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Wir können die Demokratie retten – wenn wir unsere Wirtschaft fundamental umstellen Lange war die herrschende Doktrin, ein auf reinem Gewinnstreben basierendes Wirtschaftssystem bringe die Menschheit stetig voran. Davon kann keine Rede mehr sein – vielmehr wissen wir längst, dass diese Form des Kapitalismus verantwortlich ist für soziale Ungleichheit, Klimakrise, Massenmigration, ja selbst für Kriege. Markus Gabriel macht deutlich, dass wir dem Schaffen des Guten einen neuen Wert verleihen müssen – in der Gesellschaft allgemein und in der Wirtschaft im Besonderen. Nur ein ethischer Kapitalismus, der finanziellen Profit grundsätzlich mit moralisch positiven Werten verknüpft, wird unsere Erde, unseren Wohlstand und auch unsere demokratischen Staatsformen sichern können. Wir haben eine Zukunft: mit einer Welt, in der die Schaffung von Gütern stets mit moralisch guten Ergebnissen einhergeht und in der wir nicht nur politischen Institutionen, sondern auch Wirtschaftsführern und technologischen Visionären vertrauen können, dass ihr grundlegendes Ziel darin besteht, die Dinge für alle zum Besseren zu verändern.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Gutes tun
MARKUS GABRIEL, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1) sowie der New School for Social Research in New York City. Seit 2024 ist er Senior Global Advisor am Kyoto Institute of Philosophy, an dem das Konzept des ethischen Kapitalismus in Theorie und Praxis erprobt wird. Viele seiner Bücher wurden zu Bestsellern.
Längst wissen wir, dass eine von der Ethik entkoppelte Form des Kapitalismus mitverantwortlich ist für soziale Ungleichheit, Klimakrise, Massenmigration, ja selbst für Kriege. Umso dringlicher ist es, dass wir dem Schaffen des Guten in der Wertschöpfung einen höheren Rang einräumen – in der Gesellschaft allgemein und in der Wirtschaft im Besonderen. Zu diesem Zweck entwickelt Markus Gabriel in seinem neuen Buch das Konzept des ethischen Kapitalismus und zeigt: Wir haben die Chance auf eine bessere Zukunft – aber nur in einer Welt, in der die Schaffung von Gütern stets mit ethisch guten Ergebnissen einhergeht und in der wir nicht nur politischen Institutionen, sondern auch Wirtschaftsführern und technologischen Visionären darauf vertrauen können, dass ihr grundlegendes Ziel darin besteht, die Dinge für alle zum Besseren zu verändern.
Markus Gabriel
Wie der ethische Kapitalismus die Demokratie retten kann
Aus dem Englischen von
Ullstein
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Einleitung
Wir leben in einer Zeit beispielloser Krisen
Teil 1: Ein Philosoph denkt über die Wirtschaft nach
Zur Definition von
Ethik, Kapitalismus
und
Gesellschaft
Verschachtelte Krisen. Zur Komplexität der gegenwärtigen Lage
Teil 2: Ethischer Kapitalismus
Kapitalismus und Kommunismus
Wirtschaft in der Krise
Moral und ökonomischen Wert koppeln: der Weg zu einer Neuen Aufklärung
Das menschliche Tier und der Vorrang der Kooperation
Moralischer Fortschritt und Nachhaltigkeit
Teil 3: Anwendungen
Der ethische Kapitalismus
CPO und Ethikabteilung
Lasst Kinder wählen!
Die metaphysische Pandemie. Wie wir unser Begehren steuern können
KI-Ethik der nächsten Generation
Fazit
Anhang
Danksagung
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Einleitung
Wir leben in einer Zeit beispielloser Krisen. Kaum ist die Covid-Pandemie überstanden, werden in etlichen Teilen der Welt neue Kriege entfacht. Dementsprechend setzen heute viele Staaten auf massive Militarisierung, was weitere Konflikte nach sich ziehen wird. Ein friedliches globales Miteinander scheint zunehmend unmöglich. Zugleich wächst sowohl auf nationaler Ebene als auch weltweit die wirtschaftliche Ungleichheit. Die Klimakrise schlägt sich in Extremwetterlagen und in einem rapiden Schwund intakter Ökosysteme nieder. All diese Faktoren führen zu massenhaften Migrationsbewegungen, und diese wiederum lösen politische Unruhen aus. Zugleich sind, dank wissenschaftlicher Durchbrüche, digitale Technologien in unseren Gesellschaften auf dem Vormarsch, allen voran die künstliche Intelligenz (KI). Sie schaffen keineswegs nur Wohlstand und neue Berufsfelder, nein, mit der Automatisierung gehen auch viele Arbeitsplätze verloren, und die immer höhere digitale Beschleunigung unseres Soziallebens durch Social Media trägt zur Verbreitung von Fake News, Propaganda, Meinungsschlachten und letztlich zur brandgefährlichen Polarisierung unserer Gesellschaft bei. Das Tempo des Wandels ist so hoch geworden, dass Medien, Politik und Zivilgesellschaft nicht mehr Schritt halten können mit den Veränderungen, die die Gesellschaft als ganze betreffen. Es fühlt sich an, als seien wir Schlafwandler auf dem Weg in eine globale Umwälzung, die in mancherlei Hinsicht – man denke nur an die Klimakrise oder die geopolitischen Spannungen – katastrophal enden kann.
Da sich zurzeit viele Krisen unkontrollierbar verschlimmern, steht das Zivilisationsmodell der Moderne unter heftigem Druck. Diesem Modell liegt, knapp gesagt, die Vorstellung zugrunde, wir alle könnten ein immer besseres Leben führen, wenn wir technisch-wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt verbinden: Man kombiniere wachsenden Wohlstand für möglichst viele Menschen mit einer liberalen, demokratischen Gesellschaft, und Friede und Glück werden einkehren. Unsere Gegenwart zeigt, dass dieses Versprechen gescheitert ist. Die Kollateralschäden und Unzulänglichkeiten des Modells überwiegen inzwischen seine Vorzüge. Der Klimawandel ist ein solcher Kollateralschaden ebenso wie die globale soziale Ungleichheit, die nicht durch globale Institutionen ausgeglichen wird, weshalb immer noch viel zu viele Menschen in extremer Armut leben. Daher suchen heute viele denkende, visionäre und politische Köpfe geradezu händeringend nach radikal neuen Visionen für eine geteilte menschliche Zukunft. Bisher fehlt die entscheidende Zutat, die eigentlich auch zum Projekt der Moderne gehört: der humane Fortschritt, der durch ethisches Denken und Handeln auf allen Ebenen der Gesellschaft erreicht wird.
In diesem Buch werde ich argumentieren, dass wir einen neuen Gesellschaftsvertrag brauchen, um die Probleme unserer Zeit zu bewältigen. Um das Zeitalter der Krisen, in dem wir derzeit leben, zu überwinden, brauchen wir nichts weniger als eine Neue Aufklärung. Diese Neue Aufklärung geht von dem Ansatz aus, dass wir – und zwar dringend – den moralischen, menschlichen Fortschritt mit unseren sozioökonomischen Mitteln zur Produktion von Waren und Dienstleistungen und damit von Wohlstand und Wohlfahrt neu koppeln müssen.
Dafür ist keine Revolution nötig, kein Systemwechsel. Gerade in liberalen Demokratien würde ein Umsturz die Dinge nur verschlimmern. Was wir brauchen, sind radikale Innovationen, die von einer neuen Vision des Guten geleitet werden, und zwar in allen Bereichen der Gesellschaft. Diese neue Vision des Guten muss gleichermaßen realistisch und utopisch sein: Sie muss sowohl auf unserer gegenwärtigen Praxis basieren als auch auf eine bessere Zukunft ausgerichtet sein. Wir müssen also über den gegenwärtigen Horizont der Möglichkeiten, der düster und trostlos erscheint, hinausblicken, um eine neue Ordnung zu schaffen, ohne dabei das Bewahrenswerte, Erarbeitete und Erreichte zu zerstören. Diese neue Ordnung muss das Gute von heute bewahren und es im Lichte der Idee des Fortschritts reformieren. Fortschritt bedeutet in diesem Zusammenhang positive soziale Veränderung, und positive soziale Veränderung kann nur erreicht werden, wenn wir eine Vision des Guten teilen, die für uns alle verbindlich ist. Eine solche Vision existiert derzeit nicht. Darum müssen wir sie schaffen, indem wir gemeinsam vorwärts denken.
In modernen Gesellschaften spielt die Wirtschaft eine entscheidende Rolle für die Herstellung von gesellschaftlicher Stabilität und der Bedingungen für ein gutes Leben. In diesem Buch werde ich argumentieren, dass die Neue Aufklärung, dir wir benötigen, nicht nur in unseren Köpfen und Herzen beginnt, sondern auch in der Wirtschaft umzusetzen ist. In diesem Zusammenhang wird es zur Aufgabe von Unternehmen, ihre Geschäftsmodelle und -praktiken auf die Idee zu gründen, dass langfristiger, nachhaltiger und damit wahrer wirtschaftlicher Erfolg davon abhängt, Gutes zu tun. Entgegen dem berühmten Slogan des Nobelpreisträgers Milton Friedman, dass »das Geschäft des Geschäfts das Geschäft« (»the business of business is business«) sei, ist es an der Zeit, die Richtung zu ändern: Das Geschäft der Wirtschaft ist es, Gutes zu tun und davon zu profitieren.
Die Begründung dafür ist recht simpel. Stellen Sie sich zwei Firmen mit etwa gleich hohem Umsatz vor – nennen wir sie Gut und Böse. Die Geschäfte der Firma Böse verursachen schwere Umweltschäden, ihre Gesellschafter und Führungskräfte beuten die Beschäftigten aus und schaffen eine toxische Arbeitsatmosphäre. Auf den ersten Blick sind diese Geschäfte gleichwohl wirtschaftlich sehr erfolgreich, sie werfen hohe Gewinne ab.
Die Firma Gut arbeitet nach herkömmlichen ökonomischen Begriffen, die Umweltzerstörung und die Ausbeutung von Mitarbeitern nur unangemessen in der Bilanz berücksichtigen, ebenso profitabel wie die Firma Böse. Doch dank ihres Geschäftsmodells und ihrer Betriebskultur hat sie gesunde, zufriedene Angestellte und trägt an den Orten, an denen sie aktiv ist, zur kulturellen und allgemeinen Vielfalt mit friedlich koexistierenden Lebensentwürfen bei. Überdies erzeugt sie umweltverträgliche Waren und Dienstleistungen und investiert einen bedeutenden Teil ihrer Gewinne in andere sozial ausgerichtete Unternehmen.
Ohne Wenn und Aber halten wir angesichts dieser Tatsachen sicher alle Gut für die bessere Firma als Böse, auch wenn beide gleich viel Profit abwerfen. Dieses schlichte Gedankenexperiment zeigt, dass wir Verhältnisse bevorzugen, in denen Gewinne erwirtschaftet werden, indem man gleichzeitig etwas Gutes tut und respektvoll miteinander umgeht. Ich werde im Folgenden immer wieder auf Kants Begriff des »höchsten Guts« zurückkommen, um dieses Argument auszuführen. Im Sinn des höchsten Guts ist es besser, wenn Menschen glücklich werden, weil sie es verdienen, als wenn Menschen glücklich werden, weil sie böse agieren. Hierbei handelt es sich um eine grundlegende menschliche Intuition, die über alle Zeiten hinweg und in allen Kulturen anzutreffen ist. Sie kann uns als Leitlinie dienen, um unsere Institutionen und Gesellschaften zu verbessern.
Colin Mayer, emeritierter Professor für Management an der Blavatnik School of Government und der Saïd Business School in Oxford, vertritt in seinem jüngsten Buch Capitalism and Crises die Ansicht, wir könnten den Kapitalismus auf der Basis eines solchen Prinzips (oder »Moralgesetzes«, wie er es nennt) reformieren. Der Kapitalismus versprach einst, dass Marktmechanismen uns helfen würden, Menschheitsprobleme zu lösen. Dementsprechend sollten wir im Licht unserer individuellen und kollektiven Moral, unserer ethischen Grundsätze beurteilen, ob der Kapitalismus funktioniert oder nicht.
Mein Buch ist von Mayers Argumentation inspiriert, und ich hatte in den vergangenen Jahren das Vergnügen, in einigen Projekten eng mit ihm zusammenzuarbeiten, um auf diese Weise Ökonomik und Philosophie ins Gespräch zu bringen. Mein Slogan Das Geschäft der Wirtschaft ist es, Gutes zu tun führt zum Vorschlag eines ethischen Kapitalismus. Dass es sich dabei nicht bloß um Wunschdenken handelt, lässt sich anhand ganz aktueller Beispiele verdeutlichen.
Die Branche der sozialen Netzwerke scheint phänomenale Geschäftsmodelle vorzulegen. Facebook, Twitter (nun X), WhatsApp, Snapchat, TikTok und andere sind ökonomisch denkbar erfolgreich. Zugleich aber hat jedes dieser Netzwerke auf seine Weise zu einem massiven Demokratieabbau in der Welt beigetragen. Indirekt haben sie einige der jüngsten geopolitischen Konflikte mit verursacht, indem sie es ruchlosen staatlichen und privaten Akteuren ermöglichten, Verschwörungserzählungen und blanke Lügen zu verbreiten und Wahlen zu manipulieren. Dabei war ihr anfänglicher extremer ökonomischer Erfolg (maßgeblich der von Facebook) gerade ein Ergebnis ihrer ethischen Haltung: Sie versprachen, uns miteinander zu verbinden, uns mit Freundinnen und Freunden in weiter Ferne in Kontakt zu halten, Bilder und Informationen zu teilen und damit insgesamt dabei zu helfen, die Welt zu einem besseren und freieren Ort zu machen. Dass dieses Bild eher einem Wunschdenken entsprang, wurde schon mit dem Scheitern des Arabischen Frühlings klar. Andere Formen drastischer sozialer Umbrüche wären ebenfalls ohne Social Media nicht möglich gewesen. Die Umwälzungen, die sie durch ihre neuartige Vernetzung auslösten, stellten sich nicht als nachhaltig heraus. Denn man hatte übersehen, dass natürlich alle die sozialen Netzwerke benutzen können, auch diejenigen, die gegen moralischen Fortschritt sind oder sogar terroristische Bestrebungen haben und sich über soziale Netzwerke organisieren und dort sogar Mitstreiter rekrutieren. Die Auswirkungen einer hochgradigen, doch so gut wie unregulierten connectivity im Internetzeitalter sind eben weder vorhersehbar noch kontrollierbar.
Soziale Netzwerke, die nicht mit ihren eigenen technologischen und ökonomischen Mitteln Strategien für moralischen Fortschritt und gesetzliche Aufsicht in ihre Angebote einbinden, werden über kurz oder lang untergehen. In diesem Zusammenhang habe ich seit etwa 2015 das Versagen von Facebook und Twitter vorhergesagt, und es kam schneller, als ich erwartet hatte. 2021 wurde das Unternehmen Facebook, Inc. umfirmiert zu Meta Platforms. Zumindest teilweise war das eine Reaktion auf die Enthüllungen von Whistlerblowern und auf die zunehmende Kritik aus Gesellschaft und Politik. Einer von Facebooks früheren Investoren, Roger McNamee, prägte dazu in Anlehnung an Mark Zuckerbergs Nachnamen das Wortspiel, zuerst habe die Gesellschaft, dann das Unternehmen Facebook selbst »gezuckt«.1 Angesichts sinkender Profite und damit einhergehender Entlassungen beschloss der Konzern, seinen Schwerpunkt auf die Entwicklung von KI-Technologie zu verlagern. Zwar hatte dieser Schwenk zunächst einen erstaunlichen Anstieg des Börsenwerts von Meta zur Folge, doch das wird sich absehbar in ein totales Scheitern verwandeln, wenn die neu entwickelten KI-Systeme nicht an ethischen Einsichten und Normen ausgerichtet werden. Meta muss die Facebook-Lektion beherzigen, sonst wird es wieder zu einer anderen Unternehmensstruktur umgebaut werden müssen, bis es endgültig verschwindet.
Der Fall von Twitter, jetzt X, ist noch krasser. Dass viele Menschen jahrelang glaubten, bei Twitter handele es sich um eine Art Nachrichtenplattform, auf der progressive Denkerinnen, Journalisten oder auch staatliche Institutionen relevante Informationen teilen und finden könnten, verwundert umso mehr, weil Twitter als Donald Trumps Medium prominent und massentauglich wurde. Twitter bildet das Paradigma eines Systems, das massenhaft Filterblasen und Bestätigungsfehler hervorbringt. Wer Twitter nutzte, wähnte sich lange Zeit ganz nah an den neuesten Meldungen und an der Wirklichkeit. Dabei sahen wir dort alle weitgehend nur eine von den Mitgliedern selbst fabrizierte Realität, ein Trugbild, zusammengesetzt aus ihren eigenen Ansichten zu Gesellschaft und Politik. Zwar versuchte Twitter (aus meiner Sicht zu halbherzig), gegen Fake News, Bots usw. vorzugehen, was aber letztlich Elon Musk auf den Plan gerufen hat, der unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit allem Unheil wieder Tür und Tor geöffnet hat. Trumps Account wurde entsperrt, und es bleibt abzuwarten, was uns von dort noch blüht.
Nehmen wir zum Vergleich ein weiteres berühmtes Unternehmen von Elon Musk, Tesla. Mittlerweile ist Tesla globale Konkurrenz erwachsen, in all den Gesellschaften, deren Wirtschaftsmodell an der Autoindustrie hängt – darunter Deutschland und Japan, aber auch Südkorea und China. Dass Tesla das E-Auto nicht nur attraktiv gemacht hat, sondern im großen Stil technisch umsetzbar und wirtschaftlich tragfähig, bringt ein neues, weltweit erfolgreiches Geschäftsmodell hervor und trägt potenziell zur Bewältigung der Klimakrise bei. Dabei sind Tesla und viele andere vergleichbare Unternehmen weit davon entfernt, wirklich akzeptable Arbeitsbedingungen zu bieten oder gar alle Probleme zu lösen, die sie als Kollateralschäden hervorgebracht haben. Die Produktion von längst nicht hinreichend nachhaltigen Batterien und die teils intransparenten und ausbeuterischen Praktiken der Gewinnung seltener Erden beispielsweise werfen neue ethische Probleme auf. Elon Musk ist alles andere als ein Heiliger. Die Tatsache, dass Tesla massive Profite auf der Basis eines teils moralisch fortschrittlichen Geschäftsmodells generiert, bedeutet nicht, dass das Unternehmen ganz und gar gut ist. Auch Tesla muss auf jeden Fall noch ethisch reformiert und verbessert werden, um nicht nur einen allgemeinen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels zu liefern, sondern überdies die Kollateralschäden und Nebeneffekte der sozial-ökologischen Transformation zu bewältigen.
Stellen wir uns nun vor, bestehende Unternehmen würden einen erheblichen Teil ihrer Gewinne für die Erforschung möglicher Nebenwirkungen ihrer Geschäftsmodelle aufwenden, anhand der Leitfrage, wie sie das Konsumverhalten positiv beeinflussen und auf diese Weise zum gesellschaftlichen Wandel beitragen können. Damit würden sie nicht nur ihre Umsätze steigern, sondern zugleich die Welt verbessern. Das wichtigste Argument dafür ist, dass wir Menschen ein vitales Interesse sowohl an unserem persönlichen als auch am kollektiven Wohlergehen haben. Wir alle ziehen eine Welt vor, in der Wohlstand durch moralisch gutes Handeln erlangt wird und in der wir bei unseren politischen Institutionen, aber auch bei Führungskräften in der Wirtschaft und bei technologischen Visionärinnen darauf vertrauen können, dass es deren Anliegen ist, Dinge zum Besseren zu verändern.
Die Einsicht, wie die sozialen Netzwerke zum vor allem demokratischen und in der Folge tendenziell auch zum ökonomischen Risiko wurden, lässt sich dafür nutzen, bessere Systeme zu entwickeln. Diese besseren Systeme würden auch den Internetsuchtfaktor berücksichtigen und dafür sorgen, dass ihr Geschäftsmodell nicht primär auf der Ausbeutung der Aufmerksamkeit der User basiert. Zum Beispiel könnten wir ein neues soziales Netzwerk aufbauen – nennen wir es AGORA, nach dem altgriechischen Wort für den öffentlichen Raum, den Marktplatz. Dieses neue Netzwerk ist hochgradig selbstregulierend: Es erkennt Hassrede und löscht sie, seine KI-Modelle unterstützen die User mit Ratschlägen, wie sie ihre Beiträge höflich formulieren können. Es arbeitet mit Qualitätsmedien zusammen, um eine seriöse Berichterstattung zu gewährleisten, und es bietet den Usern eine Gewinnbeteiligung an, in Relation zu den Daten, die sie für die Firma produzieren. AGORA wäre ein privates, kein staatliches Unternehmen, doch sein Ziel wäre, mit digitalen Mitteln die Qualität unserer demokratischen Öffentlichkeit zu verbessern. Zu diesem Zweck würde es Politologinnen, Kulturwissenschaftler, ausgebildete Journalistinnen und Ethiker beschäftigen, die zusammen mit den Softwareentwicklerinnen seine digitale Infrastruktur erstellen und laufend aktualisieren würden. Ausgangspunkt für den Aufbau von AGORA könnte die Forschung zum gegenwärtigen Scheitern der sozialen Medien sein, und somit könnte das neue Netzwerk konkret zum moralischen Fortschritt in unseren dunklen Zeiten beitragen.
Es gibt keinen Grund, ein solches Netzwerk nicht umgehend zu realisieren. Gerade in Europa könnte es zu einem wirtschaftlichen Erfolg werden, wenn viele der starken, überwiegend national agierenden Qualitätsmedien zusammenarbeiten würden, um AGORA hervorzubringen. Hier besteht eine echte Marktlücke für ein moralisch hochwertiges Produkt.
Wenn das Zivilisationsmodell der liberalen Demokratie, das auf die Marktwirtschaft setzt, um Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturen zu produzieren und damit für eine möglichst große Zahl von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen gute Lebensbedingungen zu schaffen, die derzeitigen Angriffe von innen (durch extremistische Parteien und Bewegungen) und außen (Stichwort russische, aber auch chinesische Manipulation und Propaganda) überstehen soll, muss es sich auf sein anfängliches Versprechen zurückbesinnen. Dafür brauchen wir eine ganze Reihe ethischer Reformen. Und diese Reformen müssten durchaus radikal sein.
Heute steht die Menschheit vor mehreren existenziellen Bedrohungen auf einmal, also vor kritischen Situationen, die zu unserer Auslöschung führen können. Ein Atomkrieg; superintelligente KI-Systeme, die sich gegen unsere Gesellschaften und Infrastrukturen kehren; tödliche Viren und Bakterien, die unsere Freiheiten und Zivilisationen zerstören können; die Vernichtung der Ökosysteme, auf die wir zum Leben angewiesen sind: Das alles sind heute reelle Gefahren. Um uns gegen diese Bedrohungen zu wappnen, brauchen wir eine positive Vision.
Diese positive Vision muss in konkreten Handlungsabläufen realisiert werden. Als Individuen, lokale Kollektive, Institutionen und letztlich als Gesellschaft müssen wir jeweils vor Ort – dort, wo wir wirken können – gemeinsam daran arbeiten, das ethische Richtige zu identifizieren und umzusetzen. Darin sind wir fehleranfällig. Das ethische Richtige, also das Gute, zu identifizieren und umzusetzen, gelingt nicht automatisch dadurch, dass wir moralische Ansprüche erheben.
Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, können wir uns es nicht leisten, vor Angst zu erstarren oder gar wegzurennen – einen Planeten B gibt es für uns nämlich nicht. Die französische Sängerin Camille fasst die Situation in ihrem wunderschönen Lied Mars is no Fun übersetzt so zusammen:2
Du kannst nicht an den Strand
zu wenig Wasser
Du kannst das Fenster nicht öffnen
keine Luft vor dem Bungalow
Das haben sie in der
Broschüre nicht erwähnt
Ich tappte in die Falle, als ich
vor fünf Jahren herzog
Der Mars macht keinen Spaß
Ich bin Camilles Meinung, wenn sie uns daran erinnert, wie viel das, was wir heute noch haben, wert ist:
Ich will zurück zur Erde
und bei euch leben
in unseren Sozialwohnungen
und den ganzen Nachmittag
durch das Einkaufszentrum
von Milton Keynes spazieren
Der Mars macht keinen Spaß
Erstaunlicherweise bestünde die erste radikale Reform unseres heutigen Systems darin, seine bestehenden Vorteile zu nutzen. Anstatt nach Fluchtwegen aus dem Kapitalismus, der Demokratie oder gar vom Planeten Erde zu suchen, müssen wir die Umstände ändern, die unsere Kritikerinnen zu Recht als Achillesfersen identifiziert haben. Anders gesagt: Wir müssen das Kind nicht mit dem Bad ausschütten, sondern wir brauchen Reformen des Kapitalismus, um die ökologische Krise zu bewältigen, sozial schädliche Formen von Ungleichheit zu überwinden und die Bedrohungen durch Technologie und Kriege in den Griff zu bekommen. Dafür aber müssen wir uns zum Wert dessen bekennen, was unsere Vorfahren und wir in den vergangenen wenigen Jahrhunderten der Moderne geleistet haben. In der Moderne sind Milliarden von Menschen aus extremer Armut befreit worden. Das Leben in wohlhabenden Gesellschaften war nie so angenehm wie heute. Und wir sind mittlerweile fähig zur moralisch fortschrittlichen Einsicht in die früheren Verfehlungen der industriellen Revolution und in die geopolitischen Katastrophen und Kriege, die sie als Kollateralschäden verursacht hat.
Wenn wir heute die schädlichen Auswirkungen und Voraussetzungen der Moderne benennen und hinterfragen können, so ist auch dies ein Teil der Moderne. Dass wir heute den Kapitalismus für seine ökologischen Auswirkungen kritisieren können, für die Ausbeutung der Arbeitenden, für seine kolonialen Anfänge, seine Gender-Ungerechtigkeit und andere Formen von Diskriminierung, wurde durch das moderne Zivilisationsprojekt und damit eben auch ganz wesentlich durch den Kapitalismus selbst ermöglicht. Anstatt ihn nun aufzugeben, sollten wir die Gelegenheit nutzen, ihn radikal zu reformieren.
Konkret heißt das: Die Wirtschaft steht nicht nur in der Verantwortung, externe, staatliche Regulierung zuzulassen, sondern auch, sich selbst zu regulieren. Nur so kann sie dabei helfen, dass wir alle gemeinsam zum Beispiel die von den Vereinten Nationen formulierten Nachhaltigkeitsziele erreichen. Diese umfassen so noble Werte und Anliegen wie die Überwindung der Armut, die Gleichstellung der Geschlechter, anständige Arbeitsbedingungen, Wirtschaftswachstum, Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – aber auch den Schutz des Lebens anderer Spezies unter Wasser und an Land.3
Man stelle sich nun vor, die Unternehmen würden nicht nur nach der Heilung für Krebs suchen (was natürlich höchst begrüßenswert ist!), sondern sie würden auch Geschäftsmodelle entwickeln, um etwa mehr Gender-Gleichberechtigung zu erreichen oder die Natur zu schützen. Ein ansatzweise visionäres Beispiel dafür bietet die Luftschifffahrt – ein Thema, über das ich mit Technologieentwicklern, Wissenschaftlerinnen, Philosophen und in jüngster Zeit auch Managerinnen aus der Flugzeugindustrie diskutiert habe. Sie alle bestätigten mir, dass eine Ausweitung der Luftschifffahrt zu Reisezwecken viel umweltverträglicher wäre, als, wie noch heute, allein auf extrem luftverschmutzende Flugzeuge zu setzen, und sie wäre auch machbar und könnte hohe Gewinne erzielen. Oder die Tourismusbranche: Ohne Weiteres könnte sie viel mehr umschwenken auf nachhaltigere, eher lokale Angebote zur Freizeitgestaltung und Erholung, für Naturerlebnisse und Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit.
Dabei müssen solche Geschäftsmodelle nicht mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auftreten. Wirtschaftliches Handeln kann nicht darin bestehen, dass wir nun alle Menschen davon abbringen, nach Mallorca oder Kenia zu reisen und stattdessen die (übrigens sehr schöne) Mecklenburgische Seenplatte zu bevorzugen. Der Mensch ist und bleibt frei, was auch für unser Konsumverhalten gilt. Eine unternehmerische Lösung von Problemen besteht darin, attraktivere Angebote zu schaffen, sodass Menschen lieber nachhaltig konsumieren, indem etwa fleischlose Angebote auf einer Speisekarte einfach besser schmecken. Kurzum: Hybride Lösungen, die verschiedene Angebote machen und damit sowohl mehr als auch weniger nachhaltige Produkte zur Auswahl anbieten, sind besser als Versuche, absolute Eindeutigkeit herzustellen. Das ist der Unterschied zwischen einem ethischen Kapitalismus, der mit der freien Marktwirtschaft nicht fremdelt, und den moralisierenden, oft mit Absolutheits- und Dringlichkeitsanspruch auftretenden Ansprüchen eines sich für progressiv haltenden urbanen Bürgertums, die heute viele Menschen abschrecken, wie wir etwa bei den Europawahlen 2024 gesehen haben.
Radikaler sind die Vorschläge, die ich in diesem Buch für eine neue Ethik der künstlichen Intelligenz machen werde: nämlich, dass wir KI-Systeme entwickeln sollten, deren Ziel es ist, zum positiven gesellschaftlichen Wandel beizutragen und damit zum moralischen Fortschritt. Es ist möglich, KI-Modelle zu programmieren, die nicht weitgehend unkontrolliert soziale Systeme erschüttern, indem sie – als nur scheinbar neutrale Instanz – den Nachrichtenverkehr, den Informationsaustausch etc. erhöhen. Die KI-Forschung lässt sich auch zur Entwicklung von Modellen nutzen, die uns zum Beispiel zu verstehen helfen, wie Menschen in verschiedenen Kulturen und sozialen Sphären denken, handeln, urteilen, ihr Leben gestalten – und somit dazu beitragen, dass wir herausfinden, was wir wirklich alle gemeinsam haben. Mithilfe der Tech-Industrie können wir also unser ethisches Denken verbessern. Doch dafür müssen wir die Geschäftswelt reformieren: Wir müssen Fachleute aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften einbeziehen, vor allem aus der Philosophie und Ethik, um herauszufinden, wie wir mit unternehmerischen Mitteln durch moralisch gutes Handeln die Gesellschaft verbessern können.
Das heißt, wir brauchen eine neue Art der Ethik – eine, die nicht etwa die Märkte einschränkt, indem sie Innovationen ausbremst, oder sich darauf begrenzt, böswillige Akteure, Monopole und andere pathologische Gebilde zurückzudrängen, die unsere gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Freiheiten untergraben. Zusätzlich zu teils notwendigen Regulierungen und staatlichen Eingriffen sollten wir eine Ethik formulieren – und sie dann in den sozioökonomischen Kontexten der realen Welt umsetzen –, deren Funktion es ist, unsere Wirtschaft hochzuregulieren, sodass sie die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen von heute und moralisch progressiverer künftiger Gesellschaften erfüllt.
In ebendiesem Zusammenhang werde ich auch das Gedankenexperiment eines wirklich allgemeinen Wahlrechts anstellen, zu dem das Stimmrecht für Kinder gehört. Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jede Person das Recht darauf, mitzubestimmen, auf welche Art regiert wird. Die Legitimität einer Regierung beruht auf einem tatsächlich allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Wie aber sollen Menschen unter 18 beziehungsweise unter 16 Jahren in diese Repräsentation des demokratischen Willens einbezogen werden, wenn wir eine paternalistische Auffassung von Kindern als noch nicht vollends vernunftbegabte Wesen haben? Wie können wir die Jugendlichen und auch jüngere Kinder wirklich in das sozioökonomische und politische Projekt einer besseren Zukunft einbinden? Auch hier sollten wir – für konkrete Vorschläge zur Einführung eines Kinderwahlrechts – Forschung aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften hinzuziehen, einschließlich der Psychologie, der Politologie, der Neurowissenschaft und der auf lokale Eigenheiten fokussierten Kulturwissenschaft. Und wiederum sind viele Geschäftsmodelle denkbar, die aus dieser Idee hervorgehen könnten. Ihr Ausgangspunkt könnte der Einfluss der Wirtschaft auf das Konsumverhalten und das soziale Umfeld unserer Kinder sein, die ja für die Erzeugung und Verwendung von Waren und Dienstleistungen ebenso Zielgruppe sind wie wir Erwachsenen.
Weil es mir ein so wichtiges Anliegen ist, die liberale Demokratie nicht nur zu bewahren, sondern sie durch meine Vision eines ethischen Kapitalismus möglicherweise auch zu verbessern, schreibe ich dieses Buch so, dass hoffentlich die meisten Mitbürgerinnen und Mitbürger meiner Argumentation folgen können. Ich vermeide nach Möglichkeit philosophische und technische Fachausdrücke. Um überzeugend argumentieren zu können, muss ich allerdings einige Einzelheiten der Theorie erläutern, die meinen Vorschlägen zugrunde liegt. Das werde ich tun, indem ich meine Begriffe erkläre und meine Gedankengänge so transparent wie möglich mache. Um meine Argumentation nachzuvollziehen, soll kein Hochschulabschluss nötig sein und schon gar kein Philosophiestudium.
Zu meiner Vision einer Neuen Aufklärung zählt die Vorstellung eines öffentlichen Raums, wo wir alle unser jeweiliges Wissen ins Zentrum der politischen Selbstbestimmung einbringen können. Dafür ist ein neuer Typus der gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich engagierten Philosophie nötig, der sich so klar wie möglich ausdrückt. Nur so können wir kollektiv unser Denken und dann hoffentlich auch unser Handeln verbessern.
Dieses Buch führt ein neuartiges Konzept ein: den ethischen Kapitalismus. Es argumentiert, dass ökonomischer Profit aus moralisch gutem Handeln hervorgehen kann und auch sollte. Wir brauchen keine Revolution und keinen Systemwechsel, um die komplexen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krisen der Gegenwart zu bewältigen. Was wir brauchen, sind neue Vorstellungen davon, wie wir gemeinsame Ziele erreichen können, sowie eine neue Vision des Guten, die unsere sozioökonomischen Aktivitäten anleiten sollte. Diese Vorstellungen werden nicht nur in Köpfen und an Schreibtischen erarbeitet, sondern entstehen auch unter den realen Bedingungen unserer Arbeitswelten. Unternehmen und andere Institutionen, die zur Wirtschaft beitragen, können wir dabei im Idealfall als »Labore für moralische Innovationen«4 verstehen.
Wir brauchen also einen neuen Wertehorizont – etwas, wofür wir uns alle zusammen einsetzen und woraus ein gemeinsames Gefühl für den Sinn unseres sozialen Lebens entsteht. Dieses Buch will einen Vorschlag für solch eine Neuorientierung machen und ihn so darlegen, dass wir konkrete Wege zur Verwirklichung der im Folgenden umrissenen Ideale erkennen können.
Bevor ich mich an eine Diagnose unserer Gegenwart begebe und die Grundlagen des ethischen Kapitalismus skizziere, ist es wichtig, einige Leitbegriffe zu klären, damit wir dieses Neuland gemeinsam bereisen können. Vor allem müssen wir uns einig sein, was wir mit »Ethik« und mit »Kapitalismus« meinen, aber auch mit »Gesellschaft«. Sehen wir uns also diese drei Konzepte kurz an.
Die Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie. Sie untersucht moralische Haltungen und Tatsachen. Eine moralische Haltung ist ein Werturteil. Sie bietet jemandem, der etwas vorhat (einer Akteurin, einen Akteur), auf Basis von Regeln mit universellem Anspruch eine Antwort auf die Frage, was sie oder er tun sollte und was nicht.
Hier ein einfaches Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Schwimmbecken und sehen, dass ein Kleinkind drauf und dran ist, im flachen Wasser zu ertrinken.5 Nehmen wir an, Sie sind körperlich nicht im Geringsten beeinträchtigt, Sie könnten also ohne Weiteres zum Becken laufen und das Kind retten. Gleichwohl haben Sie die Wahl, entweder das Kind vor dem Ertrinken zu bewahren oder aber ein eiskaltes Bier zu trinken, das lauwarm werden wird, wenn Sie sich jetzt zuerst um das Kind kümmern. In dieser Situation wird (so gut wie) jeder Mensch sofort wissen, was er zu tun hat: das Kind retten. Wenn Sie glauben, Sie müssen das Kind vor dem Ertrinken bewahren – oder auch, wenn Sie fälschlicherweise glauben, Sie müssten es nicht –, haben Sie eine moralische Haltung. Diese moralische Haltung sollte in die Tat umgesetzt werden – möglichst unverzüglich, damit das Kind gerettet wird; es sei denn, Sie glauben wirklich, Sie könnten ebenso gut dem kalten Bier den Vorzug geben.
Moralische Haltungen zu derart einfachen Fallbeispielen können offensichtlich richtig oder falsch sein. Es ist richtig, dass man das Kind retten soll, und es ist falsch, dass man das Kind ertrinken lassen darf, um das Bier vor dem Warmwerden zu bewahren. Es gibt in der Ethik also Richtig und Falsch, und das ist weder Willkür noch Geschmacksache. Die Ethik hängt auch nicht von Ihrer sozialen, ethnischen oder religiösen Identität ab, auch nicht von Ihrer politischen Ausrichtung, Ihrer Kultur, nicht einmal von demokratischen Entscheidungsprozessen. Selbst wenn eine Mehrheit gegen die Rettung des Kindes stimmen würde, müsste die handelnde Person das Kind retten. Wir können ethische Fragen in der Regel nicht anhand von Mehrheitsvoten entscheiden.
Eine Tatsache ist, allgemein gesprochen, eine richtige Antwort auf eine sinnvoll gestellte Frage. Zum Beispiel befinde ich mich in Montreal, während ich diese Zeilen schreibe. Fragt mich jemand, ob ich gerade in Kanada bin, lautet meine richtige Antwort auf diese simple und sinnvolle Frage: ja. Dass ich gerade in Kanada bin, ist eine Tatsache. Es gibt viele Arten von Tatsachen: mathematische, geografische, physikalische, soziale, kulturelle Tatsachen und so weiter. Moralische Tatsachen sind das Zielsystem der Ethik, also das, worum es der Ethik geht. Das ethische Denken befasst sich damit, wie Menschen handeln und wie sie handeln sollten. Es verbindet eine deskriptive Analyse menschlichen Verhaltens mit einer normativen Einschätzung, ob das, was Menschen tun, auch das ist, was sie tun sollten.