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Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung E-Book

Gabriel Markus

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Beschreibung

Welche Rolle können die Geisteswissenschaften bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft spielen? Von welchen Werten lassen wir uns im 21. Jahrhundert leiten? Wie können wir das Potenzial der Geisteswissenschaften in einer Zeit vielfältiger Krisen nutzen? Die Autor*innen stellen sich diesen grundlegenden Fragen und verorten die Antworten in einem neuen Verständnis von Geisteswissenschaften, die ihr Denken und ihre Vorstellungskraft an Kriterien einer lebenswerten Zukunft ausrichten. Diese Geisteswissenschaften stellen sich in den Dienst allen Lebens auf unserem Planeten und sind dadurch in der Lage, neu formulierte, verbindliche Werte in die Gesellschaft hineinzutragen und der Zerstörung unserer Umwelt entschlossen entgegenzutreten.

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Die Buchreihe »THE NEW INSTITUTE.Interventions« verfolgt das Ziel, die Stimme der Geisteswissenschaften in öffentlichen und politischen Diskursen zu stärken. Die Publikationen präsentieren vor allem gemeinsame Arbeiten der Fellows von THE NEW INSTITUTE in Hamburg, das veränderungsbereite Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst, Medien, Politik und Wirtschaft zusammenbringt, um im intensiven Dialog miteinander neue Ideen und Lösungsvorschläge für die drängendsten Probleme der Menschheit zu entwickeln. Mit der Verknüpfung solch unterschiedlicher Perspektiven zu einem kollaborativen Vorhaben versucht THE NEW INSTITUTE, originelle und wegweisende Vorschläge zur Bewältigung einiger der komplexesten Herausforderungen unserer Zeit hervorzubringen. Durch das gemeinsam erarbeitete Wissen, das sowohl genaue Analysen als auch fundamentale Reformvorschläge für verschiedene Schlüsselfelder der Gesellschaft umfassen soll, werden die »Interventions« hoffentlich konstruktive Debatten über disziplinäre und sektorale Grenzen hinweg erzeugen und befeuern. Alle Texte der Reihe werden unter einer CC-Lizenz Open Access publiziert, um größtmögliche Reichweite für die konzeptuellen und praktischen Impulse zu ermöglichen.Die Reihe wird herausgegeben von THE NEW INSTITUTE.

Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung – Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften

Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Milles

Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke

 

Inhalt und Umschlag dieses Buches wurden auf 100 % Recyclingpapier, zertifiziert mit dem Blauen Engel (RAL-UZ 14), gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share-Alike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke

Ursprünglich unter dem Titel Towards a New Enlightenment – The Case for Future-Oriented Humanities 2022 erschienen beim transcript Verlag.

Übersetzung: Joachim Milles

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Layout (Adaptation) und Satz: Michael Rauscher, Bielefeld

Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Print-ISBN: 978-3-8376-6635-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-6635-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6635-9

https://doi.org/10.14361/9783839466353

Buchreihen-ISSN: 2751-9619

Buchreihen-eISSN: 2751-9627

Inhalt

Vorwort

1Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen sich enger an die Gesellschaft koppeln

2Die spezifische Wissensposition der Geistes- und Sozialwissenschaften

3Die Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften

Für einen weiten Begriff von Geistes- und Sozialwissenschaften

Notwendigkeit wertorientierter Ansätze

Pluralismus der Methoden und Ansätze

Dezentrierung und Multiperspektivität

Universalismus als Universalisierung

Wiederbelebung der Hermeneutik

Moralischer Realismus

Moralischer Konstitutivismus

Phänomenologie

Narrative und Werte

Recht und Rechtskritik

4Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen ihre integrative Kraft entfalten

5Neugestaltung der Institutionen – hin zu einer Kultur der Kreativität

6Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung

Grundlegende Prinzipien

Zentrale Herausforderungen

Offene Fragen

7Vorschläge für die nächsten Schritte

Komplexität bewältigen

Andersartigkeit willkommen heißen

Systematisch ökologisieren

Gesundheitswesen neu gestalten

Technologie und Kultur in Einklang bringen

Resümee

Anmerkungen

Literatur

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Unsere Welt ist in vielerlei Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten. Die Kluft zwischen technischem und sozialem Fortschritt, wirtschaftlichem Erfolg und Umweltzerstörung sowie forschungsbasierten Erkenntnissen und politischer Entscheidungsfindung wird immer größer. Hinzu kommen ein rapider Verlust an biologischer Vielfalt, ein zunehmender Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung von Gemeingütern und nicht zuletzt eine wachsende Ungleichheit, Unsicherheit und Komplexität der vor uns liegenden Herausforderungen.

Angesichts der aktuellen Lage, der sich zuspitzenden Krisen und neuerdings des russisch-ukrainischen Krieges mit all seinen Gräueltaten haben wir sicherlich viele Gründe, pessimistisch und verzweifelt zu sein. Die Abwärtsspirale negativer Entwicklungen scheint unsere Wahrnehmung zu dominieren. Und doch können wir als Wissenschaftler und besorgte Bürger nicht länger ignorieren, dass es in der Verantwortung unserer Generation liegt, neue Ideen und tragfähige Konzepte zu entwickeln, um den Weg für eine dringend notwendige Umgestaltung unseres Lebensstils, unserer Produktionsweisen und unserer Gesellschaft insgesamt zu ebnen.

Indem sie mutig, kritisch und kreativ über verschiedene Ungleichgewichte und ihre Ursachen nachdenken und versuchen, tragfähige Lösungen für zumindest einige der uns bedrängenden Probleme zu finden, können Wissenschaftler und Praktiker aus allen Lebensbereichen dazu beitragen, den Kurs in Richtung einer gerechteren, ökologisch vernünftigen und wirtschaftlich nachhaltigen Zukunft zu ändern. Das setzt allerdings voraus, dass sie sich gemeinsam auf eine Reise begeben, bei der sie die gegenwärtigen Praktiken gründlich überdenken und umgestalten.

Vor diesem Hintergrund hat sich eine erste Gruppe von Fellows unseres Instituts im Rahmen des Programms ›Foundations of Value and Values‹ darangemacht, einen konzeptionellen und strategischen Rahmen für den ambitionierten Versuch zu entwickeln, die Geisteswissenschaften in den breiteren Kontext der Herbeiführung eines Systemwandels zu stellen. Trotz aller fachlichen Vielfalt innerhalb dieser Gruppe ist es den Teilnehmenden gelungen, sich vor allem auf ihre Gemeinsamkeiten zu konzentrieren – insofern ist bereits der vorliegende Diskussionsbeitrag selbst ein Beweis für die Integrationsfähigkeit der Geisteswissenschaften. Dennoch werden sie, auf ihre epistemischen Grundlagen und ihr spezifisches Fachwissen bauend, Umfang und Reichweite ihrer Aktivitäten über die Analyse vergangener und gegenwärtiger Phänomene hinaus auf zukunftsorientierte Fragestellungen ausweiten müssen.

All dies erfordert einen Perspektivwechsel – nicht allein in den Geisteswissenschaften, sondern vielmehr in den jeweils relevanten Ökosystemen der Wissensproduktion insgesamt. In manchen Debatten über Forschungs- und Innovationsagenden wird den Geisteswissenschaften auch heute noch eine geringere Bedeutung im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft beigemessen. Während die Natur- und Ingenieurwissenschaften als die wichtigsten Triebkräfte des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts gelten, scheint es den Geisteswissenschaften noch an einer klaren Ausrichtung auf die vor uns liegenden Herausforderungen zu fehlen. An der Vorstellung einer Reihe entkoppelter Wissensbereiche muss sich jedoch angesichts der vielen ineinandergreifenden Krisen, mit denen wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen, dringend etwas ändern.

Um ihr Potenzial an Reflexivität, Multiperspektivität und Normativität ausschöpfen zu können, müssen sich die Geisteswissenschaften proaktiv einen konzeptionellen und strategischen Rahmen geben, der sie in den Mittelpunkt stellt, wenn es darum geht, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidenden Fragen in Angriff zu nehmen: Wie sieht ein nachhaltiges Wertesystem für das 21. Jahrhundert aus? Wie lässt sich ein gemeinsamer Weg in Richtung einer Neuen Aufklärung gestalten? Wann und warum sind die Menschen bereit, ihr Verhalten und ihren Lebensstil zugunsten einer nachhaltigen Zukunft für die Menschheit und unseren Planeten zu ändern? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, bedarf es vor allem eines tatkräftigen Engagements für eine interdisziplinäre, transsektorale und generationsübergreifende Zusammenarbeit.

Dies war denn auch der Geist, in dem unsere Fellows – Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Corine Pelluchon und Ingo Venzke – auf höchst kreative Weise am nunmehr vorliegenden Diskussionsbeitrag gearbeitet haben. Ihnen allen sowie Anna Luisa Lippold und Barbara Sheldon vom Organisationsteam gilt mein tiefer Dank für ihr beeindruckendes und unermüdliches Engagement in unserem gemeinsamen Tun.

Darüber hinaus haben viele namhafte Kolleginnen und Kollegen eine frühere Fassung mit hilfreichen Kommentaren versehen oder ausgewählte Passagen mit uns diskutiert. Zu nennen sind hier insbesondere Ruth Chang, Lorraine Daston, Nikita Dhawan, Rainer Forst, Hans-Ulrich Gumbrecht, Geoff Mulgan sowie Martin Adjei, Harald Atmanspacher, Isabel Feichtner, Tobias Müller, Vladimir Safatle und Christiane Woopen. Ihre kritischen Anmerkungen und ergänzenden Hinweise haben unser Manuskript erheblich verbessert, insbesondere im Hinblick auf die Erläuterung unserer Forderung nach einer stärkeren Zukunftsorientierung der Geisteswissenschaften sowie möglicher Optionen auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung. Des Weiteren danken wir den Teilnehmenden des von Markus Gabriel organisierten TNI@Stanford-Treffens am 3. und 4. März 2022, die uns ebenfalls wertvolle Anregungen gegeben haben: Andrea Capra, Amir Eshel, Roland Greene, Hans-Ulrich Gumbrecht, Robert Pogue Harrison, Courtney Blair Hodrick, Paul Kottman, Teathloach Wal Nguot und Laura Wittman.

Unser Dank gilt auch Karin Werner und dem ganzen Team des transcript Verlags, sowohl für ihre Begeisterung für unsere Bestrebungen im Allgemeinen und unser Projekt im Besonderen als auch für ihre unschätzbare Unterstützung bei der Herstellung und dem Vertrieb dieses Buches. Ein besonderer Dank gilt Joachim Milles, der den Text ins Deutsche übertragen hat.

Und nicht zuletzt möchte ich unserem großzügigen Stifter Erck Rickmers danken – für seine Freundschaft, sein Einfühlungsvermögen, seine Fürsorge und seinen Mut in allen Belangen, die unsere gemeinsame Arbeit im THE NEW INSTITUTE und darüber hinaus betreffen.

Wilhelm Krull

Gründungsdirektor, THE NEW INSTITUTE

Hamburg, im Oktober 2022

1Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen sich enger an die Gesellschaft koppeln

Die Menschheit sieht sich gerade mit einem komplexen Geflecht ineinander verwobener Krisen konfrontiert: der ökologischen Krise; verschiedenen Wirtschaftskrisen (von Finanzkrisen bis hin zu wachsenden Ungleichheiten); der geopolitischen Krise; der Energiekrise; der durch geopolitische Katastrophen drohenden Flüchtlingskrise; der Krise des Gesundheitswesens; und der immer noch andauernden Coronavirus-Krise. Diese Krisen sind systemisch und global und werden von den verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen. Sie bringen ökologische, wirtschaftliche, gesundheitliche, soziale und politische Risiken mit sich, die grundsätzliche Fragen zu den derzeit maßgeblichen Modellen aufwerfen, die definieren, was als erfolgreiche und normativ wünschenswerte Entwicklung betrachtet werden soll.

Eine Krise bedeutet nicht nur, dass irgendetwas nicht stimmt, dass es ein allgemeines oder gar sehr großes Problem gibt. Krise, vom griechischen krisis, meint Entscheidung; eine Krise ist ein Wendepunkt, der ein Eingreifen erfordert, um eine Katastrophe zu vermeiden. Eine Krise ist also ein normativ aufgeladener Wendepunkt. Ihr Ausgang hängt von der menschlichen Entscheidungsfindung unter den Bedingungen sozialer und natürlicher Komplexität ab. Deshalb können wir nur dann vernünftig mit Krisen umgehen, wenn wir eine Reihe von normativen Prinzipien aus verschiedenen Bereichen übernehmen, um eine Katastrophe zu verhindern, indem wir die richtigen Entscheidungen treffen.

Die aktuellen Krisen sind allesamt ineinander verwoben, und sie sind mit verschiedenen Arten von Normativität verbunden: militärische und ethische, ökologische und ökonomische, rechtliche und ästhetische, kulturelle und universelle, lokale und globale, individuelle und kollektive Normen sind sowohl bei der Beschreibung wie auch bei der Lösung jener Probleme im Spiel, die zunächst zu einer Krise führen und sich in eine Katastrophe verwandeln, wenn sie nicht bewältigt werden.

Eine wichtige Triebkraft für die Dynamik der oben genannten ineinander verwobenen Krisen ist die Abkopplung der naturwissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung von den weiter gefassten Fragen der menschlichen Werte, des guten Lebens und des Wohlergehens.1 Zur Erläuterung dieses Gedankens mögen einige Beispiele genügen:

•Die enorme Macht der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (in jüngster Zeit: der künstlichen Intelligenz) in großen sozialen Systemen restrukturiert das menschliche Miteinander auf bisher unbekannte Weise. Aus rein technologischer Perspektive kann keine Antwort auf die Frage gegeben werden, zu welchen Zwecken diese Technologien eingesetzt werden sollten und wer dazu berechtigt ist, solche Entscheidungen zu treffen.2 Dies birgt die Gefahr, dass menschliche Werte, kollektive Entscheidungsfindung und Wohlbefinden auf der Strecke bleiben. Deswegen drängen Regierungen aus guten Gründen auf eine rechtliche und ethische Regulierung sozial disruptiver Informations- und Kommunikationstechnologien, und so erfreut sich die neuere Disziplin der ›Ethik der künstlichen Intelligenz‹ großer Beachtung. Ihre Aufgabe besteht darin, sozial disruptive Technologien mit der Erforschung rechtlicher und ethischer Werte und Wertvorstellungen zu verbinden, um Leitlinien für die Neugestaltung der betreffenden Technologie im Lichte menschlicher Bedürfnisse, Rechte und Pflichten zu entwickeln.

•Die digitale Transformation, die von vielen Regierungen als Teil der Lösung für die ökologische Krise propagiert wird, wirft wiederum neue Fragen der Nachhaltigkeit auf, die sich aus den materiellen Ressourcen ergeben, welche für die Produktion und Aufrechterhaltung der materiellen Dimensionen scheinbar rein symbolischer Daten benötigt werden. Die Geisteswissenschaften sind besonders gut geeignet, diese ideologische Ebene und die Illusionen, die im Kontext rasanter gesellschaftlicher Transformation entstehen, kritisch zu beleuchten. Unter Recoupling versteht man in diesem Zusammenhang die Einbindung geistes- und sozialwissenschaftlicher Kompetenzen in den Diskurs zur digitalen Transformation, und zwar mit dem Ziel, zwischen erwünschten und unerwünschten Fällen der Automatisierung von Arbeit und der Ersetzung menschlicher Interaktionen und Praktiken durch digitale Systeme unterscheiden zu können.

•Lebensmittelproduktion und -konsum werden von nicht-nachhaltigen Wünschen, Erwartungen und Denkmuster geleitet. Unangemessene Denkweisen beeinträchtigen die Fähigkeit, die komplexen Beziehungen zwischen Menschen, nicht-menschlichen Tieren und unserem gemeinsamen Lebensraum zu gestalten, sodass ein systemischer Wandel auf der Ebene der Denkmuster und ihrer materiellen Bedingungen notwendig ist. Die Geisteswissenschaften befassen sich mit unserem Selbstverständnis als Menschen. Da der Mensch das, was er tut, vor dem Hintergrund umfassender Vorstellungen darüber tut, wie er sich in die Natur einfügt, wie er bestimmte Eigenschaften mit nicht-menschlichen Tieren teilt und sich dennoch grundlegend von ihnen unterscheidet, ist die geisteswissenschaftliche Erforschung solcher Vorstellungen und Denkweisen eine wesentliche Voraussetzung für eine sinnvolle, systemische Veränderung unserer Wertvorstellungen.

•Herkömmliche Wirtschaftsmodelle, die sich immer noch vorwiegend auf quantitatives Wachstum konzentrieren, sind zu eng gefasst, um menschliches Wohlbefinden zu messen. Dies führt zu einer Auffassung der sozioökonomischen Sphäre, die weitgehend blind für jene Konzepte ist, die die Unzulänglichkeiten im eigentlichen Zielsystem der Wirtschaftsmodelle, nämlich in unseren Volkswirtschaften, zu erklären und zu überwinden suchen. Ausgerechnet jene Disziplin, die für wirtschaftliche Lösungen zuständig ist, schafft neue Probleme, indem sie bei ihren Bemühungen, den wirtschaftlichen Erfolg zu messen, die wertgeladenen menschlichen Erfahrungen außer Acht lässt. Unrealistische Vorstellungen von uns als Menschen, von unseren Präferenzen, Nutzenerwägungen, Einstellungen, Bedürfnissen und Denk- und Kooperationsweisen wirken sich auf konkrete Politikvorschläge aus, die dann in die Gesellschaft als umfassendsten Bereich sozioökonomischer Interaktion hineinwirken. Sozioökonomische Interaktionen als Zielsysteme der Ökonomie enthalten Werte und Wertvorstellungen in Form von Kunst, Religion, kulturellen Dynamiken, lokalen und globalen Vergangenheiten sowie von Belastungen, Hoffnungen und Interessen auf individueller und kollektiver Ebene, die in die ökonomische Theorie integriert werden müssen. Die Geisteswissenschaften können und sollten daher zu einem Paradigmenwechsel im ökonomischen Denken beitragen, der das Konzept der Lebensqualität, die Ich-Perspektive der menschlichen Akteure und ihre Einbindung in größere natürliche und soziale Prozesse berücksichtigt.

Ein falsches Selbstbild hat negative Folgen für unser Handeln. Der positive Beitrag der geisteswissenschaftlichen Erforschung der Art und Weise, wie wir uns auf den verschiedenen Ebenen des individuellen Handelns und der sozialen Interaktion selbst begreifen, besteht also darin, falsches Bewusstsein zu korrigieren. Dies erfordert eine transdisziplinäre Zusammenarbeit, also akademische Forschung über Fächergrenzen hinweg, die in einem Kontext sozioökonomischer Interaktion mit Interessengruppen und Praktikern aus allen relevanten Bereichen stattfindet.