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Robert Mollwitzer, Kripobeamter mit Spezialausbildung, arbeitet als Undercover-Agent im kriminellen Untergrund. Er ist überaus erfolgreich, aber sein Job frisst ihn auf. Und seine Frau zahlt für seinen Ehrgeiz mit Einsamkeit und Verzweiflung. Dafür rächt sie sich, indem sie ihren Mann in eine schier ausweglose Lage treibt…
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Seitenzahl: 254
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Hinrich Matthiesen
Jahrgang 1928, auf Sylt geboren, wuchs in Lübeck auf. Die Wehrmacht holte ihn von der Schulbank. Zurück aus der Kriegsgefangenschaft, studierte er und wurde Lehrer, viele Jahre davon an deutschen Auslandsschulen in Chile und Mexico. Hier entdeckte er das Schreiben für sich.
1969 erschien sein erster Roman:MINOU. Dreißig Romane und einige Erzählungen folgten. Die Kritik bescheinigte seinem Werk die glückliche Mischung aus Engagement, Glaubwürdigkeit, Spannung und virtuosem Umgang mit der Sprache. Die Leser belohnten ihn mit hohen Auflagen.
Immer stehen im Mittelpunkt seiner Romane menschliche Schicksale, Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Hinrich Matthiesen starb im Juli 2009 auf Sylt, wo er sich Mitte der 1970er Jahre als freier Schriftsteller niedergelassen hatte.
»Zum literarischen Markenzeichen wurde der Name Matthiesen nicht zuletzt durch die Kunst, in eine pralle Handlung Aussagen zu verweben, die außer dem aktuellen stets auch einen davon unabhängigen Bezug haben. Gedankliche Strenge, sprachliche Disziplin und ein offensichtlich unauslotbarer verbaler Fundus lassen Matthiesen zu einem Kompositeur in Prosa werden. «
Deutsche Tagespost
»Matthiesen ist zu beneiden um seine Fähigkeiten: Kompositionstalent, menschliche Einfühlung, scharfe Beobachtungsgabe – und vor allem um seinen Stil«
Deutsche Welle
»Matthiesen ist für seine genauen Recherchen bekannt. Seine Bücher weichen nicht einfach in exotische Abenteuer aus, sondern befassen sich immer wieder mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Unterhaltsam sind sie allemal. «
FAZ-Magazin
Werkausgabe Romane Band 24
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Der Roman
Robert Mollwitzer, Kripobeamter mit Spezialausbildung, arbeitet als Undercover-Agent im kriminellen Untergrund. Er ist überaus erfolgreich, aber sein Job frisst ihn auf. Und seine Frau zahlt für seinen Ehrgeiz mit Einsamkeit und Verzweiflung. Dafür rächt sie sich, indem sie ihren Mann in eine schier ausweglose Lage treibt…
Hinrich Matthiesen
Ein Sieg zuviel
Roman
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Werkausgabe Romane
Herausgegeben von Svendine von Loessl
Band 24
Er kam sich vor wie ausgestoßen. Fast so, als wäre er von der neuen Seuche befallen, und die anderen hielten sich, aller Erkenntnis zum Trotz, auf Distanz. Oder als wäre er mit ihnen, die da am offenen Grab standen, zerstritten. Ihm fiel ein, was sein Chef, Kriminaloberrat Kropp, einmal gesagt hatte: »An den Gräbern zeigt es sich, da endet ein Streit, oder er steigert sich noch und erreicht seinen makabren Gipfel.«
Es sieht, dachte er, tatsächlich nach Streit aus. Da vorn steht sie, die Mollwitzer-Sippe, geschlossen in ihrer Trauer und vollzählig bis auf den einen, nämlich mich, Robert Mollwitzer, der sich fünfzig Schritte entfernt hinterm Rhododendron versteckt hält, und es ist doch beileibe kein Streit, ist ganz was anderes!
Er hatte sogar sein Fernglas mitgebracht, denTRINOVID-Feldstecher, der nicht größer war als eine Zigarettenschachtel. Er sah hindurch, sah sie nun alle so nah, als wäre er bei ihnen. Seinen Vater, den wuchtigen und despotischen Bernhard Mollwitzer, der noch immer meinte, seine beiden Söhne beherrschen zu müssen, es aber nur bei einem von ihnen schaffte. Daneben sah er seine Schwester Agnes, die den Vater überragte, obwohl sie, wie üblich, etwas eingesunken da stand, um ihre Körpergröße von 1,82 Metern zu kaschieren. Seinen jüngeren Bruder Martin, der nicht nur im väterlichen Baugeschäft, sondern auch in seiner Seele ein Krämer war. Schwager Erwin, der gern City-Stiefel mit hohen Absätzen trug und sein schon etwas schütteres Blondhaar strikt nach oben föhnte, um neben seiner langen Agnes nicht so sehr abzufallen. Und Schwägerin Beate, die keine Mühe scheute, ihr anthroposophisches Weltbild unter die Verwandtschaft zu bringen, und immer wieder damit scheiterte, selbst bei Martin, ihrem Mann. Dann die Neffen und Nichten, fünf an der Zahl, was ebenso viele Schulprobleme bedeutete, weil die fünf nun mal heute lebten, ihre Lehrer aber, wie es innerhalb der Familie geradezu kategorisch hieß, von gestern waren. Auch einige weitläufige Angehörige sah er und die Freunde der Geschwister. Schließlich noch ein paar Friedhofsbummler, Fremde, die sich einfach dazugesellt hatten, wenn auch in einem Abstand von zwei Grabreihen, wo der Kampf zwischen Neugier und Pietät unbemerkt ausgetragen werden konnte. Und Pastor Hansfeld natürlich, der ihn konfirmiert und getraut hatte und der, als er von seiner Polizistenlaufbahn erfuhr, gemeint hatte, nun stünden sie ja beide im Dienst des Menschen.
Anna, seine Frau, konnte er zunächst nicht ausfindig machen. Erst als eine seiner fülligen Tanten — die Mollwitzers der älteren Generation waren allesamt breit angelegt — ein Stück zur Seite trat, kam ihr blasses, von einem schwarzen Tuch gerahmtes Gesicht zum Vorschein. Inmitten der robusten Gestalten wirkte sie zarter, als sie war, und einen Augenblick glaubte er, sie wäre krank. Aber dann sagte er sich: Nein, sie wird nur erdrückt von der Masse um sie her, und das viele Schwarz bewirkt ein Übriges! Er sehnte sich nach Anna, würde sie am Abend treffen, und nach vierzehn Tagen der Trennung würde es trotz der Trauer ein Fest werden.
Er senkte das Fernglas, dachte: Da bin ich nun zehnmal weiter weg als die Fremden, die es nichts angeht, und es ist meine Mutter, die man zu Grabe trägt! Kann ich später eigentlich sagen: »Ich war dabei?« Oder zählt es nicht, wenn man nur aus dem Hintergrund teilnimmt? Okay, das Gebet an der Kante lässt sich nachholen, sobald die anderen inPÖPKESGasthof sitzen und zum gedämpft-geselligen Teil übergehen, oder besser erst morgen. Aber was ist, wenn ich mal wieder in einem gottverlassenen Hotelzimmer hocke und nicht schlafen kann und die vielen Fragen kommen und bestimmt auch diese: Hast du deine Mutter anständig begraben? Und ich mir dann sagen muss: Nun ja, ich war dabei, wenn auch mit Bart und Brille getarnt und ziemlich weit weg, damit man mich nicht erkennen konnte..., aber ob das zählt? Sie selbst würde es allerdings gelten lassen, denn sie hatte, im Gegensatz zu Vater, etwas übrig für meinen Beruf.
Ihm fiel ein, was sein Vater gesagt hatte, als er zur Polizeischule gehen wollte: »Ein mittlerer Beamter? Junge, tu uns das nicht an!« Die Mutter hingegen: »Rob, wenn du es unbedingt willst, dann ist es auch richtig so, und alles andere wäre falsch.« Ja, und fortan hatte der Vater, selbst Sohn eines Polizisten, darüber geklagt, dass ausgerechnet er, Bernhard Mollwitzer, Gründer und Besitzer eines florierenden Baumarktes mit drei Filialen, auf der Stammtafel eingekeilt sei von zwei kümmerlichen Beamten. Seinen Handel mit Schrauben und Nägeln, mit Fliesen und Zäunen, mit Gartenlampen und Profilbrettern schätzte er nun mal höher ein als die Arbeit der Staatsdiener, und überhaupt bemaß er den Wert eines Menschen nach dessen wirtschaftlichen Verhältnissen.
Da vorn ging es nun los mit dem Händeschütteln, und das hieß, dass der Haufen darauf und daran war, sich aufzulösen. Wahrscheinlich würden dann einige von denen, die nicht zuPÖPKESGasthof fuhren, noch eine Weile auf dem Friedhof bleiben, sei es, um zu kontrollieren, was auf den Gräbern so wuchs und blühte Ende Mai, oder auch nur, um die Namen und Daten zu lesen und sich in Erstaunen oder Bestürzung versetzen zu lassen, je nachdem, ob man da einen Methusalem bestattet hatte oder ein Kind. Also, dachte er, verschwinde ich jetzt lieber, ehe mir jemand in die Quere kommt, der mich womöglich trotz meiner Maskerade erkennt!
Er steckte das Fernglas in die Jackentasche und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
Während der Fahrt hatte er Ruhe zum Nachdenken, und so lief nun hinter seiner Stirn ab, was sonst wohl während des Gottesdienstes in Gang geraten wäre, bei den Liedern oder den Gebeten oder dem von Pastor Hansfeld beschriebenen Lebensstationen der Verstorbenen, und wieder quälte ihn, dass er nicht würdig Abschied nehmen konnte. Im Auto hing sogar noch der aufdringliche Parfumduft der beiden Huren, die er mittags zum Kiez gefahren hatte. Er war Hamburger Polizeibeamter im Sondereinsatz, ein Undercover-Agent, kurzUCA. Er selbst zog allerdings den offiziellen Amtsbegriffverdeckter Ermittlervor, denn denUCAamerikanischer Prägung mit all seinen Freiheiten und Möglichkeiten gab es in der Bundesrepublik nicht. Nach seiner derzeitigen Legende war er der Zuhälter Robby Rüsch, der im Milieu mitredete und seine Küken auf der Piste laufen hatte.
Was hätte Mutter zu diesem Einsatz gesagt?, fragte er sich. Ihr erster Kommentar wäre sicher gewesen: »Nein, mein Junge, das nicht!« Aber dann hätte ich ihr erklärt, dass wir nur so an die Leute rankommen, die wir haben wollen, und dass ich diesen Job mache, damit es in Zukunft ein paar Mädchen weniger sind, die auf der Strecke bleiben. Am Schluss hätte sie dann doch zugestimmt, denn stichhaltigen Argumenten verschloss sie sich nie. Bei Vater wär' es gar nicht erst zum Gespräch gekommen. Der hätte zum hundertsten Mal über meine armselige Laufbahn gewettert, dabei alle Register gezogen und sich sogar bemüht, mich noch jetzt, nach fünfzehn Jahren Polizeidienst, auf seine Welt der Schrauben und Nägel umzudirigieren. Es tut mir so leid, dass ich Mutter nicht mehr besucht hab' in ihren letzten Tagen, aber zu meiner neuen Existenz gehört nun mal, dass die alte sich auf eine plausible Weise aufgelöst hat, und das heißt: Der Kriminalhauptkommissar Robert Mollwitzer befindet sich zu einem halbjährigen Kontaktstudium als Austauschbeamter beimFBIin den Vereinigten Staaten.
Er fuhr langsam, obwohl der schwere Wagen, den er sich aus Gründen des standesgemäßen Auftretens ausgesucht hatte, gut und gern seine zweihundertvierzig Sachen machte, und er nahm auch nicht die Autobahn, sondern näherte sich dem Stadtrand, indem er die Dörfer abfuhr, die in seiner Kindheit eine Rolle gespielt hatten.
Ihm kam der Großvater in den Sinn, der Polizeimeister Lorenz Mollwitzer, der von seinem Sohn immer nur der Dorfpolizist genannt wurde, voller Geringschätzung, an den aber er, der Enkel, mit großer Liebe dachte. Wie oft hatte der Alte ihn auf seine Knie gesetzt und dann Geschichten erzählt, meistens von bösen Menschen. Das Besondere war gewesen, dass er es nie versäumt hatte, dem Jungen auch zu sagen, warum diese Menschen böse geworden waren. Das hatte jedes Mal ein zweites Licht auf sie geworfen, so dass sie nicht mehr nur die Bösen waren, sondern auch die Verirrten oder die Verführten.
Er hatte ein Dorf durchfahren, war nun wieder auf der freien Landstraße. Der Großvater kam ihm ganz nah, so nah, dass er plötzlich den süßlichen Parfumduft, der das Auto auch jetzt noch erfüllte, als einen Frevel an dem alten Mann empfand. Ich halt' das nicht mehr aus!, dachte er und parkte den protzigenCHRYSLERauf dem neben der Fahrbahn verlaufenden Grasstreifen. Er stieg aus, stellte sich an das Gatter der vor ihm liegenden Koppel, sog gierig die saubere Luft ein. Er blickte hinüber zu den Pferden, doch schon bald hatte er nicht mehr die Tiere vor sich, sondern wieder den Großvater, den rundlichen alten Mann in der grünen Uniform. Und den Marktplatz von Borswede. Es war Sommer, und er, der zehnjährige Rob, war in den Ferien bei den Großeltern. Jeden Vormittag schickte die Großmutter ihn mit einer abgewetzten Aktentasche, in der ein paar Scheiben Brot und eine Thermoskanne mit Kaffee steckten, zur Polizeidienststelle.
Nicht alles, was damals den gepflasterten Borsweder Marktplatz säumte, war für den kleinen Ort von herausragender Bedeutung, andererseits gab es Gebäude, die ihrer Bestimmung nach den zentralen Standort zwar verdient, ihn aber nicht bekommen hatten, denn als sie errichtet wurden, waren die Logenplätze bereits vergeben. Zu den Anrainern gehörten das Bürgermeisteramt, die Kirche, die alte Schule, die Post, das Spritzenhaus, die Sparkasse, zwei Hotels, drei Gaststätten und ein gutes Dutzend Geschäfte verschiedener Art.
Nicht dazu gehörten die Polizeidienststelle, das Gesundheitsamt, die neue Schule, die Bücherei und das Jugendzentrum, diese Einrichtungen hatte man über das angrenzende Gebiet verteilt.
So war der Marktplatz an diesem Sommermorgen nicht das Ziel des kleinen Rob, aber er musste ihn, um zu seinem Großvater zu gelangen, überqueren und dann noch drei Häuserblocks weitergehen. Doch dazu kam es nicht! Er hatte den langen Roggenkampsweg hinter sich gebracht und wollte gerade die um den Platz verlaufende Straße betreten, da sah er die Menschenmenge vor der Sparkasse. Von Neugier angetrieben, rannte er darauf zu, und weil er klein war, gelang es ihm, zwischen den Schaulustigen ganz nach vorn vorzudringen. Das grauenvolle Geschehen, das sich dann abspielte, sollte er nie vergessen. Auch jetzt, als er am Gatter stand, war es ihm gegenwärtig. Er sah einen maskierten Mann aus der Sparkasse kommen, in der Linken einen Beutel, die Rechte mit der Waffe am Kopf einer jungen Frau. Etwa fünfzehn Meter von den beiden entfernt stand sein Großvater, die Hand an der Pistolentasche. Und dann geschah das Unvermutete, das er damals als natürlich empfand, später allerdings anders beurteilte, weil es in der Tat tollkühn war: Das Opfer, die junge Frau also, riss sich, obwohl die Mündung des Pistolenlaufs auf ihrer Schläfe lag, los und verblüffte damit ihren Gegner derart, dass er nicht sofort schoss. Erst als sie ein paar Schritte gelaufen war, richtete er die Waffe erneut auf sie, besann sich dann aber wohl darauf, dass seine Aufmerksamkeit einer ganz anderen Person zu gelten hatte: dem Polizisten, dessen Anwesenheit ihm beim Herauskommen aus der Sparkasse nicht entgangen war. So drehte er sich ruckartig herum und zielte auf den Großvater, der inzwischen ebenfalls seine Waffe gezogen hatte, jedoch nicht abdrückte, weil, wie Rob später erfuhr, sich der Gangster und die flüchtende Frau in diesem Augenblick von ihm aus gesehen in fast derselben Richtung befanden! Aber der andere schoss! Auch seine Kugel hätte ihr Ziel verfehlen und in die Menge gehen können. Doch sie traf, traf den Polizeimeister Lorenz Mollwitzer, dem die Waffe entglitt und der sich mit beiden Händen an die Brust griff, dann vornüberkippte und auf die Pflastersteine fiel. Rob war zu Tode erschrocken, aber er blieb nicht erstarrt stehen, sondern rannte auf den am Boden Liegenden zu. Die Menschen schrien, weil da plötzlich in der Zone der größten Gefahr ein kleiner Junge auftauchte, doch ehe ein paar beherzte Passanten ihn einholen konnten, war er bei dem Verletzten angelangt, kniete sich hin, und erst als er das schmerzverzerrte Gesicht seines Großvaters sah, kamen ihm die Tränen. Er wollte nach den Händen greifen, die sich über der Brust in den Uniformrock gekrallt hatten, zuckte aber zurück, denn er hatte die sich rasch ausbreitende dunkle Verfärbung in dem grünen Tuch entdeckt.
Ein Sanitäter kam, stieß ihn weg und beugte sich über den Verwundeten. So ruppig hatte der Mann sich Platz verschafft, dass der Junge zur Seite gefallen war. Dennoch sah er, wie die Rechte des Großvaters sich von der blutdurchtränkten Uniform löste und den Arm des Sanitäters packte, und er hörte den alten Mann sagen: »Tu das nie wieder! Ihn einfach umstoßen! Es ist Rob, mein Enkel.« Dann fiel die Hand auf die Steine. Der Großvater bewegte sich nicht mehr.
Die Pferde — fünf waren es, vier Braune und ein Apfelschimmel — galoppierten über die Koppel. Der dumpfe Schlag ihrer Sprünge schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er sah, wie die Hufe kleine Stücke aus dem weichen Boden rissen und nach hinten schleuderten. Um wieviel schöner wäre es, dachte er, mit Pferden zu tun zu haben als mit Menschen! Ja, Bauer wäre er auch gern geworden. Dieser Beruf hatte, als er Kind war, lange an erster Stelle gestanden, aber der Tod auf dem Marktplatz hatte dann andere Zeichen gesetzt.
Er ging zum Wagen, stieg ein, fuhr weiter, dachte an den Abend jenes schweren Tages in Borswede. Seine Eltern waren gekommen, und er erlebte die fahrige Geschäftigkeit der ersten Trauerzeit, begriff sie nicht, begriff nicht, dass seine Mutter am Herd stand und kochte, sogar Kuchen backte, und dass sein Vater Anzeigentexte entwarf und sie der wie versteinert dasitzenden Großmutter vorlas, als wären es Weihnachtsgedichte. Ihn verwirrte auch der Eifer, mit dem die schwarzen Kleidungsstücke ausgebreitet und begutachtet wurden...
Er erreichte den Stadtrand, fädelte sich ein, wischte die dunkle Kindheitserinnerung weg, kehrte dann aber doch noch einmal zu ihr zurück, wenn auch nur kurz und mit kritischem Abstand: Wieso denke ich, obwohl es Mutter ist, die man heute beerdigt hat, so viel an ihn? Und fand die Antwort, glaubte jedenfalls, sie gefunden zu haben: Wenn in meiner Familie jemand stirbt, drängt sich der Tod vom Marktplatz vor, und fast automatisch kommt es in meinem Kopf zu einem Requiem für den alten Mann, weil er mich geführt hat und immer noch führt, ja, weil er nun mal mein wichtigster Toter ist.
Doch dann, er hatte die Stadt schon durchfahren, richteten seine Gedanken sich endlich ganz auf Anna. Verrückt!, dachte er. Nun bin ich seit zweieinhalb Jahren mit ihr verheiratet, und wir müssen uns heimlich treffen! In einem Hotelzimmer! Außerhalb der Stadt, nachdem ich mindestens fünf Kilometer auf einer übersichtlichen Strecke gefahren bin und also weiß, dass niemand mir gefolgt ist! Wir haben denselben Weg und fahren in zwei Autos! Aber, auch das muss sein. Es gibt die blödsinnigsten Zufälle, so auch den, dass einer vom Kiez Anna kennt und an einer Ampel neben uns hält, uns in die Scheiben starrt und sich fragt: Was hat denn der Rüsch mit dem Bullenweib zu schaffen?
Seit seinem letztes Treffen mit Anna war er ununterbrochen der smarte Robby Rüsch gewesen, der seine vier Steigen kontrolliert, seine ambulanten Puppen auf den Strich geschickt und zwischendurch mit seinen Zuhälterkollegen gezockt und dabei vierzehntausend Mark gewonnen hatte und nun nicht so recht wusste, was für Geld das eigentlich war. Gehörte es in den großen Topf der ihm zur Verfügung gestellten Manövriermasse, oder durfte er davon zum Beispiel für Anna die goldene Halskette kaufen, die sie während ihres letzten gemeinsamen Stadtbummels in den Auslagen vonWEMPEbewundert hatten?
Wenn ich, überlegte er, vierzehntausend verloren hätte, wäre die Behörde dafür aufgekommen. Aber ich hab' raffiniert gespielt und dem Steuerzahler einen solchen Verlust erspart. Also teilen wir. Die geretteten vierzehn fürs Amt und die anderen vierzehn für mich. Oder vielmehr für Anna, denn wo steht geschrieben, dass sie die vielen Entbehrungen gratis auf sich zu nehmen hat?
Anna Mollwitzer stand am Fenster. Sie hatte den Vorhang ein Stück zur Seite geschoben und sah hinunter auf den Parkplatz. Es war noch hell draußen. Sie zählte zwölf Autos: acht Pkws der Mittelklasse, zwei Kombiwagen, einen Kleinlaster und einen Jeep. In dieser bescheidenen Phalanx fiel Robs und ihr acht Jahre alter
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