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London im Jahre 1701. Einst war Captain William Kidd ein angesehener Mann – nun wartet er mit seinem Steuermann Darby Mullins im berüchtigten Gefängnis Newgate auf seine Hinrichtung. Angeklagt sind die beiden der Piraterie. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Vor zwölf Jahren erhält der erfolgreiche Captain Kidd das Angebot, für die englische Krone auf Piratenjagd zu gehen. Kidd willigt nur zögernd ein und begibt sich mit einem imposanten Dreimaster auf seine gefährliche Mission. Doch das Abenteuer steht von Beginn an unter keinem guten Stern …
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Seitenzahl: 189
Rainer M. Schröder
Roman
Der Tag der Hinrichtung dämmerte herauf. Fahlgraues Licht verdrängte allmählich die tiefschwarzen Schatten der Nacht vor dem winzigen vergitterten Fenster, das hoch oben in der Mauer der Kerkerzelle eingelassen war. Schmutziggraue Wolken hingen über dem Londoner Gefängnis Newgate, einer Stätte des Grauens und des Todes, vor der sich sogar die abgebrühtesten Schwerverbrecher fürchteten. Zu Recht.
Captain William Kidd hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Frierend kauerte der zum Tode Verurteilte in einer Ecke der Zelle auf einer dünnen Schicht feuchten Strohs. Es war eiskalt. Die rauen Wände, die zum Teil mit Schimmel bedeckt waren, hielten noch die Kälte der Nacht in ihren mächtigen Steinquadern.
Neben Kidd lag eine stämmige, sehnige Gestalt in dünner verschlissener Kleidung. Es war sein langjähriger Gefährte und ehemaliger Steuermann Darby Mullins, der sich nun auf dem Stroh zu regen begann und sich hustend aufrichtete.
»Dreimal zur Hölle mit diesen elenden Heuchlern, die uns in den Kerker von Newgate gebracht haben!«, stieß Darby Mullins hervor und fuhr sich über die brennenden und geröteten Augen. Auch Darby Mullins hatte in dieser Nacht keinen Schlaf gefunden.
»Wenn sie uns noch länger hierbehalten«, fuhr er fort, »brauchen sie keinen Galgen mehr. Dann verrecken wir bereits hier in diesem Loch!« Er fluchte lauthals, doch dann erstickte ein heftiger Hustenanfall seine lästerlichen Flüche.
»Sie werden es nicht wagen, Darby«, erwiderte Captain Kidd und bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben.
Kidd zog den mehrfach geflickten schwarzen Samtrock, der während der langen Kerkerhaft übel zugerichtet worden war, fester um seine noch immer kräftigen Schultern. Die Haftzeit war jedoch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. In sein ehemals wettergegerbtes Gesicht, das nun von kränklich bleicher Farbe war, hatten sich unzählige tiefe Falten eingegraben. Sein Haar hatte sich zudem stark gelichtet und hing ihm in schmutzigen Strähnen in die Stirn. Doch in seinen Augen war die Flamme der Hoffnung noch immer nicht erloschen.
»Sie werden es nicht wagen? Habe ich Euch recht verstanden, Captain?«, machte sich nun der dritte Mann in der Zelle bemerkbar, den man erst vor wenigen Tagen zu Kidd und Mullins in den Kerker geworfen hatte. Es war Joe Simonton, ein pockennarbiger Pirat der übelsten Sorte.
Joe Simonton lachte rau. »Hängen werden sie uns, Captain. Uns alle! Und auf Euren Kopf ist der Pöbel von London ganz besonders scharf, Captain. Der Strick ist Euch gewiss.«
Kidd ersparte sich eine Antwort, und Joe Simonton zog eine noch halbvolle Flasche Branntwein aus seiner Rocktasche, setzte sie an die rissigen Lippen und trank gierig. Irgendwie war es Simonton gelungen, sich mehrere Flaschen von diesem billigen scharfen Fusel zu besorgen. Im Gefängnis von Newgate war alles möglich, denn die Wärter waren bestechlich und nahmen, was sie von den Gefangenen bekommen konnten.
Auch Kidd hatte in seiner Verzweiflung versucht, den Aufseher zu bestechen. Immerhin war er ein vermögender, ja reicher Mann. Aber er war zu bekannt, als dass der Gefängnisaufseher ihn für eine Kiste Goldstücke hätte laufen lassen können – wie das bei kleineren Fischen sonst möglich war. Das ehrwürdige Geschworenengericht von Old Bailey hatte ihn für schuldig befunden, schwerste Piraterie begangen zu haben, und zum Tode durch den Strang verurteilt. Es war ein aufsehenerregender Prozess gewesen, der auch politische Auswirkungen gehabt hatte.
»Wir hätten den einflussreichen Londoner Gentlemen, diesen Hundesöhnen, niemals Glauben schenken, sondern mit dem Gold verschwinden sollen«, sagte Darby Mullins mit Bitterkeit, als die Sonne langsam höher stieg und sich der morgendliche Nebel aufzulösen begann. »Deine ehrwürdigen Freunde haben uns an den Teufel verkauft, um ihre eigene schmutzige Haut zu retten. So sieht es aus, Captain.«
Darby Mullins hatte sich angewöhnt, Kidd mit Captain anzusprechen, obwohl sie Freunde waren und schon so manches Gefecht Seite an Seite durchgestanden hatten. Aber auch im Angesicht des Galgens würde Mullins von dieser Gewohnheit nicht abgehen.
Kidd schüttelte den Kopf. »Daran kann und will ich einfach nicht glauben, Darby. Und noch haben wir die Schlinge nicht um den Hals.«
»Aber bald!«, rief Joe Simonton aus der gegenüberliegenden Ecke des Kerkers und griff wieder zur Flasche. Gurgelnd rann der scharfe Branntwein durch seine Kehle. Seit Tagen schon ersäufte er seine Todesangst in Alkohol, denn auch ihm war der Galgen gewiss.
Kidd schwieg und starrte geistesabwesend hinüber auf die Wand.
Darby Mullins rückte näher zu ihm und fragte leise: »Du denkst an diesen feinen Pinkel Jack, nicht wahr?«
Kidd nickte gedankenversunken.
»Zum Teufel mit diesem Burschen!«, fluchte Darby Mullins. »Keinen Viertelpenny Silber gebe ich noch für seine verlogenen Versprechungen!«
»Abwarten, Darby«, erwiderte William Kidd.
Wenige Tage vor Prozessbeginn hatte Kidd eine merkwürdige Begegnung gehabt. Ein gewisser Jack Brownigton hatte ihn im Kerker besucht und sich als Advokat vorgestellt. Er war teuer gekleidet und hatte Kidd gewarnt, vor den Geschworenen die Wahrheit zu sagen. Schließlich hatte Kidd mit Jack Brownigton, der sicherlich ganz anders hieß, einen Handel geschlossen: Kidds Schweigen für die Sicherheit seiner Familie, sein eigenes Leben und das seines Gefährten Darby Mullins. Der Advokat hatte den Handel angenommen.
»Sie wollten unser Schweigen vor Gericht, Captain«, sagte Mullins grimmig. »Und das haben sie bekommen. Und jetzt werden sie uns endgültig zum Schweigen bringen – mit einem Hanfstrick!«
Joe Simonton hatte Mullins verbitterte Worte mitgehört. Er rülpste laut. »Hängen ist gar nicht so schlimm, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat.« Er lachte heiser, als hätte er einen besonders gelungenen Witz gemacht. Doch in seinen Augen stand ein irres Flackern.
Kidd und Mullins ignorierten ihn und fielen in ein brütendes Schweigen. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als zu hoffen und zu warten. Aber warten in Newgate – das war die Hölle auf Erden. Vor fünfhundert Jahren hatte man das Gefängnis gebaut, und seitdem hatte sich hier nichts geändert. Noch immer liefen offene Wasserkanäle mitten durch die Zellen, und brutale Wärter und Seuchen forderten mehr Todesopfer als der Galgen. Ein unvorstellbarer Gestank erfüllte die Kerker, in denen es von Ungeziefer nur so wimmelte.
Die drei zum Tode Verurteilten schreckten auf, als auf dem Gang vor den Zellen Schritte laut wurden. Sie hörten das Rasseln von Schlüsseln. Metall schlug gegen Metall, als die massiven Riegel der Zellentür zurückgeschoben wurden. Die Tür schwang auf.
Der hagere Aufseher stand im Lichtschein der Laternen, die den Gang erhellten. Hinter ihm warteten mit ausdruckslosen Gesichtern zwei bewaffnete Wärter.
Der Aufseher befahl mit barscher Stimme: »Folgt mir, Captain Kidd! Man will Euch sprechen.«
Kidd griff nach seiner dreckigen Perücke, stülpte sie hastig über sein strähniges Haar und sprang auf. Er wagte nicht zu fragen, um wen es sich bei diesem »man« handelte. Es konnte nur Jack Brownigton sein, der gekommen war, um sein Versprechen einzulösen. Kidd warf Darby Mullins einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Bis nachher, Captain!«, grölte Joe Simonton ihm nach und schwang seine nun fast leere Branntweinflasche. »Am Galgen!«
Captain William Kidd trat hinaus auf den Gang. Und während er dem wortkargen Aufseher folgte, eskortiert von den bewaffneten Wärtern, wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, zurück in die Zeit, als er auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und noch nichts von den Dingen ahnte, die mit dem Kommando über das unglückselige Schiff Adventure Galley auf ihn zukommen würden.
Und wenn er es recht überlegte, begann eigentlich alles mit jenen dramatischen Ereignissen im Sommer 1689. Gut zwölf Jahre lag das nun schon zurück, doch ihm war, als wäre es erst gestern gewesen …
»Klar Schiff zum Gefecht!«
Laut hallte das Kommando über das Deck der englischen Fregatte Shark. Captain William Kidd, der Eigner des stolzen Dreimasters, stand mit gespreizten Beinen und hinter dem Rücken verschränkten Armen auf dem Achterdeck. Aufmerksam beobachtete er, wie seine Mannschaft das Schiff in Gefechtsbereitschaft brachte.
Es gab nichts zu beanstanden. Jeder wusste, was er zu tun hatte und wo sein Platz war. Zahlreiche Seegefechte hatten sie zu einer kampferprobten Gemeinschaft zusammengeschmiedet.
Nackte Füße eilten über das Deck und die Stufen des Niedergangs hinunter. Pulver, Kugeln und Handwaffen wurden an Deck geschleppt. Die Geschützmannschaften nahmen die Mündungsschoner von den 12-Pfündern, luden sie, öffneten die Stückpforten und rannten die Kanonen aus. Die Lunten lagen bereit.
Die Planken wurden begossen, damit feindliche Geschosse kein Feuer entfachen konnten. Und dann streuten die Männer Sand über das Deck. Wenn es zum Kampf kam, sollte keiner im Blut der Verletzten und Toten ausgleiten.
»Haltet Kurs Südsüdwest, Mullins!«, rief Kidd dem Steuermann am Ruder zu.
Darby Mullins, ein stämmiger Mann, der nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien und mit nacktem sonnengebräuntem Oberkörper hinter dem Ruder stand, nickte ernst. »Aye, aye, Captain! Kurs Südsüdwest.«
Tom Bone, der Segelmacher mit dem knöchrigen Körperbau und dem fast zahnlosen Gebiss, trat zu Kidd auf das Achterdeck. Sein Gesicht schien zu glühen. »Gleich werden diese verdammten Froschfresser unsere Breitseite zu schmecken bekommen!«
Kidd verzog das Gesicht. »Noch liegt der Kampf vor uns, Bone. Pierre d’Avernas ist kein leichter Gegner. Er versteht es, eine Klinge zu führen und selbst dem Teufel ein Ohr abzusäbeln.«
Der Segelmacher spuckte verächtlich über Bord. »Das wird ihm heute wenig nützen, Captain … mit Verlaub gesagt. Der Teufel soll mich holen, wenn wir ihn nicht dahin schicken, wo dieser Franzmann hingehört … in die Hölle nämlich!«
Darby Mullins lachte zustimmend. »Diesmal sitzt Pierre d’Avernas in der Falle. Und er ahnt es noch nicht einmal.«
»Schiff gefechtsbereit, Captain!«, meldete der Geschützmeister James Brewer, den alle nur Scotty nannten, weil er auf seine schottische Heimat nichts kommen ließ.
Scotty war ein Hüne von einem Mann. Mehrere Narben bedeckten seinen muskulösen Oberkörper. Seine Hände waren wie die Pranken eines Grizzlys. Mit einem wuchtigen Fausthieb vermochte er einen ausgewachsenen Mann ins Jenseits zu schicken. Er trug ein buntes Halstuch und eine schwarze Perle im rechten Ohr.
Kidd nickte zufrieden und musterte ihn mit einem kaum merklichen Lächeln. Scotty hatte sich schon mit einem mächtigen Entermesser und zwei geladenen Musketen bewaffnet, die hinter seinem breiten Gürtel steckten.
»Du kannst es kaum abwarten, nicht wahr?«
Scotty lachte. »Es wurde Zeit, dass uns dieser Bastard endlich vor die Rohre segelt, Captain. Der Franzmann hat eine Menge englische Schiffe in den Grund gebohrt.« Er deutete mit dem Kopf zu der Besatzung an den Geschützen hinunter. »Die Männer können es kaum erwarten. Haben lange keinen Pulverrauch mehr gerochen.«
»Vielleicht bekommen wir heute mehr Pulver zu schmecken, als uns recht sein kann«, erwiderte Captain Kidd. »Wenn d’Avernas gewarnt ist, wird er uns einen heißen Empfang bereiten, den wir so schnell nicht vergessen werden.«
»Pah!«, knurrte Tom Bone. »Wir werden ihn zu den Fischen schicken, Captain … mit Verlaub gesagt.« William Kidd setzte das Fernrohr an die Augen. Gut drei Meilen voraus lag eine langgezogene, bewaldete Insel, die zur Bahama-Gruppe gehörte. Unbewohnt, aber mit Frischwasserquellen. Ein ideales Versteck für einen Piraten. Nur Pech für Pierre d’Avernas, dass er, William Kidd, diese Insel mit der versteckten Bucht kannte.
D’Avernas hatte jahrelang als gefürchteter Pirat die karibischen Gewässer unsicher gemacht. Auf eigene Rechnung. Jetzt, wo Frankreich und England im Krieg miteinander lagen, gehörte er sozusagen zur französischen Kriegsflotte. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er ein skrupelloser Pirat war, der sich weniger um sein Vaterland als vielmehr um reiche Beute kümmerte.
Kidd starrte zur Insel hinüber. Die bewaldete Landzunge, die weit ins Meer hinaussprang und die stille Bucht schützte, kam näher und näher. Hatte d’Avernas Posten aufgestellt? Ahnte er vielleicht schon, dass sich ihm die Shark mit ausgerannten Geschützen näherte?
Captain Kidd schob das Fernrohr mit einer energischen Bewegung zusammen. Er würde es darauf ankommen lassen müssen. Kidd hatte sich in den letzten Jahren einen Namen als mutiger und erfolgreicher Kapercaptain gemacht. Ein Sieg über Pierre d’Avernas’ Schiff, die Fregatte Esperance, würde ihm zur Ehre gereichen. Und er war fest entschlossen, die Esperance zu nehmen.
»Wir befinden uns in Luvposition, und da will ich während des ganzen Gefechtes möglichst auch bleiben«, sagte Kidd nun an Darby Mullins gewandt.
»Aye, aye, Captain! Von diesen Froschfressern werden wir uns nicht aussegeln lassen«, versicherte Darby Mullins und gab Stützruder.
Kidd blickte nun den Geschützmeister an, der scheinbar gedankenverloren die schwarze Perle in seinem rechten Ohrläppchen drehte.
»Wir wissen nicht, was uns erwartet. Jedenfalls nicht genau. D’Avernas ist ein gerissener Hund, das muss man ihm lassen. Er versteht sein blutiges Piratenhandwerk. Sonst hätte er sich nicht so lange in diesen Gewässern behaupten können.«
Scotty zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Worauf wollt Ihr hinaus, Captain?«
»Dass die erste Breitseite aus unseren Rohren die entscheidende sein wird«, erklärte William Kidd schärfer als beabsichtigt. Die nervliche Anspannung kurz vor einem derart gefährlichen Gefecht machte sich auch bei ihm bemerkbar. »Vermutlich wird sie sogar den Ausgang des Kampfes bestimmen.«
Scotty erlaubte sich den Anflug eines stolzen Lächelns. »Mit allem Respekt, Captain, das wissen die Männer. Die Breitseite wird sitzen, darauf verwette ich meine Perle!«
»Wenn die Esperance Gelegenheit erhält, mit voller Feuerkraft zu antworten, wird von der Shark nicht mehr viel übrig bleiben, was sich lohnt, eingesammelt zu werden. Mach das den Geschützmannschaften klar, Scotty!«
»Eigentlich ist das nicht nötig«, sagte Scotty, »aber ich werde ihnen noch einmal Feuer unter dem Achtersteven machen.« Er verließ das Achterdeck und begab sich anschließend von einem Geschütz zum anderen. Kidd vermochte deutlich zu hören, wie Scotty den Männern vor Augen führte, was ihnen bei einer misslungenen Breitseite blühte. Kielholen war noch die mildeste Strafe, die er denjenigen Kanonieren androhte, die ihre Kugel nicht mitten in den hölzernen Bauch des französischen Schiffes jagten.
Kidd trat wieder an die Backbordreling und spähte zur Insel hinüber. Von weitem ähnelte sie einem mächtigen Wal, der aufgetaucht war und mit seinem von Seetang bedeckten Buckel ruhig im Wasser lag. Verfilztes, scheinbar undurchdringbares Dickicht reichte bis ans Wasser hinunter. Plötzlich fiel ihm ein, dass im Nordwesten ein langes halbkreisförmiges Unterwasserriff eine natürliche und gefährliche Barriere bildete und die Bucht von Norden her schützte.
Er schickte deshalb einen Mann nach vorn zum Bug, der mit einem Lot darüber wachen sollte, dass die Shark immer genügend Wasser unter dem Kiel hatte.
Nachdem sonst weiter nichts mehr zu tun war, ging Kidd noch einmal seinen Angriffsplan durch. Wenn er Glück hatte, befand sich ein Großteil der Mannschaft der Esperance an Land, um die Frischwassertonnen wieder aufzufüllen. In diesem Fall würde die Shark ein leichtes Spiel haben.
Die Fregatte war gefechtsbereit und glitt mit prallen Segeln und rauem Wind durch das grünblaue Wasser der Karibik. Captain Kidd überlegte, ob er nicht irgendeine Kleinigkeit vergessen hatte … Nein – es gab nichts mehr zu tun, außer zu warten. Das Warten war die schlimmste Zeit vor einem Kampf. Zäh verrannen die Minuten, und er musste sich zusammennehmen, um nicht ruhelos auf dem Achterdeck hin und herzu wandern. Er spürte, dass es seiner Crew nicht viel anders erging. Die Männer fieberten nur darauf, dass die Geschütze losdonnerten und beißender Pulverrauch über das Deck trieb. Dann endlich konnten sie etwas tun, kämpfen, fluchen und schreien.
Jetzt jedoch lag eine beinahe atemlose und trügerische Stille über dem Schiff. Nur das Rauschen der Wellen, durch die der Bug schnitt, und das vertraute Arbeiten der Takelage waren zu hören.
Immer näher kam die Landzunge, die den Blick in die versteckte Bucht verwehrte, in der die Esperance ankerte. Kidd konnte zwar schon einzelne Palmen ausmachen, aber nirgendwo französische Wachtposten entdecken. Pierre d’Avernas schien sich in seinem Versteck sehr sicher zu fühlen …
Und dann kam plötzlich der überraschte, fast erschrockene Ruf des Ausgucks aus dem Masttopp: »Segel voraus …! Drei Strich Backbord!«
Captain Kidd zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Die Esperance?«, schrie er zum Ausguck hoch.
»Ja, Captain!«, antwortete der Mann im Masttopp aufgeregt. »Sie steht unter Segel und läuft aus!«
Die Männer der Shark starrten betroffen zur Landzunge hinüber, die soeben an ihnen vorbeiglitt und nun den Blick in die Bucht freigab. Und dann sahen sie den französischen Dreimaster, der mit geblähten Segeln auslief.
»Hölle und Verdammnis!«, fluchte der Segelmacher Tom Bone und spuckte durch seine Zahnlücken in hohem Bogen über die Reling. »Wenn der Bastard gewarnt ist, wird es gleich Blei und Eisen regnen!«
Für einen Augenblick wich das Blut aus Captain Kidds Gesicht. Der Überraschungsangriff war missglückt! Die Esperance lag nicht als ahnungsloses Opfer in der Bucht und nahm Frischwasser an Bord. Nein, sie lief mit rauschender Bugwelle auf die Shark zu. Und die gesamte Crew des Piraten befand sich an Bord.
Nachdem sich Kidd von dem ersten Schrecken erholt hatte, riss er das Fernrohr hoch. Vor sich sah er die Gesichter der Franzosen zum Greifen nahe. Erleichtert stöhnte er auf, als er ihr fassungsloses Staunen und bei manchen sogar Entsetzen bemerkte.
»Die Esperance ist nicht gefechtsklar!«, rief er seinen Männern mit beherrschter Stimme zu. »Kurs halten!«
»Aye, aye, Captain«, sagte Darby Mullins nach kaum merklichem Zögern.
Tom Bone starrte Kidd völlig verwirrt an und sprach aus, was vermutlich auch dem Steuermann durch den Kopf schoss: »Aber Captain … wir liegen mit der Esperance auf Kollisionskurs, mit Verlaub gesagt …! Wir werden sie rammen und dabei jeden verdammten Mast verlieren …! Das ist Selbstmord … mit Verlaub gesagt!«
»Kurs halten!«, wiederholte Kidd seinen Befehl unmissverständlich. Und dann fügte er beruhigend hinzu: »Es wird zu keinem Zusammenstoß kommen.«
Der Segelmacher kratzte sich nervös am Kinn. »Hölle und Verdammnis, es sieht mir aber ganz danach aus …«
Darby Mullins grinste. Er schien inzwischen zu begreifen, was Kidd plante.
Deutlich war zu erkennen, wie die Franzosen sich fieberhaft bemühten, ihr Schiff gefechtsbereit zu machen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit, Kidd wusste das nur zu gut. Er hätte schon jetzt Feuerbefehl geben können. Die 12-Pfünder konnten zwar die Distanz zur Esperance überwinden, würden beim Einschlag jedoch nicht die vernichtende Kraft besitzen, die notwendig war, um den Franzosen schon mit der ersten Breitseite den Atem zu nehmen.
Nein, er musste die erste Breitseite aufsparen, um gleich zu Beginn des Kampfes die erwünschte Wirkung zu erzielen. Das war das Risiko wert, das er mit seinem Warten einging. Denn wenn es den Franzosen gelang, ihre schwereren Geschütze noch rechtzeitig auszurennen und abzufeuern, würde die Shark in die Defensive geraten.
»Erst auf mein Kommando hin wird gefeuert!«, rief Kidd zum Geschützdeck hinüber. »Und ich will, dass die Salve einheitlich abgeht!«
Die Männer nickten stumm, die glimmenden Lunten in den Händen.
Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Dann betrug die Entfernung zwischen den beiden gegnerischen Schiffen, von denen keines den Kurs geändert hatte, nur noch drei Kabellängen.
Darby Mullins blickte starr geradeaus und hielt den Kollisionskurs mit eisiger Ruhe. Er würde nicht eher das Ruder herumwerfen, bevor Kidd nicht den Befehl dazu gab. Und wenn er die Shark mittschiffs in die Esperance jagen müsste.
Doch dann kam das für alle erlösende Kommando vom Achterdeck: »Ruder hart Steuerbord!«
Darby Mullins führte das Kommando aus. Er spürte den ungeheueren Druck auf das Ruder, als die Fregatte nun mit beachtlicher Geschwindigkeit herumschwang, sich stark überlegte und dann fast parallel zur Esperance durchs Wasser schnitt.
Hurra-Geschrei erhob sich unter Kidds Männern. Sie wussten, dass sie den Wettlauf gewonnen hatten. Die Esperance war noch nicht völlig gefechtsklar und präsentierte ihnen nun die völlig ungeschützte Steuerbordseite.
»Feuer!«, brüllte Kidd.
Die zehn 12-Pfünder an Backbord und die beiden Drehbassen, von denen je eine auf dem Vorschiff und auf dem Achterdeck montiert war, brüllten auf. Die Salve aus den zwölf Geschützen klang wie ein einziger ohrenbetäubender Donnerschlag und ließ die Fregatte erzittern. Der Rückstoß schleuderte die zehn auf Lafetten ruhenden Kanonen aus den Stückpforten. Sie rutschten etwa zwei Yards über das Deck, bevor sie von den starken Brooktauen aufgehalten wurden. Die Shark legte sich kurz nach Steuerbord über.
»Volltreffer!«, brüllte einer der Kanoniere.
Pulverqualm quoll aus den Rohren und trieb über das Deck. Und dann schlugen auch schon die schweren Geschosse in die Steuerbordseite der Esperance ein. Die Wirkung war verheerend. Kurz vor dem Abschuss der Breitseite hatten die Franzosen ihre Kanonen ausgerannt. Während einige Kugeln in den Rumpf einschlugen und die Planken eindrückten, durchbrachen die anderen Geschosse die Reling, rissen vier feindliche Geschütze von den Lafetten und brachten den Tod über die Geschützbedienungen. Die Schreie der Verwundeten gellten zur Shark herüber.
Und dann krachten die noch intakten Kanonen der Esperance. Doch die Kugeln donnerten über das Deck der Shark hinweg, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Das Großsegel bekam einen Treffer, und ein Teil der Takelage wurde aufgefetzt. Der gewaltige Einschlag der englischen Breitseite hatte die Esperance nach Backbord kippen lassen, so dass die Kanonen beim Abschuss viel zu hoch zielten.
Scottys Stimme übertönte den Gefechtslärm, als er den Geschützmannschaften zuschrie: »Ausputzen …! Nachladen …! Ziel erfassen …! Feuer!«
Und wieder wummerten die 12-Pfünder. Die Salve setzte zwei weitere feindliche Geschütze außer Gefecht und lichtete die Reihen der französischen Piraten. Holz barst und splitterte. Der Fockmast erhielt einen Volltreffer und knickte wie ein Streichholz weg. Spieren, Rahen und schwere Blöcke donnerten auf das Vorschiff und begruben zwei Männer unter sich.
»Teufel, die Breitseite lag richtig!«, rief Darby Mullins begeistert.
Tom Bone spuckte seinen Priem aus. »Sie werden noch mehr Eisen zu schlucken bekommen«, erwiderte er und feuerte durch den dichten Qualm seine Muskete ab.
»Den Großmast …! Holt den Großmast herunter!«, rief Kidd mit klarer Stimme, während die Männer die Kanonen in fieberhafter Eile ausputzten, nachluden, wieder in Schussposition brachten und nach den glimmenden Lunten griffen.
Bevor die Shark jedoch dazu kam, ihre dritte Breitseite abzufeuern, brüllten die Geschütze der Esperance auf. Captain Kidd empfand einen beinahe körperlichen Schmerz, als die Kugeln sein Schiff trafen.
Eine Kugel durchschlug mittschiffs das Schanzkleid, heulte über das Deck und rasierte einem Seemann das Bein unterhalb des rechten Knies so glatt ab, als hätte man es ihm mit einem scharfen Messer amputiert.
Kidd sah, wie der Mann zu Boden stürzte und mit fassungslosem Gesichtsausdruck auf seinen blutenden Beinstumpf starrte, als könne er nicht glauben, was seine Augen sahen. Noch fühlte er keinen Schmerz, dafür war der Schock zu groß. Aber der Schmerz würde bald einsetzen …
Kidd wandte sich ab. Er konnte dem Mann nicht helfen, das war Aufgabe anderer. Der Feldscher würde sich um ihn kümmern. Jeder Seemann, der auf einem Kaper- oder gar regulären Kriegsschiff Dienst tat, musste damit rechnen, im Gefecht verstümmelt zu werden oder gar den Tod zu finden.
Die nächsten Geschosse der Franzosen jaulten heran und verwandelten die vordere Geschützmannschaft in ein Knäuel blutiger Leiber.
»Und segne, was du uns bescheret hast«, hörte Kidd neben sich Darby Mullins lästern. Mullins grinste schief. »Wer gibt, muss auch nehmen.«
»Aber geben ist seliger denn nehmen«, krächzte der Segelmacher. »Und dieses Gebot ist mir heilig … mit Verlaub gesagt!« Sprach’s und feuerte seine Muskete erneut auf den Feind ab.
»Klar zum Einzelfeuer!«, befahl Kidd.
Es wurden nun keine Breitseiten mehr abgefeuert, sondern jeder Kanonier schoss, sobald er nachgeladen hatte und ins Ziel gegangen war.
So, als wäre er selbst nicht an diesem Gefecht beteiligt, beobachtete Captain Kidd das Kampfgeschehen vom Achterdeck aus und schätzte seine Chancen ab. Die Esperance