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Dieser aufsehenerregende Roman aus Ägypten erzählt davon, was es heißt, weder ankommen noch zurückkehren zu können. Ein Ägypter lebt als Immigrant in London. Er arbeitet in der Wohnraumbehörde eines für seinen hohen Anteil an Einwanderern bekannten Bezirks. Aber anstatt Menschen eine Bleibe zu vermitteln, verzweifelt er an der Bürokratie. Der Anruf eines Freundes verspricht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Ägypter soll helfen, einen jungen Syrer zu beerdigen, der nach seiner Flucht in London verstarb. Schmerzliche Erinnerungen werden wach , an die eigene Einwanderergeschichte, an die Kindheit als ausgegrenzter koptischer Christ in Kairo Auf dem Nullmeridian ist ein entlarvender, packender Roman über die Entrechteten unserer Zeit, deren S chicksal Shady Lewis mit diesem unvergesslichen Roman auf ebenso poetische wie eindrucksvolle Weise Gehör verschafft .
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Shady Lewis
Auf dem Nullmeridian
Roman
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Hoffmann und Campe
Gewidmet Ulrike, Maria und Wadea
»Lass die Toten ihre Toten begraben.« Lukas 9,60
Er war ganze zwanzig Jahre jünger als ich. Bis heute weiß ich nicht viel über ihn. Um genau zu sein, wusste ich bis vor drei Tagen nicht einmal, dass er auf dieser Welt existiert hatte. An sich ist es natürlich nichts Erstaunliches, jemanden nicht zu kennen, aber dass ich jetzt mal eben für seinen Leichnam zuständig war, hat mich schon ein wenig aus der Bahn geworfen. Zwar kann man ohne jede Vorwarnung sterben, selbst wenn man nur halb so alt ist wie ich, aber das allein rang mir nicht mehr Erschütterung ab, als wenn ich Morgen für Morgen aufs Neue in den Nachrichten höre, wie viele Menschen diesmal wieder irgendwo ums Leben gekommen sind. Was mich viel unheimlicher anmutete, war die Art und Weise, wie der junge Mann dahingegangen war. Es ist doch trostlos, wenn jemand in seinem Alter einfach so stirbt, im eigenen Zimmer, still im Bett liegend und ohne dass jemand anderes bei ihm weilt. Ein solches Lebensende passt nicht in unsere Zeit, in der wir – ob zum Glück oder leider, weiß ich nicht – den Tod sehr ernst nehmen. Wir sollen ihn als etwas absolut Böses sehen, als ein Mysterium, das eigentlich nicht passieren darf.
Der Arme hätte einen ehrenhafteren Tod sterben können, der es seinen Angehörigen erträglicher gemacht hätte. Zum Beispiel hätte er mit Freunden zusammen aus dem Leben scheiden können. Selbst wenn der gemeinsame Tod das einzig Verbindende zwischen ihnen gewesen wäre, hätte ihnen dies einen nicht zu unterschätzenden Trost geboten. Kollektives Sterben ist seit einiger Zeit ohnehin sehr in Mode. Oder er hätte vor Zeugen sterben können, und die Einzelheiten über seine letzten Momente, die sie immer wieder erzählt hätten, wären seinen Liebsten ein Trost gewesen oder hätten seiner Geschichte einen bittersüßen Beigeschmack beschert, sodass man sich intensiver und länger an ihn erinnert hätte. Oder er hätte vor seinem Tod noch in irgendeiner Weise leiden können, sodass sein Ableben das Ende dieses Leidens gewesen und sein Umfeld erlöst gewesen wäre. Im schlimmsten Fall wäre es immer noch besser gewesen, er wäre bei einem Verkehrsunfall oder etwas in der Art gestorben, sodass man über die Irrwege des Schicksals hätte sinnieren können. Selbst eine solche Sinnlosigkeit, auch wenn sie tödlich war, hätte einem doch noch eine Art Lektion bereitgehalten, und wer davon gehört hätte, hätte bestürzt um Luft gerungen und sich betroffen auf die Brust geschlagen.
Für den Verschiedenen hätte all das allerdings kaum einen Unterschied gemacht, denn bekanntlich leiden die Toten bei weitem nicht so sehr unter ihrem Tod wie die Nachgebliebenen. Diesen bleibt nur, die Trümmer aufzulesen, die durch den Tod des Verstorbenen verursacht wurden, und ansonsten weiterzuleben, als sei nichts gewesen. Dass sie dies schaffen, ist ein noch erstaunlicheres Wunder als eine Geburt und nicht weniger tragisch als der Tod selbst.
Jedenfalls wurde ich durch einen Zufall zu einem von einem besonderen Unglück heimgesuchten Menschen – einem, der sich mit der Unbill des Todes einer Person abgeben musste, die er nie gekannt hatte. Jedoch konnte ich außer mir selbst deswegen niemandem einen Vorwurf machen, denn an jenem Abend gegen Mitternacht, als Aiman mich aus Kairo angerufen hatte und alles seinen Anfang nahm, hätte ich sein Anliegen auch rundweg ablehnen können. Ich hätte einfach nein sagen oder mich mit einer kleinen Notlüge herausreden können, wie ich es öfter mache, seit ich in London lebe. Aber man sollte nicht unterschätzen, wie unangenehm es zuweilen sein kann, jemandem etwas abzuschlagen.
Denn das war das erste und einzige Mal, dass Aiman mich um etwas bat, ja genau genommen hatte mich, seit ich Ägypten verlassen hatte, vorher noch niemand aus Kairo um irgendeinen Gefallen gebeten, den ich ihm hier in London tun könnte. Nach vollen zehn Jahren war dies daher für mich eine einmalige Chance zu beweisen, dass es auch jemandem von Nutzen sein kann, dass ich nun hier lebe. Wenn man allerdings Stolz und Verlegenheit zugleich verspürt, dann führt diese Mischung meist direkt in eine Katastrophe.
Aiman versicherte mir nach einer kurzen Einleitung, dass es mir ganz freistehe, in der Angelegenheit zu helfen, und dass er volles Verständnis habe, falls ich ablehnte. Es gehe darum, am nächsten Morgen in einer Klinik im Osten von London den Leichnam eines Mitte Zwanzigjährigen abzuholen und seine Bestattung zu organisieren. Einfach so, mehr sagte er nicht.
»Ich brauche von dir nur ein Ja oder ein Nein.«
Aiman sprach sehr bestimmt, und ich begriff, dass keine Hoffnung bestand, ihn von seiner Bitte abzubringen. Ich versuchte es gleichwohl: »So geht das aber nicht«, wandte ich ein. »Ich kenne den Toten doch gar nicht. Wie kam denn das alles?«
Wie ich erwartet hatte, brachte das nichts. Er formulierte jetzt nur umso spitzer: »Wenn du uns diesen Gefallen tun willst, sage ich dir, was ich weiß. Wenn nicht, brauchen wir gar nicht weiterzuquatschen. Also: ja oder nein?«
Aiman bekam die gewünschte Antwort in Rekordzeit, kaum eine halbe Minute nach Beginn seines Anrufs. Sein Trumpf war nicht die Schärfe, die in seiner Stimme lag, auch nicht seine Entweder-oder-Frage nach Ja oder Nein, die in ihrer Schlichtheit so unerbittlich ist wie keine andere Frage auf der Welt, sondern es war meine Neugier, die ihn gewinnen ließ. Aiman hätte mir nicht erzählt, was mit dem Toten passiert war, wenn ich abgelehnt hätte, ja er hätte mich bestraft, indem er das Thema nie mehr auch nur mit einem Wort erwähnt hätte. Er wusste, dass meine Neugier meine Schwäche war, und das nutzte er gnadenlos aus.
Aber so düster und rätselhaft Aimans Ansinnen, ich solle einen Unbekannten beerdigen, auch war, erlosch meinerseits der Reiz, mehr zu erfahren, sofort, als er mit den Erklärungen begann. Schon nach wenigen Sekunden war meine Spannung wie weggeblasen. Kennt man ein Geheimnis, ist kein Platz mehr für Wissensdurst, das war mir nicht neu. Außerdem finde ich Fakten, so viel Wirbel um sie auch gemacht wird, in der Regel überbewertet und entsetzlich langweilig.
Wäre die Geschichte mit dem toten jungen Mann, der übrigens Ghiyath hieß, vor, sagen wir, zehn Jahren passiert, wäre sie spannender gewesen. Oder wenn so etwas nicht so furchtbar oft geschähe. Oder wenn sie ein unerwartetes Ende gehabt hätte oder der Tod des jungen Mannes einfach etwas heroischer gewesen wäre. Seine Geschichte aber war ein wenig langweilig und enttäuschend, sodass ich mich kaum an ihre wesentlichen Eckpunkte erinnere. Jedenfalls kennt Aiman eine syrische Familie, die sich im Dorf seiner Mutter in einer kleinen Wohnung eingemietet hatte, und das war vielleicht schon das Interessanteste an der ganzen Geschichte, denn ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Syrer jetzt schon bis nach Tayyibin vorgedrungen waren, einem Kaff in Oberägypten, das man kaum auf einer Landkarte verzeichnet findet.
Jedenfalls war diese Familie vor dem Krieg in Syrien geflohen, als es zu schlimm wurde. Und dass es sie ausgerechnet nach Ägypten verschlagen hatte, bewies entweder, wie verzweifelt sie waren, oder dass sie beispielloses Pech gehabt hatten. Der einzige volljährige Sohn der Familie, jener Ghiyath, war jedoch in Syrien geblieben, und zwar aus einem einfachen Grund: Er war nämlich bei einer Abteilung des syrischen Geheimdienstes inhaftiert, ich habe vergessen, in welcher, und selbst wenn ich es wüsste, würde das die Geschichte nicht begreiflicher machen. Jedenfalls, so Aiman, soll Ghiyath mit zwei anderen Gefangenen aus seiner Zelle mit Plastiklöffeln einen Tunnel von hundert Kilometern Länge gegraben haben, sodass sie vom Regimegebiet in eine Gegend gelangten, die von der Opposition kontrolliert wurde. Als sie dort aus dem Erdloch krochen, nahm sie aber aus irgendeinem Grund die gerade dort herrschende Oppositionsgruppe fest. So weit, so gewöhnlich. Ghiyath blieb dort drei Wochen in Haft, während die Gruppen, die sein Gefängnis betrieben, zweiundzwanzig- oder dreiundzwanzigmal wechselten (genau weiß ich es leider nicht mehr). Und aus einem weiteren undurchsichtigen Grund verurteilte ihn der Schariarichter einer dieser Milizen zum Tode, wurde allerdings selbst eine halbe Stunde darauf hingerichtet. So entkam Ghiyath fürs Erste seinem zunächst unausweichlich scheinenden Tod.
Die Geschichte ging noch viel weiter, wurde aber im Einzelnen nicht wirklich interessanter. So soll Ghiyath einhundertvierzigmal Luftangriffen von Flugzeugen aus einundzwanzig Staaten entkommen sein und Fassbomben, die das Regime abwarf, sowie Giftgasangriffe mit farbigen oder farblosen und stinkenden oder geruchlosen Chemikalien überlebt haben. Dazu kamen noch Katjuscha-Raketen. So jung Ghiyath war, so viel hatte er von alldem erlebt.
Dass er dann wieder dem Geheimdienst, diesmal aber einer anderen Abteilung, in die Hände fiel, ist nur ein weiteres wiederkehrendes Detail seiner Geschichte. Zwar muss man zugestehen, dass die Foltermethoden in diesem Knast besonders ausgefeilt und fantasiereich waren und die Peiniger sich besondere Mühe bei ihrer Arbeit gaben, aber das Ergebnis war wiederum sehr ähnlich wie zu Beginn. Diesmal grub Ghiyath einen noch längeren Tunnel und gelangte so ganz aus Syrien hinaus. Er grub ihn allein und ganz ohne Werkzeug, aber ich glaube, Aiman übertrieb, als er behauptete, Ghiyath habe das alles mit auf den Rücken gefesselten Händen getan.
An seinem neunzehnten Geburtstag gelangte er jedenfalls durch seinen selbst gegrabenen Tunnel ans Meer und schwamm anschließend in nur drei Tagen von Beirut nach Alexandria, wobei ihn ein netter Delfin begleitet und auf ihn aufgepasst haben soll. Zu seinem Unglück aber landete er so in Ägypten. Es war ein Sommertag, und es war kein besonders guter, denn aus irgendwelchen zahlreichen komplizierten und unwichtigen Gründen galten Syrer von jenem Tag an im Lande plötzlich nicht mehr als erwünscht. Ein bisschen Glück bedeutete das für ihn gleichwohl, denn die Ägypter setzten ihn in den nächstbesten Auslandsflieger. Das Flugzeug kreiste tagelang über vielen Ländern in der Hoffnung, eines davon würde Ghiyath aufnehmen, bis es schließlich naheliegenderweise in Ecuador landete.
Es vergingen nun zehn Monate, während derer der Flüchtling zu Fuß über vier Kontinente und durch siebenundfünfzig Staaten irrte, zuweilen allein, zuweilen mit anderen. Er wohnte in dreiundvierzig Flüchtlingslagern, überquerte, mehrmals dem Tode nahe, zwei Ozeane, vier Meere und dreizehn Flüsse. In Guatemala erlebte er ein Erdbeben, in Bolivien wollte ihn ein Krokodil fressen. Vor einer Insel im Süden Griechenlands wäre er beinahe ertrunken, hätte er sich nicht an einer Kinderleiche festhalten können, die dort schwamm. In Bulgarien fiel ihn ein Polizeihund an, der drauf und dran war, ihm das Herz aus dem Leib zu reißen und ihn zu zerfleischen. In Berlin versuchte ein anderer Syrer ihn anzuzünden. Der schlimmsten Art zu sterben entging er nur knapp, als eine ungarische Journalistin ihm ein Bein stellte, während er in einem Park vor der Polizei flüchtete. Er fiel dabei zu Boden und stieß sich den Kopf so heftig an einem Stein, dass er beinahe in zwei Hälften zersprang. Aber Unkraut vergeht bekanntlich nicht, so Aiman.
Zweifellos bargen Ghiyaths Erlebnisse manch interessantes Detail, aber alles in allem sind solche Geschichten heutzutage so verbreitet, und Millionen von Menschen haben Ähnliches durchgemacht, dass es einen fast langweilt. Dazu kommt, dass so manche Einzelheiten in Ghiyaths Geschichte, die ich hier in Ehrung seines Andenkens nicht ausbreiten möchte, auch Missfallen hervorrufen könnten, denn auf seiner langen Reise hatte sich der junge Mann auch manche Ungesetzlichkeit zuschulden kommen lassen. Zuweilen war er wohl verständlicherweise dazu gezwungen, aber der Zweck heiligt nun einmal nicht die Mittel, zumal wenn jemand lügt. Als Ghiyath zum Beispiel endlich hier auf unserer kleinen Insel ankam, behauptete er, um nicht nach Frankreich zurückgeschoben zu werden, von wo er gekommen war, minderjährig zu sein. Er sei erst fünfzehn Jahre alt, sagte er, und er log offenbar so überzeugend, dass man ihm glaubte, dass er wirklich fast fünf Jahre jünger sei, als er in Wirklichkeit war.
Wenn ich das so sage, mag es so klingen, als hätte ich etwas gegen den armen jungen Ghiyath, und manch einer mag dies darauf zurückführen, dass ich vielleicht etwas gegen Flüchtlinge hätte oder so etwas. Möglich wäre das durchaus; ich kenne viele andere Migranten, wie ich einer bin, die, nachdem sie hier oder in sonst einem Land erst einmal angekommen sind, am liebsten die Tür hinter sich abschließen und den Schlüssel ins Meer werfen würden. So bin ich aber nicht. Ich stehe Geflüchteten sehr wohlwollend gegenüber, und diese Haltung habe ich schon früh in meinem Leben gelernt, auch wenn es eine bittere Lektion war. Um mich zu entlasten, muss ich diese Geschichte nun wohl leider erzählen.
Als ich ein Kind war, lebten am Ende unserer Seitenstraße im Osten Kairos Zwillingsbrüder. Sie waren ein Jahr älter und viel größer als ich. Sie sahen recht ungewöhnlich aus. Nicht nur hatten sie tiefrotes Haar und sehr blasse Gesichter, sondern jene waren auch noch über und über mit Sommersprossen überzogen, sodass man ihre Gesichtszüge kaum ausmachen konnte. Und wie sie sich benahmen, war nicht weniger seltsam als ihr Aussehen. Möglicherweise hatten sie irgendeinen undurchschaubaren Grund, jedenfalls vermieden sie es immer, mit den anderen Kindern in der Straße zu spielen oder zu sprechen.
Diese Unklarheit war für uns Grund genug, dass wir sie als Fremde empfanden und ihnen gegenüber Furcht und Abscheu zugleich hegten. Doch schon bald sollte diese Distanz zwischen uns schwinden – nur leider auf die Art der Zwillinge und auf meine Kosten.
Eines Tages saß ich auf der Schwelle unseres Hauses. Die Sonne war gerade untergegangen, und wie üblich war die Straße um diese Zeit menschenleer. Nur aus der Ferne sah ich Ashraf und Sharif festen Schrittes auf mich zukommen, und ihre Blicke kündeten davon, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Ich konnte mir aber zugleich nicht vorstellen, dass sie so frech sein würden, mir vor meinem Haus grundlos etwas anzutun. Wahrscheinlich wollten sie mich einfach nur provozieren.
Aber ich sollte mich irren, denn der eine von ihnen kam mir, während ich dasaß, so nah, dass seine Knie fast meinen Rücken berührten und er in all seiner Körpergröße genau über mir stand. Als ich zu ihm aufsah, spuckte er mir einen dicken Schleimbatzen aus seinem Rachen direkt ins Auge. Der zweite trat mich in die Seite, worauf ich einen langen Schrei von Schmerz und Demütigung ausstieß. Die Zwillinge gingen wieder zurück, woher sie gekommen waren, mit festem Schritt und in voller Zufriedenheit über ihre Tat. Als sie zwei Meter gegangen waren, drehte sich der eine noch einmal zu mir um und schrie mir in mir unverständlicher Wut zu: »Verdammter Kreuzanbeter!«
Diese Beleidigung bewirkte, dass ich wieder aufhörte zu schreien, denn der soeben noch scheinbar grundlose Angriff hatte plötzlich einen nachvollziehbaren Grund, denn ich war nun einmal ein verdammter Christ und daher ein Ziel, das man angreifen konnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese Erkenntnis reichte aus, dass ich mich beruhigen konnte. Die erstaunliche Lektion, die ich in meinem damals sehr jungen Alter lernte, war die, dass uns Unrecht häufig dann weniger schlimm vorkommt, wenn wir erfahren, was das Motiv dafür war. Schlimm ist nur Unrecht, das man sich nicht erklären kann. Ich kann nicht genau sagen, warum ein Übel weniger schmerzt, wenn es einer plausiblen Regel folgt. Vielleicht weil man sich daran gewöhnt oder es erwartet oder vielleicht auch, weil es dadurch weniger gegen einen persönlich gerichtet wirkt. Dieses Anspucken hatte allen Kopten gegolten, nicht so sehr mir und meinem Auge, sagte ich mir. Diese Vorstellung fand ich völlig in Ordnung, und sie bewirkte, dass ich mir gar nicht erst die Mühe machte, an Rache zu denken.
Meine Mutter sah das allerdings anders. Ich erwartete nicht, dass sie groß reagieren würde, als ich ihr von der Sache berichtete, denn wenn es um verdammte »Dieses-und-Jenes-Anbeter« ging, wie wir Kinder über Religion sprachen, dachte ich, würde sie lieber stillhalten. Jedes Mal schalt sie mich: »Hab ich dir nicht hundertmal gesagt, dass du mit diesen Mistmuslimen nicht spielen sollst? Geschieht dir nur recht, wenn sie dich schlagen!« Und wenn ich erwiderte: »Wenn es andere gäbe, müsste ich mit denen nicht spielen!«, musste ich lediglich mit einer Ohrfeige rechnen.
Aber diesmal geschah ein Wunder. Meine Mutter, diese zartfühlende, einfache Frau, überkam eine riesige Welle des Zorns. Sie packte mich am Arm und zerrte mich die gesamte Straße entlang, bis wir am Haus der Zwillinge waren. Nun begann sie hysterisch zu schreien und hämmerte wie wild an die Tür. Als die Mutter der Jungs öffnete, stieß sie sie zur Seite, sodass sie hinfiel, und meine Mutter rannte, ich hinterher, ins Haus. Als sie die Zwillinge im Wohnzimmer fand, drosch und trat sie so auf sie ein, dass ich Angst bekam, sie könnte versehentlich einen von ihnen töten, falls sie ihn am Kopf traf. Das fürchtete wohl auch deren Mutter, die auf die Straße getreten war und die Nachbarn zu Hilfe rief. Der Wutanfall meiner Mutter dauerte aber nur zwei Minuten, dann verließ sie das Haus wieder. Gleichwohl zitterte sie vor Zorn noch am ganzen Körper, und sie brüllte, dass es die ganze Straße hörte: »Jetzt schlagen die Flüchtlinge schon unsere Kinder! In unserem eigenen Land müssen wir uns von Heimatlosen bespucken lassen!«
Flüchtlinge! Nie zuvor hatte ich dieses Wort gehört. Und noch dazu sagte meine Mutter es abwechselnd mit »Palästinenser«, sodass ich annahm, das bedeute dasselbe. Was mich aber stolz daran machte, war, dass diese Leute, wer immer sie waren, offenbar in der Prügelordnung noch unter mir standen, also ganz unten, denn unten, auf der vorletzten Stufe, war ich ja schon.
»Was heißt Flüchtlinge, Mama?«, fragte ich.
»Leute ohne Land«, erklärte sie.
Ich muss ehrlich und beschämt gestehen, dass dies das erste Mal war, dass ich in meinem kindlichen Bewusstsein das Gefühl bekam, zu meinem Land zu gehören. Und irgendwie war ich den Flüchtlingen dankbar, denn ihnen hatte ich zu verdanken, dass ich ab nun nicht mehr aller Kinder Prellbock war.
Aber anstatt dass die Geschichte damit ihr Bewenden hatte, wurde sie nur noch verwickelter, dramatischer und peinlicher. Nachdem zwei Stunden lang erst einmal nichts passiert war und meine Mutter abgewartet hatte, war der Zwillingsvater von seiner Arbeit nach Hause gekommen und hatte mitbekommen, was geschehen war. Mit der Ruhe bei uns zu Hause war es vorbei, als der Mann wie von Sinnen an unsere Tür schlug und schrie: »Das fehlt uns noch, dass uns Christen unsere Kinder verprügeln!«
Ich sah, wie meine Mutter, vor Schreck zitternd, die Tür öffnete. Nun tat der Mann, was sie zuvor in seinem Haus getan hatte. Er stieß sie zur Seite, sie fiel hin, er stürmte ins Wohnzimmer, aber er suchte zu meiner Überraschung nicht nach mir, sondern nach dem Herrn des Hauses.
»Haben Sie denn hier keinen Mann, der Sie unter Kontrolle hält?«, brüllte er.
Zum Glück war mein Vater noch nicht von seiner Arbeit zurück, sodass der Zwillingsvater nicht viel tun konnte, denn eine Frau hätte er nicht geschlagen. Er versuchte, ein paar Möbelstücke in unserer Wohnung zu zertrümmern, tat sich dabei aber nur die Hand weh. Dann trat er wieder nach draußen, während meine Mutter den Nachbarn in der Straße zurief: »Jetzt verprügeln uns die Palästinenser schon in unseren eigenen Häusern, und ihr guckt von euren Balkonen aus dabei zu wie die Weibsleute!«
Der Mann reagierte darauf völlig unerwartet: Er brach in Lachen aus und schüttelte heftig den Kopf, so als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Seine ganze Wut schien verflogen zu sein, und während er eine Handfläche auf die andere schlug, sagte er: »Was für Palästinenser? Mein Gott, ist das eine verrückte Frau!«
Mit den Zwillingen hatte ich keine weiteren Auseinandersetzungen, und auch unsere Väter gerieten nicht aneinander, denn mein Vater blieb noch Tage nach der Geschichte darauf bedacht, möglichst unauffällig aus dem Haus zu gehen und nach Hause zu kommen. Der Irrtum meiner Mutter dagegen klärte sich schon Minuten nach der Auseinandersetzung auf, indem ihr die Nachbarn erklärten, die Eltern von Ashraf und Sharif seien keine Palästinenser und auch sonst keine Flüchtlinge, sondern Oberägypter, die in Sues gelebt hätten, von wo sie im Sechstagekrieg vertrieben worden seien. Sie hatten dann in Kairo eine neue Wohnung bekommen. Da hatte meine Mutter wohl etwas durcheinandergebracht.
Seit jenem Vorfall und vor allem, als ich älter wurde und alles besser einordnen konnte, entwickelte ich eine positive Haltung gegenüber Flüchtlingen, in der ich mich von niemandem überbieten ließ. Ich beschloss, dass man Geflüchtete gleichberechtigt und würdevoll behandeln musste, denn schließlich konnte man sich irren und Leute für Flüchtlinge halten, von denen sich später herausstellte, dass sie gar keine waren, und das wäre sehr peinlich gewesen. Noch dazu konnte es sein, dass sie einen Vater hatten, der bereit wäre, meinen zu verprügeln, was noch schlimmer gewesen wäre.
Aber zurück zu Ghiyath, bevor wir dessen Geschichte vergessen. Was seit seiner Ankunft im Vereinigten Königreich bis zu dem Zeitpunkt, als sein Mitbewohner Gestank aus seinem Zimmer wahrnahm, geschehen war, ist kaum erwähnenswert. Drei Tage lang war dem Polen gar nicht aufgefallen, dass Ghiyath nirgends zu sehen war, denn seit Bestehen ihrer Wohngemeinschaft hatten sie kaum mehr als Yes und No zueinander gesagt und hatten sich ansonsten mit improvisierter Zeichensprache über alltägliche Dinge ausgetauscht. Ghiyaths Leichnam lag nun aufgebläht auf dem Rücken und strahlte Ruhe und Überdruss aus. Sein Mitbewohner rief die Polizei, die den Toten zur Obduktion in ein Krankenhaus brachte. Dort tippte man auf Enttäuschung als Todesursache, möglicherweise auch auf die über zwölf Stunden, die er Tag für Tag gearbeitet hatte, oder auf die Langeweile, die Ghiyath empfunden hatte, weil er plötzlich nicht mehr permanent in Lebensgefahr gewesen war.
»Gott habe ihn selig«, sagte ich zu Aiman. »Aber was habe ich mit alldem zu tun?«
Mein Interesse an der Geschichte, das ich vorgegeben hatte, erkaltete zusehends, aber Aiman wollte mich nicht mehr vom Haken lassen.
»Willst du jetzt etwa einen Rückzieher machen? Wir hatten doch abgemacht, dass du den Leichnam abholst und ihn bestatten lässt.«
Das hatten wir natürlich nicht abgemacht, ich hatte lediglich versprochen zu helfen. Ich versuchte noch einmal, mich herauszuwinden: »So einfach ist das nun auch nicht, für so etwas gibt es doch Vorschriften und Abläufe … Außerdem, in welcher offiziellen Eigenschaft sollte ich da tätig werden?«
Aiman war schnell mit einer Antwort zur Stelle, die mir jeden Ausweg verbaute und mich zum Befehlsempfänger degradierte. Er sagte: »Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Alles wird bis morgen vorbereitet sein.«
Ich kam aus der Sache nicht mehr heraus. Aiman war wie üblich um keine Antwort verlegen. Die Angestellte der britischen Botschaft in Kairo, die der Familie telefonisch übermittelt hatte, dass ihr Sohn gestorben war, war sehr mitfühlend gewesen. Noch während des Anrufs schlug sie vor, die Familie solle sich doch für ein Eilvisum bewerben, um dem Begräbnis in London beizuwohnen. Sie deutete sogar implizit an, dass die Familie anschließend möglicherweise gar nicht mehr nach Kairo zurückfliegen müsse und dass sie sich eine solche Gelegenheit doch besser nicht entgehen lassen solle. Aber weil sie so überaus freundlich war, entschuldigte sie sich sogleich dafür, dass sie schon jetzt, zwei Minuten nachdem sie der Familie die traurige Nachricht überbracht hatte, von einem möglichen Asylantrag in London sprach. Es tue ihr leid, dass sie das Begräbnis des Sohns als eine Chance bezeichnet habe. Die Familie nahm die Entschuldigung umgehend an, und am Ende des Gesprächs hatte Ghiyaths Vater mit der Mitarbeiterin, er wusste kaum wie, auch schon vereinbart, dass tags darauf die gesamte Familie in die britische Botschaft kommen solle, um Anträge auszufüllen und die Ausreise vorzubereiten.
Aber es schien auch ein Missverständnis gegeben zu haben. Jedenfalls kam die Familie an der britischen Botschaft in einem Pick-up an, auf dessen Ladefläche sich Koffer und Hausrat türmten, mehr oder weniger alles, was sie besaßen, also letztlich auch nicht viel. Schon während der Anreise hatte der Fahrer Erstaunen darüber geäußert, dass die Familie zu einem ersten Botschaftstermin gleich ihren gesamten Hausstand mitnahm, und Belustigung über so viel Naivität zu erkennen gegeben. Die Eltern entgegneten, dies sei das erste Mal, dass ihnen ein Sohn gestorben sei, was wüssten sie denn schon, was da zu tun sei. Aber sie sollten recht behalten, denn eine blonde Botschaftsdame, die die Familie in Kairo in Empfang nahm, war nicht nur noch freundlicher und fürsorglicher als ihre Kollegin vom Telefongespräch, sondern informierte sie auch, dass der Konsul persönlich mit ihrer Angelegenheit befasst sei, und hinge er deswegen nicht permanent am Telefon, um Rücksprache mit London zu halten, wäre er umgehend gekommen, um ihr zu kondolieren. Die Familie füllte ein paar Formulare aus und gab die Pässe ab. Sie war noch keine Stunde in der Botschaft, da bat die Mitarbeiterin die Familie, nun wieder zu gehen. Sie versprach, sie würde noch heute oder spätestens am Vormittag des kommenden Tages einen Anruf bekommen und könnte dann ihre Pässe wieder abholen.
Bis zu diesem Moment, als sie die Botschaft verließ, hatte die Familie kaum Gelegenheit gehabt, ihre Situation zu verarbeiten oder darüber nachzudenken, was sie hier tat. Seit dem Anruf von der Botschaft hatte die Mutter Taschen gepackt und gründlich die Wohnung geputzt, denn sie fand, es gehörte sich nicht, eine Wohnung bei Auszug schmutzig zu hinterlassen. Der Vater hatte seinerseits den ganzen Abend über telefoniert und bei allen Bekannten nah und fern um Geld gebeten, damit sie die Flugtickets und sonstige Kosten würden bestreiten können.
Davon abgesehen gelang es den Eltern, so zu tun, als hätten sie die Todesnachricht gar nicht vernommen. Ghiyaths Mutter hatte noch keine Träne darüber vergossen und hing stattdessen einer ganz und gar seltsamen Gewissheit an, von der sie gleichwohl ahnte, dass sie abwegig war. Aber sie hatte ihren Sohn zuletzt gesehen, als dieser siebzehn Jahre alt war und kaum wusste, wie man sich ein Ei kocht, und dennoch hatte er all den Schreckenserlebnissen getrotzt und die ganze Welt durchquert. Da konnte er doch nun, wo überhaupt keine Lebensgefahr mehr bestand, nicht einfach so gestorben sein! Bestimmt war das nur ein Trick, den er in der Fremde gelernt hatte, und er hatte sich totgestellt, um seine Angehörigen nach Europa zu bringen. Hatte er nicht neulich erst bei einem Skype-Anruf gesagt, er würde demnächst eine Familienzusammenführung beantragen, und sie würden bald wieder vereint sein? Außerdem hatte er zuvor schon mindestens zweimal seinen eigenen Tod vorgetäuscht, und dass in der Botschaft alles so problemlos gelaufen war, sah die Mutter als Bestätigung für ihre Vermutung.
Ihr Mann wirkte seinerseits einen Moment lang abwesend, als der Pick-up-Fahrer ihn mit der Frage konfrontierte, was er denn nun bitte machen solle. Er hatte über eine Stunde vor der Botschaft gewartet und wollte wissen, ob er die Familie gleich weiter zum Flughafen oder doch lieber zurück nach Tayyibin bringen solle. Die erste Option war natürlich spöttisch gemeint. Die gespielte Witzigkeit des Fahrers bewirkte jedoch nur, dass der Familienvater ihn anstarrte und kein Wort herausbrachte. Nach zwei Minuten beendete die Frau das Schweigen und bat den Fahrer mit heiterer Stimme, er solle sie doch bitte zum Tahrir-Platz bringen und sie dort samt Gepäck absetzen. Bestimmt würde die Botschaft schon bald anrufen, und da sei es besser, wenn sie nicht zu weit weg seien.
Aiman kam gerade aus der El-Sadat-Metro-Station und wollte zu seiner Arbeit gehen, als der Pick-up-Fahrer den Hausstand der Familie ablud. Aus irgendeinem Grund blickte Aiman nach hinten in Richtung des Mogamma-Gebäudes, anstatt wie gewöhnlich sofort weiter in die Talaat-Harb-Straße zu laufen, und so sah er Ghiyaths Eltern samt Kindern und Gepäck dastehen. Es war einer dieser kleinen Zufallsmomente, denen die unvorhersehbarsten Folgen entspringen, die sich jeder Logik entziehen, so wie vieles andere an dieser Geschichte. Wollte man in diesen beiläufigen Blick Aimans nach hinten in genau diesem Moment etwas hineininterpretieren, dann vielleicht, dass Regellosigkeit zuweilen recht streng und unerbittlich waltet.
Aiman ging in ihre Richtung, um sich zu vergewissern, dass es sich wirklich um die ihm bekannte syrische Familie handelte, und erkannte an der Art, wie sie dastand, dass etwas nicht stimmte. Ihm ging durch den Kopf, ob sie wohl aus ihrer Wohnung im Dorf geworfen worden war oder aus irgendeinem Grund beschlossen hätte, wegzugehen. Es war damals in Ägypten nicht ungewöhnlich, dass die Polizei von Haus zu Haus ging und den Besitzern mitteilte, sie hätten etwaige syrische Mieter bitte schön auf die Straße zu setzen, ansonsten würden die Einsatzkräfte dies selbst tun.
»Was macht ihr hier, Abu Ghiyath?«, fragte Aiman.
Der Mann stand wie angewurzelt da und riss die Augen auf, als er Aiman erkannte. Sein Gesichtsausdruck war unverändert abwesend. Er schien etwas sagen zu wollen, sein Mund stand offen, aber er brachte nur ein Zischen hervor, das in einem leisen Röcheln endete. Aiman versuchte es noch einmal mit derselben Frage, aber der Familienvater schien in diesem Moment zum ersten Mal darüber nachzudenken, was er hier tat. Kurz darauf begannen die Kinder, die offensichtlich erschreckt darüber waren, ihren Vater so zu sehen, leise zu weinen, während sie ihn am Arm fassten. Aiman blickte seine Frau an und hoffte, von ihr eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die er nun zum dritten Mal stellte. Die Mutter ihrerseits brach nun in ein Klagen aus und schlug sich mit aller Kraft aufs Gesicht, und im nächsten Augenblick packte sie ihren Mann an der Gurgel und schrie etwas, das Aiman nicht verstand. Nun erwachte der Familienvater aus seiner Benommenheit. Er befreite sich aus dem Griff seiner Frau und hielt ihr den Mund zu, um ihren Schreianfall zu beenden. Fußgänger wandten sich in die Richtung des Geschehens, aber glücklicherweise blieb niemand stehen.
Aiman verstörte, was er sah, und er trat zwei Schritte zurück, um dem Ehepaar eine Möglichkeit zu geben, seinen Streit zu beenden. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, sich geräuschlos aus dem Staub zu machen, denn offenbar nützte seine Anwesenheit niemandem; ja anscheinend hatte seine Frage den ganzen Tumult erst ausgelöst. Aber nun wandte sich der Mann, der seiner Frau noch immer den Mund zuhielt, in einer plötzlichen und beängstigend unterkühlten Gefasstheit an Aiman. Gott habe entschieden, erklärte er ihm, Ghiyath zu sich zu nehmen, und sie seien auf dem Weg nach London, um ihn beizusetzen.