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Gundel hat es nicht leicht: Mutterlos wächst sie alleine mit ihrem Vater in einem beinahe leeren Haus auf, während bei den fünf Kindern im Nachbarshaus immer was los ist. Als sie sechzehn wird, weiß sie gar nicht wie ihr geschieht, denn endlich darf sie nun als Kindermädchen bei der Doktorsfamilie arbeiten. Dort geht es drunter und drüber, doch Gundel wird wie eine Tochter aufgenommen und fürs Erste scheint jeglicher Kummer vergessen. Mit viel Feingefühl versetzt sich Lise Gast in die Rolle eines jungen, heranwachsenden Mädchens und beweist ein weiteres Mal ihr Talent Alltagsgeschehen in abwechslungsreiche Geschichten zu verpacken. -
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Seitenzahl: 309
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Lise Gast
Roman
Saga
Auch du wirst einmal siebzehn
© 1972 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508336
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Krank sein, wenn man noch klein ist und keine Mutter mehr hat — nein, das ist nicht schön. Das Fieber saust im Kopf, und wenn man einen Augenblick gegen das Deckbett haucht, stößt einem der eigene Atem wie eine kleine Flamme ins Gesicht. Dauernd sucht man erträgliche Lagen, aber das Nachthemd dreht sich in lästigen Querfalten um den Körper, und das Bettlaken ist, obwohl man gar nichts gegessen hat, schon wieder voller kratzender Krümel. Wenn man mit dem einen Knie an das andere kommt, brennt die Haut, glatt und heiß.
Auf dem Nachttisch steht ein Glas mit Zitronenwasser. Aber es ist so weit bis dahin, man müßte sich erst aufrichten, und das bedeutet so viel Mühe, daß man es lieber sein läßt. Und der Hals brennt doch so, und in den Schläfen summt und braust es unablässig.
Vorhin war der Vater da, hat groß, schmal und bekümmert am Bett gestanden und gefragt, wie es geht. Immer ist der Vater so, daß man ihm gut Zureden möchte: Laß nur, ich werde schon wieder gesund. Helfen kannst du mir ja doch nicht.
Helfen. Es gibt einen, der das kann, und um dessentwillen lohnt sich das ganze Kranksein mit Halsschmerzen und Gurgeln und Alleinliegen und langsamem, schleppendem Zeitverrinnen. Und er kommt, wenn nicht vormittags, dann nachmittags, wenn dann nicht, gegen Abend.
Der ganze Tag vergeht nur, damit dies wirklich wird. Man hört seinen Schritt schon auf der Treppe, sein wuchtiges Stampfen. Niemand öffnet die Tür so. Und dann ist krank sein plötzlich das Schönste von der Welt.
Er setzt sich auf den Bettrand, daß die Federn knirschen und man ein bißchen zur Seite rollt, weil er so schwer ist. Und er lacht und hat gute, warme Hände und tut einem kein bißchen weh, wo er auch klopft und befühlt. Man ist geborgen bei ihm, eingehüllt in seine Güte, ganz und gar gesichert und in Hut ...
Man tut alles, was er anordnet, mit einer gewissen beschwingten Begeisterung, schluckt die bittersten Tabletten, den abscheulichsten Tee und muckst weder bei heißen noch bei kalten Umschlägen. Und wenn er geht, sieht man ihm nach, entspannt, glücklich, bis ins Innerste erfüllt von dem Bewußtsein, daß nun alles gut wird, daß eine wunderschöne Nacht kommt in einem kühlen Bett, mit süßem Schlaf, traumlos, leicht ...
Damals, als im Doktorhaus das fünfte Kind zur Welt kam, die kleine Adelheid, war Gundel Wittich gerade dreizehn Jahre alt. Sie vergaß deshalb das Datum nie: am Sonntag hatte sie selbst Geburtstag gehabt, und am Montag erzählte es ihr Clarissa, als sie aus der Schule kam. Es war ein kalter Tag Ende Januar, und es schneite seit dem Morgen unaufhörlich. Gundel stand mit der Schulmappe unterm Arm in der Küchentür; sie hatte ihren dunkelblauen Anorak an und zog gedankenlos den Reißverschluß rauf und runter, während sie Clarissa zuhörte.
„Na, freust du dich nicht? Das ist doch wie eine kleine Schwester für dich“, sagte Clarissa, während sie sich die Hände abspülte, „der Frau Doktor geht’s gut, du kannst gleich rüber und das Kleine ansehen. Wir essen sowieso noch nicht.“
„Ach“, sagte Gundel nur und klopfte den Schnee von ihrer rechten Hacke. Er saß fest, sie hatte eine Weile damit zu tun. Erst nach einer kleinen Zeit sah Clarissa Gundels Augen — sie waren voll zurückgedrängter Tränen.
„Nanu?“
Alles andere hätte Clarissa eher erwartet.
„Hattest du dir etwa einen kleinen Jungen eingebildet?“
Gundel schüttelte stumm den Kopf. Gleich darauf sprangen die ersten Tropfen über den dunklen Stoff.
Clarissa sah es und seufzte. Es dauerte sie, wie das Kind da stand und mit dem Weinen kämpfte, wortlos wie ein Erwachsener. So vielen Kinderkummer kann man nicht begreifen, er ist eben da, und niemand vermag zu helfen. Clarissa versuchte es gar nicht. Sie wartete eine Weile, dann sagte sie wie nebenbei:
„Ich hab noch ein paar Eier da. Willst du ein Omelett?“
So war das immer gewesen, Gundels ganze Kindheit lang. Kandiszucker für kleinen, Omelett für großen Kummer. Clarissa war gutmütig und geduldig. Und wenn sie Gundel einmal los sein wollte, schob sie den kleinen Quälgeist einfach ab ins Nebenhaus, zu Doktors. Dort gab es Kinder aller Sorten, das älteste fast genauso alt wie Gundel, und die Frau Doktor hatte in den vierzehn Jahren, die man hier Haus an Haus wohnte, nicht ein einziges Mal gesagt, es wäre zuviel. Gundel gehörte ihr fast noch mehr als ihre eigenen, denn eigene Kinder lieben die Mutter zwar auch, aber sie wissen es nicht. Ihnen ist die Mutter so selbstverständlich wie der Pflanze das Land, in dem sie steht. Gundel aber, die mutterlose, wußte, daß sie Frau Doktor Eckart liebte. Nicht nur die Frau Doktor, o nein!
Jetzt, als Clarissa von dem Omelett sprach, brach bei Gundel der Staudamm. Sie warf die Schulmappe auf den Tisch und lief hinauf in ihr Zimmer. Clarissa hörte in dem stillen Haus ganz deutlich, wie sie sich auf ihr Bett warf. Das alte Faktotum hielt inne, legte das Ei aus der Hand und ging nach „nebenan“.
Die beiden Häuser lagen nebeneinander an der Schmalseite des kleinen Marktplatzes und füllten sie gerade aus. Sehr ähnlich waren sie einander nicht: das eine ernst, grau und in jener Zeit erbaut, als man „Villen“ mit hohen schmalen Fenstern und Glaskäfige als Veranden liebte. Das Doktorhaus war jünger, nicht so jung, wie es gewesen wäre, wenn es der Doktor selbst gebaut hätte, also keineswegs modern, aber es war schon im Äußeren so, wie es sich innen zeigte — schrecklich nett und gemütlich. Das rote Ziegeldach erinnerte Gundel immer an eine Pudelmütze, und die Fenster zwischen den zurückgeschlagenen Läden sahen aus wie lauter vergnügte Augen. Sie waren breit und lagen so niedrig, daß man von der Straße aus hineinsehen konnte.
Das Gemeinsame der beiden Häuser war die Mauer, die sie verband. Sie lief von der Südwestecke des Amtsrichterhauses zur Südostecke des Doktorhauses, und dahinter begannen die beiden Gärten. Vorgärten gab es nicht, die Häuser lagen direkt am Markt. Vor dem Doktorhaus aber stand eine breite Kastanie, beschattete die Eingangstür mit den drei grauen, flachgetretenen Sandsteinstufen und warf im Herbst ihr blankbraunes Spielzeug auf den Bürgersteig. Manchmal sagte der Doktor, er werde den Baum umschlagen lassen, er gebe zuviel Schatten. Dann erhob sich ein vielstimmiger, wütender Protest, den er nur beabsichtigt hatte und über den er sich totlachen wollte.
Ach ja, drüben wurde gelacht, jeden Tag — hier aber war es still, und Gundel weinte. Clarissa klopfte und trat ein.
Der Doktor war noch da. Er hatte soeben fortfahren wollen und war schon im Mantel. Er war eilig, fröhlich und hilfsbereit, er war so reizend und gütig, wie eben nur er sein konnte. Und er kam sofort mit, als Clarissa ihn bat.
Es gibt dringende und dringendste Fälle in der Praxis eines Kleinstadtarztes, und Dr. Eckart erkannte sofort, daß hier ein sehr dringender vorlag. Er setzte sich auf den Rand des Bettes, auf das Gundel sich geworfen hatte, und stand erst wieder auf, als alles wieder gut war und Gundel strahlte wie ein Himmelfahrtstag nach dem üblichen Gewitter. Damals sah er zum ersten Mal, wie hübsch Gundel war oder zu werden versprach, trotz aller kindlichen Verheultheit. Entzückend sah sie aus, und recht hatte sie auch! Drüben fünf Kinder und hier ein einziges, er konnte ihr ihren Kummer so gut nachfühlen!
So tat er das hier einzig Richtige: er versuchte nicht, Gundel ihre Betrübnis auszureden, sondern bestätigte sie. Ja, es sei ein Jammer, ohne Geschwister aufzuwachsen, aber wo keine Mutter mehr sei, könnten eben auch keine Geschwister mehr kommen. Und ein tägliches Durch-den-Zaun-Schlüpfen ersetze niemals ein richtiges Zuhause. Gundel schluchzte dankbar auf — ja, er verstand sie! Vater hätte das nie zugegeben.
Wie auf ein Stichwort hin trat in diesem Augenblick ihr Vater ein. Amtsrichter Wittich war ein stiller, ein wenig zarter Mann, dünnblütig, sehr zurückhaltend. Immer war es, als fürchte er, in das Leben anderer störend einzugreifen. Auch jetzt schloß er die Tür und ging wieder hinunter in sein Arbeitszimmer. Da saß er regungslos und stand auch nicht auf, als er nach einiger Zeit den Doktor und Gundel die Treppe hinuntergehen und das Haus verlassen hörte.
Der Doktor hatte instinktiv den richtigen Trost gefunden. Wenn Gundel nun schon keine Geschwister habe, wie wäre es, wenn sie eines Tages ganz zu ihnen zöge, hinüber ins Doktorhaus? Als Haustochter oder Kindermädchen — wie sie es am liebsten nennen wollte. Marina würde ihrer Mutter sowieso nie eine Stütze sein, das wüßte Gundel auch, Marina habe sich auch gar nicht sehr über das Schwesterchen gefreut. Gundel schlug die verschwollenen Augen zu ihrem alten Freund auf.
„Wann?“ fragte sie nur.
„Heute nicht und morgen auch noch nicht“, sagte er herzlich. Das war auch eine solch unvergleichliche Eigenschaft an ihm: er konnte, ohne einen zu verletzen, „nein“ sagen, wo es nötig war. Man empfand das dann gar nicht als Ablehnung, auch Gundel in diesem Fall nicht. „Wenn du mit der Schule fertig bist, dann. Willst du, ja?“
„Ja“, seufzte Gundel und lächelte erlöst. „In einem Jahr?“
„Nein, in einem Jahr noch nicht“, sagte der Doktor freundlich. „Jetzt bist du dreizehn, nicht wahr? Bis sechzehn mußt du schon in der Schule bleiben, allein deshalb, damit du unsern Kleinen dann auch bei den Schularbeiten helfen kannst. Dieter tut das nie. Sind also noch drei Jahre. Mit sechzehn kannst du dann auch schon tüchtig zupakken, und das wird nötig sein. Denke nicht, daß du es bei uns leicht bekommst!“
„Noch drei Jahre? Dann ist es aber schon wieder so groß und gar nicht mehr süß!“ schnupfte Gundel, nicht trotzig, aber bei allem guten Willen doch enttäuscht. Der Doktor verstand sie sofort.
„Dann ist es drei, und in dem Alter machen sie die meisten Dummheiten, das siehst du an Erdmuthe“, sagte er sanft. „Und dann können wir doch gut wieder ein ganz Kleines haben, was meinst du? Dieter ist jetzt dreizehn, so alt wie du, Marina elf, Hans Henning acht, Erdmuthe noch nicht vier — warum soll nun in drei Jahren nicht wieder eins da sein, extra und ausgerechnet für dich?“
„Ja?“ fragte Gundel gläubig und beglückt. Er strich ihr gerührt über das Gesicht.
„ ‚Ja‘ kann man da nicht mit Bestimmtheit sagen, aber doch ‚vielleicht‘ oder sogar ‚sicher‘. Ich habe mir immer ein halbes Dutzend Kinder gewünscht, und fünf ist doch eine Zahl ohne rechtes Gleichgewicht, eine ausgesprochene Übergangszahl. Finde ich wenigstens. Du auch? Na also.“
„O Onkel Doktor!“ Gundel hatte sich aufgesetzt und sah ihn an, und er vergaß diesen feuchtstrahlenden Blick nie. Viel später geschah ihm etwas Ähnliches, und da dachte er an diese Stunde zurück.
Gundel warf beide Arme um seinen Hals und verbarg einen Augenblick lang das Gesicht an seiner Brust. Es war eine zugleich kindliche und heftige Bewegung, und sie rührte den Doktor sehr. Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie fest an sich. Dann löste sie sich von ihm, schnupfte auf und suchte nach einem Taschentuch. Er gab ihr seins.
„Danke“, sagte sie und schnaubte laut und abschließend. Er strich ihr behutsam übers Haar.
„Kleine Gundel. So, und nun kommst du schnell mit hinüber und siehst es dir an. Ein Mordskerl, das Mädel, dick und rund, und sooo ein Guschel —“ er stülpte seinen dicken und keineswegs schönen, ein wenig aufgeworfenen Mund mit dem kleinen dunklen Bärtchen darüber vor und formte eine wahre Karpfenschnauze daraus. Gundel lachte. Es klang hell und tönend. Sie gingen hinüber ins Doktorhaus.
Er hatte sie, warm und vertraut, untergefaßt — sie ging ihm bis zur Schulter — und schob sie ins Schlafzimmer.
„Hier bring ich dir unser zukünftiges Kindermädel, soeben engagiert“, meldete er und kam, obwohl die Zeit nun wirklich drängte, noch einmal mit herein. Das war auch eine unvergleichliche Art von ihm: nie war es so eilig, daß er nicht an anderer Stelle, wo es ihm nötig schien, ein paar Minuten zugeben konnte. Zum Schwatzen, zum Aufmuntern, zum Trösten ...
Frau Pletsch, die Hebamme, war noch da, sie sah ein wenig drohend auf, als sie Gundel gewahrte, aber die Frau Doktor lachte sie versöhnend an.
„Gundel darf herein, nicht wahr? Komm, sieh es dir an! Hattest du bis jetzt Schule? Ich hab dich längst erwartet.“ Und Kindermädel willst du bei uns werden? Wie schön! Frau Pletsch, Gundel stört nie ...“
Die Pletschen, rund und pomadig, hatte gerade ein frisches Handtuch aus dem Schrank genommen und legte es der Frau Doktor aufs Bett.
„Ich komme am Abend nochmal herein. Ist sonst noch etwas? Nein? Na, dann — und schön schlafen!“
„Danke, das werde ich.“
„Darf ich es sehen?“ fragte Gundel und kam näher. Die Doktorin winkte sie heran.
„Natürlich. Da drinnen liegt es. Ist es nicht süß?“
„Ja, sehr!“ Gundel guckte in den altmodischen Stubenwagen. „Aber so klein! Waren die andern auch so klein?“
„Klein? Groß ist es, achteinhalb, unser schwerstes! Und sieh dir mal den Schopf an!“
Gundel nickte. Der Schopf, schwarz und gesträubt, wirkte überwältigend. Sie stand und betrachtete das kleine Wunder.
„Er meint, Mädel sind mit drei Jahren noch nicht frech; aber sie brauchen jemanden, der auf sie aufpaßt. Weil ich es doch dann versorge“, sagte sie und setzte sich seitlich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Es klang, als sei es schon Tatsache, weil „er“ es gesagt hatte.
Frau Doktor Eckart lächelte gerührt.
„Ach Gundel, ich wünschte, es wäre schon soweit und du bei uns, für ganz.“
„Ich auch“, sagte Gundel aus tiefstem Herzen. „Es ist bloß noch so lange bis dahin. Aber es ist besser, wegen der Schule. Und auch sonst.“
„Ich muß endlich los, höchste Eisenbahn“, sagte der Doktor, „die Garage steht eine Ewigkeit offen, das Biest, der Wagen wird im ganzen Leben nicht mehr anspringen.“
Er klapste Gundel schließlich auf die Wange, winkte seiner Frau zu und schlug die Tür hinter sich ins Schloß.
Gundel blieb sitzen, getröstet und wieder ganz im Gleichgewicht. Wenn der Doktor etwas sagte, hatte das seine Richtigkeit. Ihr war, als gäbe es nichts auf der Welt, was er nicht mit seinen großen, warmen Händen und seinen freundlichen Worten wieder zurechtrücken könnte.
Dieses Gefühl hatten sie alle im Doktorhaus und die meisten Leute der kleinen Stadt dazu. Wenn man nachts die Garagentür scheppern hörte, dann drehte man sich im Halbschlaf um und dachte: Jetzt fährt er wieder zu einem Kranken, wer mag das sein? Aber in diesem Gedanken war gleichermaßen Beruhigung wie bange Frage: Der Doktor war ja unterwegs, also würde es schon gutgehen.
Sie holten ihn, ihren Doktor — mitunter zu spät, mitunter unnötigerweise, dann aber nahmen sie sein Schelten mit gesenktem Kopf entgegen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, wahrhaftig, er polterte und schalt unmißverständlich, aber es verging auch kein Krankenbesuch, da nicht einmal gelächelt oder auch herzhaft gelacht wurde. Der Doktor lachte so gern. Er erzählte tolle und unmögliche Geschichten, die er alle selbst erlebt haben wollte, und wenn derjenige, der dabei war, als sie sich zutrugen, sie hörte, dann erkannte er sie oft nicht wieder. Das aber nahm dem Doktor keiner übel, dazu waren die Geschichten zu drollig und der Doktor zu nett.
„Da hat er wieder mal eine gute Idee gehabt, Gundel“, sagte Frau Eckart jetzt, als sie allein waren, und lächelte in das junge Gesicht hinein. Sie sah die Tränenspuren darin und das glückliche Strahlen, und sie fühlte, daß hier eine Erschütterung stattgefunden hatte, die etwas Grundsätzliches berührte. „Dann gehörst du endlich ganz zu uns. Herrlich, ja? Ich jedenfalls freue mich.
„Ich auch“, seufzte Gundel. Und dann saßen sie und machten Pläne wie zwei Schulfreundinnen und waren glücklich.
Frau Eckart war ein lebhafter und vielseitig interessierter Mensch, eine gewissenhafte Ärztin und eine herzliche und warme Mutter. Keine Glucke, eher ein patenter Kamerad ihrer Kinder, dem diese es nicht weiter übelnahmen, wenn sie einmal in der Hitze des Gefechts im unrechten Augenblick geohrfeigt wurden. Sehr oft kam es übrigens nicht vor, und es konnte geschehen, daß sie dann sogar daneben traf. Sie war klein und wendig, und Dieter mit seinen dreizehn Jahren hatte sie bereits überwachsen. Wenigstens äußerlich; innerlich nicht, das mußte selbst er in seiner männlichen Überlegenheit zugeben. So war es vor einiger Zeit passiert, daß er eines Tages mit dem einzigen intakten Fahrrad der Familie ausgerückt war, entgegen dem ausdrücklichen Verbot der Mutter. Der Doktor war mit dem Wagen unterwegs, und es war an eine Verfolgung nicht zu denken. So glaubte der Herr Sohn. Seine Mutter jedoch dachte anders, sie setzte sich ohne Zögern auf das Moped eines Patienten und nahm die Verfolgung auf, die auch erfolgreich endete, obwohl sie noch nie im Sattel eines solchen Fahrzeugs gesessen hatte.
„Dir werd’ ich’s zeigen!“ sagte sie hinterher befriedigt. „Übrigens gar nicht so schlecht, so ein Zweiradauto. Auf diese Weise konnte ich das mal ausprobieren.“
So war Frau Eckart. Und sie paßte in ihrer kleinen Lebhaftigkeit herrlich zu dem großen, dicken, klugen und vergnügten Mann. Gundel wußte nicht, wen von den beiden sie lieber mochte. Ach doch, sie wußte es schon, seit ihrem dreizehnten Geburtstag wußte sie es, aber sie schwieg darüber mit derselben Beharrlichkeit, mit der sie über ihren gemeinsamen Zukunftsplan in bezug auf das geliebte Doktorhaus ihrem Vater gegenüber schwieg. —
Es gibt Wünsche, die sich erfüllen. Sehr viele tun es nicht, sie nützen sich im Lauf der Jahre ab und werden blasser, sie vergehen, und man selbst kann sich nicht mehr begreifen, jemals so gewünscht zu haben. Wollte man wirklich einmal Kunstreiter oder Schiffsjunge werden? Aber Kindermädel im Doktorhaus, das war ein Wunsch, der mit einem wuchs, nicht mehr wegzudenken war, auch wenn Vater tausendmal dagegen sprach, als man es ihm endlich eröffnete.
Warum eigentlich? Sein Argument, seine Tochter sei doch in der Schule so gut, war natürlich als solches nicht anzuerkennen. Warum sollte jemand, der in der Schule gut mitkam, sich nicht für den Haushalt und für die Kindererziehung eignen? Gundel hielt das dem Vater unter heißen Tränen vor und schloß — leider — mit einem:
„Du hast es mir doch versprochen!“
Das stimmte nicht im wörtlichen, kaum im übertragenen Sinne. Amtsrichter Wittich hatte zwar von diesem Plan seiner Tochter damals gehört und nicht ernstlich widersprochen, aber auch nichts ver sprochen. Und damit, daß Gundel ihm dies vorwarf, vergrämte sie ihn vollends. Korrekt und bis auf den Grund seiner Seele redlich, wie er war, ließ er sich ein gebrochenes Versprechen nicht vorwerfen. So wies er Gundel ab, und zwar ziemlich barsch.
Gundel reagierte, wie man das mit sechzehn Jahren tut, wenn einem der allergrößte, der Herzenswunsch versagt wird: sie tobte, weinte sich die Augen dick, schlief acht Stunden tief und gesund und stand auf, gewillt, um keinen Preis der Welt nachzugeben. Darum also mußte Verstärkung heran. Dies alles, auch das Toben, geschah heimlich, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und weit außer Hörweite ihres Vaters.
Amtsrichter Wittich, sicher genauso erregt wie seine Tochter, tobte nicht, aber er schlief auch nicht. Er ging die ganze Nacht auf und ab, dachte an seine Frau, die er sehr geliebt hatte, dachte an die Söhne und Töchter, die ihm durch ihren frühen Tod versagt geblieben waren. Er dachte an sein einsames Leben, von nun an doppelt einsam, wenn Gundel ging. Als ein trüber und regnerischer Morgen heraufdämmerte, ging er hinüber, wusch und rasierte sich und setzte sich dann an seinen einsamen Frühstückstisch. Dort saß er, ohne sich zu rühren.
Er dachte an den Frühstückstisch im Nachbarhaus. Das behaglich warme Zimmer, das muntere Gesicht der Doktorin, und ringsum die frischen, lebhaften und vergnügten Kinder. Reich war Dr. Eckart, ein Kind immer begabter, gesünder und vielversprechender als das andere, während er, er!, nichts als Ärger mit seiner Einzigen hatte, um die er sich nun seit sechzehn Jahren sorgte.
Während er so saß und bereits ein inniges Mitleid mit sich selbst empfand, sah er durch das Seitenfenster, daß sich drüben die Haustür öffnete und der Doktor heraustrat. Er blickte mißbilligend zum Himmel hinauf, schüttelte den Kopf und schickte sich dann an, vorsichtig um eine gewaltige Pfütze herumzuturnen, Kurs auf das Nachbarhaus.
„Ah, Morgen, Walter“, grüßte er, hereintretend, den Freund, schüttelte ihm die Hand und ließ sich auf einen der unbequemen, gradlehnigen Stühle fallen, die um den Tisch standen wie trostlose Ausrufungszeichen.
Die beiden Herren waren befreundet, so eng und so lose, wie man das in einer Kleinstadt ist, wenn man Haus an Haus wohnt. Die Möglichkeit, sich stets zu sehen, bringt sehr oft mit sich, daß man sich praktisch das ganze Jahr über nicht sieht. Der Doktor sagte das. Und er schien in grimmiger Laune zu sein, denn er räsonierte und brummte und wurde erst etwas aufgehellt, als Clarissa ihm eine Tasse brachte und er ihren berühmt guten Kaffee roch. Er begann, umsichtig zuzulangen.
„Diese Frühstücke en famille drüben, gräßlich“, knurrte er, „niemals hat man Ruhe dabei. Alles zerrt an einem. Die Frau will wissen, was gekocht werden soll und hat immer gerade etwas vor, wenn man sie in der Praxis braucht — die Jungen suchen den gemeinsamen Nenner — mein Gott, den haben wir doch in zahllosen Rechenstunden auch schon gesucht, ist der denn immer noch nicht gefunden? Man müßte mal eine Eingabe ans Ministerium machen, es ist ja eine Schande im Volk der Dichter, Denker und Erfinder.“
Wittich lächelte dünn.
„Ich finde Frühstücke ohne Familie auch nicht hinreißend.“
„Gewiß. Aber man kommt doch zu sich selbst. Sieh mal, ohne Spaß, ich war diese Nacht wieder auswärts. Vorher kaum geschlafen, hinterher überhaupt nicht. Sooo ein Brummschädel. Und dann früh tausend Fragen, die einen den Deubel interessieren ...“
Wittich stellte eine geöffnete Zigarrenkiste auf den Tisch und ging zum Büfett hinüber, kam mit einer Flasche altem Kognak zurück. Der Doktor blinzelte verliebt nach dem Etikett, schon wieder vergnügt, und wählte mit Genuß seine Zigarre.
„Danke. Dabei soll ich nicht. Der Doktor, dieser Trottel, hat mir’s verboten, jedenfalls vormittags ...“ Er paffte.
„Ja, und Marina, dieses Frauenzimmer —, an nichts hat sie Interesse als am Schönanziehen, so jung sie ist. Haushalt und was dazu gehört ist für sie das rote Tuch, und als Älteste könnte sie doch wahrhaftig —“ und so weiter. Ehe Wittich es sich versah, war der Doktor mitten in einer begeisterten Schilderung Gundels, die genauso vernünftig, weiblich und ordentlich sei wie Marina faul, bockig und liederlich. Wittich merkte natürlich, wie der Hase lief.
„Du bist rührend. Kommst am frühen Morgen daher und beschimpfst deine ganze Familie, nur um meiner Tochter den Willen zu tun.“
„Ja“, sagte der Doktor ernsthaft und sah den andern voll an, „so ist es. Ich möchte dich bitten, mir Gundel hinüber zu geben. Sie wünscht es sich seit Jahren, und wir alle freuen uns auf sie. Vor allem aber meine Frau. Sie mutet sich ein bißchen viel zu in letzter Zeit, weißt du.“
Wittich schwieg nachdenklich. Er füllte die kleinen Gläser nach, und der Doktor drehte an seiner Zigarre.
„Es liegt mir fern, dich zu überrumpeln. Aber ich wäre dir dankbar“, fuhr der Doktor fort. „Gundel ist — vielleicht — die einzige, die Einfluß auf Marina haben könnte. Marina wird uns noch manche Nuß zu knacken geben, fürchte ich. Ach, und Gundel ist so einfach und herzlich, sie liebt Erdmuthe und vergöttert die Kleine. Und bei ihrem Aussehen heiratet sie ja doch, da ist es vernünftiger, man läßt sie dies lernen und nicht studieren, was meinst du? Es studieren doch wahrhaftig schon viel zu viele —“
Der Amtsrichter schwieg. Er schwieg lange. Es war klar, daß der Doktor dies alles nicht nur deshalb sagte, weil Gundel ihm etwas vorgeheult hatte. Wahrscheinlich hatte er recht und er, Wittich, unrecht. Schließlich konnte das Mädel ja auch einen praktischen Beruf ergreifen, nachdem es ein Jahr im Doktorhaus gewesen war, Kindergärtnerin werden oder in die Jugendpflege. Gut also, er gab nach. Sie trennten sich in herzlichem Einvernehmen.
„Wir wollen doch wieder Musik machen“, sagte der Doktor und sah in den grauen Himmel hinauf, während er die Hand des Freundes hielt, „auch im Sommer. Keine Zeit verlieren. Das Leben ist schon kurz genug — nun sind die Töchter bald flügge ...“
Er wußte, wie gern Wittich immer zum Streichquartett gekommen war, das nun seit einigen Jahren ruhte. Jetzt leuchtete sein Gesicht auf.
„Ach ja, Musik. Das wäre schön“, sagte er sehnsüchtig. Dadurch kam er auch ein wenig in die Familie hinein, die nun sein Kind aufnehmen würde. Die Musikabende sollten immer reihum gehen, fanden aber praktisch doch fast immer im Doktorhaus statt. Der Doktor, selbst wenig musikalisch und auch nicht ausübend, war dennoch derjenige, der immer wieder anregte und einlud. Wittich nickte ihm dankbar zu.
Er dachte an Mozart und Haydn, als er hinaufging. Es tat ihm wohl. Am Abend rief er Gundel zu sich und sagte ihr, daß er sich entschlossen habe, ihren Wunsch zu erfüllen. Ein Jahr Haushalt bei Eckarts, dann würde man weitersehen. Gundel sprang nicht hoch und tanzte nicht umher, sie wurde nur dunkelrot und stotterte ein paar Worte, die ihre Freude nur mäßig ausdrückten. Wittich, enttäuscht, aber ähnlich gehemmt wie sie, streichelte ihre Hand. Sie sollte glücklich sein, wenn er es schon nicht geworden war im Leben, dann wenigstens sie, seine Einzige.
Gundel war glücklich. Sie war es auf ihre eigene, stille, dennoch spürbare Art. Es war Frühling, April — Sonne und Wolkenschatten wechselten über dem Marktplatz der kleinen Stadt, und in allen Vasen standen Himmelschlüssel. Gundel packte Wäsche, Kleider und Bücher, Bilder und Schreibpapier in einen Wäschekorb, Erdmuthe Eckart half ihr dabei. Clarissa hörte die beiden fröhlich lachen und schwatzen.
Einpacken war schön, aber erst auspacken, und das im Doktorhaus!
„Gundel hat einen Frühlingsschwips“, sagte Frau Eckart lachend zu ihrem Mann. Der nickte befriedigt. Das ganze Haus hatte einen, er selbst an der Spitze. Ob man nicht zu Ehren der Haustochter eine Maibowle ansetzte?
„Maibowle! Sieh bitte mal aus dem Fenster“, sagte seine Frau sanft. Grade stürzte der Regen, schwemmte über die Scheiben und versuchte nicht ohne Erfolg, durch die altmodischen Fensterrahmen zu dringen. Frau Eckart lief nach einem Lappen.
„Jämmerliche Bruchbude“, knurrte der Doktor, „wenn wir gleich anfangs gebaut hätten ...“
„Du mit deinen Sirenengesängen! Hätten wir bauen sollen, Gundel, ja? Und woanders hinziehen?“
„Du hast uns gerade noch gefehlt“, brummte Dieter, als er Gundel auf dem Flur begegnete. Er war grade so alt wie sie, aber einen Kopf größer und genau in dem Stadium, in dem Jungen alle Arten von Mädels unausstehlich finden. In schöner Konsequenz faßte er also weder mit an, um den Korb zu tragen, mit dem Gundel und Erdmuthe sich abquälten, noch öffnete er ihnen die Tür. Der Doktor sah es mit flüchtiger Befriedigung, gab aber seinem Erstgeborenen trotzdem einen Katzenkopf.
„Rüpel! Aus dir wird nie ein feiner Mann werden“, sagte er und holte nach, was sein Sohn versäumt hatte. Einen Augenblick stand er in dem Zimmer, das nun Gundels sein würde. Die Fenster waren, nach dem rasch verflossenen Frühlingsregen, schon wieder offen, die Gardinen blähten sich, und ringsum lag bunter Krimskrams auf Kommoden und Stühlen. Draußen leuchtete schon wieder kräftig goldenes Sonnenlicht. Dazu Gundels stillstrahlendes Gesicht ...
„Du hast uns wirklich grade noch gefehlt, Kindel“, sagte der Doktor und lächelte ihr zu. Sein häßliches Gesicht bekam dadurch etwas so Gewinnendes, Warmes — er sah dann eigentlich schön aus. Seltsam, daß es so etwas gab. „Dieter hat es genau getroffen, der Ruppsack. Na toi toi toi, daß du es nie bereuen mögest!“
Das war so eine Art, ernst zu reden. Gundel verstand ihn genau. Man bekam nie Gänsehaut dabei wie bei anderen Erwachsenen, wenn sie einem so etwas sagten.
Gundel lebte diese ersten Wochen und Monate im Doktorhaus wie in einem Traum. Diese etwas abgenützte Redensart traf hier haargenau das Richtige. Jeden einzigen Morgen, an dem sie aufwachte und die hellgemusterte Tapete sah, auf der die Sonnenflecken tanzten, dann das Holzbettchen mit Heidels rotgeschlafenem Gesicht hinter den weißen Rundstäben, jeden Morgen durchfuhr es sie wieder mit herzweitendem Glück: Gibt es denn so etwas! Ist es denn wahr! Bist du wirklich im geliebten Doktorhaus!
Dabei hatte sie es im Grunde gar nicht leicht. Frau Eckart besaß viele gute und noch mehr entzückende Eigenschaften, eine aber fehlte ihr so absolut wie einem glatzköpfigen Mann die Haare: Sie war keine Hausfrau. Es war seltsam bei einer so gescheiten und patenten Frau, aber Tatsache. Bisher nur auf mehr oder weniger fleißige und willige Hausmädchen angewiesen, überantwortete sie jetzt Gundel das Schlachtfeld mit einer entwaffnenden Beglücktheit.
„Ich bin so froh, daß du da bist“, sagte sie immer wieder, zutiefst überzeugt, daß Gundel sich einsetzen würde mit ihrer ganzen jungen Kraft — und in völliger Unkenntnis der Sachlage, wie schwierig das für Gundel war. Denn sie war jung und besaß an Kenntnissen nur die, die Clarissa ihr im Laufe der Jahre beigebracht hatte. Das waren im Grunde nicht wenige. Und in den letzten Jahren hatte Gundel sich ganz bewußt für vieles im Haushalt interessiert, was sie „später“ brauchen würde. Sie hatte backen gelernt, verstand mit der Nähmaschine umzugehen und strickte leidenschaftlich gern. Trotzdem gab es zunächst Schwierigkeiten am laufenden Band.
Die beiden Hausmädchen — beide hießen zufällig Liesbeth — waren von dem Zuzug der Haustochter nicht begeistert und hielten zusammen — gegen Gundel. Die eine wollte sie nicht in ihren Küchenbereich eindringen lassen, bis auf die Pudelarbeiten sozusagen, die sie ihr zuschob, um sie selbst loszusein, und die andere nicht ins Kinderzimmer. Gundel mußte sich durchsetzen. Sie fing an einer Stelle an.
Frau Eckart wollte ihre Kinder auch alltags gern hell und frisch angezogen sehen, was bisher nie möglich gewesen war. Jetzt wusch und bügelte Gundel und erreichte, daß es Frau Eckart und nicht Liesbeth war, die bestimmte, was die Kinder anzogen. Auch des Gartens nahm sich Gundel an. Er war ziemlich verwildert, aber wenigstens ein Teil sollte genützt werden. Vom Garten verstand Clarissa eine Menge, und Gundel hatte ihr manches abgeguckt. Die Hauptsache aber waren und blieben die Kinder.
Mit Marina hatte sie wenig Ärger, Marina ging ruhig und für sich, ein klein wenig hochmütig den anderen gegenüber, durch ihren Tag. Sie war sehr hübsch, aber mehr auf eine erwachsene Art, mit klarer Haut und deutlich gezeichneten Augenbrauen. Hans Henning und Erdmuthe dagegen sprühten vor Leben, und Heidel ließ sich gern von ihrer Art anstecken, besonders morgens. Wenn Gundel früh, verführt durch die Stille im Kinderzimmer, erst auf einen Sprung in den Garten lief, um die Schnecken vom Salat zu lesen, dann war das Kinderzimmer meist ein Schlachtfeld, wenn sie wieder heraufkam, voller umhergestreuter Kleidungsstücke und als Wurfgeschoß benützter Kissen. Und es gab erbitterte Gefechte um Strümpfe und Unterwäsche. Das gleiche Theater wiederholte sich am Frühstückstisch. Liesbeth brachte die Milch immer kochend heiß, so daß sie aus den Zinnbechern wirklich nicht zu trinken war, und Gundel mußte trösten und beschwichtigen. Manchmal war sie selbst den Tränen nahe. Einmal kam der Doktor dazu, als sie ganz verzweifelt auf Hans Henning einsprach. Er brüllte, weil er nicht mehr frühstücken wollte. Da er aber bis mittags um eins Schule hatte, glaubte Gundel es nicht verantworten zu können, daß er ohne etwas im Leibe loslief.
„Was gibt’s denn hier?“ fragte der Doktor gutgelaunt. „Wer wird denn hier geschlachtet? Gundel, wenn du mir eines der Kinder etwa am Spieß braten willst ...!“
„Ach, es ist nur — Hans Henning —“ Gundel schluchzte nun auch. „Er muß doch etwas essen, ich ...“
Sie hatte den Becher mit der Milch in der Hand gehalten und von Erdmuthe, die nach ihrer Schultasche rannte, einen Stoß bekommen, so daß ihr die heiße Milch über den Arm floß. Natürlich weinte sie nicht deshalb, es war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
„Na, so geht’s bestimmt nicht.“ Der Doktor nahm ihren Arm in seine beiden Hände. „Nun kommst du erstmal mit mir ins Sprechzimmer und erzählst mir alles in Ruhe. Deshalb heißt das nämlich Sprechzimmer. Der Weinkeller ist unten, verwechsele das nicht.“
Gundel mußte lachen, mitten durch die Tränen.
„Ich wein ja gar nicht mehr.“
Als sie auf dem Stuhl neben seinem Schreibtisch saß und er ihr mit behutsamen Griffen einen Verband um den Arm legte, schimmernd weißen Mull, gegen den die Haut noch brauner und glatter aussah, mußte sie mit ihren Schwierigkeiten herausrücken. Sie tat es mit vor Empörung ganz tiefer Stimme, aber gleichsam schon wieder halb getröstet. Denn daß jetzt Abhilfe geschaffen würde, war ihr klar. Der Doktor runzelte nachdenklich die Stirne.
„Also die kleine Liesbeth ist der Stein des Anstoßes, das Rabenaas sozusagen“, meinte er freundlich. „Wie würdest du denn das Ganze einrichten, damit der Morgen geräuschloser und ohne Kämpfe verläuft?“
„Ich würde jedem Kind einen eigenen Kleiderbügel übers Bett hängen, einen bunten mit ausgesägten Bildern. Es gibt wunderschöne“, sagte Gundel eifrig. „Daran hängt jedes am Abend seine Sachen, und am Morgen gibt es keinen Streit. Und zum Frühstück würde ich Haferflocken kochen, schon am Abend vorher und sie früh nur wärmen, dann würde sich niemand verbrennen. Sie sollten mal sehen, wie glatt dann alles geht!“
„Schön, von nun an tust du das also“, bestimmte der Doktor behaglich. „Ich sag es meiner Frau. Sie beschäftigt dann die beiden Liesbeths anderweit um diese Zeit.“ Er sah Gundel lächelnd an. Ihr Gesicht mit dem glatt nach hinten gestrichenen Haar war so kindlich ernsthaft; es rührte und belustigte ihn zugleich. Ihre Nase war ein bißchen zu kurz, um schön zu sein, aber der Mund war groß, geschwungen und von einer wundervoll frischen Farbe, ordentlich himbeerrot — — schön war er. Sechzehn Jahre — der Doktor wußte, welch ein Unsinn es ist, dies als das glücklichste Alter zu bezeichnen. Glücklich ist man nur, wenn man es weiß. Mit sechzehn weiß man es noch nicht. Aber ein solch vor Eifer glühendes, lachendes, weinendes sechzehnjähriges Menschenkind bei sich zu haben, es zu beobachten und unmerklich zu lenken, ihm Gelegenheit zu geben, sich zu entfalten — das war Glück. Er fühlte es warm in seiner Brust aufsteigen und holte unwillkürlich tief Atem.
„So. Hier hast du Geld.“ Er zog sein blankgewetztes, altmodisches Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche, wobei er sich ein wenig ächzend verrenkte, legte es ihr in die Hand und patschte mit seiner darauf. „Nun gehst du und kaufst — was war es gleich? Kleiderbügel und Haferflocken. Und ab morgen ist Ruhe beim Anziehen und Frühstücken. Und Hans Henning und Erdmuthe entschuldigst du gleich bei ihren Lehrern, daß sie heute zu spät kommen — womit? Mit einem Unfall im Haushalt.“ Er deutete auf den Verband um ihren Arm. „Verbrennung zweiten Grades, ich kann ein ärztliches Zeugnis ausstellen, wenn es nötig ist.“
Er klapste ihr anschließend auf die Backe. Ein wenig später sah er sie über den Marktplatz laufen, die beiden Kinder rechts und links an der Hand. Sie rannten, daß die Kleider der Mädel flatterten, und die drei Paar bloßen Beine wirbelten dahin. Er mußte an junge Hühner denken, an Küken, die auch nie langsam gehen, die immer rennen, als verpaßten sie etwas. So waren diese drei Kinder da draußen. So jung, daß sie noch rennen mußten, um nichts zu versäumen.
Später geht man langsamer. Man weiß, man kommt zurecht — zum Glück, zur Arbeit, zur Sorge, zum Tod. Er strich sich über die Augen, von außen nach innen. Heute abend gab es Musik, er hatte es durchgesetzt. Gundel hatte bereits dazu eingeladen, wie sie berichtete. Er freute sich über ihren Eifer.
Er freute sich jeden Morgen, wenn er sie sah, so frisch und eifrig und klar war sie, wie ein Trunk Quellwasser. Freilich, auch so durchsichtig. Geheimnisse konnte man in ihr kaum vermuten. Manche Männer fanden das vielleicht langweilig. Er fand es schön ...
In diesem Jahr kam es endlich zu der Reise, die Dr. Eckart längst geplant hatte, zu einer Reise von ihm mit seiner Frau allein. Niemand glaubte daran, als er es äußerte; er hatte diesen Plan jedes Jahr gehabt, und dann hielt ihn bald der eine, bald der andere Fall zurück. Er trennte sich nun einmal nicht gern von Patienten, auf die er eingespielt war. Und seine Frau hatte ihm dann meist selbst abgeraten. Sie habe ja den Garten, und der wäre grade jetzt so schön, und die Kleinen machten ihr gar nichts aus, wenn sie nur die Großen einmal loswürde.
Es war sicher Gundels Verdienst, daß diese Reise nun Tatsache wurde. Ihr konnte man die Kleinen anvertrauen, und die Großen machten sich selbständig. Dieter wollte mit einigen Kameraden eine Radtour unternehmen, Marina zur Großmutter reisen. Gleichzeitig bekam die große Liesbeth Urlaub, Clarissa versprach, jeden Tag nach dem Rechten zu sehen. Der Vertreter, den Dr. Eckart nehmen würde, sollte in der „Traube“ wohnen, dem ältesten Gasthof der Stadt, der auch am Markt, neben der Apotheke, lag. Er war ein Studienfreund des Doktors, wirkte aber viel älter als er, wie Gundel mit Genugtuung feststellte.
An einem heißen, flimmernd hellen Julitag stand also der Wagen vorm Doktorhaus, nicht, um auf Praxis zu fahren, sondern reisefertig blinkend. Auf dem Rücksitz türmte sich das Gepäck, obenauf Fototasche und „Fernrohr“, wie die Kinder sagten — es war aber nur ein Feldstecher — und ein dicker Knotenstock.
„Wozu nimmst du denn den mit?“ fragte Dieter und grinste frech-überlegen, „der braucht wohl auch mal Luftveränderung?“ Ein Stock zum Wandern, wie überaus altmodisch! Der Vater schwenkte das geschmähte Möbel.
„Um vorlaute Jungen zu vermöbeln!“ drohte er und rollte die Augen, „komm, ich probier es gleich mal aus. Übrigens, wann fährst du? Mir wäre das Herz leichter, wenn ich mein Haus ohne deine werte Gegenwart verließe.“