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Florenz im Jahre 1489. Der namenhafte Freskenmaler Pater Angelico bangt seit Wochen um eine Lieferung Lapislazuli von Bernardo Movetti. Diese braucht er für eine Auftragsarbeit Lorenzo de’ Medicis zur Herstellung der kostbaren Farbe Ultramarin. Pater Angelico will Movetti wegen der säumigen Lieferung zur Rede stellen, doch er findet ihn erhängt auf. Die gefürchtete Geheimpolizei ist davon überzeugt, dass Movetti Selbstmord begangen hat. Doch das würde bedeuten, dass Pater Angelico nie das von Lorenzo de’ Medici geliehene Gold zurückerstatten könnte. Zusammen mit seinem Novizen Bartolo ermittelt Pater Angelico auf eigene Faust; er begegnet der faszinierenden Lucrezia – und schon bald ist sein eigenes Leben bedroht. Der erste Fall für Pater Angelico aus Florenz.
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Seitenzahl: 560
Veröffentlichungsjahr: 2018
Rainer M. Schröder
Pater Angelicos erster Fall
Roman
Den Mönchen der ZisterzienserabteiHimmerod in der Eifel ingroßer Verbundenheit gewidmet.
Florenz im November 1489
»Ich will ihn hängen sehen, Malfatto!«
Kalt und leidenschaftslos hallte der Befehl durch das feuchte, rußverdreckte Kellergewölbe des baufälligen Wohnturms. Er kam von den Lippen eines in Samt und Seide gekleideten Mannes, den der Schein der blakenden Pechfackel, der über das uralte Gemäuer leckte, in der finsteren Tiefe des Gewölbes nicht erreichte. Vielmehr fiel das flackernde Licht auf seinen muskulösen, buckligen Handlanger, Vito Malfatto, und den Mönch.
Der Dominikaner lag, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auf dem Steinboden, Kopf und Oberkörper in einer Lache zisternenkalten Wassers, das ihm der Bucklige aus einem dreckigen Holzkübel ins Gesicht gekippt hatte. Der eisige Guss hatte den Mönch jäh aus tiefer Bewusstlosigkeit gerissen.
Pater Angelico Crivelli hatte mit den Nachwehen der Betäubung zu kämpfen. Ein heißes Pochen, dessen Quelle irgendwo im Hinterkopf saß, erfüllte seinen Schädel und übte von innen einen übelkeiterregenden Druck auf die Augen aus. Er spuckte Wasser aus, das ihm in den Mund gelaufen war. Zurück blieb der Geschmack von Sand und Schimmel. Als er sich über das Gesicht wischen wollte, merkte er erst, dass man ihm die Arme auf dem Rücken gebunden hatte.
»Aber warte, bis er richtig zu sich gekommen ist! Dann zieh ihn schön langsam hoch, Malfatto!«
»Ja, Herr.«
Pater Angelico wusste sogleich, was es mit dem Befehl auf sich hatte. Und dieses Wissen jagte einen noch viel größeren Schock durch seinen Körper als kurz zuvor der Schwall muffigen, eisigen Wassers.
Barmherzige Muttergottes, steh mir bei!
Mit einem langgezogenen Stöhnen wälzte er sich auf die Seite und hob den triefnassen Kopf. Sein Blick suchte den Buckligen, der ihn wenige Minuten zuvor im nächtlichen Nebel vor dem Stumpf des alten Geschlechterturms mit einem Schleudergeschoss aus dem Hinterhalt niedergestreckt hatte. Im nächsten Moment ragten auch schon dreckstarrende kniehohe Stiefel vor ihm auf. Sein Blick wanderte an ihnen nach oben, glitt über ein speckiges Lederwams und heftete sich an das grobschlächtige, pockennarbige Gesicht von Vito Malfatto. Über den kahlen Schädel des Mannes zog sich, von der Stirn bis zum Hinterkopf, hässliches Narbengeflecht wie ein Schimmelpilz.
»Verheb dich bloß nicht, du … miese Ratte!«, stieß der Mönch mit kratziger Stimme hervor. Er gab sich unbeeindruckt von dem, was ihm bevorstand, obwohl die Angst vor dem Schmerz ihn geradezu würgte. Aber sie sollte ihm nicht schon jetzt ins Gesicht geschrieben stehen. Diese Genugtuung wollte er ihnen versagen, solange er konnte.
Mochte Gott geben, dass sein Wille stärker war als der grausame Schmerz!
»Du wirst gleich ganz andere Töne spucken, verdammter Kuttenträger!«, erwiderte der Bucklige und versetzte ihm einen Tritt in den Unterleib.
Pater Angelico sah den Stiefel auf sich zukommen und krümmte sich noch schnell genug, um dem Angriff einen Großteil seiner Wucht zu nehmen. Doch es reichte immer noch, um ihm die Luft aus den Lungen zu treiben und einen stechenden Schmerz durch seinen Körper zu jagen. Ein Schrei aber kam ihm nicht über die Lippen. Noch nicht.
»An der Klaue erkennt man den Löwen und am Stiefeltritt den Feigling!«, keuchte er voller Verachtung.
Der Bucklige gab ein gereiztes Schnauben von sich und holte zu einem neuerlichen Tritt aus, doch die schneidende Stimme aus dem dunklen Teil des Gewölbes vereitelte das Vorhaben schon im Ansatz.
»Lass das! Keine Eigenmächtigkeiten, verstanden? Du tust nur das, was ich dir zu tun befehle! Und nun zieh ihn hoch! Er ist jetzt klar genug, um würdigen zu können, was wir ihm am Seil zu bieten haben!«
Vito Malfatto vergewisserte sich mit einem kurzen Blick zur Gewölbedecke, dass der Strick dort oben auch richtig über die hölzernen Rollen des Flaschenzugs lief. Dann spuckte er in die schwieligen Pranken, packte das Seil mit beiden Händen und zog den Mönch mit kräftigen Bewegungen zur Decke hinauf. Pater Angelico war, als bohrten sich glühende Nadeln durch seine Arme. Gleich darauf schienen in seinen Schultergelenken Feuerbälle zu explodieren. Schlagartig vertrieb der Schmerz den letzten Rest Benommenheit. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Augen wollten aus ihren Höhlen quellen. Mit aller Willenskraft presste er die Zähne aufeinander und unterdrückte den Schrei, der ihm in der Kehle saß.
Nur er hörte ihn gellen.
Aus dem hinteren Teil des Gewölbes kam ein kurzes trockenes Auflachen. »Ihr haltet Euch tapfer, Angelico. Andererseits sollte man von einem Dominikaner wie Euch ja wohl auch erwarten dürfen, dass er nicht schon beim ersten sanften Seilzug zu jammern anfängt. Immerhin hat man Euch die Heilige Inquisition übertragen und das Handwerk der peinlichen Befragung gelehrt, nicht wahr?«, höhnte die Stimme. »Wie dem auch sei, Eure Tapferkeit wird nicht von langer Dauer sein. Denn noch haben wir mit der hohen Kunst des strappado nicht einmal angefangen.«
Vito Malfatto nickte mit verächtlicher Miene und nickte kurz am Seil.
Tränen schossen Pater Angelico in die Augen, den Aufschrei vermochte er aber auch diesmal zu ersticken. Er keuchte, als leide er unter schwerer Kurzatmigkeit, während er gegen den Schmerz ankämpfte, der seinen Körper in heißen Wellen flutete. In diesem Schmerz ging auch das Erstaunen darüber unter, wer der Mann war, der Movetti auf dem Gewissen hatte und für all die anderen Verbrechen verantwortlich war. Eigentlich ergab es keinen Sinn, aber natürlich musste der Mann für seine ruchlosen Taten Gründe gehabt haben. Was genau ihn getrieben hatte, war allerdings längst ohne Bedeutung. Es gab keine Hoffnung mehr.
»Der Strappado zeigt sein wahres Gesicht erst, wenn der gute Malfatto Euch ein ganzes Stück von der Decke herabsacken lässt und Euren Fall dann ruckartig unterbricht«, fuhr die Stimme ungerührt fort. »Dann reißt es Euch die Arme aus den Gelenkpfannen, Pater Angelico. Erst zu diesem Zeitpunkt entfaltet der gute Strappado seine ganze Pracht an Tortur. Und solltet Ihr Euch gar zu verstockt zeigen, wird er Euch später, Stück für Stück und überaus qualvoll, die Muskeln und Sehnen zerreißen.«
Pater Angelico blinzelte in das Licht der Fackel unter sich und versuchte, einen klaren Blick zu bewahren und trotz des brennenden Schmerzes Ordnung in den Tumult seiner Gedanken zu bekommen. Langsam drehte er sich am Seil halb um die eigene Achse. Der Bucklige kam in sein Blickfeld. Noch einmal bäumte sich alles in ihm auf.
»Freu dich auf die Hölle, Vito Malfatto! Da rücken sie jetzt schon auf dem glühenden Rost zusammen, um für dich menschlichen Abschaum Platz zu machen!«, stieß er mit zittriger Stimme hervor und spuckte seinem Peiniger ins Gesicht.
Wut flammte in den tief liegenden Augen des Buckligen auf, doch er wagte es nicht, sich ohne die Erlaubnis seines Herrn für das Anspucken zu rächen, indem er am Seil ruckte. Er wischte sich mit dem Handrücken den Speichel ab und zischte: »Warte nur! Du wirst hier gleich die Hölle erleben!«
Der Mann im Dunkel überging den Zwischenfall und fuhr unbeirrt fort: »Aber was nicht unter bitteren Schmerzen gewonnen ist, hat gewöhnlich keinen Wert. Seht Ihr das nicht auch so, Pater Angelico? Das ist es doch, was ihr gottesfürchtigen Männer der Kirche uns allzeit predigt. Dass der Weg zur Wahrheit schmal und dornenreich ist! Wartet denn nicht selbst auf den, der im Stand der heilig machenden Gnade stirbt, vor der Aufnahme in den Himmel erst einmal zur Buße seiner Sünden das reinigende Feuer des Purgatoriums?« Er legte eine kurze Pause ein. »Nun, nehmt den Strappado als seinen kleinen irdischen Bruder, der sein Bestes tun wird, Euch noch zu Lebzeiten auf den schmerzhaften Weg zur Wahrheit zu führen!«
Vito Malfatto lachte hämisch. »Und ob er das wird!«, verkündete er und stieß ihn leicht an der Hüfte an.
»Auf ewig verflucht sollt ihr sein, ihr elenden Kreaturen Satans!« Pater Angelico pendelte an dem Seil hin und her, kämpfte mit letzter Willenskraft gegen den brennenden Schmerz an und hoffte, dass es schnell gehen möge.
Er machte sich nichts vor. Die Kälte, die aus dem alten Gemäuer drang, war der Atem des Todes. Und hatte der Tod auch ein hässliches Gesicht, so war er doch ein ehrlicher Geselle. Er war ohne Falsch, trug keine Maske und beschönigte sein unbarmherziges Handwerk keineswegs. So sah er es, und das nicht erst, seit er Schwert und Lanze niedergelegt hatte und Mönch geworden war. Zumal der Körper letztlich doch nur das unbedeutende Gefäß der unsterblichen Seele war. Es galt, ihn leichten Herzens herzugeben, wenn man doch des ewigen Lebens gewiss sein durfte.
Aber wessen durfte er in dieser Novembernacht überhaupt noch gewiss sein? Sicherlich nicht mehr seiner monastischen Berufung. Die hatte eine junge Frauenhand mit einer einzigen zarten Berührung in ihren Grundfesten erschüttert. Und was das ewige Leben anging, hatte er nach allem, was er selbst als Mönch auf seine sündige Seele geladen hatte, noch weniger Gewissheit als zu seiner Zeit als Waffenknecht.
Nein, die einzige Gewissheit, die blieb, war die, dass er in dieser Nacht und an diesem elenden Ort sterben würde. Bei dem Versuch, ein unschuldiges Leben zu retten, das ihm kostbarer war als sein eigenes. Nur das würde womöglich sein Seelenheil vor der Verdammnis bewahren.
Dabei hätte er wissen müssen, dass es so kommen würde! Scalvetti hatte ihn mehr als einmal gewarnt. Wer wie er in einem Nest voll giftiger Vipern stocherte, musste damit rechnen, dass er dafür mit dem Leben bezahlen würde. Warum hatte er sich auch angemaßt zu glauben, er müsse die Morde um jeden Preis aufklären und die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zuführen? Wie hatte er so verantwortungslos sein und außer Acht lassen können, dass er in seiner Besessenheit womöglich auch Menschen in den tödlichen Sumpf zog, deren einzige Schuld darin bestand, ihm verbunden zu sein?
Und das alles wegen der verfluchten Lapislazuli im Wert von fünfzig Goldstücken!
»Domini canes – Spürhunde Gottes. So nennt man euch doch, nicht wahr?«, höhnte der Mann aus dem dunklen Gewölbe. Wie ein Messer fuhr seine kalte Stimme in die fiebrige Gedankenflut des Gefangenen. »Nun, Ihr habt Euch nicht von der Spur abbringen lassen, Pater Angelico. Das nötigt mir – trotz der beachtlichen Unannehmlichkeiten, die Ihr mir mit Eurer Schnüffelei bereitet habt – ein gewisses Maß an Respekt ab.«
»Süß schmeckt dem Menschen das Brot der Lüge«, presste Pater Angelico geringschätzig hervor.
»Seht es, wie Ihr wollt. Jetzt habt Ihr jedenfalls das Ende der Spur erreicht. Und es liegt ganz bei Euch, welches Ende Ihr nehmt und was Eurer verbotenen Liebe widerfahren wird. Ich halte Euch nicht für so töricht zu glauben, Ihr könntet den Qualen des Strappado bis zum bitteren Ende widerstehen. Also macht Euch die Sache leicht und wartet mit dem Reden nicht zu lange.«
»Wenn Ihr noch über einen Rest von Gewissen verfügt und Euer Seelenheil retten wollt, lasst Ihr sie aus Eurem schmutzigen Spiel! Gebt sie frei!«, stieß Pater Angelico beschwörend hervor. »Reicht es denn nicht, dass Ihr sie verstümmelt und mich in Eure Gewalt gebracht habt?«
Er erntete ein kurzes Auflachen. »Ich bitte Euch! Wir wollen das Pferd doch nicht von hinten aufzäumen, Mönchlein! Vor dem gerechten Lohn kommt die Leistung, das solltet Ihr am besten wissen. Und nun genug der freundlichen Reden! Sagt, wo Ihr es versteckt habt, und wir können miteinander ins Geschäft kommen!«
»Was für ein Versteck? Ich weiß nicht, wovon Ihr redet!«, stöhnte Pater Angelico.
»Diese Antwort war zu erwarten, und einmal will ich Euch die ebenso törichte wie nutzlose Lüge nachsehen. Aber damit solltet Ihr es auch genug sein lassen. Ein solch einfältiges Spiel verfängt bei mir nicht. Nehmt dies als letzte Warnung: Die Zeit der Ausflüchte ist vorbei! Sagt endlich, wo Ihr es versteckt habt, und wir werden für alles ein gnädiges Ende finden. Andernfalls wird der Strappado Eurem Gedächtnis auf die Sprünge helfen!«
Der Dominikaner atmete kurz und flach. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Was in Gottes heiligem Namen soll ich denn versteckt haben?«
»Beleidigt nicht meine Intelligenz, ich warne Euch! Noch so eine lächerliche Ausflucht, und Malfatto setzt den Strappado fort«, herrschte der Mann ihn an. Endlich trat er aus der tiefen, nasskalten Schwärze in den zuckenden Lichtkreis der Fackel. »Heraus damit, verfluchter Mönch! Wo verwahrt Ihr das libro segreto?«
Das geheime Buch!
Entsetzt starrte Pater Angelico den Mann an, der vom Gejagten zum Jäger geworden war und nun skrupellos einen weiteren Mord anordnen würde. Wahrscheinlich sogar zwei. Ihn schauderte, denn er kannte das Versteck nicht. Er konnte es nicht verraten, ganz gleich, wie lange sie ihn folterten!
Für einen winzigen Moment zuckte die Frage durch sein Hirn, wie es dazu hatte kommen können. Was hatte das verhängnisvolle Geschehen in Gang gesetzt?
Er kannte die Antwort:
Dass er der Versuchung erlegen war, die kostbaren blauen Halbedelsteine zu einem Preis zu kaufen, wie ihn nur Hehler und Schmuggler anbieten konnten! Er selbst und niemand sonst trug die Schuld an dem, was geschehen war und noch geschehen würde!
Der fragwürdige Handel mit dem speziale[1] Bernardo Movetti war der schicksalhafte Wendepunkt gewesen. Als er sich darauf eingelassen hatte, war er vom Pfad der Tugend abgekommen und hatte den Weg ins Verderben eingeschlagen. Wäre er auf dem schmalen Weg der Rechtschaffenheit geblieben, hätte er an jenem Oktoberabend keine Veranlassung gehabt, das Kloster nach der Vesper noch einmal zu verlassen. Dann hätte er den Mord nicht entdeckt und wäre nicht auf den törichten Gedanken gekommen, nach dem Täter und dessen Motiv zu suchen!
Nur mit Mühe unterdrückte Pater Angelico einen lästerlichen Fluch. Auch an diesem Oktobermorgen stand er in der Via dei Pelacani vor verschlossenen Türen!
Die schweren hölzernen Schlagläden von Bernardo Movettis Laden waren verriegelt und verrammelt wie in den Tagen zuvor. Kein Lebenszeichen, kein Lichtschein in den Ritzen! Niemand öffnete auf sein Rufen und Hämmern hin. Die Hoffnung, von einem der Nachbarn zu erfahren, wo der Apotheker abgeblieben war, hatte er schon zu Beginn der Woche aufgeben müssen.
Er rieb sich die Narbe, die auf dem Wangenknochen unter seinem linken Auge ihren Anfang nahm und sich als feine weißliche Linie bis zum Kinn erstreckte. Juckte die alte Landsknechtsnarbe, konnte das zweierlei bedeuten: dass mit einem Wetterumschwung zu rechnen war oder dass er unter starker Anspannung stand. Im Augenblick traf eindeutig Letzteres zu.
Bernardo Movetti schuldete ihm Lapislazuli im Wert von fünfzig Goldflorin! Das war mehr als das Doppelte von dem, was ein gut bezahlter Handwerksgeselle in einer der vielen Woll- und Seidenmanufakturen der Stadt als Jahreslohn nach Hause trug. Seit Wochen wartete er nun schon auf die bezahlte und längst überfällige Lieferung. Ohne die blauen Halbedelsteine, die er für die Herstellung des kostbaren Ultramarins benötigte, konnte er die Arbeit an dem großformatigen Tafelbild, das in seiner Klosterwerkstatt dringend auf Fertigstellung wartete, nicht beenden.
Wie in Gottes heiligem Namen sollte er bloß erklären, dass er einem Betrüger aufgesessen war und nun dringend noch einmal so viele Goldstücke brauchte, um das Bild vollenden zu können? Immerhin hatte kein Geringerer als Seine Magnifizenz Lorenzo de’ Medici es bei ihm bestellt, und der fest vereinbarte Abgabetermin rückte unaufhaltsam näher.
Hätte er sich doch bloß nicht auf den fragwürdigen Handel mit Movetti eingelassen! Nicht auszudenken, in welchem Schlamassel er steckte, falls sich das scheinbar so lukrative Geschäft am Ende als Fiasko herausstellte! Ein Fiasko, das er vor dem mächtigsten signore der Stadt würde verantworten müssen!
Ihm war elend zumute, so wie sonst nur, wenn er nach langen Monaten gnädiger Verschonung plötzlich doch wieder des Nachts in seiner Klosterzelle von den alten Dämonen heimgesucht wurde und aus grauenvollen Albträumen aufschreckte, schweißgebadet und mit rasendem Herzen.
Bei den Leiden des Herrn, was sollte er tun?
Mit der Überlegung, ob er sich beeilen sollte, zurück ins Kloster San Marco zu kommen, hielt er sich gar nicht erst lange auf. Selbst wenn dafür noch genug Zeit gewesen wäre, hätte er sich dagegen entschieden. In seiner derzeitigen Verfassung stand ihm der Sinn nicht nach feierlichem Chorgesang in der Gemeinschaft der Brüder. Für Gotteslob lag ihm zu viel bittere Galle auf der Zunge. Und in die Werkstatt zog es ihn auch nicht, war doch an Arbeit vorerst genauso wenig zu denken.
Nein, was er jetzt brauchte, war Ablenkung, eine Belebung all seiner Sinne. Und die fand er am besten bei Botticello im Giardino unten am Borgo Santissimi Apostoli nahe der Ponte Santa Trinità!
In finsteres Grübeln vertieft, überquerte er hinter den weitläufigen Gärten des Franziskanerklosters Santa Croce die Via Malcontenti und gelangte wenig später auf die Uferstraße Via delle Poverine.
»Aus dem Weg, Kerl!«, brüllte plötzlich eine kratzige Stimme hinter ihm. Dazu waren eiliger Hufschlag und das Rattern eisenbeschlagener Räder zu vernehmen sowie das scharfe Knallen einer Peitsche. »Platz da, elender Kuttenträger!« Wieder knallte die Peitsche.
Erschrocken riss Pater Angelico die Augen auf und fuhr herum. Er war in seiner Gedankenverlorenheit mitten auf der Straße stehen geblieben und drohte nun unter die Hufe und Räder eines Fuhrwerks zu kommen. Denn der Klotz von einem Kutscher dachte nicht daran, sein kraftstrotzendes, rasch trabendes Zugpferd wegen eines Mönchs zu zügeln.
Geistesgegenwärtig sprang Pater Angelico zwei, drei Schritte zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand eines heruntergekommenen Palazzo mit rauem Bossenwerk prallte.
»Versuch es zur Abwechslung mal mit ehrlicher Arbeit, statt unsereins für dich aufkommen zu lassen!«, rief der grobschlächtige Kutscher ihm im Vorbeifahren verächtlich zu. »Ihr Bettelmönche seid eine rechte Plage! Und das ist so wahr wie das Vaterunser!« Er setzte hinter seine Beschimpfung ein Ausrufezeichen, indem er sich halb zu Pater Angelico umdrehte, die Peitsche in seine Richtung schwang und sie noch einmal in der Luft knallen ließ.
»Ja, auch mit dir sei Gottes reicher Segen, du Rüpel!«, rief der Pater ihm nach, wobei er dem Grobian weder ob seiner Rücksichtslosigkeit noch ob seiner beleidigenden Zurufe allzu sehr grollte.
Dass Mönche bei vielen Florentinern nicht gerade das höchste Ansehen genossen, konnte nicht verwundern. Die Konvente, die es innerhalb des weiten Mauerrings gab, die sich aber auch dicht vor den Toren der Stadt niedergelassen hatten, ließen sich ja kaum noch zählen. Und einen Großteil von ihnen machten die Dominikaner, Franziskaner, Karmeliter und Augustiner aus – allesamt Bettelorden. Zu ihnen gesellten sich im Straßenbild noch die vielen bettelnden Wandermönche und solche, die nur vorgaben, das monastische Gelübde abgelegt zu haben, in Wirklichkeit aber das Leben von Schmarotzern führten und ihre Verkleidung nicht selten für Diebeszüge nutzten.
Mit wehender Kutte setzte Pater Angelico seinen Weg fort und eilte über die Uferstraße seiner bevorzugten Trattoria entgegen. Zu seiner Linken glitten die schlammigen Fluten des Arno durch ihr breites Bett, umgurgelten die steinernen Pfeiler der vier Brücken, die den Fluss innerhalb der Stadt überspannten, und rauschten unter den noch dunklen Brückenbögen hindurch.
Das Giardino lag am oberen Ende des betriebsamen Borgo Santissimi Apostoli, in unmittelbarer Nähe der Kirche Santa Trinità und kaum mehr als einen Steinwurf von der gleichnamigen Brücke entfernt. Zu beiden Seiten der Taverne reckten sich schmalbrüstige Backsteinhäuser mit überkragenden Obergeschossen in die Höhe.
Die Tür stand offen. Pater Angelico betrat den Schankraum mit der niedrigen Balkendecke und lief dem Wirt, dessen Gesicht bei seinem Anblick aufleuchtete wie ein Öllicht in finsterer Nacht, geradewegs in die Arme.
»Pater Angelico! Beim Blute Christi, endlich erweist Ihr mir wieder einmal die Ehre Eures Besuchs!«, rief Botticello theatralisch und streckte die speckigen Arme gen Himmel, als wollte er Gott für ein himmlisches Geschenk danken. »Ich habe mir schon Sorgen um Euch gemacht, padre! Ihr habt Euch ja eine Ewigkeit nicht mehr blicken lassen!«
Eigentlich hieß der kahlköpfige Wirt Pantaleone Barberino, aber so nannte ihn im Giardino so gut wie keiner. Alle riefen ihn bei seinem Spitznamen, der ihm schon in jungen Jahren verpasst worden war – also lange bevor der schillernde, wenn auch überaus fähige Maler Alessandro di Mariano Vanni Filipepi unter dem Beinamen Sandro Botticelli es in Florenz zu Ruhm und Ehre gebracht hatte. Und mit seinen kurzen Beinen und der enormen Leibesfülle machte der Botticello des Giardino seinem Spitznamen alle Ehre, besaß er doch in der Tat große Ähnlichkeit mit einem kleinen Fässchen. Dessen ungeachtet bewegte er sich jedoch flink wie ein Wiesel durch sein kleines Reich.
Mit müdem Spott hob Pater Angelico die Brauen. »Drei, vier Tage, Botticello.«
Der Wirt, an dem alles rund und fleischig war, nickte mit ernster Miene. »Jaja, eine Ewigkeit, Padre! Wie gesagt. Und mir scheint, dass meine Sorge nicht ganz unberechtigt war. Denn Ihr seht mir erschreckend blass und mitgenommen aus.«
Pater Angelico wollte lieber nicht darüber nachdenken, dass ein Tavernenwirt sich ernstlich um ihn sorgte, nur weil er sich einige Tage nicht bei ihm hatte sehen lassen.
Er lächelte freudlos. »Man kann nicht immer in aufgekratzter Stimmung sein, und vor Nackenschlägen ist auch ein Mönch nicht gefeit. Aber genug davon.« Seine Schultern strafften sich. »Bring mir einen Krug von deinem stärksten Roten!«
»Ich habe gestern zwei Fässer besten Carmignano bekommen. Der wird Euch trefflich munden und Euch den Kummer schnell vergessen lassen«, versicherte Botticello eifrig.
»Wenn es doch nur so wäre«, murmelte Pater Angelico.
Er durchquerte den Schankraum und trat hinaus in den kleinen Garten, der Botticellos Taverne ihren Namen gegeben hatte. Er lag zum Fluss hin und maß nicht mehr als zehn, zwölf Schritte in der Breite und gerade mal das Doppelte in der Länge, aber mit den beiden Olivenbäumen war er gerade in den heißen Sommermonaten eine Oase schattiger Kühle. Zudem hatte man, wenn man einen der besseren Plätze auf der linken Seite ergatterte, einen guten Blick auf den Arno und die Steinbögen der Brücke Santa Trinità. Zur Rechten begrenzte die rissige Wand eines vierstöckigen Hauses den Garten, während nach links hin eine alte, etwa mannshohe, efeuberankte Backsteinmauer Botticellos Grundstück vom Borgo Santissimi Apostoli trennte.
Zu dieser frühen Stunde hatte der Pater den Garten noch ganz für sich. Er setzte sich an seinen Lieblingstisch aus grob behauenen, verwitterten Bohlen, auf der linken Seite, nahe der efeugrünen Mauer. Dort hatte man nicht nur den meisten Schatten, ganz gleich zu welcher Tageszeit, sondern auch den besten Blick auf Fluss und Brücke.
Erschöpft, als habe er eine große körperliche Anstrengung hinter sich, sank er in einen der alten Korbsessel. Der Wein ließ zum Glück nicht lange auf sich warten. Die ersten beiden Steinbecher Carmignano kippte er jeweils auf einen Zug hinunter, erst beim dritten ließ er sich Zeit und gab dem kräftigen Roten überhaupt Gelegenheit, sich auf Gaumen und Zunge zu entfalten.
Während er noch anerkennend mit der Zunge schnalzte, wunderte er sich über die Unbekümmertheit seines Magens, der nichts auf seine Sorgen zu geben schien und mit lautem Knurren nach seinem eigenen Recht verlangte.
»Sag Isabetta, sie soll mir einen Teller fegatelli machen«, trug er Botticello auf, als dieser sich wieder im Garten blicken ließ, um ihm den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft zu erzählen. In ganz Florenz verstand sich keine andere Köchin darauf, so köstliche gebackene Scheiben Schweineleber auf den Tisch zu bringen wie die Wirtin, die ihren Mann um gut zwei Köpfe überragte.
»Auch noch einen berlingozzo dazu, Padre?«, lockte Botticello sogleich, wusste er doch, dass sein Stammgast aus dem Kloster San Marco für die gezuckerten Mehlfladen eine Schwäche hatte. »Oder vielleicht zwei?«
Schnell winkte Pater Angelico ab, um gar nicht erst ernsthaft in Versuchung zu geraten. »Nein, nur einen! Das ist mehr als genug.« Zwar hatte er sich diese kleine Stärkung redlich verdient, wie er meinte, aber in Völlerei durfte sie wiederum auch nicht ausarten.
Die knusprig gebräunten, mit Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern gewürzten Leberscheiben waren köstlich wie immer, und dasselbe galt für den Berlingozzo. Natürlich genehmigte er sich dazu noch zwei Becher Rotwein, denn der rote Saft des Lebens, ob es nun das Blut des irdischen Fleisches war oder das Elixier der Rebstöcke, gehörte zur Leber wie das Amen zum Vaterunser.
Gerade wollte Pater Angelico seinen Becher ein weiteres Mal auffüllen, da drangen von jenseits der Backsteinmauer erregte Stimmen an sein Ohr und ließen ihn stutzen. Die beiden Männer mussten etwa auf seiner Höhe stehen geblieben sein, denn er konnte ihrem hitzigen Wortwechsel mühelos folgen.
Mit einem Ruck setzte er den Weinkrug ab, denn eine dieser Stimmen gehörte keinem anderen als dem Speziale Bernardo Movetti!
Eine Welle der Erleichterung durchflutete den Pater. Zumindest seine schlimmste Befürchtung, der Mann könnte sich mit seinem Geld aus dem Staub gemacht haben und nie wieder in Florenz auftauchen, hatte sich nicht bewahrheitet! Also konnte er hoffen, weder vor seinem Prior noch vor dem Medici bußfertig in die Knie gehen zu müssen.
»Lasst mich endlich mit Eurem Geschwätz in Ruhe«, hörte er den Speziale sagen. »Es stimmt einfach nicht! Es gab keine feste Abmachung zwischen uns. Das habt Ihr Euch schön eingeredet, Rufino!«
»Von wegen! Diese Abmachung gab es sehr wohl«, erwiderte der Mann, den Bernardo Movetti mit Rufino angesprochen hatte, erregt. »Ihr habt mich skrupellos um siebzehnhundert Goldstücke betrogen! Aber das lasse ich Euch nicht durchgehen!«
Pater Angelico krampfte sich der Magen zusammen, als er hörte, um welch gewaltige Summe der Speziale diesen Rufino angeblich betrogen hatte. Bei ihm selbst ging es zwar nur um zweiundvierzig Florin, aber das war für seine Verhältnisse und die des Klosters eine ähnlich stattliche Summe wie siebzehnhundert Goldstücke für einen Großkaufmann. Dass Movetti endlich wieder greifbar war, bedeutete also noch lange nicht, dass er auch seinen Teil ihres Handels einhielt. Gut möglich, dass der Mann schon am nächsten Tag in der stinche, dem Schuldturm, landete. Dann saß er, Pater Angelico, nicht weniger in der Klemme, als wenn Movetti sich mit seinem und dem Geld anderer gutgläubiger Kunden auf und davon gemacht hätte!
»Redet nicht so einfältig daher, und mäßigt Euch in der Öffentlichkeit gefälligst in Eurer Lautstärke«, erwiderte Bernardo Movetti erbost. »Ich habe Euch nie etwas in die Hand versprochen!«
»Das habt Ihr sehr wohl«, beharrte Rufino und wurde nicht leiser, sondern noch lauter. »Wir hatten eine Abmachung! Unter Ehrenmännern, wie ich annahm!«
Der Speziale lachte verächtlich. »Ihr wagt es, das Wort Ehrenmann in den Mund zu nehmen? Gebt bloß acht, dass Ihr Euch nicht daran verschluckt! Das bisschen Ehre, das Euch vielleicht einmal zu eigen war, habt Ihr längst zwischen den Schenkeln schändlicher …«
Augenblicklich fiel Rufino ihm ins Wort. »Wagt es nicht! Noch eine Verleumdung dieser Art, und ich bringe Euch vor den Richter!«
»Nur zu! Es wäre höchst interessant zu erfahren, wie Ihr Euch von dem moralischen Morast reinwaschen wollt, in dem Ihr Euch offenbar zu suhlen beliebt.«
»Versucht nicht abzulenken! Es wird Euch nicht gelingen, mir auszuweichen und unsere Abmachung in Abrede zu stellen!«
»Habt Ihr für diese angebliche Abmachung denn Zeugen?«, fragte Bernardo Movetti höhnisch.
»Ihr wisst genau …«
»Ich weiß in der Tat, was ich weiß«, fuhr der Speziale sogleich dazwischen, »nämlich, dass es für Eure verleumderischen Behauptungen weder einen Zeugen noch einen schriftlichen Beleg gibt.« Sein Ton wurde kalt. »Also hört gefälligst auf, mich mit Euren unverschämten Reden zu belästigen! Und wagt es nicht, Lügen über mich in die Welt zu setzen! Tut Ihr es doch, bringe ich Euch wegen Ehrabschneiderei vor Gericht und sorge dafür, dass Ihr teuer dafür bezahlt.«
Pater Angelico sprang auf. Movetti durfte ihm nicht entwischen! Jenseits der Mauer ging indessen die Wut mit Rufino durch.
»So billig kommt Ihr mir nicht davon, darauf könnt Ihr Gift nehmen! Wir werden schon noch sehen, wer von uns beiden blutet, Movetti.«
»Wollt Ihr mir vielleicht drohen?«
Pater Angelico versuchte, über die Mauer hinweg einen Blick auf den Speziale und den höchsterregten Rufino zu werfen, doch selbst wenn er auf Zehenspitzen stand, fehlte ihm dazu eine halbe Haupteslänge. Er machte lediglich einen flachen, tellerförmigen Hut aus königsblauem Samt aus, der reich mit Perlen bestickt und außerdem mit prächtigen Fasanenfedern verziert war und recht schräg auf dem Kopf des wild erbosten Mannes saß.
Dass es jener Rufino war, der den extravaganten Tellerhut nach französischer Mode trug, stand außer Zweifel. Denn die teuer aussehende Kopfbedeckung nickte zweimal bekräftigend zu den Worten, die Rufino im nächsten Moment hervorstieß: »Nehmt es, wie Ihr wollt, Movetti! Aber Ihr werdet für Eure Schurkerei bezahlen, das schwöre ich Euch bei den Gebeinen meiner Ahnen.«
Damit setzte sich der federgeschmückte Hut mitsamt seinem Träger in Bewegung und verschwand aus Pater Angelicos begrenztem Sichtfeld.
»Unverschämter Kerl«, schnaubte Movetti.
Pater Angelico raffte seine Kutte und verließ den Tavernengarten in aller Eile. Botticello starrte ihn verblüfft an, als er mit wehendem Habit, klatschenden Sandalen und ohne jeden Abschiedsgruß quer durch die Gaststube an ihm vorbeihastete.
Als der Pater ihn einholte, befand Bernardo Movetti sich bereits am Fuß der Brücke Santa Trinità. Der Speziale war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit eckigem Kinn und schweren Lidern, die seinem Gesicht einen schläfrigen Ausdruck verliehen. Mit den Stiefeln aus feinstem weichem Leder, dem edlen rehfarbenen Wams und dem rotseidenen, pelzbesetzten Umhang sah er nicht gerade aus wie der Inhaber eines gewöhnlichen Ladens, der Materialien für Maler, besondere Süßwaren sowie Arzneien aller Art feilbot. Seine Kleidung war von höchster Qualität und hätte selbst einem hohen Regierungsmitglied gut zu Gesicht gestanden. Die mächtigen Prioren der Florentiner signoria, der Regierung, im Palazzo Vecchio waren jedenfalls nicht besser gekleidet als der Speziale aus dem östlichen Stadtteil Santa Croce!
»Was wollt Ihr?«, fragte Movetti unwirsch, bevor ihm richtig zu Bewusstsein kam, wer ihn da angesprochen hatte. Seine verkniffenen Züge und die grimmig zusammengepressten Lippen verrieten, dass er noch ganz unter dem Eindruck der heftigen Auseinandersetzung mit jenem Rufino stand.
»Das dürfte wohl auf der Hand liegen«, erwiderte Pater Angelico scharf. »Seit Tagen versuche ich vergebens, Euch zu fassen zu kriegen!«
Der Speziale blieb stehen und erkannte seinen Fehler. »Oh, Ihr seid es, Pater Angelico!« Seine Miene hellte sich auf, und im nächsten Augenblick erschien auf seinem Gesicht das dienstbeflissene Lächeln des erfahrenen Kaufmanns. »Verzeiht meinen ruppigen Ton, der nicht wirklich Euch galt. Bei Gott, ich war in Gedanken und …«
»Mit einem ruppigen Ton kann ich leben, besser jedenfalls als mit gebrochenen Versprechungen! Ihr hattet mir meine Lapislazuli für Ende September zugesagt, und nun ist der November nicht mehr fern«, erinnerte Pater Angelico ihn kühl. »Oder habt Ihr vergessen, dass Ihr das Geld meines Klosters genommen habt und welchen Liefertermin wir ausgemacht hatten?«
»Ich weiß, ich weiß! Es betrübt mich über alle Maßen, dass es bei diesem Geschäft zu einer so unerwarteten wie unerfreulichen Verzögerung gekommen ist«, versicherte Movetti eilfertig. »Aber ich hatte geschäftlich einige Tage außerhalb der Stadt zu tun und komme gerade erst zurück. Und was Eure Steine angeht …« Er seufzte leidgeprüft. »Nun, bei meiner Quelle, die diese höchst kostbare Ware ja zu einem wahrlich nicht mehr zu unterbietenden Preis liefern kann, hat es bedauerlicherweise einige leidige Hindernisse gegeben, die es zu überwinden galt. Das hat mehr Zeit gekostet als gedacht. Aber nun ist das Ärgernis beseitigt, und ich gebe Euch mein Wort …«
Erneut ließ Pater Angelico ihn nicht ausreden. »Euer Wort in Ehren, aber ich kann mich nicht länger hinhalten lassen, Movetti! Ich brauche die Steine! Und zwar so dringend, dass ich mich leider gezwungen sehe, die Angelegenheit zur Klärung meinem Auftraggeber zu übertragen, falls ich die bezahlte Lieferung nicht heute noch erhalte! Ich komme seit Wochen mit dem Tafelbild nicht weiter, und morgen werde ich dem Signore und Patron unseres Klosters deswegen Rede und Antwort stehen müssen.« Was zwar nicht stimmte, ihm in seiner prekären Lage aber als vertretbare Notlüge erschien. Er musste dem Mann die Daumenschrauben ansetzen!
Tatsächlich trat eine leichte Blässe auf das eckige Gesicht des Speziale. Wer der mächtige Patron von San Marco war und seinen renommierten Malermönch regelmäßig mit Aufträgen bedachte, war in den vermögenden Florentiner Kreisen wahrlich kein Geheimnis.
Nervös leckte Bernardo Movetti sich über die Lippen. »Davon bitte ich abzusehen, Pater Angelico! Glaubt mir, das wird nicht nötig sein«, beteuerte er hastig.
Pater Angelico bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Das liegt allein in Eurer Hand. Meine Geduld ist jedenfalls erschöpft«, erklärte er. »Macht, was Ihr wollt. Ich jedenfalls werde morgen dem Signore …«
»Heiliges Märtyrerblut, wartet und lasst mich ausreden!«, fiel Movetti ihm bestürzt ins Wort. »Ihr werdet Eure Ware noch heute bekommen!«
Skeptisch zog Pater Angelico die Brauen hoch.
»Die Lapislazuli für Euch müssen jede Stunde eintreffen. Und sollte das Undenkbare dennoch geschehen, werde ich notfalls auf meine eigenen Kosten dafür sorgen, dass Ihr den versprochenen Beutel Lapislazuli noch heute in Euren Händen haltet!«
»Mir ist es völlig gleichgültig, wie der Kern in den Pfirsich kommt – oder Ihr an die mir zustehenden Lapislazuli«, beschied Pater Angelico ihn grimmig. »Was für mich zählt, ist allein, dass ich die Steine heute noch erhalte! Andernfalls …« Er zuckte vielsagend die Achseln.
Abwehrend hob der Speziale die Hände. »Da sei der Herr vor! Ihr bekommt die Steine, und sie werden von bester Qualität sein, bei meiner Ehre! Kommt heute nach der Vesper zu mir. Bis dahin werde ich die Steine in jedem Fall haben!«
Pater Angelico nickte kühl. »Also gut, heute Abend nach der Vesper!«
Beim Magnifikat gelangte der Gesang der Mönche nicht nur zu besonderer Harmonie und Feierlichkeit, sondern steigerte sich zu einem geradezu triumphalen Bekenntnis. In den dunklen Nischen des Chorgestühls fielen nun selbst die Müden und Gebrechlichen, die Faulen und Träumer unter den Brüdern kraftvoll in den Lobpreis Marias ein. Leicht wie eine Feder im Wind und körperlos wie der Duft von Weihrauch erhob sich der Gesang vor dem Hochaltar, stieg in jubilierende Höhen auf und erfüllte die Kirche von San Marco bis in den entlegensten Winkel.
Für Pater Angelico stellte das Magnifikat den Höhepunkt der Vesper dar, auch wenn es das abendliche Stundengebet nicht beendete, sondern es erst in seine zweite Hälfte führte. Kaum ein anderer Chor berührte ihn so tief wie Marias psalmartiger Lobgesang, der ihre vollkommene Hingabe an Gott zum Ausdruck brachte. Vermutlich war er auch deshalb immer wieder so ergriffen davon, weil ihm beim Singen dieses Chors seine eigenen Unzulänglichkeiten und seine nicht annähernd so vorbehaltlose Hingabe jedes Mal besonders deutlich zu Bewusstsein kamen.
An diesem Abend jedoch blieb die gewohnte Ergriffenheit aus. Er war die ganze Vesper hindurch unruhig und nicht recht bei der Sache. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Es drängte ihn, sich auf den Weg zu Movetti zu machen und endlich zu seinen Lapislazuli zu kommen. Denn trotz aller Beteuerungen des Speziale wurde er die Befürchtung nicht los, dass er auf das Wort dieses Mannes nicht viel geben konnte.
Seine ohnehin geschwächte Konzentration erfuhr noch eine zusätzliche Beeinträchtigung, als sein Blick auf ein fremdes, blutjunges Gesicht unter seinen Mitbrüdern fiel – und ihm siedend heiß wieder einfiel, dass sein Klosteroberer ihm am Mittag mitgeteilt hatte, es werde ein neuer Novize namens Bartolo Lorentino aus einem Bruderkloster bei Bologna eintreffen und er solle sich des jungen Mannes annehmen. Wobei er nicht allein der Novizenmeister des Neuen sein sollte, was ihm schon lästig genug gewesen wäre, nein, er sollte ihn außerdem in der Kunst der frommen Malerei unterrichten! Angeblich zeigte der Novize sowohl große Neigung als auch Talent.
Als hätte er nicht auch so schon genug zu tun gehabt! Das Tafelbild für den Medici musste so schnell wie möglich fertig werden. Und dann wartete auch schon der nächste Auftrag. Ein Fresko. Um was genau es sich dabei handelte, würde er am nächsten Morgen erfahren. Der Auftraggeber war ein reicher Wollfabrikant namens Marsilio Petrucci, in dessen Palazzo er in aller Herrgottsfrühe erwartet wurde. Auch das hatte sein Prior und Klosteroberer Vincenzo Bandelli vereinbart, ohne ihn vorher dazu gefragt zu haben.
Unauffällig und mit sehr gemischten Gefühlen musterte er den Novizen und fragte sich, ob er ihm zum Mühlstein um den Hals oder zu einer Entlastung werden würde. Vincenzo Bandelli hatte den Bolognesen im Chorgestühl seiner Priorseite zugeteilt, und wenn der Neue dort auch am Ende der Reihe stand, wie es einem Novizen gebührte, so hatte er den jungen Mitbruder von seinem Platz auf der gegenüberliegenden Seite aus doch gut im Blick.
Der Novize war mittelgroß, von schlaksiger Gestalt und sah mit seinen weichen, noch fast knabenhaften Gesichtszügen keineswegs wie ein Mann von zwanzig Jahren aus. Das nussbraune, stark gelockte Haar tat ein Übriges, um ihn wie einen unbedarften Halbwüchsigen erscheinen zu lassen.
Hätte Pater Angelico es nicht besser gewusst, er hätte Bartolo Lorentino für nicht älter als fünfzehn, höchstens sechzehn gehalten. Immer wieder warf der Neue ihm nervöse, verstohlen abschätzende Blicke zu. Ihn trieben offensichtlich eigene Sorgen um, und es war nicht schwer zu erraten, welche. Zweifellos fragte er sich, im Wechselbad von Hoffnung und Bangen, ob sein Novizenmeister, dieser kräftige Mann mit der langen, weißlichen Narbe auf der linken Wange, sich als umgänglicher oder harter Lehrer erweisen würde.
Nun, darüber würde er das Milchgesicht Bartolo Lorentino nicht lange im Dunkeln tappen lassen!
Kaum hatte Pater Angelico nach der Vesper im Vestibül des Kreuzgangs das schwere, stoffreiche Chorgewand abgelegt und an seinen Haken gehängt, als genau das eintrat, was er befürchtet hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Novize sich vorsichtig, aber zielstrebig durch die Menge der Mitbrüder zu ihm schlängelte. Rote Flecken in seinem Gesicht zeugten von innerer Anspannung und Aufregung. Es war offensichtlich, dass er seinen neuen Novizenmeister zu sprechen wünschte.
Aber dafür hatte Pater Angelico jetzt weder Zeit, noch stand ihm der Sinn danach. Deshalb tat er so, als bemerke er nichts davon. Mochte der Herr ihm dieses Täuschungsmanöver verzeihen! Rasch griff er zu seinem schwarzen Wollumhang, warf ihn sich über die Schultern und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Kurz darauf trat er durch die hohe Klosterpforte von San Marco hinaus in den windigen Oktoberabend.
Fast gleichzeitig mit dem Ende der Vesper war über den westlichen Hügelkuppen der Arnoebene das letzte Tageslicht erloschen; lautlos war die abendliche Dunkelheit von den Höhen herabgeglitten und bedeckte nun Stadt und Land.
Ein frischer Wind fegte über die weiträumige Piazza di San Marco, trieb verwelkte Blätter und Dreck vor sich her und verwirbelte den Rauch der vielen Koch- und Kaminfeuer, der über den schmutzigen Ziegeldächern der umliegenden Häuser aufstieg.
Die Kälte jedoch, die Pater Angelico frösteln ließ, hatte nichts mit dem Wind zu tun, sondern kam aus dem sorgenvollen Dunkel seines Innern. Er zog die cappa, den schwarzen, grobwollenen Umhang mit der Kapuze, fester um die Schultern, wandte sich nach links und tauchte Augenblicke später in die Via della Sapienza ein, die ihn auf geradem Weg zur Piazza dell’ Annunziata führte.
Als er eiligen Schrittes den Kirchplatz überquerte, passierte er zu seiner Rechten die Mündung der Via dei Servi, die von dort mitten ins Herz von Florenz führte. Unwillkürlich wandte er kurz den Kopf. Am Ende der breiten Straße machte er den alles überragenden Dom Santa Maria del Fiore aus, Brunelleschis atemberaubendes Wunderwerk der Architektur, das in der ganzen Christenwelt nicht seinesgleichen hatte.
Hoch oben auf der Spitze der majestätischen Kuppel brannte in dem mit einer Goldkugel gekrönten Laternenhäuschen eine Leuchte mit hellem Schein. Wie ein Leuchtturm schickte sie ihr Licht in die schwärzer werdende Nacht und hob den oberen Teil der aufsteigenden, weißen Streben sowie das dazwischen liegende, rotbraune Ziegelwerk aus der Dunkelheit. Giottos grazilen, frei stehenden Glockenturm, der sich nur wenige Schritte neben dem Dom wie eine steinerne Lanze mit quadratischem Schaft in den Himmel erhob, erreichte der Lichtschein jedoch nicht mehr.
In seinem Zustand innerer Anspannung nahm Pater Angelico den majestätischen Anblick jedoch nur vage wahr. Es war, als halte ihm jemand kurz ein altvertrautes Bild vor Augen und zöge es sogleich wieder weg. Vermutlich hätte ihn nicht einmal eine in Flammen stehende Kuppel aus seinem Gedankenstrom gerissen. Der Speziale Movetti und die blauen Steine beherrschten sein ganzes Sinnen und Trachten.
Auf dem Weg durch das Labyrinth verwinkelter Straßen und Gassen hinüber nach Santa Croce gab es nur wenig Licht. Helle Flecken hier und da waren Inseln im Meer der Dunkelheit, manche von beachtlicher Ausdehnung, andere winzig und wie verloren. Mal kam das Licht von einer blakenden Pechfackel über dem Eingang einer Taverne, mal von einer kleinen Öllampe, die in einer Mauernische das Bildnis eines Schutzheiligen oder einer Madonna beleuchtete. Ab und zu bewegte sich der Pater aber auch für ein, zwei Dutzend Schritte durch das Lichtfeld, das prächtige Laternen vor dem Portal eines herrschaftlichen Palastes in die Nacht brannten.
Aus den schmalbrüstigen Backsteinwohnhäusern, die zumeist fünf oder gar sechs Stockwerke hoch aufragten und sich wie zusammengepferchtes Vieh dicht an dicht drängten, fiel dagegen kaum Licht in die Dunkelheit. Nur die Wohlhabenden konnten sich Fensterglas leisten. Die einfachen Leute schützten sich mit hölzernen Schlagläden vor Wind und Wetter und hatten bestenfalls gewachstes Tuch in ihre Fensterrahmen gespannt.
Pater Angelico musste also achtgeben, wohin er seinen Fuß setzte, was schon tagsüber geboten, bei Nacht jedoch unerlässlich war. Allerdings war ihm diese beständige Achtsamkeit – nicht auf den aufgedunsenen Kadaver einer toten Ratte zu treten und den Fuß nicht in stinkende Lachen oder Dreckhaufen zu setzen – wie jedem anderen Einheimischen auch längst in Fleisch und Blut übergegangen.
Zwar waren mittlerweile die meisten Straßen und Gassen der Stadt gepflastert, aber nicht jeder Florentiner leerte seinen Nachttopf, den Kübel mit dreckigem Spülwasser oder den Eimer voll fauligem Abfall über den offenen Abwasserrinnen, wie es Vorschrift war – so mancher kippte allen Unrat einfach vors Haus. Und angereichert wurde all das noch mit dem Urin und den Fäkalien von Pferden, Maultieren, streunenden Hunden und Katzen sowie frei herumlaufenden Schweinen und Hühnern. Und wer wollte die jungen Burschen zählen, die sich unter ein dunkles Tor oder in eine quintana, eine gerade schulterbreite Brandgasse zwischen zwei mehrstöckigen Häusern, stellten, den Hosenlatz aufknöpften und es einfach laufen ließen? Oder die dreisten Marktfrauen und Huren, die sich genauso wenig schämten, ihre Notdurft auf den Straßen zu verrichten?
Pater Angelico ging von Natur aus zügig, aber jetzt beschleunigte er, je näher er seinem Ziel kam, seinen Schritt immer mehr. Es drängte ihn mit aller Macht, zu Movetti zu kommen. Daher war er regelrecht außer Atem und hatte Schweiß auf der Stirn, als er im Viertel Santa Croce kurz vor der Piazza di San Ambrogio die breite und noch sehr belebte Via Pietra Piana überquerte. Jetzt musste er nur noch rechts die Via de Pantolini hinunter, in deren gerader Verlängerung sich der Laden des Speziale befand.
Mit ausgreifenden Schritten hastete er an der Taverne Colombina vorbei, die an der Kreuzung der Via dei Pelacani mit der Via Ghibellina lag. Dort hatte sich schon einiges Volk versammelt, zumeist Wollkrempler und Färber, die ihren Durst löschen und anderen Vergnügungen nachgehen wollten. Aus dem Schankraum drangen lautes Stimmengewirr und raues Gelächter sowie das Klappern und Knallen von Brettspielen und Würfelbechern. Dazu gesellte sich würziger Bratenduft aus der bekanntermaßen guten Küche.
Auf halbem Weg die Straße zu Movettis Geschäft hinunter kam Pater Angelico ein ungewöhnlich blond gelockter Junge von vielleicht neun, zehn Jahren in einer dünnen Flickenjoppe entgegen. Der Knabe rannte, was die dünnen Beine hergaben, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihm her. Doch weit und breit war niemand zu sehen, der ihn verfolgt hätte, so dass Pater Angelico auch nicht der Verdacht kam, bei dem Gassenjungen könnte es sich um einen Dieb auf der Flucht handeln. Als der Bursche jedoch keuchend an ihm vorbeistürmte, meinte er auf dem schmalen Gesicht einen Ausdruck des Entsetzens zu bemerken.
Der kurze Moment der Verwunderung war allerdings gleich darauf vergessen, als er vor dem Geschäft des Speziale stand. Dass es für die reguläre Kundschaft nicht mehr geöffnet hatte und die schweren hölzernen Schlagläden von innen zugezogen und verriegelt waren, verwunderte ihn nicht. Die meisten Kaufleute und Handwerksmeister schlossen ihre Läden und Werkstätten so pünktlich kurz nach Sonnenuntergang, wie sie dieselben ebenso pünktlich kurz nach Sonnenaufgang wieder öffneten.
Was Pater Angelico jedoch in große Unruhe versetzte, war, dass Bernardo Movetti weder auf sein Klopfen noch auf sein lautes Rufen hin öffnete. Dabei sah er doch, dass im Verkaufsraum Licht brannte, das hier und da durch Ritzen zwischen den Brettern der Schlagläden drang!
Ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit trat auf des Paters Gesicht. »Das ist ja wohl der Gipfel der Frechheit! Diesmal wimmelt Ihr mich nicht ab, Movetti!«, stieß er hervor. »Soll mich der Teufel persönlich holen, wenn ich mir Eure verlogene Hinhaltetaktik noch eine Minute länger gefallen lasse. Jetzt werdet Ihr Farbe bekennen!«
Von einem geradezu unheiligen Zorn erfüllt, stürmte Pater Angelico in den dunklen Tordurchgang, der rechts vom Laden in einen kleinen Hinterhof und zum rückwärtigen Eingang von Bernardo Movettis Haus führte.
Er wollte schon mit der geballten Faust gegen die Hintertür hämmern, als er bemerkte, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand und er sich den Krawall sparen konnte.
»Umso besser. Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr, Movetti«, knurrte er und stieß die Tür auf, so heftig, dass sie gegen die Wand des Korridors knallte und ein gutes Stück wieder zurücksprang. Er stoppte ihren Rückschwung mit der ausgestreckten Hand und trat ein.
Vor ihm erstreckte sich ein Gang von etwa doppelter Mannesbreite und gut zehn, zwölf Schritten Länge, der offenbar geradewegs in den Verkaufsraum führte. Am Ende des Korridors entdeckte er nämlich einen Durchgang mit Rundbogen, der mit einem schweren Vorhang aus dunkler, moosgrüner Wolle verdeckt war, und den kannte er, nur eben von der anderen Seite her. Hinter diesem Vorhang war Movetti damals kurz verschwunden, um aus einem seiner Privaträume eine Qualitätsprobe der Lapislazuli zu holen, die er angeblich so viel preisgünstiger beschaffen konnte als jeder andere Speziale der Stadt. Wenn er dem windigen Burschen doch bloß nicht auf den Leim gegangen wäre!
Pater Angelico wandte den Kopf. Aus einem Raum zu seiner Linken fiel der gelbliche Schein einer Öllampe zu ihm in den Gang. Auch vom anderen Ende des Flurs, wo rechts die Treppe ins Obergeschoss abging, drang Lampenlicht in den Gang. Allerdings war dieser Schein, der aus dem Ladenlokal kam, bedeutend schwächer, denn der moosgrüne Vorhang klaffte nur eine halbe Armlänge weit auf.
Drei, vier Atemzüge lang blieb Pater Angelico nahe der von Wind und Wetter arg mitgenommenen Hoftür stehen und lauschte – zunehmend irritiert. Er hatte fest damit gerechnet, dass der Speziale ihm auf sein eigenmächtiges und nicht eben leises Eintreten hin mit aufgesetzter Entrüstung entgegenstürmen würde.
Aber nichts dergleichen geschah.
Es blieb still im Haus.
Unnatürlich still.
Kein rhythmisches Stampfen eines Stößels im Mörser war zu hören und auch sonst kein Klirren, Klopfen oder Klappern jener Gerätschaften, mit denen ein Speziale tagtäglich und nicht selten auch nach Ladenschluss noch hantierte. Auch waren keine eiligen Schritte zu vernehmen, kein knarrendes Dielenbrett und kein quietschendes Türscharnier, ebenso wenig ein Räuspern oder ein Schnäuzen oder sonst ein menschlicher Laut.
Nichts. Einfach nichts!
Was er hörte, waren allein der eigene Atem und der ebenso schnelle Herzschlag in seiner Brust.
Und dennoch, Bernardo Movetti war im Haus!
Es konnte gar nicht anders sein! Er musste ihn beim abendlichen Mahl gestört haben, denn der unverkennbare Geruch von frisch gebratenem Hammelfleisch stieg ihm in die Nase. Allerdings mischte sich in diesen Duft noch ein anderer, weit weniger appetitanregender Geruch, der darauf schließen ließ, dass der Speziale vor dem Essen noch seinen Darm entleert hatte und zu faul gewesen war, den Topf draußen im Bretterverschlag der Latrine zu leeren.
Pater Angelico verzog das Gesicht, nicht wegen des üblen Geruchs, sondern aus Verachtung für Movettis feiges Verhalten. Was hoffte der Speziale damit zu erreichen, dass er keinen Mucks von sich gab und sich tot stellte? Glaubte er wirklich, er könne den Besucher mit diesem dümmlichen Trick loswerden?
»Wenn Ihr glaubt, ich falle auf Euer kindisches Spiel herein und räume das Feld, dann habt Ihr Euch geschnitten, Movetti«, rief er in die Stille und schritt langsam den Gang hinunter. »Heute hole ich mir, was Ihr mir schuldet – und zwar in Steinen, Gold oder notfalls auch in Wertsachen, die beim Pfandleiher genau die zweiundvierzig Florin bringen, mit denen Ihr seit Wochen bei mir in der Kreide steht!«
Noch immer keine Antwort.
Dafür wurden die beiden Gerüche immer stärker. Es war, als lägen sie in einem Wettstreit um die Vorherrschaft. Der Hammelduft begann zu schwächeln.
»Spielt nur den toten Mann, es wird Euch nichts nützen!«, rief Pater Angelico grimmig und hielt an der offen stehenden Tür zu dem Zimmer links kurz inne.
Es handelte sich offensichtlich um das Kontor, in dem der Speziale seine Buchführung und die geschäftliche Korrespondenz tätigte. Des Paters Blick fiel auf einen schweren Faktoreitisch aus schwarz gebeiztem Holz, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Darüber war ein breites Regalbrett mit einer umlaufenden Zierleiste aus Bronze an der Wand befestigt. Auf dem Brett reihten sich dicke Rechnungsbücher und ein gutes Dutzend Druckschriften aneinander, die von handlicher Größe und zum Teil in feines Leder gebunden waren. Rechts und links wurden die Bücher jeweils von einer Männerbüste am Umfallen gehindert. Die Skulpturen waren aus Eisen gegossen und gaben aufgrund der äußerst mäßigen bildhauerischen Fähigkeiten ihres Schöpfers auf den ersten Blick nicht preis, wen sie darstellen sollten.
Eine Öllampe warf ihren gelblichen Schein auf einen Stoß beschriebener Zettel sowie auf ein zusammenklappbares Schreibpult, wie es Reisende häufig mit sich führten. Es war aus edlen Hölzern gearbeitet und mit Intarsien verziert. Movetti hatte es zum Schreiben fast bis an die Tischkante herangezogen. Auf der abgeschrägten Schreibplatte ruhte ein blankes Blatt Papier. Der Metalldeckel des Tintenfasses aus grünem Glas war hochgeklappt, doch die dazugehörige Feder steckte weder im Tintenfass, noch ruhte sie in einer der beiden dafür vorgesehenen, mit Filz ausgeschlagenen Vertiefungen. Vielmehr lag sie unter dem Tisch, zu Füßen eines umgefallenen Stuhls, wo die Tinte, die aus der Spitze hervorgespritzt war, einen deutlichen Fleck auf den Dielen hinterlassen hatte.
Pater Angelico stutzte. Konnte es sein, dass Movetti schon zuvor, als er an die Fensterläden gehämmert hatte, aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet war? Hatte er tatsächlich noch die Zeit gehabt, sich aus dem Staub zu machen?
Unmöglich!
Oder vielleicht doch?
Wenn Movetti schon bei seinem ersten Klopfen Reißaus genommen hatte, konnte die Zeit sehr wohl gereicht haben, um ihm durch die Hintertür zu entkommen. Vom Hof aus konnte der Speziale leicht durch eines der Nachbarhäuser entwischt sein.
Nervös biss Pater Angelico sich auf die Unterlippe und rieb seine Narbe.
»Gebe Gott, dass ich mich irre«, stieß er hervor, ballte unwillkürlich die Fäuste und eilte den Gang hinunter.
Mit der niederdrückenden Befürchtung, womöglich nicht nur den Verkaufsraum, sondern auch den Rest des Hauses so verlassen vorzufinden wie das kleine Kontor, riss er den schweren Wollvorhang zur Seite und stand sogleich im Laden, hinter der langen Holztheke.
Das Erste, was ihm ins Auge fiel, war der große Holzteller auf dem breiten, blank polierten Tresen. Jemand musste ihn mit so großem Schwung oder so achtlos dort hingeknallt haben, dass gut die Hälfte des Gerichts aus Bohnen und Hammelstücken übergeschwappt war und sich zwischen eine Reihe von bronzenen Mörsern verschiedener Größe ergossen hatte.
Dann glitt sein Blick flüchtig über die kaum leserlichen Worte, die mit Holzkohle auf die Theke geschrieben standen und zwischen verschütteten Bohnen, Fleischstücken und Bratensoße zum Vorschein kamen. Denn in dem Moment bemerkte er zu seiner Linken den Mann, nach dem er gesucht hatte.
Er hatte sich nicht geirrt. Der Speziale, der ihm ein kleines Vermögen an Lapislazuli schuldete, hatte sich nicht aus dem Staub gemacht, sondern sich die ganze Zeit im Laden befunden! Und dass er keinen Mucks von sich gegeben und hier wie totenstill ausgeharrt hatte, dafür gab es einen triftigen Grund.
Bernardo Movetti war tot.
Einen Strick aus grobem Hanf um den Hals, hing er in dem Durchgang zwischen der Rückwand mit ihren zahllosen kleinen und großen Schubfächern und der Verkaufstheke von einem kantigen Deckenbalken. Das Gesicht des Toten war zu einer entsetzlichen, von Todesqual gezeichneten Maske erstarrt. Die angeschwollene Zunge quoll ihm wie halb herausgerissen seitlich aus dem Mund, und die glasigen Augen, die starr ins Nichts blickten, schienen jeden Moment aus ihren Höhlen springen zu wollen.
Im Todeskrampf hatten sich Blase und Darm geleert und die vornehme Kleidung beschmutzt. Aus den durchnässten seidenen Beinkleidern rannen noch immer dünnflüssiger Kot und Urin; Tropfen für Tropfen fiel von den scapette, den flachen lederbesohlten Schuhen aus Tuch, in die Lache zu seinen Füßen. Ein dreibeiniger Holzschemel lag gute zwei Schritte im Rücken des Erhängten umgekippt in der Ecke.
Benommen wie nach einem Schlag vor den Kopf, starrte Pater Angelico zu dem Toten hinauf. Er wurde sich gar nicht bewusst, dass er dabei mehrfach das Kreuz schlug, und plötzlich setzte ihm auch der Gestank nicht mehr zu. Ihn würgte eine ganz andere Übelkeit.
In seinen Ohren rauschte das Blut wie ein Wildbach, und ebenso wild schossen ihm Gedanken durch den Kopf. Einer jedoch kehrte immer wieder wie bei einer endlosen Litanei, nur dass diese aus der Feder des Teufels hätte stammen können. Er konnte nicht anders als daran denken, dass Tote keine Schulden beglichen, jedenfalls nicht, wenn sie Betrüger waren wie der Speziale Bernardo Movetti, und dass damit die schlimmste aller möglichen Katastrophen eingetreten war.
Er wusste nicht, wie lange er so zu dem Toten hinaufgestarrt hatte. Jedenfalls fuhr er erst aus dem Mahlstrom seiner Gedanken auf, als er hinter sich ein metallisches Geräusch wahrnahm – und im nächsten Augenblick kalten Stahl an der Kehle spürte. Und dass es der Stahl einer Klinge war, die soeben aus einer Scheide geflogen war, wusste er dank eigener reicher Erfahrung mit Waffen aller Art sofort.
»Dreht Euch um, Mönch!«, befahl eine Stimme, so hart und scharf wie geschliffener Stahl. »Aber langsam genug, dass Euch Zeit für ein Ave Maria bleibt!«
Stück für Stück drehte Pater Angelico sich um – und erschrak aufs Neue heftig, als er sah, wer ihm da sein Kurzschwert an die Kehle hielt. Das knochige, von scharfen Linien zerfurchte Gesicht des asketisch hageren, hochgewachsenen Mannes im schwarzen Tuchumhang mit goldener Lilienborte am Saum erkannte er sofort.
Wer kannte sie auch nicht, die acht gefürchtetsten Männer von Florenz?
Und Tiberio Scalvetti war einer von diesen acht!
Selbst wer ohne Schuld und reinen Gewissens war, zog es vor, den Männern der otto di guardia, den ›Acht von der Wache‹, aus dem Weg zu gehen und sich ihren von Berufs wegen argwöhnischen Blicken zu entziehen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit kursierten schaurige Gerüchte und haarsträubende Geschichten über diese Acht – und das entsetzliche Schicksal jener, die zu Recht oder zu Unrecht in ihre Fänge gerieten und damit zwangsläufig auf Nimmerwiedersehen in namenlosen Kerkern und Gräbern verschwanden.
Die Otto di Guardia war einst als Geheimpolizei zum Schutz der Republik und zur Aufdeckung von Umsturzplänen ins Leben gerufen worden und seit ihrer Gründung ohnehin mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Doch seit der blutigen Pazzi-Verschwörung gegen die Herrschaft der Medici, bei der Ostern 1478 Giuliano, der jüngere Bruder von Lorenzo de’ Medici und Liebling der Volksmassen, während der Messe im Dom unter den Klingen gedungener Attentäter sein Leben gelassen hatte, besaßen die acht Männer – jeder commissario capo, Polizeichef in einem Stadtbezirk – so gut wie unbegrenzte Vollmachten.
Sie konnten zuschlagen, in Häuser eindringen, Männer verhaften und Vernehmungen unter der Folter durchführen, wann immer und wo immer sie es für notwendig hielten. Zu diesem Zweck geboten sie nicht nur über eine Sondereinheit bewaffneter Schergen, sondern auch über eine geheim gehaltene Zahl von Agenten, Spitzeln und Informanten.
Das fein gesponnene Netz der Otto di Guardia spannte sich nicht nur über Florenz und sein toskanisches Herrschaftsgebiet, sondern reichte bis in jene fernen Städte, in denen die florentinischen Widersacher des Hauses Medici im Exil lebten. Der erbitterte Hass dieser verbannten und entrechteten Familien gebar immer neue Intrigen und Komplotte gegen den ungekrönten Fürsten von Florenz.
Und jener Hass fand sein ebenbürtiges Gegenstück in dem abgrundtiefen Argwohn von Lorenzo de’ Medici, der zu jeder Stunde mit weiteren Umsturzversuchen und Angriffen auf sein Leben rechnete. Ihn vor diesen Anschlägen und Verschwörungen von innerhalb und außerhalb der Stadt zu schützen, und zwar um jeden Preis, war die Aufgabe von Männern wie Tiberio Scalvetti, Capo des östlichen Stadtbezirks Santa Croce.
»Was habt Ihr hier zu suchen?«, herrschte Scalvetti den Pater an und versetzte ihm mit der flachen Klinge seines Kurzschwertes einen ebenso spielerischen wie herrischen Schlag unter das Kinn. »Der Kerl da am Strick hat Euch wohl kaum gerufen, damit Ihr ihm die Beichte abnehmt und die Sterbesakramente erteilt, bevor er sich vor Euren Augen aufknüpft.«
»Eure scharfsinnige Vermutung trügt Euch nicht, Commissario Scalvetti«, erwiderte Pater Angelico und hielt dem stechenden Blick über den Stahl hinweg furchtlos stand. Er hatte ganz anderes zu fürchten als die Fragen dieses Mannes.
Tiberio Scalvettis Augen verengten sich. »Auch wenn ich noch nicht das zweifelhafte Vergnügen hatte, Ziel Eurer bedenklich spitzen Zunge zu sein«, er ließ eine kurze Pause folgen, »so kommt mir Euer Gesicht doch bekannt vor. Was keineswegs für Euch sprechen muss. Sagt mir Euren Namen, Dominikaner!«
»Pater Angelico Crivelli.«
Die buschigen Brauen von Tiberio Scalvetti schnellten in die Höhe. »Natürlich! Ihr seid der Malermönch von San Marco. Ihr habt Seiner Magnifizenz in seiner Landvilla Careggi dieses herrliche Fresko an die Wand der Eingangshalle gemalt.«
Pater Angelico nickte vorsichtig, saß ihm doch immer noch die Schwertklinge gefährlich nahe an der Kehle. Zudem überschlugen sich seine Gedanken. Es bereitete ihm schon Mühe genug, den Schock über den Selbstmord des Speziale halbwegs zu verwinden. Nun fand er sich auch noch in der verstörenden Lage, an diesem entsetzlichen Ort von einem Mann der Acht überrascht und zur Rede gestellt zu werden.
Wo kam der Commissario so schnell her? Da noch immer Reste des stinkenden Inhalts von Blase und Gedärm aus Movettis Beinkleidern tropften, lag doch die Folgerung nahe, dass der Speziale noch nicht lange tot war. Wer also hatte gewusst, dass Movetti hier in seinem Laden von der Decke hing, und wer hatte den Commissario davon unterrichtet? Oder konnte es gar sein, dass die Otto di Guardia bei diesem Todesfall die Hände im Spiel hatte?
»Ich verstehe«, brummte Tiberio Scalvetti, und ein verdrossener Unterton war nicht zu überhören.
Pater Angelico brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, was dem Commissario durch den Kopf ging. Nämlich dass er, der Malermönch von San Marco, unter der besonderen Patronage des Medici stand und daher selbst von einem Mann der Acht so schnell nichts zu befürchten hatte. Und dass er, Angelico Crivelli, genau das auch wusste.
»Schön und gut, Ihr versteht mit dem Pinsel umzugehen wie nur wenige«, fuhr der Commissario deutlich freundlicher fort. »Aber das erklärt nicht, was Ihr Euch hier sozusagen unter dem privaten Galgen des Speziale Movetti zu schaffen macht!«
»Wenn Ihr die Güte habt, Eure Klinge wieder dorthin verschwinden zu lassen, wo sie nun wirklich besser aufgehoben ist als an meiner Kehle, will ich Euch das gern erzählen«, kam es halb gereizt, halb spöttisch. »Ihr habt auch mein Wort als Diener Gottes, dass ich keinen Dolch unter meinem Skapulier verberge.«
Commissario Scalvetti warf ihm einen scharfen Blick zu und schien einen Moment zu zögern, wie er auf diese Spitzen reagieren sollte. In diesem Ton hatte wohl schon lange keiner mehr mit ihm zu sprechen gewagt. Doch dann entspannte sich sein zerfurchtes Gesicht und ließ sogar den Anflug eines Lächelns erkennen.
»Bei Gott, die Zunge sitzt Euch in der Tat locker, Padre! Und das bei einem Mann Gottes, der doch wohl in frommen Lobpreisungen geübter sein sollte als in maliziöser Rede!« Damit zog er seine Klinge zurück, fand ohne Tasten und Hinsehen, mit der blinden Treffsicherheit tausendfacher Übung, die Öffnung des Futterals und stieß das Schwert zurück in die Scheide. »Also dann, ich höre! Wer hat Euch hereingelassen, und was tut Ihr hier?«
Mittlerweile war aus dem Hausflur leises, aufgeregtes Stimmengewirr zu vernehmen. Es musste sich in Windeseile in der Nachbarschaft herumgesprochen haben, dass im Haus von Bernardo Movetti etwas Entsetzliches geschehen war. Nicht einmal die Gegenwart eines Mannes der Acht schien die Neugier nennenswert dämpfen zu können – wenn man davon absah, dass die Leute weder laut durcheinanderkrakeelten noch in den Laden stürzten, sondern mit gedämpfter Stimme sprachen und vorsichtig Abstand wahrten.
Aber schon wagten sich die Mutigsten unter den Gaffern näher heran, um selbst einen Blick auf den am Strick hängenden Speziale zu werfen. Vornan stand Vittore Farnese, der stämmige Wirt der Colombina, an seiner Seite der barfüßige Junge in der Flickenjacke.
Als Angelicos Blick auf den Jungen fiel, erkannte er sofort den Halbwüchsigen wieder, der zuvor mit einem Ausdruck des Entsetzens auf dem schmalen Gesicht an ihm vorbeigerannt war. Er nahm an, dass der schmächtige Bursche als Tavernenjunge in der Colombina arbeitete. Vermutlich war er es gewesen, der den Toten entdeckt hatte. Movetti musste sich Essen in der Taverne bestellt haben. Und als der Junge mit dem Gewünschten kam und den Speziale von der Balkendecke hängen sah, hatte er wohl den Holzteller vor Schreck so abrupt auf die Theke fallen lassen, dass die Hälfte des Essens übergeschwappt war. Das wiederum legte den Schluss nahe, dass Tiberio Scalvetti in der Ecktaverne gesessen haben musste, als der Junge die Nachricht vom Selbstmord des Speziale im Schankraum hinausposaunt hatte. Nur so ließ sich erklären, dass der Mann der Acht nur wenige Minuten nach ihm hier im Laden erschienen war.