, und es klopfte ein zweites Mal. Da wusste er, dass sie es nicht war, und lächelte nicht mehr.

»Ja?«

Ein Hotelboy mit einem Brief.

»Danke.«

Auf dem Couvert das Firmensignet: das zu einem Posthorn stilisierte große G. Er setzte sich aufs Bett, riss den Brief auf, las:

 

Ich kann nicht:

Bitte, frag mich nicht, denn ich kann, wenn ich mit Dir spreche, nicht nein sagen, und hinterher weiß ich genau, dass das Ja keinen Sinn hat.

Es ist so schwer, Dir mein Verhalten zu erklären, mein Verhalten und mein Empfinden. Dir einfach zu sagen, dass ich nicht will, wäre falsch. Natürlich will ich. Ich wollte auch heute, aber während des ganzen langen Vormittags redeten sie alle von nichts anderem als Deinem Aufenthalt in Hamburg und Deinem Entschluss, diePetermann Offset AGzu kaufen, und dass es, wenn es zum Abschluss kommt, der größte Tag in der Firmengeschichte vonGörgens & Co.sein wird.

Ich will kein Randereignis dieser Transaktion sein!

Bitte, verzeih mir! Vielleicht ist später einmal alles anders. Vielleicht gibt es irgendwann die Möglichkeit. Für uns. Wahrscheinlich ist es nun auch wieder nicht richtig, wenn ich Dir sage, dass ich oft mit einem sehr warmen Gefühl an Dich denke, frag mich nicht mehr! Frag mich nie mehr!

R.

2.

 

Görgens tat den Bogen in den Umschlag zurück, spielte eine Weile mit dem Papier in seiner Hand, zog mehrmals mit dem Zeigefinger das schwarze Relief des Posthorns nach, holte den Bogen wieder heraus, las die Zeilen ein zweites Mal. Sie waren mit der Hand geschrieben, mit einem grünen Filzstift. Große, geschwungene, sinnlich anmutende Buchstaben. Eine Schrift, dachte er, wie ich sie wählen würde, um Handgeschriebenes zu drucken.

Wieder steckte er das Blatt in den Umschlag, dachte eine Weile über die veränderte Situation nach, fächerte sich mit dem länglichen grauen Brief Luft zu, aber das war nicht Bedürfnis, war nur Nervosität. Er rückte auf der Bettkante ein Stück weiter dem Kopfende zu, schob den Brief in die auf dem Nachttisch ausliegende Gideon-Bibel, nahm den Telefonhörer ab, wählte die Nummer der Rezeption. Der Portier meldete sich.

»Mir wurde eben eine Nachricht heraufgebracht. Ich hätte gern gewusst, wie sie Ihnen zugestellt wurde.«

Und er hörte:

»Ich selbst habe den Brief entgegengenommen. Vor ungefähr einer Viertelstunde. Eine junge Dame in Schwarz. Sie war blond. Ein rötliches Blond. Und sie trug eine dunkle Brille.«

»Sagte sie noch etwas? Ich meine, hatte sie noch irgendwelche mündlichen Informationen für mich?«

»Nein, Herr Görgens. Sie bat nur, Ihnen den Brief auszuhändigen. Ich sagte ihr noch, der Zimmerschlüssel sei nicht da und demnach müssten Sie im Haus sein, falls sie Sie zu sprechen wünschte. Aber sie hatte es eilig, ließ nur den Brief da und ging.«

»Danke.«

Er legte auf, ließ den Brief in der Bibel liegen, erhob sich, trat erneut ans Fenster. Immerhin ist sie hier gewesen, dachte er, hat die einstündige Autofahrt gemacht! Also sind es wohl nicht irgendwelche kleinlichen Gründe, sondern es ist tatsächlich wieder der eine große Grund: die Empfindlichkeit gegenüber ihrer Rolle. Es stimmt, ich habe heute Vormittag diePetermann Offsetgekauft, Gott sei Dank, und aus dieser Ecke werden uns nun keine Marktanteile mehr streitig gemacht. Ich hab das Ding gekauft, und natürlich ist das ein Ereignis, aber Renate ist auch eins, und nicht nur eins am Rande.

Er hauchte die Scheibe an, und für eine Weile war das Mietshaus wie in Nebel gehüllt. Was ist mir wichtig?, fragte er sich. Im Grunde weiß ich es selbst nicht. Die Stellenwerte sind durcheinandergeraten. Der Erfolg macht mich traurig. Es ist wie mit der Melancholie nach dem Beischlaf. Man möchte seine Hose anziehen und gehen und allein sein. Statt vierzig Millionen werde ich nun fünfundvierzig oder sechzig Millionen Ansichtskarten im Jahr herstellen. Na und?

Die Scheibe vor seinen Augen war wieder klar. Balkons und Fenster hatten ihre Konturen zurückgewonnen, und wieder erlag er der Versuchung, den Leuten heimlich ins Leben zu gucken, doch diesmal gelang ihm eine verblüffende Spielart.

Er betrachtete die ganze oberste Fensterreihe, dazu die acht Balkons, sah aber nicht, was sich dort tatsächlich zutrug, sondern füllte die Wohnungen mit den Menschen seines eigenen Hauses.

Er sah Christine, seine achtzehnjährige Tochter, wie sie für die Schule arbeitete, emsig, zielstrebig, viel zu hingegeben, wie er meinte, fast so, als gälte es, jeden einzelnen Lehrer persönlich zu erfreuen. Sie hatte ihr dunkelblondes volles Haar aufgesteckt. Die Frisur hatte etwas Altmodisches, aber sie hielt das Gesicht frei, und Görgens liebte freie Gesichter, jedenfalls bei seinen Kindern. Bei seinem Sohn allerdings war ihm das verwehrt. Im Nebenfenster sah er ihn, Jan, siebzehnjährig, beobachtete, wie er wohl zum hundertsten Mal die Möbel seines Zimmers umstellte, sah den Jungen, der ebenfalls noch Schüler war, nicht tätig in einer nützlichen Sache, sondern sich verlieren an lauter Beschäftigungen, die Görgens vor allem aus einem Grunde ablehnte: Sie waren überflüssig. So sah er Jan Kerzen herstellen, jedoch nicht aus den vielleicht vom Weihnachtsfest übriggebliebenen Wachsresten, sondern aus neuen, teuer gekauften Honigkerzen, die er schmolz, um die flüssige Masse neu gießen zu können. Jan war vierzehn gewesen, als er das machte, aber Johannes Görgens sah diese negative Kreativität, wie er die Kerzenproduktion seines Sohnes nannte, nicht als vergangenes Geschehen, sondern sah sie als für Jans Mentalität typisch an. So beobachtete er in dem Fenster auch nicht den kleinen, sondern den großen Jan, wie er das kostspielige Wachs in ein Senfglas goss, musterte kritisch die schlaksige, hagere Gestalt mit den langen Haaren, sah die blassen, nervösen Schülerhände diesen Guss ausführen, den der Sohn als einen feierlichen, der Vater als einen absurden Vorgang bezeichnete, wobei die benutzte silberne Schöpfkelle geeignet war, beide Versionen zu stützen. Görgens fühlte sich irritiert von diesem Fenster voll defizitären Eifers. Aber als fürchtete er, im nächsten seiner Frau zu begegnen, betrachtete er erst mal mit unangemessenem Wohlwollen die Familie seines Hausmeisters, die drei Wagners, zeichnete sie solide, verlässlich, vor allem: nützlich. Er dachte an den großen gepflegten Garten, der zu seinem Haus gehörte und bis an das Ufer der Wakenitz reichte, an die drei immer blitzsauberen Autos und schließlich an die vierzehn Zimmer, die Frau Wagner, zusammen mit ihrer Tochter Petra, in Ordnung hielt. Görgens ruhte sich aus bei diesen Leuten, sah den alten Heinrich Wagner mit seinem steifenStalingrader Bein,wie er durch Garten und Haus hinkte, die Weißdornhecke schnitt und den Rasen mähte, sogar den Ölbrenner der im Keller installierten Heizungsanlage säuberte, sah Frau Wagner, die kleine, rundliche Frau, die in jedem Jahr ab Mitte Mai die vielen Zimmer mit Blumen versorgte und im Sommer Pflaumen und Kirschen für die Görgens einkochte. Doch es half nichts, er kam nicht daran vorbei, sich Hella Görgens anzusehen, seine Frau, und es musste wohl an seiner Enttäuschung über Renates Absage liegen, dass er mit diesem Fenster am unerbittlichsten verfuhr:

Was ist eigentlich geblieben von damals? Nun, sie war jung damals, und das bleibt natürlich nicht. Aber sie war doch auch hübsch, und so etwas kann bleiben, sich sogar zur Schönheit verklären. Doch was ist heute? Vielleicht, wenn ich sehr lange suche, finde ich einen Rest. Aber langes Suchen hat auch seine Gefahren. Bin ich am Ende überhaupt aus auf die Pluspunkte?

Ich mochte, als ich zum zweiten Mal nach Lübeck kam und mich mit den Hanseaten einließ, ihre gesellschaftliche Sicherheit. Die imponierte mir, solange ich selber da nichts zu bestellen hatte. Heute denke ich, vielleicht war sie auch schon damals nur die Schwätzerin. Ihr Plauschen nach links und nach rechts, was bringt es?

Und ihre Kleider, natürlich, das war was! Heute bin ich es, der sie ihr kaufen kann und es auch tut und gern tut. Nur: sie interessieren mich nicht mehr.

Sie tut viel für ihr Aussehen. Gymnastik. Massage. Kosmetik. Sie will mir gefallen und mehr und mehr sogar nur mir gefallen, aber mich stört der Aufwand. Dass er erforderlich ist! Dabei weiß ich natürlich, dass es spätestens ab vierzig nicht anders geht.

Sie liebt mich, aber ich liebe an ihr das einmal Gewesene, und für die Gegenwart ist das nicht genug. Ganz still, mit den Jahren, hat sich in mir etwas vollzogen, was ebenso unvermeidbar war wie ungerecht. Eine innere Loslösung. Die Abkehr von ihrer beinah lästigen Fürsorge. Das hat sie nicht verdient. Ebenso wenig konnte ich vor zwanzig Jahren ahnen, dass ich es irgendwann nicht mehr ertrüge, einen Menschen um mich zu haben, der sich so total an mich verliert. Es ist gewiss etwas Schönes, wenn ein Mensch sich an einen anderen verliert, in ihm aufgeht, aber in den Ehen sollte das dann beiden geschehen.

Manchmal trinkt sie. Nie in Gesellschaft, oder sagen wir mal: in Gesellschaft nie viel. Nur zu Haus und wenn die Kinder nicht da sind. So einmal im Monat. Und dann sind es Mengen. Dann ist es, als ginge es darum, ganze Berge von Schmerzen zu ertränken.

Und zweimal der Selbstmordversuch. Zweimal, und bei mir dann tausendmal die Angst, dass sich das wiederholt. Scheidung? Sicher, welcher Mann denkt nicht hin und wieder daran? Aber dann würde es ihr vermutlich gelingen, das mit den Tabletten, und sei’s aus purer Vergeltung. Ihre sporadisch auftretende Hysterie, das ist mein Horror-Paket. Ich dürfte sie nie allein lassen. Doch wenn’s ein Infarkt wäre, der mich morgen von ihrer Seite nähme, würde sie es verwinden, würde nicht nach den Tabletten greifen, sondern wahrscheinlich nach dem Ruder vonGörgens & Co., um dieses stolze Schiff für ihre Kinder weiterzuführen. Mit meinem Tod würde sie leben können.

Wir sind schon ein seltsames Paar! Dann und wann haben wir unsere Szenen von mörderischer Vehemenz, und danach folgen Wochen der Eintracht. Es ist wie mit einem Fluss, der von Zeit zu Zeit über die Ufer tritt, dabei ganze Brocken losreißt und dann, über Nacht, ruhig wird, in sein Bett zurückfällt und gelassen dahinzieht, so als gäb’s das gar nicht: Unwetter von solcher Wucht!

Apropos Bett! Ich habe mal einen Film gesehen. Jean Paul Belmondo. Eine Szene von geradezu grotesker männlicher Unverfrorenheit. Immer wenn er sich zu seiner Partnerin legte, die übrigens sehr schön war, setzte er seine Sonnenbrille auf. Schon damals – es mag zehn Jahre her sein, aber ich erinnere mich gut – goutierte ich das auf eine fast komplizenhafte Weise.

Plötzlich unterbrach Görgens seine Betrachtungen, rief sich zur Ordnung: So geht es nicht, so ist es nicht fair. Ich darf Hellas vierzigjährige Physis nicht etwa messen an Renate, die sechsundzwanzig ist und eine Brust hat wie aus Babyspeck, glatt und fest und hell und davon grad so viel, dass es, wenn sie Schritte macht, ganz verhalten ins Schwingen gerät.

Seltsam, er war nun bereit, Hellas Bild zu korrigieren, doch es war, als ließen die Fenster das nicht zu, als hielten die Rahmen den ersten Entwurf beharrlich fest. Nur als nun drüben doch noch jemand erschien, um die Wäsche hereinzunehmen, und zwar ein junger Mann, irritierte ihn das, und er stellte sich die Frage, ob das Spiel mit den Imaginationen nicht am Ende ebenso überflüssig sei wie das Kerzengießen seines Sohnes. Aber er wich aus, wischte die Frage weg, huschte schnell weiter zu den letzten Fenstern.

Sah sich selbst.

Den etwas linkischen Jungen, der noch im März 45 partout die Hitler-Jugend-Fahne tragen wollte, der die Schule mit mäßigen Noten durchlief, das heißt ihre Pflichtstrecke, dann erst mal einige Jahre vagabundierte, im Jahre 1958 als Dreißigjähriger von geliehenem Geld eine alte Lübecker Druckerei kaufte, zunächst nur Briefköpfe, Visitenkarten und Formulare druckte, 1963 einen misslungenen Bildband herausbrachte, dann mit Kalendern mehr Glück hatte, ab 1966 Ansichtskarten herstellte und zehn Jahre später zur Spitze der Branche gehörte.

Aber er sah nicht nur den beruflichen Werdegang des Firmenchefs vonGörgens & Co., sondern auch den Menschen Johannes Görgens, den äußeren wie den inneren, und er bemerkte gar nicht, wie er allmählich die Begrenzung seines Szenariums verließ, über Fenster, Regenrinne und Dach hinausgelangte und sich schließlich mitten hinein in den blauen Sommerhimmel zeichnete.

Einen Mann von fünfzig Jahren, mittelgroß, hager, dunkelblond; volles, rechts gescheiteltes Haar, graue Augen, von der Sonne gebräunter Teint, aber Falten im Gesicht; eine davon, die Görgensfalte, die sein Vater und sein Großvater auch gehabt hatten, quer über die Stirn gezogen. Wenn er grübelte oder Kopfschmerzen hatte oder sich mühte, Kleingedrucktes ohne Brille zu lesen, war sie dunkel und deutlich, wie mit Kohle gezeichnet. Die anderen waren weniger auffallend, feingestrichelte Verästelungen um Augen und Mund, die das nordische Gesicht eher belebten, als dass sie es älter machten. Hände wie von einem, der Tennis spielt – aber auch Klavier; Görgens spielte beides nicht. Große, stabile Hände, die Kraft verrieten und dennoch schlank waren. Und immer gepflegt. Nur ganz selten, in seinem Bootshaus an der Wakenitz oder in seiner Jagdhütte, saß mal ein bisschen Teer oder Öl oder Erde unter den Nägeln. Anzüge nach Maß, elf oder zwölf. Und er probierte nun einige aus da oben am Himmel, fand jedoch, dass ihm die abgewetzten Sachen, die er sonntags trug, am besten standen, verblichene Jeans, eine scheckige Lederweste und Clogs.

Das alles fand er in Ordnung, und es ließ sich von leichter Hand zeichnen, und eigentlich, so fand er, war er ein ganz passabler Mann, der da über den Himmel ging, nicht besonders würdevoll, wie die Görgens-Millionen es vielleicht hätten erwarten lassen, aber auch nicht eben nachlässig.

Mit dem Innenleben war es dann schon komplizierter. Um das Physiologische drückte er sich zunächst ein bisschen herum, blieb im Peripheren, beließ es mehr oder weniger beim Abhaken einiger allgemeiner Verschleißerscheinungen, vermerkte die Lesebrille, die erst ein halbes Jahr alt war, die Schlaflosigkeit, die ihm in Nächten nach aufreibenden Verhandlungen zu schaffen machte und der er mit mäßigen Dosen Valium begegnete oder auch mit Johnnie Walker, was er selbst jedoch für eine ziemlich abwegige Alternative hielt. Sehr schnell wurde er gründlicher. Verbuchte: intakte Lungen bei zwanzig bis dreißig Roth-Händle pro Tag; einen Ulcus, vor fünf Jahren entfernt und nun schon fast vergessen, nachzuweisen nur noch an Hand der gut verheilten Bauchnarbe. Ein paar Extrasystolen, vor allem abends nach dem Hinlegen, zunächst als alarmierend empfunden und darum begleitet von Schweißausbrüchen, pektoraler Bedrängnis und Todesängsten, später jedoch, nachdem vom Arzt als ungefährlich, beinah normal ausgewiesen, nur noch registriert, ohne Panik, nicht mal mit Besorgnis. Ja, bisweilen empfand er dieses nur wenige Sekunden währende Ausscheren des Herzschlags aus dem Normalrhythmus als angenehm, erlebte es wie einen flüchtigen Rauschzustand, stellte eher beruhigende als beklemmende Vergleiche an, fand, dass die Erscheinungen ähnlich seien dem Leerdrehen seiner Bootschraube, wenn das Heck sich hob und sie für Momente übers Wasser geriet. Gerade dieser Vergleich war es, der ihn für die gelegentliche Unregelmäßigkeit seines Herzschlags einen Namen finden ließ, er nannte sie dasHerzschnurren.

Er unterschlug nichts Wesentliches, befasste sich also auch mit derpotentia coeundi, dem Sorgenkind des Midlife-Mannes. Er lächelte, und das war nicht taktvoll. Es funktionierte immer noch ausgezeichnet, sofern es nicht Hella betraf. Und auch diesen Sachverhalt hatte sein Arzt ihm, sozusagen unter Männern, genauer: unter Ehemännern, beschwichtigend diagnostiziert. Am eigenen Herd, so hatte der Medizinmann gesagt, stelle sich da bei manchen Männern frühzeitig eine gewisse Verhaltenheit ein, was aber nicht ausschließe, dass es auswärts umso wackerer vonstattenginge.

Ihm fiel der Brief ein, der immer noch in der Bibel lag. Die Querfalte auf seiner Stirn wurde dunkler. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Wo ist sie jetzt? Vielleicht sitzt sie nebenan inKoschmanns Weinstubeoder läuft hier im Viertel herum, durch die Straßen? Womöglich kommt sie noch einmal ins Hotel, um zu fragen, ob man mir den Brief übergeben hat? Aber dann redete er sich diese Hoffnung wieder aus, kehrte zu seinen Betrachtungen zurück:

Da gibt es ja auch den anderen inneren Menschen, jene Zustände und Vorgänge, die kein Röntgengerät und kein Labor erfasst, die zwar Magensäure, Blutzucker und Hirnströme beeinflussen können, selbst aber kaum messbar sind. Bin ich eigentlich ein zufriedener Mensch? Wer mich kennt, meint bestimmt, ich hätte Grund dazu. Aber sind nicht, wenn es um andere geht, erwogene Gründe meistens leichtfertige Unterstellungen? Jemandem brennt die Frau durch, und er läuft Amok. Einem anderen passiert das Gleiche, und er reagiert ganz anders, sieht sich erst mal misstrauisch um in seinen Räumen, bis er endlich überzeugt ist. Dann geht er in die Küche, brät sich ein Steak, lächelt versonnen in die Pfanne und hofft inständig, in den nächsten zwanzig Jahren läute es nicht an seiner Tür.

Ich weiß nicht so recht, ob ich zufrieden bin. DiePetermann Offsetist natürlich ein Triumph, und durch sie hab’ ich nun endlich auch ein Bein in Hamburg, was ich schon immer wollte. Aber manchmal denke ich, es wäre auch nicht schlecht, beide Beine ganz woanders zu haben, am Limfjord zum Beispiel oder auf dem Kilimandscharo oder in irgendeiner Hütte dieser Welt, wo’s einen Tisch gibt, unter dem man sie ganz lang ausstrecken kann, ohne anzustoßen. Aber wer in meinem Alter möchte das nicht dann und wann? Also, eigentlich bin ich doch wohl zufrieden. Christine müsste noch ein bisschen über ihre Schulhefte hinauswachsen, und Jan wird schon noch irgendwann mal den Rover waschen, ohne mir dabei die Antenne abzubrechen. Und Hella, nun, ich darf mir eben beides nicht unter die Haut gehen lassen, ihre Fürsorge nicht und ihre Hysterie. Es gibt Zeiten, in denen es sich mit ihr leben lässt, gut leben. Und vielleicht sind das jetzt auch nur die sogenannten kritischen Jahre, und später ist alles wieder ausgewogen. Renate, ja, die müsste wohl so bleiben, wie sie ist, selbst mit ihren Vorbehalten. Und das Geschäft? Es könnte nicht besser gehen. Ja, ich glaube, ich bin zufrieden.

Endlich drehte er sich um, nahm den Brief aus der Bibel, verbrannte ihn im Aschenbecher. Es tat ihm weh, vor allem wegen der Zeile mit demwarmen Gefühl,aber es war klar, einen solchen Brief nahm man nicht mit nach Hause.

3.

 

Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Halle, ging in die Hotelbar, trank einen Gin Tonic, redete, obwohl er von Fußball nicht viel verstand, mit dem Mixer über ein Spiel, das am Abend im Fernsehen übertragen werden sollte. Dann verließ er das Hotel und ging durch die Straßen. Er hätte nach Hause fahren und erklären können, die Geschäfte seien um vier Uhr abgewickelt gewesen, aber dazu war er nicht aufgelegt. Später wollte er versuchen, mit Renate zu telefonieren. Er wollte sie nicht überreden, ihr nur gut zureden, das brauchte sie manchmal, und nach einem solchen Brief und einer solchen Fahrt, so meinte er, brauchte sie es bestimmt.

 

Kurz vor sechs kehrte er ins Hotel zurück. Er ging in sein Zimmer, wählte Renates Nummer. Keine Antwort. Er wählte noch einmal, wartete so lange, bis das Freizeichen ausgesteuert wurde, legte auf. Er badete, zog seinen Hausmantel an und versuchte es noch einmal.

Sie meldete sich.

»Schade«, sagte er.

»Ja, schade«, antwortete sie. »Aber du musst das verstehen. Nachdem du heute Mittag in der Firma angerufen hattest, ging das Feiern los, und mir wurde klar, was dir dieser Tag bedeutet und dass daneben nichts anderes eine reelle Chance hat, auch ich nicht.«

»Das ist doch Unsinn! Du und ich, was hat das mit dem Geschäft zu tun?«

»Vielleicht hätte ich dich besucht, wenn statt des Ankaufs heute die Zwangsversteigerung vonGörgens & Co.über die Bühne gegangen wäre.«

»Wieso das?«

»Dann hättest du mich vielleicht gebraucht. Erfolg macht so kalt. Unglückliche Leute sind menschlicher. Aber ich liebe dich.«

»Ich dich auch, und das sollte genügen. Du musst das alles ganz anders sehen, mich nicht immer mit dieser verdammten Firma identifizieren. Ich bin nicht die Firma, bin nichtGörgens & Co., sondern Johannes Görgens.«

»Das lässt sich gar nicht trennen, und wenn doch, dann würde mich der Johannes Görgens mit seinen privaten Bindungen vermutlich noch mehr stören als der Görgens, der die Ansichtskarten macht. Wir haben keine gemeinsame Zukunft, und du weißt das. Männer in deiner Position können es sich leisten, neben ihrem eigentlichen Leben Bindungen auf Zeit einzugehen. Zum Vergnügen. Zur Erbauung. Vielleicht sogar zur bewussten Ablenkung von ihrem wirklichen Leben. Aber für diesen Seitentrieb eines Mannes bin ich nicht gemacht. Du fällst immer wieder in den Schoß deiner Familie zurück. Ich fall’ nur in meine leere Wohnung, und da liegt es sich dann gar nicht gut. Bitte, versteh mich richtig: Ich will weder, dass du dich scheiden lässt, noch, dass du mich heiratest. Ich will einfach nur einen Mann, von dem ich weiß, dass er nicht immer nur für ein paar Stunden an mich ausgeliehen ist.«

»Heißt das, unsere Zeit ist zu Ende?«

Es dauerte lange, bis Renate darauf antwortete. Schließlich sagte sie: »Ich fürchte, ja.«

»Na, immerhin fürchtest du es. Aber, sag mal, wieso war es dir vorher möglich, mit mir zusammen zu sein? Zwanzigmal? Dreißigmal? Ist da jetzt vielleicht ein anderer? Jemand, der, wenn ihr euch auf Wiedersehen sagt, in keine Familie zurückfällt? Oder sogar einer, der gar nicht auf Wiedersehen sagt, sondern gleich dableibt?«

»Nein. Da ist niemand.«

Görgens war erleichtert. Für einen Moment dachte er daran, ihr einfach zu sagen, er brauche die gesamtePetermann-Korrespondenz vom letzten Jahr, sie solle sie aus seinem Schreibtisch holen und herbringen, aber dann verwarf er den Gedanken.

»Hör mal, das mit dem geliehenen Mann stimmt doch gar nicht. Eher ließe sich die Geschichte umdrehen: Ich werde an das Haus an der Wakenitz ausgeliehen, um dort…«

»Das ist eine humane Lüge. Liebst du deine Kinder?«

»Natürlich, aber ich bin nicht mit ihnen verheiratet.«

»Doch. In gewisser Weise doch. Jedenfalls leihst du dich ihnen nicht aus. Für dein Leben sind sie wichtiger als ich, und das ist auch okay. Aber dadurch ist meine Situation eben nicht okay.«

»Renate, kannst du dich und mich nicht anders sehen, uns herauslösen aus allem, was uns im Alltag bindet und verpflichtet? Dich ganz dem zuwenden, was für dich und mich da ist? Das ist eine ganze Menge. Ich glaube, du stehst dir selbst im Weg. Tritt doch mal zur Seite und lass dich vorbei! Und komm! Ich meine nicht jetzt, vielleicht in ein paar Tagen. Bitte!«

»Hab’ ich ja alles schon versucht. Bin zur Seite getreten, hab’ mich vorbeigelassen und mir dann doch noch schnell ein Bein gestellt.«

»Du hast mir da einen sehr schönen Satz geschrieben, den mit dem warmen…«

»Ich schreib dir auch, dass es natürlich falsch ist, ihn dir zu schreiben.«

»Schon, aber immerhin steht er da, und an ihm halte ich mich erst mal eine Weile fest. Ich muss nächste Woche für drei Tage nach München. Du auch?«

»Ich krieg’ für so was keinen Urlaub.«

»So gefällst du mir schon besser. Sag wenigstens vielleicht, damit ich, wenn ich in die Familie zurückfalle, etwas zum Freuen hab.«

»Du hast nun erst malPetermannzum Freuen. Das muss doch ein großes Gefühl sein.«

»In München werde ich nichts kaufen. Auch nichts verkaufen. Nicht mal Ansichtskarten. Hilft dir das?«

»Und was hast du da zu tun?«

»Wenn du nicht kommst, nichts. Kommst du?«

»Vielleicht.«

»Mach’s gut.«

»Fährst du jetzt nach Haus?«

»Nein. Ich guck’ mir noch mal unsere Filiale an. Wir sehen uns morgen.«

»Bis morgen.«

»Das mit München: ist das nur vielleicht, oder ist es wahrscheinlich?«

»Vielleicht ist es wahrscheinlich.«

»Na, das ist jedenfalls besser, als wenn es nur wahrscheinlich vielleicht wäre. Also dann!«

»Dann also!«

Er legte auf.

4.

 

Er aß im Landungsbrücken-Restaurant zu Abend, obwohl es fast schon Mitternacht war. In den Stunden davor war er viel gelaufen, hatte den weiten Weg von der Altstadt bis nach Eimsbüttel zu Fuß zurückgelegt, anPlanten un Blomenvorbei und an der Sternschanze, war durch die Weiden-Allee und den Weidenstieg gegangen und schließlich an das jenseitige Ufer des Isebek-Kanals gelangt, wo Verlag und Druckerei derPetermann Offsetin einem zweihundert Jahre alten Haus untergebracht waren.

In einem Rundgang von fast einer Stunde hatte er sich noch einmal den Betrieb angesehen, der in Zukunft als Hamburger Dependance seinen Namen tragen würde, hatte vor allem den technischen Bereich inspiziert, die beiden noch ziemlich gut erhaltenen Einfarben-Offset-Maschinen, das teure Lackiergerät mit dem Kalander, in dem der Lack geschmolzen wurde, und schließlich die alte Tiefdruckanlage mit den Kupferzylindern, von denen es zwei Dutzend auch in seinem Lübecker Betrieb gab. Der rötliche Schimmer dieser schweren Walzen rührte ihn immer wieder an. Er nannte sie diearistokratischenunter seinen Werkzeugen, und das nicht allein wegen ihres vornehmen Glanzes, sondern auch, weil sie fast hundert Jahre Druckereigeschichte repräsentierten. Natürlich, ihm wäre es nie gelungen,Görgens & Co.zu einem der größten grafischen Betriebe Europas zu machen, wenn er sich nicht jeweils den neuesten technischen Trends angepasst, nicht lochbandgesteuerte Setzmaschinen und elektronische Repro-Kameras in seiner Firma eingeführt hätte. Indes hinderte ihn das nicht, von Zeit zu Zeit gewissen melancholischen Impulsen freien Lauf zu lassen und den alten, noch überschaubaren Verrichtungen seines Metiers nachzuhängen. Darum liebte er diese rötlichen Rollen, und auf seinem abendlichen Rundgang hatte er sich in der SektionTiefdruck, Aufkupferung,Ätzereibesonders lange aufgehalten.

Er war dann noch durch die Verwaltungsräume gegangen, hatte sich das Sekretariat, die Faktorei und Verkaufsabteilung angesehen, kurz nur, anschließend das Archiv, das in den feuerfesten Kellerräumen des Hauses untergebracht war, und sich gegen elf Uhr vom Hausmeister, der ihn durch die Räume geführt hatte, verabschiedet. Dann war er im Taxi zu den Landungsbrücken gefahren.

Aus reiner Sentimentalität bestellte er sich nach dem Essen einen Irish Coffee. Vor zwei Jahren war er mit Renate acht Tage in Irland gewesen. Doch als das Getränk nun kam, befasste er sich schon nicht mehr mit Renate und der gemeinsamen irischen Reise, sondern er dachte an den Vormittag des zu Ende gehenden Tages, an die fünf Stunden, die er mit dem alten Thorwald Petermann, dem über siebzigjährigen Firmenchef, mit einigen leitenden Angestellten des Betriebs und dem Notar in dem alten Haus am Isebek-Kanal verbracht hatte.

Trotz seines Erfolges hatte Johannes Görgens die Übergabeverhandlung als bedrückend empfunden, ja, als eine Tragödie, mit der eine über achtzigjährige hamburgische Familientradition ihr Ende fand. Bei der Unterzeichnung hatte Görgens den alten Mann weinen sehen. Die FirmaPetermannhatte zu spät begonnen, in neue Maschinen zu investieren und für modern geschulten Nachwuchs zu sorgen. Infolgedessen war sie allmählich mit der Qualität ihrer Produkte hinter der Konkurrenz zurückgeblieben. Eine Umstellung hätte frühestens in einem halben Jahr die ersten Früchte getragen. Aber diese Durststrecke war nicht durchzustehen gewesen.

Görgens dachte, während er seinen Kaffee trank: Den eenen sin Dot is den annern sin Brot! – Er hatte den Hamburger Betrieb günstig kaufen können, dazu das Lager mit zwölf Millionen Ansichtskarten. Entlassungen wollte er nicht vornehmen, stattdessen lieber zwei oder drei seiner besten Leute hinschicken, damit sie das Hamburger Stammpersonal betreuten. Er war, was seine Geschäfte betraf, voller Zuversicht.

Er verließ das Restaurant, fühlte sich trotz der späten Stunde noch sehr wach, und so dachte er: Ich bummel noch mal ein bisschen über die Reeperbahn. Er hatte nicht vor, sich auf Sankt Pauli zu amüsieren, diese Art männlicher Zerstreuung lag ihm nicht.

Aber es war Neugier, die seine Schritte in Richtung Operetten-Theater und Spielbudenplatz lenkte. Er ging, vom Millerntor-Platz aus westwärts, auf der rechten Seite der Reeperbahn und nahm das auf den ehemals soliden Seilereibezirk der Hafenstadt konzentrierte Angebot der Genital-Industrie in sich auf. Es war ein massives und entwürdigendes Angebot, dem Passanten entgegengehalten in Form von frivolen Texten und Bildern oder verbal angetragen von zweifelhaften Portiers, die die Attraktionen ihrer Häuser über den breiten Bürgersteig riefen oder auch, in Einzelaktionen, gleichsam hinter vorgehaltener Hand, an den Mann brachten. Einige dieser teils uniformierten Türwächter griffen in plump-vertraulicher Geste nach Görgens’ Arm und Schulter, redeten ihn mit ›Herr Doktor‹ an oder mit ein paar englischen oder französischen Floskeln, und er hatte Mühe, sie abzuschütteln.

Im Vorübergehen las er die aufdringlichen Offerten: Girls – Internationale Stars – Live Show – Act Show – Sauna – Massage –FKK-Club – Privat-Club – Oben-ohne-Bedienung – Lebensechte, abwaschbare Vinyl-Puppen – Die neuesten Pornos auf drei Großbildleinwänden –TAM TAM–PAM PAM–RAM RAM– Magazine – Sex-Artikel… Es hörte gar nicht wieder auf. Er wollte umkehren, wollte zurück ins Hotel, da entdeckte er ein Reizwort, von dem er zwar schon gehört, für das er sich aber bislang nicht interessiert hatte. Über einem Eingang prangte, groß wie eine Kino-Reklame:Peep-Show.

Er trat näher, las eine Art Einführung in diese aus denUSAimportierte Erotik-Novität. Und da konnte er nicht widerstehen, wollte es einfach nachprüfen, wie krank die Menschen waren zwischen Alster und Elbe, zwischen Flensburg und dem Bodensee und wahrscheinlich – wenn auch Gott sei Dank mit riesigen Reservaten dazwischen – rund um den Globus.

Er musste Geld wechseln, wenn er hier mithalten wollte, ließ sich an der Kasse ein paar einzelne Markstücke geben und trat ein.

Er befand sich in einem etwa zehn mal zehn Meter messenden Raum, dessen Wände mit Magazinen und Bildern bepflastert waren. Aber diese Papier-Show war nur das Dekor, für das sich kaum einer der zahlreich anwesenden Männer interessierte. In der Mitte des Raumes stand, aus Holz gezimmert und so groß, dass der übrige Raum eigentlich nur einen zwei Meter breiten Gang bildete, eine Art Käfig in Quaderform. Seine Außenwände bestanden aus lauter Türen, vor denen die Männer Schlange standen. Görgens musste an eine öffentliche Bedürfnisanstalt denken, und im Grunde war es auch so etwas. Er stellte sich an. Vier Männer waren vor ihm. Es dauerte über eine Viertelstunde, bis er an der Reihe war.

Er ging hinein, zog die Tür hinter sich zu, stand in einer engen, halbdunklen Kabine. An der Wand, der Tür gegenüber, hing ein schwach beleuchtetes Gerät, das wie eine Zähluhr aussah. Es war ein Münzschlucker mit zwei Schlitzen, einem kleinen für das kleine und einem großen für das große Bedürfnis. Er las die Bedienungsanleitung: 1 Mark für 1 Minute; 5 Mark für 5 Minuten. Über dem Gerät befand sich ein Fenster von den Ausmaßen eines mittelgroßen Fernsehbildschirms. Es war von einer Klappe verdeckt.

Er warf eine Mark ein. Es klickte und schnurrte. Die Klappe, jenseits der Glasscheibe angebracht, hob sich langsam, bis das Fenster völlig frei war und er hindurchsehen konnte.

Ein hell erleuchtetes Zimmer, ein Stuhl, ein Lammfell. Gegenüber die Fenster der anderen Kabinen. Auf dem Stuhl ein Negligé und auf dem Fell eine nackte, sich rekelnde Schwarze. Das Fell war rund zugeschnitten und damit der Oberfläche eines Podestes angepasst. Ganz langsam drehte sich die kleine Bühne. Auf diese Weise erreichte man, dass keiner der Zuschauer benachteiligt wurde.

Görgens betrachtete die rotierende schwarzhäutige Schönheit, die achtzehn, vielleicht auch fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, so genau ließ sich das wegen ihrer Fremdartigkeit nicht sagen. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Schenkel gespreizt, mahlte mit großem, volllippigem Mund ein Kaugummi und starrte gegen die Decke, während das kleine Karussell ihren geöffneten Schoß buchstäblich herumzeigte.

Eine Minute, das bedeutete gut ein Dutzend Atemzüge, in diesen Kabinen vielleicht ein paar mehr, oder, anders gerechnet, zwei- bis dreimal den direkten Einblick. Sie war schnell vergangen, diese Minute; die Fensterklappe schloss sich wieder, und Görgens schob eine Mark nach. So erlebte er auch noch einen Positionswechsel. Das Mädchen kniete sich hin und drückte ihr Gesicht in das Fell. Wie eine Haubitze mit 45-Grad-Einstellung war nun ihr violett-braun glänzendes Gesäß gegen die Galerie der kleinen Fenster gerichtet. Görgens sah auf die Männer gegenüber. Flüchtig fühlte er sich an den Blick aus seinem Hotelzimmer erinnert. Es gab einige Übereinstimmungen. Das Nebeneinander von Fenstern. Die gewisse Indiskretion, die er sich herausnahm. Die Frage allerdings, ob er auch hier den Leuten von gegenüber ins Leben sah, wollte er nicht bejahen. War das denn Leben? Intimleben womöglich?

Die Lichtorgel in dem kleinen Boudoir warf in Abständen ihre Blitze gegen die Wände, strahlte Männerporträts hinter Glas an. Er sah starre Perlmuttaugen, bleiche maskenhafte Züge, sah Milchgesichter und Grauköpfe, schlohweißes Haar sogar und Physiognomien von Männern, die seines Alters waren, sah alle diese lüsternen Späher auf das fellbespannte Podest stieren, und der Gedanke, dass im Augenblick auch er zu diesen Voyeuren gehörte, erfüllte ihn mit Unbehagen.

Wieder klickte es, und die Klappe senkte sich. Eine dritte Mark wollte er nicht einwerfen. Laurette aus Martinique war ihm nun leidlich bekannt. Im Aushang hatte er gelesen, dass zwölf Mädchen sich mit ihren Fünf-Minuten-Auftritten ablösten, auch die Reihenfolge war angegeben. Auf die Schwarze von der Karibik folgte Gerda aus Hamburg. Die wollte er nicht.

Er beeilte sich, auf die Straße zu kommen, nahm ein Taxi, das vor der Tür stand, fuhr in sein Hotel.

Er hatte auch Durst und ging noch für eine Weile in die Hotelbar, obwohl er müde war.

Er war nicht prüde, schätzte dasCrazy Horsein Paris und hatte René Durands Erotisches Theater im HamburgerSalamboergötzlich gefunden, weil es sich bei den Darstellungen solcher Häuser um gepflegte, ja perfekte Arrangements handelte. Was er dagegen an diesem Abend für seine zwei Mark gesehen hatte und wie es ihm dargeboten wurde, das alles fand er deprimierend.

Er hatte nichts gegen dunkle Haut, aber er hätte Laurette so viel lieber auf Martinique gesehen, halb oder auch ganz bekleidet, am Strand von Macomba oder St. Pierre, unter einer Palme oder auf einem ans Ufer gezogenen Fischerboot, hätte sich per Handzeichen mit ihr unterhalten oder auch mit seinen paar Brocken Französisch. Vielleicht würde er sogar eine Ansichtskarte von ihr machen oder sie einladen zu einer Kokosmilch mit Gin und sich später unter dem karibischen Mond mit ihr in den Sand legen.

Eine alptraumhafte Errungenschaft, dieser US-Import, dachte er. Geld rein, Frau raus. Ein neues, sehr ungalantes Produkt auf dem galanten Markt. Früher war’s: Geld raus, und dann nichts wie rein in die Frau! Ist das überholt?

Er griff nach seinen Zigaretten, in der Tasche klimperten noch die restlichen Markstücke. Er dachte: Alles wird automatisiert, sogar das Geschlechtsleben. Wohin führt das? Kein Wunder, dass in unserem Land die Zahl der Neurotiker in die Millionen geht. Die Erotik als Konsumgut der Massen. Die Fließband-Erektion. Mit fünf Mark sind Sie dabei! Mit einer schon, wenn Sie bescheiden sind und auf Gerda aus Barmbek verzichten wollen.

Ein Hotelgast, den er schon bei Tage in der Halle gesehen hatte, setzte sich neben ihn, bestellte ein Bier. Ein etwa vierzigjähriger, schmächtiger Mann. Görgens wandte sich ihm zu, sah einen Bluterguss über dem linken Auge und ein zersprungenes Brillenglas. Der Mann fasste Görgens’ Blick als Frage auf, sagte: »Diese Bauernfänger! Aber ich lass’ mir so was nicht bieten.«

»Worum ging’s?«, fragte Görgens.

»Ein obskurer Schuppen an der Reeperbahn. Draußen ein Riesenschild: ein Bier drei Mark bei vollem Live-Programm. Ich geh’ rein, guck’ mir das an, trink’ mein Bier, und dann will der Kerl kassieren: fünfundzwanzig Mark! Ich sag’: ›Nee, drei Mark!‹ Wir streiten uns, und da holt er den Portier. Der zieht mich vor die Tür und zeigt mir das Schild. Und da seh’ ich an der einen Seite des Plakats ein paar winzige Buchstaben, von oben nach unten, kaum zu entziffern. Ich hatte das für ein Ornament gehalten, aber da stand: ›Nur als Nachbestellung‹. Und wurde wieder reinbugsiert und belehrt: Das erste Bier kostet fünfundzwanzig, das zweite drei Mark. Ich sag’: ›Mit mir nicht!‹ Und leg’ drei Mark hin. Will raus. Und da fängt die Prügelei an. Mir blieb erst mal nichts anderes übrig, als zu zahlen. Aber dann ging ich rüber zur Davidwache und holte die Polizei. Ich kriegte mein Geld zurück, und jetzt müssen sie auch noch meine Brille bezahlen, und die Anzeige wegen Körperverletzung läuft auch. Zum Glück hatte ich Zeugen.«

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Görgens.

»Die meisten zahlen und schweigen«, sagte der Mann, »und damit rechnen die Halsabschneider natürlich auch. Aber ich hab’ mir gesagt: So nicht!«

»Waren Sie auch in der Peep-Show?«, fragte Görgens.

»Nein, haben selbst ’ne Schweinezucht«, erwiderte der andere. Er nahm die Brille ab, rieb sich das Auge.

»Waren Sie schon beim Arzt?«

»Ich geh’ morgen hin, und zahlen müssen die anderen.«

»Hallo! Was haben sie denn mit dir gemacht?« Zwei Männer und ein junges Mädchen waren an die Bar gekommen, gesellten sich zu dem Helden, nahmen ihn schließlich mit an ihren Tisch.

Görgens trank weiter, in den nächsten zwanzig Minuten zwei Wodkas ohne Wasser. Seine Beine hingen schwer vom Hocker herab, den Kopf stützte er in die Hände, er formte ein paar letzte Gedanken zur Sache:

Mein Gott, wohin sind wir geraten! Das Erschauern der Lenden vor dem Münzapparat. Die perfekte Maschine. Technisierung, Mechanisierung, Automatisierung bis unter die Gürtellinie. Was kommt da noch? Was gibt es überhaupt noch? Muss nicht nun das Chaos kommen, der Knacks im Gehirn?

 

Er zahlte seine Drinks, rutschte vorsichtig vom Hocker und ging zum Fahrstuhl. Es war halb zwei, als er sich hinlegte. Er rauchte im Bett eine letzte Zigarette, aber nur halb, denn sie schmeckte ihm nicht.

Seine Gedanken kehrten noch einmal zurück zu dem Ereignis des vergangenen Tages. Er zählte und rechnete, erwog die Kapazität des Hamburger Zuwachses, laufende Kosten, Investitionen, Umsätze und was er in künftigen Jahren unter dem Strich vorfinden würde.

Bevor er das Licht ausmachte, rief er die Rezeption an, bat, um sechs geweckt zu werden. Er wollte um acht im Betrieb sein.

5.

Während Johannes Görgens in dem breiten Bett seines Hamburger Hotelzimmers lag und noch einmal die Übernahme desPetermann-Betriebs mit all seinen unternehmerischen Konsequenzen durchdachte, kamen in Lübeck, in einem Haus nahe den alten Salzspeichern an der Obertrave, drei junge Männer zusammen, um sich auf ihre Art mit dem Görgens-Unternehmen zu befassen. Auch bei ihnen ging es um eine Art vorweggenommener Bilanz, zwar nicht um die des Hamburger Zweigs, von dem sie noch nichts wussten, sondern um die pauschale Einschätzung der gegenüber dem Nordlandkai in Lübeck gelegenen Ansichtskartenfabrik.

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