Auf der Spur des Falken - Rainer M. Schröder - E-Book
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Auf der Spur des Falken E-Book

Rainer M. Schröder

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  • Herausgeber: hockebooks
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ein neues Abenteuer für Tobias und seine Freunde: Die Jagd nach dem Ebenholzstock mit dem silbernen Falkenkopf, den Tobias von seinem Vater geschenkt bekommen hat, geht weiter: Nur knapp ist es Tobias und seinen Freunden gelungen, mit einem Gasballon den Häschern des Grafen von Zeppenfeld zu entkommen. Der Graf will mit allen Mitteln den Stock, dessen Knauf ein großes Geheimnis birgt, an sich bringen. Das Ziel der Freunde ist es, nach Paris zu gelangen. Doch dort geraten sie mitten in die Wirren der Juli-Revolution – und beschließen kurzerhand, weiter nach England zu ziehen. Band 2 der »Falken«-Reihe von Rainer M. Schröder. Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Es ist die Zeit der Restauration und der Geheimbünde, die Zeit von aufregenden Erfindungen und abenteuerlichen Entdeckungsreisen. Tobias Heller, der Sohn eines Forschers und Entdeckers, wächst in der Obhut seines Onkels auf und besitzt einen Ebenholzstock mit einem Silberknauf in Form eines Falkenkopfes. Was Tobias nicht ahnt: Der Knauf birgt ein Geheimnis und ist der Auslöser eines so aufregenden wie gefährlichen Abenteuers, das Tobias und seine Freunde, den Beduinen Sadik und die Landfahrerin Jana, durch ganz Europa führen wird.

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Seitenzahl: 575

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Rainer M. Schröder

Auf der Spur des Falken

Roman

In Liebe meinen Eltern gewidmet, die mir die unendlichen Gärten der Bücher erschlossen haben und mich lehrten, im Abenteuer des Lebens auch nach den Sternen meiner Träume zu greifen.

Erstes Buch:Falkenhof

Mai 1830

Schüsse in der Nacht

In einem weiten Kreis rund um Falkenhof loderten hell die Feuer der Wachtposten. An acht Stellen hatten sie Scheiterhaufen entzündet. Seit Stunden leckten die Flammen auf den nachtfeuchten Wiesen, die den ersten Sommerschnitt noch vor sich hatten, meterhoch in den Himmel. Das Knacken und Bersten von Ästen und Reisig war weithin zu hören. Unruhiger Flammenschein tanzte über die Mauern des trutzigen Gevierts, in dem sich der Universalgelehrte und Geheimbündler Heinrich Heller verschanzt hatte. Immer wieder stoben Funken in die Nacht, wenn die Gendarmen Brennholz in die Flammen warfen. Die Feuer durften nicht verlöschen, damit keinem im Schutz der Dunkelheit die Flucht aus dem Landgut in die nahen Wälder gelingen konnte.

Den Fuchspelzkragen seines Umhangs hoch gestellt, stand Armin von Zeppenfeld im tiefen Schatten der alten Ulmen, die eine prächtige Allee bildeten. Sie führte vom Wald die Anhöhe zum Falkenhof herauf und endete vor dem Westtor. Die beiden Flügel unter dem steinernen Rundbogen waren aus schweren Eichenbalken gezimmert und zudem noch mit breiten Eisenbändern beschlagen. Kein Tor also, das sich so leicht einrennen ließ – schon gar nicht gegen den bewaffneten Widerstand der Eingeschlossenen.

Das wehrhafte Landgut im Sturmangriff zu nehmen erwies sich glücklicherweise als nicht erforderlich. Heinrich Heller gab endlich auf! Er hatte eingesehen, dass er auf Falkenhof in der Falle saß und seine Sache als verloren ansehen musste – wie mächtig Tore und Mauern auch sein mochten.

Der Professor bot einen Handel an.

»Sie wollen den Spazierstock! Und wenn Sie den haben wollen, werden Sie mit mir verhandeln müssen, Zeppenfeld!«, rief ihm der grauhaarige Gelehrte durch eine kleine Luke im Westtor zu. Und drohend fügte er hinzu: »Werde den verdammten Stock nämlich zu Kleinholz zerhacken und mir an dem Feuer die kalten Füße wärmen, wenn Sie nicht bereit sind, mit mir einen Handel zu schließen!«

»Bin zu Handel bereit, Professor!«, erwiderte Zeppenfeld hastig in der ihm eigenen zackigen Redeweise. Die Vorstellung, der Spazierstock mit dem silbernen Falkenkopf könnte tatsächlich im Feuer landen, trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Er musste den Stock unversehrt in seinen Besitz bringen, wenn er das verschollene Tal in Ägypten finden wollte! »Unter Umständen! Welche Bedingungen?«

»Verdammt noch mal, erwarten Sie, dass ich mir hier die Kehle aus dem Leib schreie? Einer Ihrer gedungenen Halsabschneider hat mir eine Kugel in die Schulter verpasst, falls Ihnen das entfallen ist! Ich hab mich in meinem Leben schon mal besser gefühlt. Wenn Sie mit mir verhandeln wollen, müssen Sie sich schon zu mir begeben – oder haben Sie Angst, ich könnte Sie über den Haufen schießen?«

Armin von Zeppenfeld lachte. Er war ein hochgewachsener Mann von vierzig Jahren und sich seiner Attraktivität genauso bewusst wie sich seiner Macht jetzt. Das dichte schwarze Haar trug er sorgfältig gekämmt, was auch auf den penibel getrimmten Backen- und Schnurrbart zutraf. Die markanten Gesichtszüge mit der scharfgeschnittenen Nase und Augenpartie vergaß man nicht so leicht. Und obwohl er in das dunkle, elegante Tuch eines vermögenden Städters gekleidet ging, war seiner Haltung und seinem Auftreten noch immer anzumerken, dass er einmal den Uniformrock eines Offiziers getragen hatte.

»Sind ein Staatsfeind, aber kein Mörder. Jakobiner mit der Feder, nicht mit der Guillotine! Werden also verhandeln!«, rief Zeppenfeld zurück.

»Gut, ich öffne das Tor.«

Zeppenfeld glaubte zu wissen, wie dieser Handel aussehen sollte. Heinrich Heller würde für sich, seinen Neffen Tobias und den Araber Sadik Talib freien Abzug verlangen. Im Prinzip hatte er nichts dagegen einzuwenden, wenn er nur endlich den Falkenstock erhielt. Er interessierte sich nicht für die verbotenen politischen Aktivitäten des Professors, dem jetzt eine langjährige Kerkerstrafe drohte. Dass sich demokratisch gesinnte Freigeister wie Heinrich Heller gegen die Fürsten stellten und für das Volk mehr Menschenrechte wie die Pressefreiheit und sogar eine republikanische Verfassung forderten, ließ ihn kalt. Er hatte stets nur seine eigene Freiheit und seinen Vorteil im Auge. Der Teufel mochte seinetwegen Fürsten und Geheimbündler gleichermaßen holen, solange er nur sein Leben so gestalten konnte, wie es ihm beliebte.

Doch er hatte mit dem Polizeispitzel Xaver Pizalla, der jeden Augenblick mit einer Abteilung Soldaten aus Mainz anrücken musste, eine Vereinbarung getroffen. Und Pizalla, der im Auftrag der Obrigkeit in Mainz und Umgebung Jagd auf Volksaufwiegler veranstaltete, brannte darauf, den Gelehrten vor ein Gericht und in den Kerker zu bringen. Außerdem wollten Stenz und Tillmann mit Tobias abrechnen. Der sechzehnjährige Neffe des Gelehrten hatte seinen beiden Handlangern mit der blanken Waffe eine demütigende Lektion erteilt. Vor allem Tillmann, der in diesem Gefecht sein halbes rechtes Ohr verloren hatte, wollte blutige Rache nehmen.

All das schoss Zeppenfeld durch den Kopf, als Heinrich Heller die kleine Luke schloss. Jeden Augenblick konnte ein Flügel des Eichenbohlentores aufschwingen. Er musste sich entscheiden, wie er vorgehen wollte.

Nein, er konnte weder den Gelehrten noch seinen Neffen abziehen lassen! Aus dem Handel würde nichts. Doch den Falkenstock würde er sich jetzt holen. Was dann mit Heinrich und Tobias Heller geschah, ging ihn nichts mehr an.

»Stenz! Tillmann! Valdek!«, rief er mit gedämpfter Stimme. Die drei ehemaligen Söldner, deren Loyalität immer dem galt, der sie am besten bezahlte, schlossen im Schutz der Bäume zu ihm auf. Sie hielten schussbereite Musketen in den Händen. Leise klirrten Säbel und Degen an ihren Hüften.

»Wollen Sie wirklich da rein und mit ihm verhandeln?«, fragte Tillmann scharf. Sein stoppelbärtiges Gesicht trug einen unverhohlen feindseligen Ausdruck. »Der ist reif. Da gibt es nichts zu verhandeln!«

Zeppenfelds Blick ging unwillkürlich zu Tillmanns verstümmeltem Ohr. Ein echtes Galgengesicht, ging es ihm durch den Sinn. Und da wird er eines Tages auch landen – zusammen mit Stenz und Valdek.

»Blas dich nicht auf! Brauchst nicht jeden gleich mit der Nase drauf zu stoßen, dass du das Denken nicht erfunden hast! Weiss schon, was ich tue!«, wies er ihn mit leiser, aber schneidender Stimme zurecht. Bei diesem Gesindel war eiserne Autorität eine Frage des Überlebens. Nur keine Schwäche zeigen, das wäre gefährlich.

»Die Rotznase gehört mir!«, zischte Tillmann, gab seine drohende Haltung jedoch auf. »Das war so vereinbart.«

»Ich hab auch noch 'ne Rechnung mit dem Burschen zu begleichen«, unterstrich Stenz die Forderung seines Komplizen. Er war ein gedrungener, stämmiger Mann in einem verschlissenen Soldatenrock. Seine kleinen Augen verloren sich beinahe in dem aufgedunsenen Gesicht, das von Hängebacken und einer roten Narbe quer über die Stirn geprägt war. Unter dem stechenden Blick des Mannes, in dessen Sold sie standen, fügte er dann aber noch abschwächend hinzu: »Bei allem Respekt, Herr von Zeppenfeld!«

Valdek, groß, hager und mit einem fettigen Haarzopf, stand hinter ihnen und verzog nur spöttisch das Gesicht. Reden war seine Sache nicht. Das überließ er gern den anderen. Er hielt sich jetzt aber auch aus der Sache heraus, weil sie ihn nichts anging. Weder kannte er diesen Heinrich Heller noch dessen Enkel Tobias, der sich trotz seiner Jugend offenbar meisterlich darauf verstand, eine Klinge zu führen. Den Professor hatte er an diesem Abend zum ersten Mal gesehen – und zwar in Mainz im Hof des Mannes, in dessen Haus die Mitglieder des verbotenen Geheimbundes Schwarz, Rot, Gold zusammengekommen waren, um im Keller Flugschriften zu drucken.

Im Gegensatz zu Stenz und Tillmann stand er erst seit wenigen Tagen auf der Lohnliste dieses vornehmen Herrn, der sich wegen eines lächerlichen Spazierstocks derart in Unkosten und Gefahren stürzte, dass man schon an seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit zweifeln musste. Eine wahrlich merkwürdige Obsession, der er da nachging. Doch ihm sollte es gleich sein. Solange Armin von Zeppenfeld so großzügig in den Geldbeutel griff, war er ihm gern mit Muskete und Säbel zu Diensten. Und dass er jede Münze wert und seinen Aufgaben gewachsen war, hatte er bewiesen: Als sie mit Pizallas Leuten den Geheimbund ausgehoben hatten, war es die Kugel aus seiner Muskete gewesen, die den flüchtenden Professor niedergestreckt hatte. Wenn dieser Araber nicht so geistesgegenwärtig gehandelt und ihn in die Kutsche gezerrt hätte, wäre Heinrich Heller die Flucht aus Mainz hier in sein festungsähnliches Landgut erst gar nicht gelungen. Aber das war nicht ihm anzukreiden. Er hatte mit diesem Schuss im Dämmerlicht des Abends erstklassige Arbeit geleistet – ganz im Gegensatz zu Stenz und Tillmann, die in den vergangenen Wochen so manche Schlappe hatten hinnehmen müssen. Sogar aus der flinken Hand eines Halbwüchsigen!

»Habt meinen Segen! Könnt ihn euch vorknöpfen!«, beruhigte Zeppenfeld Stenz und Tillmann barsch und fuhr hastig fort: »Wird keinen Handel geben! Werden Falkenhof jetzt stürmen. Haltet euch hinter mir! Sowie der Professor das Tor öffnet, stürmt ihr vor und packt ihn euch! Muss aber schnell gehen! Werden keine zweite Gelegenheit erhalten. Muss jetzt auf Anhieb klappen! Denkt daran: Wenn Pizalla mit den Soldaten hier ist, kommt ihr an Tobias nicht mehr heran. Skrupelloser Bursche, dieser Polizeispitzel, doch den Jungen wird er euch nicht ausliefern. Verstanden?«

Tillmann schnaubte grimmig und packte seine Muskete fester. »Wir werden unseren Teil schon leisten! Aber denken Sie daran, dass Sie bei uns im Wort stehen, mein Herr!«

Zeppenfeld hielt es für unter seiner Würde, diese Dreistigkeit durch eine Erwiderung zur Kenntnis zu nehmen.

»Los! Es gilt!«, befahl er, trat hinter den Bäumen hervor und ging mit zielstrebigen Schritten auf das Westtor zu. Valdek, Stenz und Tillmann blieben im Schutz der Ulmen, bewegten sich jedoch auf einer Höhe mit ihm.

Es rumpelte hinter den Flügeln des Tores. Zeppenfeld lachte leise und voller Hohn auf. Der verletzte Professor mühte sich wohl mit dem schweren Balken ab, der das Tor verschloss.

Eine wilde Erregung, wie er sie sonst nur auf der Fuchsjagd kurz vor dem entscheidenden Schuss empfand, packte ihn. Aber diese Sache mit dem Falkenstock und Heinrich Heller war ja auch eine Jagd gewesen. Sogar eine sehr aufregende, die ihm alles an List und Tücke abverlangt hatte. Mehrmals war ihm sein Opfer entwischt. Doch jetzt hatte er es in die Enge getrieben und konnte es endgültig zur Strecke bringen. Gleich würde er den Falkenstock in seinen Händen halten – und damit den ersten Schlüssel zu weltweitem Ruhm und unermesslichem Reichtum!

Es trennten ihn nur noch wenige Schritte vom Tor, als das dröhnende Schlagen von Holz gegen Mauerwerk und der scharfe Knall einer Peitsche Zeppenfeld zusammenfahren ließen. Abrupt blieb er stehen. Im selben Augenblick drang aus dem Innenhof des Gevierts Hufschlag in die Nacht. Als erfahrener Reiter wusste er dieses Geräusch sofort zu deuten: ein Pferd, das aus dem Stand zu einer schnellen Gangart getrieben wurde und fast augenblicklich in einen fliegenden Galopp fiel.

Und darüber lag das unablässige Knallen einer Peitsche.

»Hölle und Verdammnis!«, schrie Tillmann und stürmte hinter den Ulmen hervor. »Der Mistkerl wollte gar nicht verhandeln. Er hat uns reingelegt! Sie versuchen durch das Osttor zu flüchten!«

Von der anderen Seite vom Falkenhof ertönten jetzt die Alarmrufe der Gendarmen. Ein Schuss krachte. Wütende Schreie gellten durch die Nacht, während die Pferdehufe dumpf und unbeirrt im Galopp über den Boden trommelten.

»Weit werden sie nicht kommen!«, rief Stenz beinahe gelassen, während sie um die Ecke des Landgutes liefen. »Da drüben gibt es nichts weiter als offene Weiden und Wiesen. Da hat es sogar 'ne Ratte schwer, ein Versteck zu finden.«

»Heiliges Kanonenrohr, sie versuchen es in einer Kutsche!«, stieß Tillmann ungläubig hervor, als sie die freie Fläche östlich vom Falkenhof im Blickfeld hatten. Die Kutsche wurde von vier berittenen Gendarmen verfolgt.

Zeppenfeld kannte die Gegend um Falkenhof mittlerweile so gut wie kaum ein anderes Gelände. Stenz hatte völlig recht. Eine Flucht nach Osten, zumal noch in Richtung Mainz, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie hatten nicht den Schimmer einer Chance, in diese Richtung zu flüchten. Nicht einmal mit einem Kilometer Vorsprung. Und das ließ ihn plötzlich stutzen. Heinrich Heller mochte ein politischer Phantast sein, doch eines war er ganz sicher nicht: ein Dummkopf. Im Gegenteil. Er hatte einen ungewöhnlich hellen Verstand. Deshalb passte diese Fluchtroute auch nicht zu ihm. Saßen er, Tobias und dieser Muselmane vielleicht gar nicht in dieser dahinjagenden Kutsche? Nein! Es konnte sich dabei nur um eine Täuschung handeln!

Will die Gendarmen, mich und meine Männer dazu verleiten, die Kutsche zu verfolgen, um durch das dann unbewachte Westtor in den nahen Wald zu flüchten, der einfallsreiche Herr Professor!, schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Werde auf den Trick aber nicht hereinfallen! Soll nur kommen, der Herr Universalgelehrte! Werde ihn gebührend empfangen!

Doch er zögerte. Denn andererseits konnte er auch nicht ausschließen, dass der Gelehrte darauf baute, dass er, Zeppenfeld, genau diese Überlegung anstellte und seine Männer hier am Westtor zurückhielt, statt sie der Kutsche hinterherzuschicken. Befand sich das saubere Trio doch in der Kutsche und hielt er seine Männer zurück, dann hatten sie es nur noch mit den Gendarmen zu tun, und mit deren Reit- und Fechtkünsten stand es sicherlich nicht zum Besten. Allein Tobias Heller konnte mit der Klinge dreien von ihnen auf einmal das Fürchten lehren. Und wie gut der Araber mit Flinte und blankem Stahl war, wusste er nur zu gut.

Diese Gedanken jagten sich in Sekundenschnelle hinter seiner Stirn. Doch wie er es auch drehte und wendete: Jede Entscheidung konnte genauso richtig wie falsch sein. Er steckte in einem Dilemma. Doch er musste handeln. Und zwar schnell!

Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als seine Truppe aufzuteilen – was wiederum ein schwerer Fehler sein konnte. Aber Himmelherrgott, irgendetwas musste er ja tun!

»Stenz! Valdek! Zurück zum Tor!«, rief er ihnen zu. »Tillmann, hol unsere Pferde! Rasch!«

»Aber …«, setzte dieser zu einem Einwand an.

»Die Pferde, Mann!«, schrie Zeppenfeld ihn an, während seine Rechte unter den Umhang fuhr und augenblicklich mit einer geladenen Pistole wieder erschien. Er setzte ihm den Lauf auf die Brust. »Noch ein Widerwort und ich muss mir einen neuen dritten Mann suchen!«

Tillmann erblasste und wich zurück. Er öffnete den Mund zu einer hastigen Versicherung, dass er den Befehl sofort ausführen würde. Doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken und seine Augen weiteten sich noch mehr, während sein Blick an Zeppenfeld vorbei nach oben zum Dachgiebel des Landgutes ging.

Ihm war, als stiege eine schwarze Wolke, die schwärzer als die dunkelste Nacht war, aus dem Innenhof des Landgutes auf. Sie wurde größer und größer und nahm die Form einer riesigen Kugel an.

»Allmächtiger!«, ächzte er.

Zeppenfeld ließ die Pistole sinken, fuhr herum und blickte kaum weniger verstört nach oben. Im ersten Augenblick glaubte er auch, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Wie gelähmt stand er da.

Ein Ballon!

Ein nachtschwarzer Ballon stieg vom Falkenhof auf! Gerade geriet der Bastkorb in sein Blickfeld, der haarscharf über den First hinwegglitt. Eine Gestalt zeigte sich an der Brüstung der Gondel.

Zeppenfeld begriff, dass er Heinrich Heller gewaltig unterschätzt hatte. Alles war eine Täuschung gewesen, das Angebot eines Handels und die angebliche Flucht mit der Kutsche, die nur für zusätzliche Verwirrung hatten sorgen sollen, um vom Ballonaufstieg abzulenken.

In rasender Wut riss er die Pistole hoch, zielte auf die Gestalt an der Brüstung und drückte ab. Mit einem scharfen Knall löste sich der Schuss und er hörte, wie die Kugel in den Gondelboden einschlug.

Augenblicklich wurde ihm bewusst, dass er sich in seiner Wut zu einer unüberlegten Handlung hatte hinreißen lassen, die kaum wieder gutzumachen war: Er hatte seine Kugel vergeudet. Statt auf die Gondel zu schießen, hätte er seine Pistole auf die aufgeblähte Ballonhülle richten sollen, um den Stoff zu zerfetzen und das Luftschiff zum Absturz zu bringen.

Tillmann, Stenz und Valdek hatten indessen ebenfalls die Waffen angelegt. Der Ballon, der nach Osten davontrieb, drehte sich etwas und zeigte nun sein Emblem: einen feuerroten Falkenkopf, unter dem die ineinander verschlungenen goldfarbenen Buchstaben HH prangten.

»Nicht auf die Gondel feuern!«, schrie Zeppenfeld ihnen zu. »In den Ballon schießen! Die Hülle!«

Doch es war schon zu spät. Die drei Schüsse aus den Musketen seiner Männer klangen wie eine einzige Salve. Zwei der Geschosse sirrten seitlich am Bastkorb vorbei, der atemberaubend schnell an Höhe gewann. Die dritte Kugel schlug dumpf in einen der Sandsäcke, die außen an der Gondel hingen.

Zeppenfeld tobte. »Elende Schwachköpfe! Nachladen! Nachladen! Holt ihn vom Himmel!« Seine Stimme überschlug sich vor ohnmächtigem Zorn, denn er wusste, dass sich der Ballon längst außer Reichweite der Musketen befand.

Inzwischen hatten auch die Gendarmen die nachtschwarze, gasgefüllte Stoffkugel am Nachthimmel bemerkt. Flintenschüsse krachten in schneller Folge. Zeppenfeld hoffte, dass wenigstens einige ihrer Kugeln die Hülle aufreißen und den Absturz herbeiführen würden.

Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Hülle fiel nicht in sich zusammen, und statt abzustürzen und am Boden zu zerschellen, stieg der Ballon höher und höher. Dabei schien er wie von Zauberhand zu schrumpfen, von einem fast haushohen, tropfenförmigen Gebilde zu einer bald nur noch faustgroßen Kugel. Er verschwamm mit der nächtlichen Dunkelheit und zeichnete sich Augenblicke später vor einer vorbeiziehenden grauen Wolke wieder deutlich ab. In einem unregelmäßigen Rhythmus verschwand und tauchte er wieder am Himmel auf, während er sich nach Osten hin entfernte.

Die Erkenntnis, seine Chance vertan zu haben, trieb Übelkeit in ihm hoch. Wie nah war er doch seinem Ziel gewesen! Er hatte den Falkenstock schon in seinem Besitz gewähnt. Hundertprozentig sicher war er sich seiner Sache gewesen. Und dann machte dieser Ballon alles zunichte!

Nach Wochen kostspieliger Vorbereitungen und Intrigen, die ihn seinem Ziel zum Greifen nahe gebracht hatten, stand er nun mit leeren Händen da. Wieso nur war ihm trotz eingehender Nachforschungen über die Lebensgewohnheiten des Gelehrten nicht bekannt geworden, dass er einen solchen Ballon besaß und auf Falkenhof zudem auch über die nötigen Vorrichtungen und Materialien verfügte, um das nötige Gas für ein so großes Luftschiff zu erzeugen? Der Ballon war mit Gas gefüllt. Daran bestand kein Zweifel. Bei einem Heißluftballon hätte unter dem offenen Hals eine Feuerpfanne zum Verbrennen von Stroh und Schafwolle gehangen.

Er hatte geglaubt, alles über Heinrich Heller und sein Leben als Universalgelehrter auf Falkenhof zu wissen. Doch die zweitwichtigste Information war ihm verborgen geblieben.

Einen Moment lang drohte ihm diese bittere Niederlage alle Kraft zu rauben. Er war versucht, der Müdigkeit nachzugeben, die seine Erregung bisher überspielt hatte. Dann aber straffte sich sein Körper. O nein, ein Armin von Zeppenfeld gab nicht so leicht auf. Eine verlorene Schlacht war noch längst kein verlorener Krieg. Ein solches Luftschiff, auch wenn es prall mit Gas gefüllt war, hielt sich nicht ewig am Himmel! Höchstens ein paar Stunden.

Er fuhr zu seinen Männern herum. »Tillmann und Valdek! Zu den Pferden! Ihr folgt dem Ballon!«, rief er ihnen zu.

Valdek zog fragend die Augenbrauen hoch, während Tillmann sein Unverständnis offen in Worte fasste. »Nichts für ungut, mein Herr, aber wie sollen wir einem Ballon folgen? Flügel sind uns keine gewachsen.«

Zeppenfeld musste an sich halten, um seine Beherrschung nicht zu verlieren. »Ein Ballon ist keine Kutsche, die sich nach Belieben lenken lässt. Folgt allein dem Wind! Kennt man dessen Richtung, kennt man auch den Weg des Luftschiffes!«, kanzelte er ihn in schulmeisterlichem Ton ab.

Valdek nickte stumm.

»Oh!«, sagte Tillmann nur und rieb sich verlegen das spitze Kinn.

»Ballon treibt nach Osten. Wird sich bestenfalls bis zum Morgen in der Luft halten. Dann Abstieg«, fuhr Zeppenfeld in seiner knappen Sprache fort. »Wird nicht ohne Aufsehen abgehen. Schwarzer Ballon mit rotem Falkenkopf und goldenem Monogramm wird überall die Leute zusammenlaufen lassen.«

»Da ist was dran«, pflichtete Stenz ihm bei. »Zu Pferd sind wir mindestens genauso schnell wie dieser Ballon, auch wenn wir nicht immer querfeldein reiten können. Wenn wir uns an der Windrichtung orientieren, kann er uns kaum entwischen.« Er zögerte. »Es sei denn, sie landen noch bei Nacht irgendwo auf einer einsamen Waldlichtung und verstecken Hülle und Gondel im Unterholz. Dann haben wir Probleme.«

Zeppenfeld schüttelte gereizt den Kopf. »Können sich nicht im Wald verkriechen, die drei. Ein verletzter alter Mann, ein junger Bursche und ein dunkelhäutiger Muselmane! Werden überall auffallen wie ein Kamel unter Schafen. Zudem: Sie sind zu Fuß! Werden sich Pferde beschaffen wollen. Müssen daher Ortschaften aufsuchen. Werden schnell erfahren, wohin der Wind sie getrieben hat.«

Stenz grinste. »Stimmt. Sie haben einen Vorsprung, aber das ist auch alles. Und mit dem angeschossenen Alten haben sie einen Klotz am Bein. Also gut, brechen wir auf.«

»Du nicht. Nur Tillmann und Valdek«, hielt Zeppenfeld ihn zurück. »Wir bleiben, bis Pizalla mit Soldaten eingetroffen ist. Erst dann folgen wir.«

»Aber wozu soll denn das gut sein?«, fragte Stenz verwundert. »Hier ist doch für Sie nichts mehr zu holen, wo die Burschen doch mit dem Ballon weg sind.«

»Habe meine Gründe!«, beschied Zeppenfeld ihn schroff. Er wollte ganz sichergehen, nicht einer weiteren Täuschung des Gelehrten aufzusitzen. Nach allem, was geschehen war, mochte er nicht mehr ausschließen, dass Heinrich Heller den Falkenstock vielleicht gar nicht mitgenommen, sondern irgendwo auf dem Landgut versteckt hatte. Möglicherweise hatte er einem seiner Bediensteten den Auftrag erteilt, den Spazierstock an einen sicheren Ort zu bringen, wenn Pizalla wieder abgerückt war. Er musste mit allem rechnen.

Tillmann zuckte mit den Achseln. »Soll mir recht sein, mein Herr. Aber wie halten wir Kontakt?«, wollte er wissen.

»Werdet überall auf Poststationen treffen. Hinterlasst dort Nachricht«, trug Zeppenfeld ihm auf. »Werden euch schon finden.«

»Kann ein paar Tage dauern, bis wir den Kerlen im Nacken sitzen. Werden bestimmt einige Ausgaben haben, für frische Pferde etwa«, gab Tillmann zu bedenken.

Zeppenfeld griff in seine Rocktasche und zog einen kleinen Stoffbeutel mit Münzen hervor. »Hier! Das sollte reichen! Und nun auf die Pferde!«

Mit einem breiten Grinsen fing Tillmann den Geldbeutel auf. »Stets zu Diensten, mein Herr«, versicherte er mit falscher Unterwürfigkeit und eilte mit Valdek zu den Pferden. Wenig später jagten sie durch die Nacht nach Osten.

»Muss ja ein mächtig kostbares Stück sein, dieser Spazierstock mit dem Falkenknauf«, sagte Stenz in der Hoffnung, endlich zu erfahren, was es mit dem Stock auf sich hatte.

Zeppenfeld blieb ihm eine Antwort schuldig. Er dachte gar nicht daran, irgendjemandem zu verraten, wie wertvoll der Falkenstock war.

Expedition unter einem bösen Stern

»Heilige Mutter Gottes! Sie werden den Ballon treffen!«, stieß Lisette entsetzt hervor, als den aufgeregten Rufen vor dem Landgut die ersten Schüsse folgten. »Der Ballon wird in Flammen aufgehen und sie – sie werden in den Tod stürzen!«

»Ganz ruhig«, sagte Jakob Weinroth, der breitschultrige Kutscher und Stallknecht vom Falkenhof. Er legte seiner jungen Frau einen Arm um die Schulter. »Nur Gottvertrauen. Sie werden es schon schaffen!«

Lisette presste eine Hand vor den Mund und betete lautlos, während sie mit angstgeweiteten Augen den Aufstieg des Ballons verfolgte – wie auch Agnes Kroll, die gewichtige Köchin, und Heinrich Heller. Er war nicht, wie Zeppenfeld angenommen hatte, mit Tobias und Sadik im Ballon geflüchtet.

Der Gelehrte, ein kleiner, untersetzter Mann von einundsechzig Jahren, zuckte bei jedem Schuss zusammen, der auf den Falken, wie sie den Ballon getauft hatten, abgegeben wurde. Seine Hand krallte sich um den Knauf des Stockes, auf den er gestützt stand. Ihm stockte der Atem. Ein eiserner Ring schien sich um seine Brust gelegt zu haben. Er wusste, dass sich das Schicksal von Tobias und Sadik in den ersten dreißig Sekunden entscheiden würde. Das war die kritische Phase des Aufstiegs. Danach befand sich der Ballon außerhalb der Gefahrenzone.

Es wurden die schlimmsten und längsten dreißig Sekunden seines Lebens. Hätte er diese gefährliche Ballonflucht nicht zulassen dürfen? War es unverantwortlich von ihm gewesen, auf die Verwirrung der Männer und die schnelle Steiggeschwindigkeit des Falken zu bauen?

Aber welche Alternative hatte er denn gehabt? Das Wagnis mit dem Ballon nicht einzugehen hätte bedeutet, dass Tobias möglicherweise sein Schicksal hätte teilen müssen – und das hieß Kerker. Xaver Pizalla war ein Bluthund, der nicht davor zurückschreckte, die Wahrheit zu verdrehen und auch Unschuldige einzukerkern. Wusste er denn, welche Abmachung er mit Zeppenfeld getroffen hatte? Die Pest über die beiden!

»Sie schaffen es! Gelobt sei Gott, sie schaffen es! Der Ballon ist unversehrt geblieben!«, rief Agnes und bekreuzigte sich.

»Ja, jetzt sind sie zu hoch, als dass dieses Schurkenpack ihnen noch etwas anhaben könnte«, pflichtete Jakob ihr bei und erlaubte sich einen tiefen, erlösten Seufzer.

Die ungeheure Anspannung wich nun auch von Heinrich Heller, und in sein bleiches Gesicht, das von einem eisgrauen Bart umrahmt war, trat wieder ein wenig Farbe. Er nahm den Zwicker von der Nase und fuhr sich über die Augen. »Eine gute und sichere Reise, mein Junge«, murmelte er. »Und dir auch, Sadik. Möge der Herr, welchen Namen er auch immer tragen mag, euch beschützen und sicher nach Paris zu Monsieur Roland geleiten.«

»Was wird jetzt?«, fragte Lisette, sich ihrer eigenen ungewissen Zukunft wieder bewusst werdend. »Mit uns?«

»Was soll schon werden, Frau?«, fragte Jakob fast grob zurück. »Es gibt nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest. Sieh besser zu, dass du ein paar Sachen für den Professor zusammenpackst. Später wird dafür keine Zeit mehr sein!«

»Nein, nein!«, griff Heinrich Heller ein. »Es ist schon ihr gutes Recht, besorgt zu sein und danach zu fragen. Lisette, ich gebe dir mein Wort darauf, dass keinem von euch ein Nachteil erwachsen wird. Euch kann Pizalla nichts anhaben, dafür werde ich Sorge tragen.«

Lisette machte eine skeptische Miene, was Jakob noch mehr erboste. Das furchtsame Benehmen seiner Frau verletzte seinen Stolz, weil es erkennen ließ, dass sie dem Professor nicht so treu ergeben war und vertraute, wie er es tat. Das empfand er nach den langen Jahren, die er in Heinrich Hellers Diensten stand, als schändlich.

»Wie kannst du dich so kleinlichen Gedanken hingeben, wenn hier das Leben des Professors auf dem Spiel steht?«, fuhr er sie an. »Ist das der Dank, dass er dich aus dem Waisenhaus geholt und dir die Chance gegeben hat, etwas Ordentliches zu lernen und einen ehrlichen Lohn Woche für Woche einzustreichen? Geh ins Haus! Ich schäme mich für dich!«

Agnes unterstrich seine Zurechtweisung mit einem Nicken. Schamesröte stieg Lisette ins Gesicht. Schnell raffte sie ihre Röcke und lief ins Haus.

»Das hättest du nicht tun sollen, Jakob«, tadelte Heinrich Heller seinen getreuen Stallknecht. »Sie ist noch jung und stets etwas ängstlich gewesen.«

»Was in diesem Fall keine Entschuldigung ist, Professor«, erwiderte Jakob hart, der sonst nie etwas auf seine junge Frau kommen ließ. »Und jetzt kein Wort mehr über Lisettes Verhalten. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Sie müssen sich mit Ihrer Verletzung schonen.«

»Danke, Jakob.« Heinrich Heller nahm die Stütze, die Jakob ihm bot, bereitwillig an. Das schmerzstillende Mittel, das Sadik ihm vor wenigen Stunden verabreicht hatte, ließ merklich in seiner betäubenden Wirkung nach. Die Wunde in seiner linken Schulter pochte heiß und er glaubte zu spüren, wie frisches Blut den Verband nässte.

»Sie hätten mit Tobias und Sadik flüchten sollen«, meinte Jakob sorgenvoll, während er ihm die Treppe ins Obergeschoss hoch half. »Dann wären Sie Zeppenfeld und Pizalla entkommen.«

»Mit diesem Schulterdurchschuss?« Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Das wage ich zu bezweifeln. In meinem Zustand wären wir alle nicht weit gekommen. So jedoch haben Tobias und Sadik eine Chance zu entwischen. Ja, es ist schon richtig so, wie wir es angepackt haben.«

»Richtig, dass dieser Pizalla Sie in den Kerker bringen kann?«, zweifelte Jakob und stieß die Tür zu Heinrich Hellers Studierzimmer auf.

»Mit diesem Wissen habe ich all die Jahre gelebt, mein Bester«, erwiderte Heinrich Heller ruhig und sank mit schmerzverzerrtem Gesicht in einen der beiden dunkelgrünen Ledersessel, die vor dem Kamin standen. »Ich kann also nicht behaupten, dass ich unvorbereitet bin und nicht gewusst hätte, auf was ich mich eingelassen habe.«

»Ich bin nur ein einfacher Mann und verstehe nichts von Politik. Doch es ist ungerecht, was hier mit Ihnen geschieht!«

Heinrich Heller lächelte müde. »Recht und Unrecht ist eine Frage der Definition und des Standpunktes. Unsere Fürsten und Könige haben sich das Recht stets so zurechtgebogen, wie es ihnen genehm war. In einer Tyrannei gegen geltendes Gesetz zu verstoßen ist damit Unrecht aus der Sicht der Herrschenden. In Wirklichkeit ist dieser Widerstand und Kampf gegen die Unterdrückung der erste Schritt zu wahrer Gerechtigkeit. Aber lassen wir das.« Er atmete tief durch. »Auch wenn ich gesund und munter gewesen wäre, hätte ich mein Heil nicht in der Flucht gesucht. Alle meine Freunde, mit denen ich seit Jahren für eine geeinte deutsche Nation und für Reformen gekämpft habe, sind heute verhaftet worden. Wie kann ich mich da davonschleichen?«

»Nur ein lebender Soldat ist auch ein nützlicher Soldat – egal, für welche Sache er kämpft!«, hielt der Stallknecht ihm vor. »Ihre eigenen Worte, Professor. Ich erinnere mich noch genau!«

»Richtig. Doch für jeden schlägt einmal die Stunde, dass er klar Stellung beziehen muss«, erwiderte Heinrich Heller. »Und diese Stunde hat jetzt für mich geschlagen. Gut, den Kerker werde ich mir nicht ersparen können. Diese Genugtuung wird Pizalla haben. Aber zum Glück hat mich das Schicksal mit einem beachtlichen väterlichen Vermögen gesegnet. Zudem habe ich sogar in den höchsten Mainzer Kreisen so manchen einflussreichen Freund. Auch einige von denjenigen, die ich politisch bekämpfe, sind mir noch den einen oder anderen Gefallen schuldig. Du siehst also, hier in Mainz kann ich sehr wohl noch einiges für mich und meine Gefährten tun. Hätte ich sie unter diesen Umständen im Stich gelassen und ihrem Schicksal überantwortet, wäre das ein schändlicher Verrat gewesen – und damit hätte ich nicht leben können.«

»Ob man Freunde hat und Gefälligkeiten eintreiben kann, zeigt sich erst in der Not«, brummte Jakob. »Ich hoffe nur für uns alle, dass Sie nicht bitterlich enttäuscht werden.«

»Gewiss. Erst die Zukunft wird es zeigen«, räumte Heinrich Heller ein. »Doch ich bin voll Zuversicht.«

Jakobs düstere Miene drückte das Gegenteil aus. »Zeppenfeld ist an allem schuld! Hätte Ihr Bruder ihn damals doch nur in der Wüste verrecken lassen«, sagte er erbittert und legte Holz im Kamin nach.

Heinrich Heller ging nicht darauf ein. »Es kann noch etwas dauern, bis Pizalla mit einer Abteilung Soldaten eintrifft. Ein starker Kaffee mit einem Schuss Kognak wäre jetzt genau richtig«, sagte er mild.

»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versicherte Jakob, froh, dass er etwas für ihn tun konnte, und eilte aus dem Zimmer.

Heinrich Heller blickte in die Flammen. Eine tiefe Niedergeschlagenheit befiel ihn. Seit vielen Jahren kämpfte er nun schon gegen die Unterdrückung liberaler und republikanischer Ideen. Mehr als einmal hatte er sich dadurch in ernste Gefahr gebracht, dass er versucht hatte, das angeblich gottgewollte Recht der Fürsten auf Herrschaft nachdrücklich infrage zu stellen. Eine geeinte deutsche Nation und mehr bürgerliche Freiheiten – dafür hatte er mit Leidenschaft und Ausdauer gestritten. Aber was war der Erfolg gewesen? Vor elf Jahren hatte er seine Professur der Philosophie und Naturwissenschaften in Gießen verloren und die Stadt bei Nacht und Nebel verlassen müssen. Er hatte damals von Glück reden können, dass er dem Kerker entkommen und vermögend genug war, um sich dieses Landgut bei Mainz kaufen und sich weiterhin seinen vielfältigen wissenschaftlichen Forschungen und Experimenten widmen zu können – und der Erziehung seines überdurchschnittlich begabten Neffen Tobias.

In diesen elf Jahren war er aber auch politisch nicht untätig gewesen. Im Gegenteil. Er hatte in Mainz den Geheimbund Schwarz, Rot, Gold gegründet und gemeinsam mit seinen Freunden alles in seiner Macht Stehende getan, um durch Flugschriften das träge Volk über die Ideen der Menschenrechte, der geeinten Nation und einer republikanischen Verfassung zu informieren und aufzurütteln.

Stets hatte er gewusst, dass Erfolge nicht über Nacht zu erzielen waren und man Geduld haben musste. Veränderungen, wie sie ihm vorschwebten, gingen nur ganz langsam vonstatten – oder aber eruptiv und gewaltsam in einem Volksaufstand, der mit einem Schlag hinwegfegte, was an tyrannischen Herrschaftssystemen bis dahin existiert hatte.

Auf eine solche Erhebung breiter Massen, wie sie die Französische Revolution von 1789 und der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1776 bis 1783 gewesen waren, hatte er in Deutschland nie zu hoffen gewagt. Die Deutschen hatten sich auch vor knapp zehn Jahren kein Beispiel an den Revolutionen in Spanien, Portugal, Piemont und Neapel genommen. Dasselbe galt für den griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821 bis 1829 und den Abfall der spanischen Kolonien in Südamerika, die sich zu unabhängigen Republiken ausgerufen hatten. Diese Freiheitsbewegungen waren in Deutschland, das noch immer aus Dutzenden von kleinen souveränen Fürstentümern und Königreichen bestand und von einer geeinten Nation nur träumen konnte, tatenlos verhallt.

Heinrich Heller seufzte schwer. Ja, es war deprimierend, dass sich in den vielen Jahren so gut wie nichts zum Positiven verändert hatte. Und er fragte sich in diesem Augenblick der Schwäche, ob er seine Zeit nicht sinnlos vergeudet hatte. War er wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel angeritten?

Er musste an seinen zwanzig Jahre jüngeren Bruder Siegbert denken, den Vater von Tobias, der vor wenigen Monaten zu einer neuen Afrikaexpedition aufgebrochen war. Von Madagaskar aus wollte er einen neuen Vorstoß ins Herz des Schwarzen Kontinents wagen, um den Quellen des Nils endlich auf die Spur zu kommen.

Siegbert hat richtig gehandelt, ging es ihm nicht ohne eine Spur Bitterkeit durch den Sinn. Er hat sich nicht in undankbare politische Aktivitäten verstrickt, sondern seine wissenschaftlichen Ziele immer in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt. Seine Entdeckungsreisen nach Afrika und die Suche nach den Quellen des Nils waren ihm stets wichtiger gewesen als alles andere. Leider auch wichtiger als sein Sohn.

Der Gedanke schmerzte ihn. Tobias war bei ihm, Heinrich, aufgewachsen und ihm wie ein leibliches Kind gewesen. Er hatte es genossen, diesen aufgeweckten Jungen all die Jahre um sich zu haben, während es seinen Bruder immer wieder rastlos in die Welt hinausgetrieben hatte. Aber bei aller gegenseitigen Zuneigung, den Vater und die Mutter, die schon kurz nach seiner Geburt gestorben war, hatte er ihm nicht ersetzen können. Umso schwerer belastete es ihn, dass sich Tobias nun seinetwegen mit Sadik auf der Flucht befand und schweren Gefahren ausgesetzt war.

Das Einzige, was ich mit meinem Eintreten für Freiheit und Menschenrechte erreicht habe, ist, dass der Junge sein Zuhause wie ein Verbrecher verlassen musste und jetzt zusehen kann, wie er sich mit Sadik nach Paris zum Freund seines Vaters durchschlägt, warf sich Heinrich Heller vor.

Er fuhr aus seinen düsteren Gedanken auf, als Jakob den Kaffee mit einem Schuss Kognak brachte. Das heiße Getränk tat seinem geschwächten und durchkühlten Körper gut.

»Agnes meint, ich sollte Ihren Verband erneuern, solange wir noch Zeit dafür haben.«

Heinrich Heller wollte erst abwehren, war dann aber vernünftig genug, ihn gewähren zu lassen. Es war wichtig, dass er die Schussverletzung ohne Komplikationen überstand und im Kerker nicht das Opfer eines schweren Wundfiebers wurde.

»Ich mache mir große Sorgen«, murmelte Heinrich Heller, der oft Selbstgespräche führte, mehr zu sich selbst.

»Das brauchen Sie nicht, Herr Professor. Sadik hat vorzügliche Arbeit geleistet. Es ist zum Glück ein glatter Durchschuss und seine Salbe wirkt wahre Wunder, wie wir ja schon bei Jana, der jungen Landfahrerin, erlebt haben«, beruhigte ihn Jakob. »Sagten Sie damals nicht selbst, als wir das Mädchen auf dem Gut hatten und Sadik sich ihrer Verletzungen annahm, dass seine arabischen Medizinkenntnisse die eines jeden deutschen Arztes weit übertreffen?«

Der Gelehrte nickte. »Gewiss, und nicht ein Wort davon war Übertreibung. Aber ich sorge mich auch nicht um mich, sondern um Tobias«, erklärte er. »Sadik und der Junge haben einen Vorsprung. Das ist alles. Zeppenfeld wird die Verfolgung aufnehmen und er ist ein zäher Hund.«

Jakob strich frische Salbe auf die offene Wunde. »Entschuldigen Sie meine Neugier, aber wer ist dieser Armin von Zeppenfeld überhaupt?«

»Er war einmal ein Freund meines Bruders, der ihn vor gut zwei Jahren auf einer Sudanexpedition begleitete – zusammen mit Eduard Wattendorf sowie Jean Roland aus Paris und dem Engländer Rupert Burlington«, berichtete Heinrich Heller. »Natürlich gehörte auch Sadik Talib dieser Expedition an, die unter einem bösen Stern stand. Die Freundschaft zwischen meinem Bruder und Zeppenfeld zerbrach, als dieser die Gruppe leichtfertig in eine tödliche Gefahr brachte. Auch Eduard Wattendorf erwies sich in der Not als Lump, denn er ging eines Nachts mit fast allen Wasserschläuchen und ihrem letzten Kamel auf und davon. Der Rest der Gruppe wäre damals in der Wüste elendig verdurstet, wenn ihnen die Fügung des Schicksals nicht eine Karawane über den Weg geschickt hätte. Hätte mein Bruder damals den Anführer der Karawane nicht mit viel Geld und guten Worten dazu bewegt, die Suche nach Wattendorf trotz dessen schändlicher Tat aufzunehmen, wäre dieser im Sandmeer verendet. Doch Siegbert hielt es für seine Pflicht, ihn zu retten, obwohl er sie verraten hatte. Er hätte es besser nicht getan. Dann wäre das alles nicht passiert.«

Jakob legte einen neuen Verband an. »Es war Wattendorf, der Ihrem Bruder diesen merkwürdigen Stock geschickt hat, nicht wahr?«

Heinrich Heller nickte. »Ja, er blieb damals in Cairo und kehrte nicht wieder nach Europa zurück. Es hieß, sein Verstand wäre so angegriffen gewesen wie sein Körper. Als mein Bruder ihn nach über einer Woche Herumirrens mehr tot als lebendig in der Wüste fand, war er nicht mehr ganz bei Sinnen. Er phantasierte von einem sagenhaften verschollenen Tal, auf das er gestoßen sei. Aber damals nahm das keiner ernst. Auch mein Bruder glaubte, dass Wattendorf in seinem verwirrten Zustand nur das erzählte, was sie vorher an den Lagerfeuern der Beduinen gehört hatten. Doch dann, kurz vor Siegberts Aufbruch zu seiner neuen Expedition vor ein paar Wochen, erhielt er diesen unseligen Spazierstock. Ich erinnere mich nicht mehr genau an Wattendorfs Begleitschreiben, doch darin stand etwas in der Art, dass er seine schändliche Tat wiedergutmachen wolle und dieser Stock der Schlüssel zu unsterblichem Ruhm für Siegbert als Forscher und Entdecker sei. Mein Bruder hat darüber nur verächtlich gelacht, das kuriose Stück Tobias geschenkt und die Sache vergessen – wie auch ich.«

»Offenbar birgt der Stock aber wohl doch ein großes Geheimnis, wenn Zeppenfeld vor keinem Verbrechen zurückschreckt, um ihn in seinen Besitz zu bringen«, meinte Jakob.

»Er ist ihm auf jeden Fall jede Anstrengung wert, das ist richtig. Ob es sich tatsächlich so verhält, wie Wattendorf behauptet hat, ist dagegen nicht so gewiss«, sagte Heinrich Heller skeptisch. »Fest steht nur, dass Zeppenfeld an diese Geschichte glaubt. Ob sie stimmt oder nicht, ist völlig ohne Bedeutung, denn sie macht ihn nicht weniger gefährlich. Ich möchte bloß wissen, woher er erfuhr, dass Wattendorf meinem Bruder diesen Stock geschickt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mysteriöser wird die ganze Sache. Ach, ich wünschte, ich hätte Zeppenfeld vor ein paar Wochen, als er zum ersten Mal auf Falkenhof auftauchte und mir den Spazierstock abschwatzen wollte, das verflixte Ding überlassen. Dann wäre er zufrieden abgereist, statt gefährliche Intrigen zu spinnen und uns alle in höchste Gefahr zu bringen.«

»Sie haben keine Veranlassung sich etwas vorzuwerfen«, widersprach Jakob. »Schurken wie Zeppenfeld darf man nicht ihren Willen lassen. Dann sähe die Welt noch düsterer aus.«

Heinrich Heller lächelte gequält. »Diese Meinung habe auch ich mein Leben lang vertreten. Aber wenn man seinen eigenen Kopf und den seiner geliebten Menschen dafür hinhalten soll, gerät diese Überzeugung doch mächtig ins Wanken.«

»Sie sind wie eine Eiche, Herr Professor!« Stolz schwang in der Stimme von Jakob Weinroth. »Sie haben noch nie gewankt und Sie werden es auch jetzt nicht tun.«

»Ach, Jakob«, sagte der grauhaarige Gelehrte nur bewegt und versank in trübseliges Schweigen.

Eilige Schritte näherten sich auf dem Gang dem Studierzimmer. Dann stand Agnes Kroll in der Tür. »Soldaten!«, rief sie mit atemloser Stimme. »Eine ganze Armee Soldaten reitet die Allee hoch!«

»Das wird Pizalla sein«, sagte Heinrich Heller ruhig.

Jakob sprang zum Fenster, das nach Westen hinausging. Er sah den Schein von Kutschenlampen und mehreren Fackeln zwischen den Ulmen. Vom Fenster aus war schwer festzustellen, wie viele Soldaten dort heranritten. Doch es waren mehr als genug.

»Wenn wir doch nur etwas tun könnten!«, stieß er in ohnmächtigem Zorn hervor.

Heinrich Heller erhob sich. »Das können wir – nämlich Ruhe und Gelassenheit bewahren. Also dann, bringen wir es hinter uns«, sagte er und ließ seinen Blick durch sein geliebtes Studierzimmer schweifen. Er war bereit. Seine wichtigsten Aufzeichnungen hatte er Tobias mitgegeben. Alles andere, was ihn und seine Mitstreiter vom Geheimbund noch mehr hätte belasten können, hatte er längst den Flammen übergeben. Er nahm zwei philosophische Schriften von seinem Schreibtisch und hoffte, dass man sie ihm im Kerker lassen würde.

Agnes und Jakob begleiteten ihn hinaus auf den Hof. Lisette stand schon dort und wartete mit der gepackten Reisetasche in der Hand. Ihr Gesichtsausdruck zeigte noch immer Beschämung, dass sie sich vorhin so hatte gehen lassen.

Während sich die anrückenden Soldaten mit lauter werdendem Hufschlag, Waffengeklirr und Rufen bemerkbar machten, blickte Heinrich Heller in die Runde seiner drei Bediensteten. »Ihr habt nichts mit alldem zu tun, was geschehen ist, und nur getan, was ich euch befohlen habe. Ihr wisst von nichts und ihr bleibt hier auf Falkenhof. Pagenstecher, der meine Tuchfabrik in Mainz leitet, wird euch weiterhin in meinem Auftrag bezahlen. Er vertritt mich. Eine entsprechende Anweisung und Vollmacht habe ich ihm schon vor vielen Monaten ausgestellt. Für euch ist gesorgt. Wir werden uns wiedersehen. Also fassen wir uns kurz.«

Lisette schluckte. »Herr Professor, es tut mir so leid …«

Er fiel ihr ins Wort: »Nichts da! Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, Lisette. Keine Widerworte.« Er strich ihr kurz über die Wange. »Und jetzt geht da in den Keller. Ich werde euch einsperren, damit Pizalla wirklich keine Handhabe gegen euch hat.« Er wies auf eine offen stehende Kellertür, zu der ein halbes Dutzend Granitstufen hinunterführten.

»Gott beschütze Sie!«, sagte Agnes mit Tränen in den Augen zum Abschied.

»Euch auch«, erwiderte der Gelehrte und schob sie in Richtung Kellertreppe. »Und nun runter mit euch.«

Die beiden Frauen folgten seiner Aufforderung. Jakob jedoch blieb abwartend stehen. »Es bleibt wie abgesprochen, Herr Professor?«, fragte er leise.

Heinrich Heller nickte. »Pagenstecher wird dir eine Nachricht zukommen lassen. Traust du es dir auch zu?«

Jakob sah ihn fast empört an. »Ich werde den Weg nach Speyer genauso sicher finden wie nach Furtwipper. Sie können sich auf mich verlassen.«

»Ja, das weiß ich, Jakob. Kümmere dich auch um Klemens. Man wird ihn und die leere Kutsche mittlerweile eingeholt haben. Ich hoffe, er spielt den schwachsinnigen Dummkopf, für den ihn alle halten, nur weil er verwachsen ist. Dann wird ihm nichts passieren.«

»Wir werden dafür sorgen, dass Sie den Falkenhof wieder so vorfinden, wie Sie ihn verlassen haben«, versprach Jakob Weinroth.

Der Gelehrte nickte. Das war seine geringste Sorge. »Wenn du dich auf den Weg machst, um mit Tobias und Sadik zusammenzutreffen, wirst du Geld brauchen. Ich habe eine flache Schatulle mit ausreichend Silber- und Goldmünzen drüben in meiner Experimentierwerkstatt im Südflügel versteckt. Du findest sie in einer der Schubladen, in denen ich meine Insektensammlung untergebracht habe – und zwar in der Schublade mit der Aufschrift Tropenfalter 14. Diese Lade hat einen doppelten Boden. Hinten links unten kannst du einen winzigen Stift erfühlen. Den musst du ins Holz drücken, dabei aber gleichzeitig den Schubladenknopf vorn nach rechts drehen und herausziehen. Dann klappt das hintere Drittel vom ersten Schubladenboden hoch«, instruierte er ihn.

»Tropenfalter 14, ich habe verstanden«, wiederholte Jakob leise. »Ich werde Ihnen über jeden Kreuzer Rechenschaft ablegen, Herr Professor.«

»Als ob ich das nicht wüsste«, brummte Heinrich Heller scheinbar ungnädig und schob ihn die Treppe hinunter. »Es wird Zeit. Gleich beginnt das Spektakel, und dann möchte ich euch alle drei hinter Schloss und Riegel wissen. Ach, noch etwas!«

Jakob drehte sich im schwarzen Rechteck der Tür zu ihm um. »Ja?«

»Schlagt ordentlich Krach, wenn die Bande hier gleich hereinströmt, und rüttelt an der Tür. Auch ein paar grimmige Worte können nicht schaden, um eurem Einschluss mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Aber bitte keine Übertreibung. Ein bisschen Groll, gemischt mit ängstlicher Verwirrung, was das ganze Spektakel bloß zu bedeuten hat, reicht völlig.«

Jakob grinste leicht. »Wenn ich Sie so reden höre, habe ich wirklich Hoffnung, dass es Ihnen vielleicht doch noch gelingen wird, aus dem Kerker rasch wieder herauszukommen.«

»Vielleicht sogar schneller, als euch lieb ist«, zwang sich Heinrich Heller zu einem letzten Scherz. Dann zog er die Tür zu und verriegelte sie von draußen. Den Schlüssel ließ er stecken.

Mit dem schleppenden Gang eines alten, rheumatischen Mannes, der sich jede einzelne Stufe schmerzhaft erkämpfen muss, stieg er die Treppe wieder hoch. Und Schmerzen bereiteten ihm die sechs Stufen in der Tat. Ein brennender Stich fuhr ihm bei jedem Schritt durch die Schulter. Aber dieser körperliche Schmerz war leichter zu ertragen als das, was ihn in Gedanken quälte.

Wenn Tobias etwas zustieß …

Er zwang sich, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Sein Blick ging über den ausgestorbenen Innenhof. Das quadratische Bretterpodest, von dem der Falke so oft in den Himmel aufgestiegen war, die seitlich weggeklappten Stützbalken, die schweren Winden mit den dicken Seilen sowie die Rohre, durch die das Gas geströmt war und die aus acht Fässern quer über den Platz verlegt waren und in der Mitte des Startpodestes in einer Glaskugel mit schornsteinähnlichem Aufsatz zusammenliefen – all dies erinnerte ihn an die schöne und aufregende Zeit, da er mit Tobias des Nachts im Fesselballon zu ihren geheimen und stets auch unbemerkt gebliebenen Himmelsfahrten aufgestiegen war und kein Zeppenfeld ihrer aller Leben bedroht hatte.

Er erinnerte sich auch noch gut an den Tag vor gar nicht so langer Zeit, als Tobias zu ihm in die Werkstatt gekommen war und sich bitterlich beklagt hatte: Sein Leben wäre so trist und bar jeglicher abenteuerlicher Abwechslungen! Etwas sehen und erleben wolle er! Und jetzt trieb er dort oben in einem Ballon durch die Schwärze der Nacht, verstrickt in ein Abenteuer von erschreckend lebensgefährlicher Dimension. Ein Abenteuer, von dem niemand wusste, wo und wie es sein Ende finden würde.

Drecksarbeit für noch grössere Lumpen

Mit verbissener Miene erwartete Zeppenfeld den Polizeispitzel vor dem Westtor. Er vermochte seine Ungeduld und seinen Groll über das späte Erscheinen von Pizalla und den Soldaten kaum unter Kontrolle zu halten. Den glatten, kalten Lauf der Pistole, die er nachzuladen sich erspart hatte, klatschte er immer wieder in seine geöffnete linke Hand. Dabei wippte er auf den Zehenspitzen auf und ab.

Stenz stand ein gutes Stück abseits und hielt die Pferde am Zügel. Die Erfahrungen der vergangenen Wochen hatten es ihm ratsam erscheinen lassen, sich nicht in unmittelbarer Nähe seines Herrn aufzuhalten, wenn er in solch wutgeladener Stimmung war. Da tat man besser daran, Distanz zu wahren und vor allem den Mund zu halten. Eine Einsicht, die Tillmann noch immer nicht gekommen war – was vielleicht daran lag, dass er mehr Branntwein in sich hineinkippte, als sein sowieso schon dürftiger Verstand verdauen konnte. Nun ja, dafür schien sein Magen aus Eisen zu sein. Aber wenn er mit diesem schweigsamen Stockfisch Valdek die Geschichte mit dem Ballon vergeigte, würde Zeppenfeld ihn seine ungezähmte Wut kosten lassen – und dann half ihm auch ein Magen aus bestem Gusseisen nichts.

Auf einen Befehl des Korporals, der die berittene Abteilung anführte, sprangen die Soldaten von ihren Pferden und bezogen Stellung, die Musketen im Anschlag.

Zeppenfeld rührte sich nicht von der Stelle. Das martialische Bild, das die Soldaten im Schein der Lagerfeuer boten, verstärkte nur den geringschätzigen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Wenige Meter vor ihm brachte der Kutscher das Gespann zum Stehen. Der Schlag flog schon auf, als die Räder noch in Bewegung waren, und Xaver Pizalla sprang aus der Kutsche. Er war ein kleinwüchsiger Mann mit Halbglatze und einem schmallippigen Gesicht. In den blank polierten, kniehohen Stiefeln, die im Licht der Fackeln glänzten, schien er fast zu versacken. Und der Säbel an seiner Hüfte wirkte geradezu lächerlich. Er sah wahrlich nicht aus, als könnte er eine Klinge führen. Der offene Kampf entsprach auch gar nicht seinem Charakter. Seine Welt war die der Intrige, der Bespitzelung und des wohl vorbereiteten Hinterhaltes. Und seine Hand erreichte dann größte Gefährlichkeit, wenn sie mit der Feder Protokolle aufsetzte und freiheitlich gesinnten Menschen zu Leibe rückte.

»Sie haben die Situation unter Kontrolle, ja?«, rief er und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, großspurig fort: »Gehen Sie zur Seite. Ich werde die Angelegenheit jetzt zum Abschluss bringen und dieses Verrätergesindel aus seinem Bau holen. Notfalls stecke ich diesem Volksaufhetzer das ganze Landgut über dem Kopf an!«

»Hol Sie der Teufel!«, brach es aus Zeppenfeld hervor. »Erscheinen eine verdammte Stunde zu spät mit Ihrer Sturmtruppe! Haben den Bau schon verlassen, diese Ratten!«

Pizalla sah ihn verständnislos an. »Wie bitte? Sie belieben zu scherzen, Herr von Zeppenfeld!«

»Mir ist nicht nach Scherzen zumute! Der Bau ist leer! Ausgeflogen, die Brut!«, stieß Zeppenfeld wütend hervor.

Pizalla schluckte. »Aber Sie haben mir doch einen Boten geschickt und ausrichten lassen, dass sich der Professor hier verschanzt hat und Sie mit Ihren Männern und den Gendarmen den Falkenhof umstellt haben. Es hieß, Sie könnten das Landgut ohne Unterstützung nur nicht …«

Zeppenfeld schnitt ihm das Wort ab. »Eine Stunde zu spät! Eine gottverdammte Stunde! Sind aus Falkenhof geflüchtet – in einem Ballon!«

Pizallas Kiefer klappte auf. »Ballon?«, wiederholte er ungläubig. Sein Blick ging verstört zu den trutzigen Mauern des Landgutes hoch und kehrte dann zu Zeppenfeld zurück. »Aber das – das ist unmöglich!« Er wollte es einfach nicht wahrhaben. Man würde es ihm als großes Verdienst anrechnen, dass er den Geheimbund Schwarz, Rot, Gold zerschlagen hatte, auch wenn dem Professor die Flucht gelungen war. Doch ihm persönlich reichte das nicht. Ein flüchtiger Heinrich Heller, der zu den führenden Köpfen der verbotenen Vereinigung gehört hatte, würde seinen Triumph zunichte machen. Schon seit Jahren brannte er darauf, diesen Universalgelehrten in die Schranken zu weisen und zu vernichten. Und nun, da er ihn schon im Kerker gesehen hatte, sollte er mit einem Ballon geflohen sein?

»Ein Ding der Unmöglichkeit, Herr von Zeppenfeld!«, entfuhr es ihm beschwörend.

»Werde nicht von Halluzinationen verfolgt, Herr Pizalla! Kann mich noch ausgezeichnet auf meine Augen und Ohren verlassen. Wäre nicht zu diesem Fiasko gekommen, wenn ich mich auf alles so gut hätte verlassen können«, erwiderte Zeppenfeld gereizt. »Der Professor hätte Mainz erst gar nicht verlassen dürfen! Hatten mir Ihr Wort darauf gegeben!«

»Ich habe getan, was ich konnte!«, verteidigte sich Pizalla erregt, rote Flecken auf dem Gesicht. »Sie hatten mit Ihren Männern doch die Sicherung der Tordurchfahrt übernommen. Also machen Sie mich jetzt nicht dafür verantwortlich, dass er Ihnen in Mainz entwischt ist!«

Zeppenfeld fegte diesen Einwand mit einer herrischen Handbewegung beiseite. »Haben sich geschlagene fünf Stunden Zeit gelassen, mein Herr, um hier endlich mit ordentlicher Verstärkung aufzutauchen! Hatte so Zeit genug, ihre Flucht vorzubereiten, die Heller-Brut. Wäre nicht passiert, wenn Sie unverzüglich mit den Soldaten hier eingetroffen wären«, warf er ihm vor. »Konnte das von Ihnen erwarten! Haben die Aufdeckung und Zerschlagung des Geheimbundes mir zu verdanken!«

»Hören Sie, ich bin so schnell hergeeilt, wie ich konnte«, gab Pizalla ärgerlich zurück. »Sie scheinen vergessen zu haben, dass ich nicht Standortkommandant bin und über Soldaten keine Befehlsgewalt habe. Es war gar nicht so leicht, zu dieser späten Stunde überhaupt noch zum Kommandeur vorzudringen und ihm die Order für einen Militäreinsatz vor den Toren der Stadt abzuringen. Herrgott, das hat alles seine Zeit gebraucht!«

Eine Kutsche bog um die südwestliche Ecke des Landgutes, flankiert von zwei berittenen Gendarmen. Auf dem Kutschbock saß Klemens Ackermann, der vor zweiundfünfzig Jahren stumm und mit einer Rückenverwachsung auf Falkenhof zur Welt gekommen war. Heinrich Heller hatte ihn vor elf Jahren, als er das Landgut erstanden hatte, übernommen und diese Entscheidung nie bereut. Er war ihm stets treu ergeben gewesen und hatte sich auf mannigfache Weise auf dem Gut nützlich gemacht. Dass er bei der Landbevölkerung wegen seiner Verwachsung und Sprachlosigkeit fälschlicherweise als einfältiger Trottel galt, war ihm jetzt von Nutzen.

»Die Kutsche war leer. Aber das hier haben wir bei dem Buckligen gefunden«, sagte einer der Gendarmen zu Pizalla und reichte ihm einen gefalteten Bogen.

Pizalla las. Das Schreiben, eindeutig vom Gelehrten aufgesetzt, war an den Arzt in der Nachbargemeinde Finthen gerichtet und enthielt die dringende Aufforderung, umgehend nach Falkenhof zu kommen, um eine schwere Schussverletzung zu behandeln.

»War ein Ablenkungsmanöver, das mit der Kutsche«, sagte Zeppenfeld.

Klemens Ackermann blickte mit betont dümmlichem Grinsen in die Runde und ließ etwas Speichel von seinen Lippen tropfen.

»Weiß er noch etwas?«, fragte Pizalla.

Der Gendarm schüttelte den Kopf. »Er ist stumm und nicht ganz richtig im Kopf. Aus dem kriegen Sie nichts raus, weil nichts in seinem hohlen Schädel ist. Er heißt Klemens Ackermann, ist hier auf dem Hof geboren und hat auch nie woanders gelebt. Wilbart kennt ihn. Er stammt aus dieser Gegend«, sagte er und deutete auf den jungen Uniformierten, der sich auf der anderen Seite der Kutsche hielt. »Sag du ihm, was das für ein Bursche ist.«

Wilbart winkte geringschätzig ab. »Ist 'n Dorfdepp, der nicht mal zwei und zwei zusammenkriegt, aber sonst harmlos.«

Klemens Ackermann nickte heftig, während sich sein Gesicht zu einem noch breiteren Grinsen verzog. Mit der Zunge schob er mehr Speichel vor, um das Bild des sabbernden Idioten noch zu verstärken.

Pizalla zerknüllte das Schreiben und warf es hinter sich. »Schafft mir diesen Schwachkopf aus den Augen und lasst ihn laufen!«

»Erwarte gründliche Durchsuchung des Landgutes!«, meldete sich Zeppenfeld wieder zu Wort. »Kann nicht ausschließen, dass der Professor den Spazierstock nicht mitgenommen, sondern hier irgendwo versteckt hat.«

Pizalla nickte heftig. »Was ich für Sie tun kann, werde ich tun! Ich werde Falkenhof auf den Kopf stellen! Nicht ein Staubkorn wird auf dem anderen bleiben!«, versicherte er grimmig. »Aber zuerst werde ich diesem unverschämten Volk, das die Tore noch immer nicht geöffnet hat, eine letzte Warnung erteilen. – Korporal!«

Der Korporal trat zu ihm, und wenn er auch keine militärische Haltung annahm, so zeigte er doch sichtlichen Respekt. Xaver Pizalla bekleidete weder einen Offiziersrang noch sonst eine offizielle Position. Doch er war so etwas wie eine graue Eminenz, die über viel Einfluss verfügte und ihre Fäden im Dunkeln zog.

»Ja, zu Diensten, mein Herr.«

»Lassen Sie eine Salve auf die Fenster im Obergeschoss abgeben!«, trug Pizalla ihm auf. »Das wird ihnen Beine machen.«

»Sehr wohl.« Der Korporal gab das entsprechende Kommando, die Soldaten richteten ihre Gewehre auf die Fenster im Obergeschoss und drückten ab, als der Befehl zum Feuern kam. Die Salve aus über drei Dutzend Gewehren war ohrenbetäubend. Auf der gesamten Westseite vom Falkenhof gingen die Fenster im ersten Stock mit lautem Bersten zu Bruch.

Beißender Pulverrauch strömte aus den Läufen der Gewehre und trieb vor den Mauern nach Osten davon. Pizalla und Zeppenfeld wandten den Kopf ab, um den in Auge und Nase brennenden Schwaden auszuweichen. Als sie sich wieder umdrehten und ihr Blick auf das Tor fiel, zuckten sie zusammen. Fassungslosigkeit zeichnete ihre Gesichter.

Der linke Flügel des Tores stand halb offen und die Gestalt, die aus der Dunkelheit des Rundbogens getreten war, war niemand anderer als Heinrich Heller. Er stützte sich auf seinen Stock.

»Warum haben Sie nicht um Einlass gebeten, Pizalla?«, rief er mit sarkastischem Tonfall in die Stille. »Ich hätte Ihnen schon geöffnet. Aber blinde Zerstörungswut passt natürlich besser zu Ihrem Stil, wie ich zugeben muss. Nun, treten Sie näher.«

Pizalla fasste sich zuerst. Triumph loderte in seinen Augen auf. »Was haben Sie da geredet, er wäre mit einem Ballon geflüchtet?«, raunte er Zeppenfeld zu.

Dieser schüttelte verstört den Kopf. »Hätte schwören können, dass er sich in der Gondel befand! Aber mich interessiert nur der Falkenstock. Denken Sie an unsere Abmachung!«

»Wenn wir ihn finden, gehört er Ihnen«, bekräftigte Pizalla, gab dem Korporal ein Zeichen und stürmte auf Heinrich Heller zu, als wollte er sich auf ihn stürzen. »Sie sind verhaftet, Sie Volksaufhetzer! Endlich habe ich Ihnen das Handwerk gelegt! Den Rest Ihres Lebens werden Sie im Kerker verbringen, Professor Heller!«

Heinrich Heller hielt seinem hasserfüllten Blick mit kühler Gelassenheit stand. »Sie tun mir leid, Pizalla. Menschen wie Sie werden wohl nie begreifen, dass sie die Drecksarbeit für noch größere Lumpen als sie selber erledigen.«

Pizalla schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Korporal!«, schrie er. »Fesseln und abführen!«

»Augenblick!«, rief Zeppenfeld und packte Heinrich Heller am Arm. »Wo ist der Falkenstock?«

»Ich habe ihn zu Kleinholz zerhackt und verbrannt. Und der Falkenknauf steckt in irgendeinem der Ballastsäcke des Ballons. Wer weiß, wo er mit dem Sand vom Himmel fällt«, erwiderte der Gelehrte.

»Sie lügen!«

Heinrich Heller lächelte milde. »Sind Sie sich da so sicher?« Zeppenfeld tobte und drohte, doch Heinrich Heller würdigte ihn keines Wortes mehr. Er wusste, dass die Soldaten den Falkenhof auf den Kopf stellen würden, nicht nur wegen des Spazierstockes, denn Pizalla hoffte wohl, noch belastende Schriften aus seiner Feder zu finden. Doch keinem von beiden würde Erfolg beschieden sein.

Er war froh, als man ihn in die Kutsche zerrte und nach Mainz brachte. So brauchte er wenigstens nicht mitanzusehen, wie sie auf Falkenhof wüteten und seine Zimmer und Werkstätten verwüsteten.

Der Morgen dämmerte herauf, als man ihn in Mainz in eine Kerkerzelle stieß und die Tür dröhnend hinter ihm zufiel. Kalte Steinwände umschlossen ihn. Durch das vergitterte Fenster, das er noch nicht einmal auf Zehenspitzen und mit hochgereckten Armen erreichen konnte, sickerte das erste graue Licht des neuen Tages.

Erschöpft sank er auf die harte Pritsche, die an zwei Eisenketten von der Wand hing. Ihm standen harte Wochen und Monate bevor, vielleicht sogar Jahre. Aber das schreckte ihn nicht. Er war ein alter Mann und hatte sein Leben gelebt. Was ihn viel mehr mit Angst erfüllte, war das ungewisse Schicksal seines geliebten Neffen Tobias.

Hätte ich seinem Wunsch damals doch bloß sofort nachgegeben und ihn zu Jean Roland nach Paris geschickt, warf er sich vor. Damals hatte er die gut zehntägige Fahrt mit der Postkutsche von Mainz nach Paris als zu unsicher für einen sechzehnjährigen Jungen ohne Reiseerfahrung gehalten. Doch gegen das, was Tobias jetzt an Gefahren erwartete, erschien sie ihm so harmlos wie ein Ponyritt über den Innenhof seines Landgutes. Doch alles Hätte, Wenn und Aber nutzte nichts. Der wilde Lauf der Ereignisse ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

Ein Glück nur, dass Tobias Sadik an seiner Seite hatte. Der Mohammedaner war an ein Leben voller Gefahren gewöhnt und zudem noch genauso schnell im Kopf wie mit seinen Messern, die er meisterlich zu werfen verstand. Das nahm seiner Angst um Tobias die sonst unerträgliche Schärfe. Dennoch blieb genug, um ihm beim Gedanken an die Gefahr, in der die beiden schwebten, einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Denn dass Zeppenfeld und seine gedungenen Schurken sie verfolgen würden, stand außer Frage.

Wo Tobias und Sadik jetzt wohl waren? 

Zweites Buch:Abenteuer der Landstrasse

Mai – Juni 1830

Eine ungewöhnliche Einladung

Wie sturmzerzauste Wolken jagten sich die wilden Bilder in Tobias' Träumen. Noch einmal durchlebte er den riskanten Start vom Falkenhof, sah die Feuerzungen aus den Musketenläufen nach ihm greifen und hörte das Krachen der Blitze, als der Ballon in ein schweres Unwetter geriet und dahintaumelte wie ein Korken auf rauer See, während Sadik mit monotoner Stimme wie in Trance eine Koransure nach der anderen betete.

Aber in seinem Traum tauchten auch Bilder auf, die nichts mit der nächtlichen Sturmfahrt zu tun hatten. So sah er Zeppenfeld, Stenz und Tillmann, die ihn in die Hütte des Köhlers verschleppten. Dann färbte ihr Blut seine Klinge. Er sprang aufs Pferd und ritt wie von Furien gehetzt. Das Landgut konnte er schon sehen, doch sosehr er Astor auch antrieb, Falkenhof rückte nicht näher. Schon spürte er den Atem seiner Verfolger im Nacken, hörte Zeppenfelds höhnisches Lachen und glaubte sich verloren, da schwebte plötzlich ein riesiges magisches Auge vor ihm auf der Landstraße, das ihn merkwürdigerweise nicht ängstigte. Wie ein Zaubertor verschluckte es ihn und sein Pferd – und im nächsten Moment befand er sich innerhalb der Mauern des Gevierts und Jana lächelte ihn beruhigend an, während sich das Sonnenlicht in ihren tiefschwarzen Haaren fing. Hinter ihr stand ihr bunt bemalter Gauklerwagen, mit dem sie durch die Lande zog. Auf dem Kutschbock lagen ihre Tarotkarten. Ein Windstoß wirbelte sie auf einmal hoch. Jana fing eine der Karten auf und hielt sie ihm hin.

Es war die Karte Zehn der Schwerter.

Das Symbol des Untergangs!

Er erschrak und streckte seine Hand aus, um die Karte abzudecken. Doch kaum berührten sich ihre Hände, da löste sich Jana vor seinen Augen auf. Er rief nach ihr und plötzlich war es wieder Nacht. Der Ballon, längst von allem Ballast befreit, trieb über den dunklen Spiegel eines Sees. Noch einmal hob er sich ein paar Meter in die Lüfte und erreichte den Wald am Seeufer, dann brach die Gondel durch das Geäst der Baumwipfel. Zweige brachen, während Seide und Taft zu Fetzen gingen. Die Gondel neigte sich und der Ebenholzstock mit dem silbernen Falkenkopf als Knauf rutschte über den Rand.

Voller Entsetzen griff er nach dem Stock. Ohne ihn waren sie verloren! Auch sein Onkel war ohne ihn zu ewigem Kerker verdammt! Und er würde Jana nie wiedersehen, wenn er ihn verlor! Der Falkenstock garantierte ihnen Freiheit und Leben und die Erfüllung all ihrer Wünsche!