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Vivienne Zeller, Mutter eines Teenagers und liiert in einer unglücklichen Beziehung, wird sich Ende der 1980er Jahre bewusst, dass sie beruflich einiges erreicht hat, auf das sie stolz sein könnte. Und doch hadert sie mit ihrem Schicksal. Obwohl illusorisch, sehnt sich nach dem aus ihrer Sicht vollkommenen Mann, dem Märchenprinzen, der sie leidenschaftlich liebt und auf Händen trägt. Ein halbes Jahr nach ihrem 35. Geburtstag verändert sich ihr Leben schlagartig, nachdem ihr Vorgesetzter Konrad Koch völlig unerwartet ein familiäres Drama durchlebt und immer wieder verzweifelt Hilfe bei ihr sucht, die er in seiner Familie nicht findet. Monate später verlieben sich die beiden und entgegen jeglicher Vernunft lässt sich Vivienne auf eine leidenschaftliche Liebesbeziehung ein, was zu einem gesellschaftlichen Skandal führt. Konrad, getrieben von Gewissensbissen, kann sich nicht für eine Seite entscheiden und pendelt zwischen Geliebter und Familie hin und her. Trotzdem kommen die beiden nicht voneinander los und es entwickelt sich eine Abhängigkeit, aus der sich Vivienne verzweifelt versucht zu befreien. Dafür ist sie sogar bereit, ihre Karriere aufs Spiel zu setzen. Auf Empfehlung von Freunden sucht sie tiefgreifende Erklärungen in der psychologischen und vedischen Astrologie, bei einem Medium aus England und einem Geschäftsmann, der zum Buddhismus konvertierte und fortan als spiritueller Coach arbeitete. Durch diese Erfahrungen entwickelt sich wohl Viviennes spiritueller Horizont, löst jedoch nicht das Problem ihrer unerfüllten Liebe. Immer wieder wähnt sie sich in einem Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Während sie sich auf eine psychologische Ausbildung einlässt, wird ihr erst vor Augen geführt: "Bevor diese Liebe eine echte Zukunftschance hat, müssen wir bereit sein, uns aus unseren anerzogenen Lebensplänen zu befreien. Wir müssen den Mut haben, familiäre, religiöse und gesellschaftliche Zwänge los zu lassen!"
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Seitenzahl: 395
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Denise Bernadette Frei
Auf der Suche nach dem Märchenprinzen
© 2021 Denise Bernadette Frei
2. Auflage
Lektorat: Michel Bossart – www.schreibkram.ch
978-3-347-33449-6 (Paperback)
978-3-347-33450-2 (Hardcover)
978-3-347-33451-9 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Wie alles begann
Neue Lebenssicht
Der Griff nach dem Rettungs-Anker
Eine verhängnisvolle Einladung mit unabsehbaren Folgen
Das Unabwendbare nimmt seinen Lauf
Irdisches und Ausserirdisches
Es kommt anders als geplant
Liebe kennt keine Grenzen, Hass genauso wenig!
Leidensgrenze erreicht
Zwei Alphatiere auf Reisen
Astrologische Deutereien
Auszug aus dem Paradies
Das Los der Arbeitslosen
Buddhistische Sichtweisen
Ungewöhnlicher Abschied
Ein neuer Lebensabschnitt
Individualpsychologische Erkenntnisse
Gefangen in der Opferrolle
Ende gut, alles gut?
Indische Astrologie
Der Tag aller Tage
Wie alles begann
„Geh in den Wald, such dir einen Frosch, küsse ihn und wer weiss, vielleicht ist es der langersehnte Märchenprinz“, grinste Alan seine Freundin Vivienne beim gemeinsamen Mittagessen an, nachdem sie sich wieder einmal ausgiebig über die Unzulänglichkeiten ihres Partners Richard beklagt hatte. Vivienne lachte ob des Vorschlags, der so typisch war für ihren eher sarkastisch gestrickten Freund, den sie aus dem Berufsleben kannte. „Ist es denn so wichtig, eine romantische Liebesbeziehung zu führen?“ wollte er noch wissen. „In einer Partnerschaft sind meiner Meinung nach vor allem Vertrautheit, Zuverlässigkeit und Loyalität ausschlaggebend, denn Liebesgefühle haben früher oder später ein Verfallsdatum.“ „Interessant – hast Du Dich schon mal gefragt, warum du eigentlich regelmässig von deinen Partnerinnen verlassen wirst, obwohl du so gut weisst, wie eine perfekte Partnerschaft zu funktionieren hat?“ konnte sich Vivienne nicht verkneifen nachzufragen. „Hm, ja gute Frage. Vielleicht war die Richtige noch nicht dabei und vielleicht fehlt mir halt doch die gewisse Prise Romantik, um in Liebesgefühlen zu schwelgen, was euch Frauen so in Entzücken versetzt“ gab er nach einiger Überlegung zu. „Ja, so sehe ich das auch. Euch Männern ist vielleicht der Sinn nach Sex gegeben, doch an romantischen Gefühlen und an der Sehnsucht nach der vollkommenen Liebe fehlt es euch gänzlich.“ „Was ist die vollkommene Liebe?“ wollte Alan provozierend wissen. „Zur vollkommenen Liebe gehören neben Vertrautheit, Zuverlässigkeit und Loyalität auch Leidenschaft und tiefe, verschmelzende Gefühle dazu. Sich in den Armen des anderen geborgen fühlen, sich anlehnen, verschmelzen, das alles gehört zur vollkommenen Liebe. Als Kind und später Jugendliche wünschte ich mir oft, in einen Tiefschlaf zu verfallen, um nach meinem 20. Altersjahr vom Märchenprinzen wach geküsst zu werden. Dann wäre ich erwachsen gewesen und meine Eltern hätten nichts mehr zu sagen gehabt“ erklärte Vivienne ihren Hang zur Märchenwelt. „Jetzt bist du aber erwachsen und kannst tun und lassen was Du willst. Und vor allem kannst du nach dem Märchenprinzen Ausschau halten, der alle deine Sehnsüchte erfüllt“ spöttelte Alan. „Vivienne, ich kenne dich vor allem aus dem Geschäftsleben und da agierst du klar und zielorientiert. Und nun schwärmst du mir vom Märchenprinzen vor, den es in der Realität nicht gibt? Ich kann das kaum glauben!" „Vergiss unser Gespräch wieder, Alan, ich wollte dich nicht überfordern“ wechselte Vivienne frustriert das Thema. ‚Vielleicht muss ich tatsächlich endlich so richtig erwachsen werden und meine Vorstellungen über eine perfekte Partnerschaft herunterschrauben‘ kam sie zur Überzeugung, nachdem sie sich von Alan verabschiedet hatte und mit ihrem Auto zurück zur Arbeit fuhr.
„Warum machst du so ein wütendes Gesicht?“, wollte der 14jährige Fabian abends von seiner Mutter wissen, als er nach der Schule zur Haustüre reinkam. „Weil ich es satthabe, mit einem Partner zusammen zu leben, der kaum Zeit für uns aufbringt. Soeben hat sich dein Stiefvater fürs Abendessen abgemeldet und ist zurück in sein Geschäft gefahren!“ „Mein Stiefvater hat einen Namen, Mami, er heisst Richard. Immer wenn du wütend bist, nennst du ihn Stiefvater. Wie das tönt! Du weisst ja, dass er grad sein neues Geschäft aufbaut und das braucht halt Zeit.“ „Jaja, schon gut. Damit hat sich dein Grossvater auch immer herausgeredet. Obwohl weder meine Mutter noch wir Kinder Freude an seinem Dauerfernbleiben vom Familientisch hatten! Nun wiederholt sich das Ganze mit Richard. Ich verstehe nicht, warum er seinen gut bezahlten Job für ein eigenes Geschäft aufgegeben hat. Zusammen mit meinem Einkommen könnte es uns nun so richtig gut gehen. Aber nein, Monsieur greift lieber nach den Sternen, als am Boden zu bleiben und das Leben zu geniessen!“ „Wann gibt es zu essen?“ wollte Fabian wissen, ohne weiter auf das Gezeter seiner Mutter einzugehen. „In zehn Minuten, bitte wasch dir vorher noch die Hände.“ „Bin ich ein kleines Bubi Mami?“ fragte er augenrollend und machte sich dann aber doch auf, um sich im Badezimmer frisch zu machen. Vivienne ging in die Küche, um die Pfanne mit Geschnetzeltem vom Herd zu nehmen.
Die wahren Gründe, warum sich Richard kurzfristig fürs Abendessen abgemeldet hatte, verschwieg sie Ihrem Sohn. Der unschöne Streit ging ihr nun durch den Kopf. Ihr Partner hatte ihr ein aus ihrer Sicht unmoralisches, nein, ungeheuerliches Angebot gemacht, nachdem sie sich einmal mehr über seine Distanziertheit und Karrieregeilheit beklagt hatte. „Ich liebe dich nach wie vor“ meinte er daraufhin. „Du bist grundsätzlich meine Traumfrau, doch ich kann deinen Ansprüchen nicht gerecht werden, das bin ich mir wohl bewusst und das hast du nicht verdient. Darum mache ich dir jetzt einen Vorschlag: Wir bleiben zusammen und du suchst dir nebenbei einen Liebhaber.“ „Machst Du Witze, Richard?!“ bebte Vivienne vor Wut. „Manchmal frage ich mich, ob du nicht schwul bist und dir der Mumm fehlt, dazu zu stehen?“ „Sicher bin ich nicht schwul…“, entrüstete er sich. „Ich mag einfach keinen Sex, das war schon immer so! Meine Devise ist, dass man mit seiner Partnerin einmal Sex hat und dann gehört man zusammen. Mehr benötigt es meiner Meinung nach nicht. Das wäre verschwendete Energie!“ „Geh doch endlich mal zu einem Psychiater!!! Du tickst einfach nicht richtig! Oder werde Priester! In einem katholischen Orden rennst du mit deiner Einstellung offene Türen ein!“ „Wie soll mir ein Psychiater helfen? Die haben selbst nicht alle Tassen im Schrank und von Priestern halte ich noch viel weniger. Ich mag keinen Sex, damit hat es sich. Und das hat weder mit dem Zölibat noch mit Gott weiss was zu tun.“ „Okay, dann nimm jetzt einfach zur Kenntnis, dass ich mich sicher nicht in eine Affäre stürzen werde, nur damit du dein schlechtes Gewissen beruhigen kannst. Unsere Zeit ist abgelaufen, so sieht es aus!“, Richard schüttelte den Kopf. „Mir ist der Appetit vergangen, ich esse besser auswärts“, dann verliess er wütend die Wohnung, um zurück ins Geschäft zu fahren. Dort angekommen setzte er sich ans Pult und versuchte einen Auftrag zu bearbeiten. Doch das fiel ihm nach dem Streit mit seiner Partnerin schwer. Nachdem er sich eine Zigarette angezündete hatte, schenkte er sich Kaffee aus der Thermoskanne ein. Dann griff er zum Telefonhörer und rief Vivienne an. „Hast Du Dich wieder beruhigt?“ wollte er wissen. „Nein, mein Entscheid steht fest. Wir passen einfach nicht zusammen, um auf Dauer glücklich zu sein“ tönte es ungnädig aus dem Hörer. „Ich bedaure deinen Entscheid sehr, denn grundsätzlich bist du die einzige Frau, mit der ich mir ein gemeinsames Leben bis ans Ende meiner Tage vorstellen kann. Doch mag ich einfach keinen Sex.“ „Ja, Richard, das wissen wir ja jetzt. Nur, eine Partnerschaft zu dritt kommt für mich niemals in Frage, niemals!!! Es ist eine Unverschämtheit, mir so etwas vorzuschlagen!“ schrie Vivienne durchs Telefon und legte auf. ‚Zum Glück hat Fabian nichts vom Streit mitbekommen‘, überlegte sie, währen die das Essen auf die Teller schöpfte. Ihr Sohn mochte Richard, auch wenn er ihn nicht viel zu Gesicht bekam.
Anderentags einigte sich das Paar darauf, dass es nur noch solange zusammenleben würde, bis Richard eine eigene Wohnung gefunden hätte.
Vivienne informierte ihren Sohn abends nach der Arbeit über die Trennungsabsichten. „Aber gell Mami, ich wünsche eine friedliche Trennung. Das Theater, wie bei der Scheidung zwischen dir und Papi muss ich nicht mehr haben.“ Mit Schaudern erinnerte er sich an die Scheidungsschlacht seiner Eltern. Damals, zehn Jahre zuvor, war es für ihn als kleines Kind kaum nachvollziehbar, warum sich seine Eltern nicht auf ein gemeinsames Sorgerecht einigen konnten. Doch dies war Ende der 1970er Jahre verpönt und vor allem sein Vater und der Rest der Familie sannen auf Rache, weil seine Mutter, die als ledige Schwangere zur Ehe genötigt wurde, nun um jeden Preis ihr ungeliebtes Ehejoch verlassen wollte. Fabian hing zu jenem Zeitpunkt mehr an seinem Vater und dessen Familie als an der Mutter und deren Familie. So entschied er sich als Fünfjähriger, lieber bei seinem nachsichtigen und nachgiebigen Papi zu bleiben. Seine Mutter war damals am Ende ihrer Kräfte und ertrug den aufgezwungenen Ehemann kaum noch, weshalb auch ihre Ärzte zur Scheidung drängten. Keiner jedoch hätte mit einem Scheidungskrieg derartigen Ausmasses gerechnet. Dies vor allem, weil sich Viviennes Vater als Gegenanwalt aufspielte, um seine Tochter wieder zurück an den heimischen Herd zu zwingen. Dabei ging es ihm als christlich konservativem Politiker vor allem um sein politisches Ansehen. Doch alles nützte nichts: Vivienne beharrte auf der Scheidung und war ab jenem Zeitpunkt eine Persona non grata für ihre Familie.
Fabian wohnte einige Jahre bei seinem Vater und bat eines Tages darum, nun doch bei seiner Mutter leben zu dürfen. Sein Vater Bruno begrüsste den Wunsch seines Sohnes, weil er als Erziehungsberechtigter immer mehr an seine Grenzen stiess, was auch Fabians Lehrer und der Tagesmutter nicht entgangen war. Beide machten Vivienne auf Brunos fahrlässiges Verhalten aufmerksam und baten sie eindringlich, das elterliche Sorgerecht wieder zu übernehmen, das sie einst freiwillig ihrem damaligen Ehemann überlassen hatte. Das Familiengericht entsprach diesem Wunsch nach einer Anhörung problemlos und glücklicherweise lebte sich Fabian rasch im mütterlichen Umfeld ein, das ihm aus seinen regelmässigen Wochenendbesuchen bereits bestens bekannt war. Einzig in der neuen Schule gab es Probleme, weil er mit einigen Lehrern nicht klarkam. Darum meldete Vivienne ihren Sohn in einer Privatschule in der Nähe der Firma Matter an, in der sie seit bald zwei Jahren als Personalchefin arbeitete. Die Stelle fand sie über ein Chiffre Inserat, das Richard für sie gestaltete und in einer der Tageszeitungen veröffentlichte. Einige interessierte Firmen meldeten sich und sie entschied sich schlussendlich für die Firma Matter, die in ihrer Wohnregion als Arbeitgeber einen ausgezeichneten Ruf genoss.
Neue Lebenssicht
Durch die Personalbetreuung der über 550 Mitarbeitenden und die damit verbundene grosse Verantwortung, änderte sich mit der Zeit einiges an Viviennes bisheriger Lebenssicht. Fast tagtäglich wurde ihr vor Augen geführt, dass es nicht allen Menschen gleich gut geht. Sie wurde mit tragischen Krankheits- und Todesfällen oder Unfällen konfrontiert, mit Selbstmord und auch mit Verbrechen, die Mitarbeiter zu verantworten hatten. Zudem begann 1990 kurze Zeit nach ihrem Eintritt in die Firma der Jugoslawienkonflikt. Immer wieder kam es deswegen zu Auseinandersetzungen zwischen den aus dem Vielvölkerstaat stammenden Mitarbeitern und mehr als einmal sah sich Vivienne genötigt, zwischen den verschiedenen Volksgruppen zu vermitteln. Zudem klopften des Öfteren Polizeibeamte an ihre Bürotür und baten darum, zum Arbeitsplatz von diesem oder jenem Mitarbeiter geführt zu werden, weil ihnen unterschiedliche Delikte vorgeworfen wurden.
Der Zufall wollte es, dass sich Vivienne zu jener Zeit im Geschäft um eine ältere Serbin, die nach einem Arbeitsunfall nicht mehr voll einsatzfähig war, besonders kümmerte. Ab und zu sprach sie mit der 60-jährigen Delia Simic über den Krieg in Jugoslawien und wollte wissen, wie sie darüber dachte. „Man muss immer beide Seiten kennen, um sich ein Urteil bilden zu können“ gab die zur Antwort. Der intensive Kontakt mit Delia Simic war zu jener Zeit insofern wertvoll, weil sich die junge Personalchefin durch die Gespräche vertiefter in die Kultur des jugoslawischen Vielvölkerstaates einfühlen konnte und so die Mentalität der einzelnen Völkergruppen besser verstand. Doch in ihren Augen gab es keine Entschuldigung für die Gräueltaten, unter denen die Bevölkerung zu leiden hatte. Es gab Mitarbeiter, die ihr detailgetreu erzählten, was ihren Verwandten während des Krieges angetan wurde. Mehr als einmal gefror Vivienne fast das Blut in den Adern und auf so manche Schilderung hätte sie liebend gern verzichtet.
Vor Beginn der Herbstferien warf Vivienne wieder einmal einen prüfenden Blick in den Badezimmerspiegel und stellte fest: ‚Ich bin einfach nicht mehr so wirklich attraktiv‘. Obwohl sie sich jeden Tag perfekt schminkte, ihre langen, blonden Haare sorgfältig frisierte und Wert auf gepflegte und schön lackierte Fingernägel legte, war sie unzufrieden. Mit ihren 165 Zentimeter Körpergrösse fühlte sie sich zu dick und hatte das Gefühl, dass sich vor allem an Bauch und Oberschenkeln zu viel Speck angesetzt hatte. Eigentlich hätte sie mit ihrer wohlproportionierten Figur und Kleidergrösse 38 mehr als zufrieden sein können. Trotzdem meldete sie sich in einer nahegelegenen medizinischen Massagepraxis zu einer aufwändigen Behandlung an. Sie hatte keine Ahnung, was auf sie zukommen würde und liess sich vom jungen Therapeuten beraten, nachdem sie ihm ihr Problem geschildert hatte. Reto Schuler empfahl ihr eine Lymphdrainage, die die eitle Frau zwang, tief ins Portemonnaie zu greifen. Vivienne schluckte zuerst leer, als ihr der Therapeut erklärte, dass die Behandlung mit zehn Massagen über tausend Franken kosten würde. ‚Schönheit muss eben leiden, materiell und immateriell‘ dachte sie, bevor sie mutig zusagte.
Nach den ersten Behandlungen, die entweder während der Mittagspause oder nach Feierabend stattfanden, freundete sich Vivienne mit ihrem Therapeuten Reto an. Dies, weil er sehr viel Interessantes über Astrologie und Zwischenweltliches zu erzählen wusste. Wohl kannte Vivienne die Sternzeichen ihrer Familienangehörigen und Freunde, doch dass aus den Konstellationen der einzelnen Zeichen der Lebensweg einer Person zu erkennen war, war ihr neu. Während der Massagebehandlungen erzählte ihr Reto manchmal aus seinem Leben und umgekehrt erzählte sie ihm diese und jene Episode aus ihrem. Sie erwähnte auch die immer häufiger auftretenden Migräneattacken, an denen sie seit Jahren litt. „Migräneattacken? Wann traten sie das erste Mal auf?“ wollte Reto wissen und kam zur Überzeugung, dass die Kopfschmerzen einen Bezug zu dem unerwarteten Tod ihres Vaters vier Jahre zuvor haben könnten. Doch Vivienne erkannte den Zusammenhang zwischen Migräne und Todesfall nicht. Reto ermunterte sie daraufhin eine Persönlichkeitsanalyse bei Astrointelligenz in Zürich zu bestellen. „Da bekommst du Antworten über dein Leben, die dir einiges erklären“ begründete er seinen Rat und so liess sich Vivienne nach einigem Zögern die Adresse des Astrounternehmens geben. Sobald sie zu Hause angekommen war, rief sie dort an und bestellte eine Analyse, die aufgrund von persönlichem Geburtsdatum, -zeit und -ort erstellt wurde.
Fünf Tage später lag das achtzigseitige Dokument in ihrem Briefkasten. Vivienne war nach Durchsicht der ersten Seiten über die Erklärungen, warum ihr Leben und ihre Partnerschaften bis anhin so und nicht anders verliefen, fasziniert. Tatsächlich stand schwarz auf weiss, dass sie mehr als einmal heiraten und erst in späteren Jahren eine stabile Ehe führen würde. Zu ihrem grossen Erstaunen wurden auch die familiäre Situation ihrer Eltern und Grosseltern beschrieben sowie prägende Charaktereigenschaften erwähnt, die sich eins zu eins mit Viviennes Erfahrungen deckten. Abschliessend war zu lesen, dass es jedem Menschen trotz seiner angeborenen Charaktereigenschaften und familiären Hintergrunds möglich sein würde, sich im Verlauf seines Lebens aus emotionalen und mentalen Verstrickungen zu lösen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Zum nächsten Massagetermin nahm Vivienne die Analyse mit und Reto überflog ein paar Seiten. Genau wie seine Kundin war er beeindruckt, wie zutreffend ihre Lebenssituation beschrieben wurde. Nach der Massage philosophierten die beiden noch ein wenig über die Möglichkeiten der Astrologie, die nach Viviennes Meinung wohl einiges erklärten, aber Probleme nicht wirklich lösen würden. Ihre Migräneanfälle auf jeden Fall lösten sich trotz der neuen Erkenntnisse nicht in Luft auf und Vivienne legte die Analyse in eine Schublade im Wohnzimmerschrank.
‚Ob ich je den richtigen Mann kennen lernen werde?‘ überlegte sie kurze Zeit später während ihres allabendlichen Bads. Sich nach einem anstrengenden Tag wohlig im warmen und nach Rosenöl duftenden Wasser zu räkeln, gehörte seit längerem zu ihren Ritualen, um abzuschalten und neue Energien zu tanken. ‚Wenigstens beruflich hab ich das grosse Los gezogen‘ überlegte sie weiter. Ausser, dass ihr der kommunikative Umgang ihres Chefs ab und zu auf die Nerven ging, gab es nichts zu beklagen. Sie kannte Konrad Koch unterdessen gut genug, um zu ahnen, dass er nicht bereit war, sein Verhalten zu ändern. ‚Solange er mich jedoch in Ruhe arbeiten lässt und mir meine Handlungsfreiheit zugesteht, muss mir dies egal sein.‘
Wochen später ging Vivienne wie jeden Morgen zur Arbeit. Kurz vor dem Firmengelände sah sie von weitem ihren Chef auf dem Gehsteig der Strasse entlanggehen und überlegte, ob sie nun am Fussgängerstreifen auf ihn warten oder so tun sollte, als ob sie ihn nicht bemerken würde. Doch dies ging nicht ohne weiteres, denn Konrad Koch war ein schlauer Fuchs und spürte sofort, wenn man ihn mied. ‚Also bleibe ich jetzt besser stehen und warte auf ihn‘ überlegte sie leicht genervt. Ihr Vorgesetzter kam näher und nickte ihr lächelnd zu. Als er neben ihr stand, wünschten sie sich gegenseitig einen guten Morgen und wollten, nachdem sie sich zuerst links und rechts versichert hatten, dass kein Auto zu sehen war, die Strasse auf dem Fussgängerstreifen überqueren. Auf der anderen Strassenseite lief ein Mitarbeiter auf den Eingang der Firma Matter zu und winkte ihnen. Die beiden waren noch nicht ganz in der Mitte der Strasse angekommen, als Vivienne vor Schreck erstarrte. Wie aus dem Nichts raste ein rotes Auto auf sie zu! Sie zupfte ihren Chef am Ärmel seiner Jacke, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Vivienne hatte das Gefühl, als würde sie zur Salzsäule erstarren. Sie war nicht in der Lage, einen Schritt weder vorwärts noch zurück zu machen. Wie gelähmt versagte jegliche Reaktion, um der Gefahrenzone zu entfliehen. ,Oh Gott, was machen wir nur?!?’ fragte sie sich entsetzt. Da erfasste sie eine unbeschreibliche Leichtigkeit. Zu ihrem grossen Erstaunen wurde sie zusammen mit ihrem Begleiter sanft angehoben und nach hinten gezogen. Vivienne hatte das Gefühl, als würde sie schweben. ‚Nein, das ist nicht nur ein Gefühl‘ überlegte sie. ‚Es fühlt sich an, als wären wir in Watte gepackt, ein paar Zentimeter nach hinten gehoben und dann wieder sanft abgestellt worden‘. Und schon raste das rote Auto knapp an ihren Körpern vorbei. Der Kollege auf der anderen Strassenseite stand mit weit aufgerissenen Augen völlig geschockt da und rief den beiden zu: „Ich weiss nicht, wie das gegangen ist, denn eigentlich müsstet ihr jetzt tot unter dem Auto liegen.“ Vivienne war dankbar für die Rettung durch ihre Schutzengel, denn eine andere Erklärung fand sie dafür nicht. Ob ihr Chef an Schutzengel glaubte, wusste sie nicht, doch für sie war klar, dass bei ihrer Rettung höhere Mächte die Hände im Spiel gehabt hatten. Schweigend gingen die beiden zusammen die Treppe zur Personalabteilung hoch und dann jeder für sich ins eigene Büro.
Im Laufe des Tages löste sich die Schockstarre und Vivienne staunte über die Abgebrühtheit des Personaldirektors, der ihr kurz vor Feierabend mitteilte: „Ich habe mir die Autonummer gemerkt und bei der Polizei eine Anzeige erstattet.“ Tatsächlich rief anderentags ein Polizeibeamter an, der Vivienne bat, noch am selben Abend auf dem Polizeiposten zu erscheinen. Sie leistete der Aufforderung Folge und schilderte ihr Erlebnis, während der zuständige Beamte alles protokollierte. Natürlich erwähnte sie die Schutzengel nicht, sondern meinte lediglich, dass ihr Chef sie aus der Gefahrenzone nach hinten gezogen hätte. „Ihr Chef gab aber zu Protokoll, dass Sie ihn nach hinten gezogen hätten“ liess der Polizist sie erstaunt wissen. „Ah ja? Mir kam es aber so vor, als hätte er mich zurückgezogen“ widersprach Vivienne. „Das wird der Schock gewesen sein“ versuchte der Polizist die Situation zu erklären und hielt ihr das Protokoll zur Unterschrift hin. Nachdem Vivienne den Polizeiposten wieder verlassen hatte, überlegte sie sich, dass irgendwer im Himmel beschlossen haben musste, dass sie und ihr Chef noch weiterleben sollten. Es kam ihr vor, als wären Konrad Koch und sie ab jenem Moment zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweisst geworden. ‚Nur, für was soll das gut sein?‘
Am frühen Abend vor den Weihnachtsferien stand die bald 35jährige an ihrem Bürofenster und beobachtete die dicken Schneeflocken im Licht der Strassenbeleuchtung, die langsam die Landschaft in sanftes Weiss hüllten. Sie freute sich auf die weihnächtliche Auszeit und etwas Ruhe. Fabian wollte über die Festtage zusammen mit seinem Vater die Grosseltern in der Ostschweiz besuchen. Sie selbst war zusammen mit Richard, mit dem sie trotz beschlossener Trennung nach wie vor eine freundschaftliche Beziehung pflegte, bei Freunden eingeladen und dankbar, für einmal nicht selbst in der Küche zu stehen, um ein aufwendiges Festmahl zu kochen. Plötzlich wurde sie durch aufgebrachte Stimmen aus dem benachbarten Lohnbüro aufgeschreckt. Sie ging auf den Korridor und sah, wie Konrad Koch wütend aus dem Lohnbüro marschierte. Als er Vivienne bemerkte, erklärte er ihr kurz den Grund seiner Wut: „Der Bolt ist und bleibt eine Niete und wird dieses neue System nie kapieren.“ Sobald ihr Chef zurück in seinem Büro war und die Türe hinter sich geschlossen hatte, warf sie einen Blick ins benachbarte Büro und sah, wie ihr Kollege verzweifelt versuchte, herauszufinden, warum die Lohnabrechnungen einmal mehr fehlerhaft aus dem Drucker ratterten. „Glauben Sie mir Frau Zeller, ich habe alles richtig gemacht und trotzdem stimmen die Abrechnungen hinten und vorne nicht. Warum musste dieses neue System überhaupt eingeführt werden? Das alte funktionierte immer perfekt! Doch der da oben“ zeigte er mit Blick an die Decke und Richtung Büro des Firmeninhabers, „hat es anders entschieden. Und wie sich der Koch mir gegenüber aufführt, glauben Sie mir Frau Zeller, das lasse ich mir nicht mehr gefallen. Immer wieder stutzt er mich nach Fehlermeldungen auf Zwerggrösse herunter und dies wird er eines Tages bitter bereuen! Dem Koch wünsche ich nichts Gutes! Irgendwann bekommt er es zurück!“ Hermann Bolt war sichtlich verzweifelt und stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nach dem Zwischenfall verabschiedete sich der Personaldirektor mit grimmiger Miene, um wenig später zusammen mit seiner Familie in die Weihnachtsferien zu verreisen. Bevor er die Treppe runter eilte, ging er kurz zu Vivienne ins Büro: „Ich wünsche Ihnen angenehme Weihnachtszeit und im neuen Jahr muss ich mit dem Bolt eine Lösung finden, so geht das nicht weiter. Ich habe keine Lust mehr, unserem Firmenleiter immer wieder von neuem zu erklären, warum die Lohnadministration nicht fehlerfrei funktioniert. In anderen Firmen wurde dasselbe System auch eingeführt und zwar ohne dieses Theater, wie ich es hier jeden Tag erleben muss. Bei mir funktioniert die Verarbeitung der Kaderlöhne einwandfrei, doch warum nicht mit den Schichtarbeiter-Löhnen? Unser Informatiker drohte bereits mit Kündigung, wenn das so weiter geht.“ Vivienne hörte ruhig zu und verzichtete auf einen Kommentar und wünschte ihrem Chef ebenfalls schöne Weihnachtstage. ‚Wie ich dieses Theater hier satthabe‘ überlegte sie sich, während sie ihren Pult aufräumte und den Topfpflanzen Wasser gab. ‚Niemals wird es Konrad Koch gelingen, den Bolt rauszuwerfen. Die Einheimischen halten fest zusammen und sind über alle vier Ecken immer irgendwie miteinander verbandelt, ob verwandtschaftlich oder freundschaftlich. Ich will hier in Ruhe und Frieden meinen Job machen, doch dies scheint nicht mehr möglich zu sein‘. Mehr als einmal versuchte Vivienne ihrem Chef hinsichtlich des Lohnbürochefs klar zu machen, dass man aus einem VW keinen Porsche machen konnte und er sein kommunikatives Verhalten entsprechend anpassen sollte. Vergeblich! Sie nahm sich vor, den ganzen Ärger für den Moment zu vergessen und sich die Freude an den Feiertagen nicht verderben zu lassen. Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und machte sich auf den kurzen Heimweg.
Eine Viertelstunde später zu Hause angekommen, gönnte sie sich wie jeden Abend ein warmes Bad, um zur Ruhe zu kommen. Später rief sie Richard an, um über ihren Frust zu jammern. „Diese Gehässigkeiten halte ich nicht mehr aus“ liess sie ihn wissen. „Aber Du verstehst dich doch so gut mit den meisten der Abteilungsleiter. Du wirst von ihnen als Ratgeberin geschätzt und kannst jetzt doch nicht einfach abhauen“ gab Richard zu bedenken. „Ja, das stimmt“ gab sie ihm recht. „Doch ich arbeite primär in der Personalabteilung und im direkten Arbeitsumfeld muss es für mich stimmen. Ich habe mich heute definitiv entschieden, dass ich mich anfangs Januar auf die Suche nach einer neuen Stelle mache. Wann kommst du nach Hause?“ wollte sie noch wissen. „Gegen Mitternacht, die Arbeit geht mir hier nicht aus.“ „Okay, aber morgen bist du um 16 Uhr zu Hause, damit wir pünktlich Richtung Ostschweiz abfahren können. Ich will keinesfalls zu spät bei unseren Gastgebern eintreffen“ mahnte sie Richard, bevor sie aufhängte.
Bruno holte seinen Sohn wie verabredet am anderen Morgen ab und Vivienne fuhr gegen Abend zusammen mit Richard ebenfalls los, um bei ihren Freunden Gerda und Benni Weihnachten zu feiern. Doch Vivienne war nicht wirklich nach Feiern zumute, denn für einmal liessen sie die Geschäftsprobleme nicht los. Dies war neu, denn normalerweise war Abschalten für sie kein Problem. Zu allem Elend hielten sich Gerdas Kochkünste in Grenzen, was Viviennes Stimmung zusätzlich trübte. ‚Pasta und Merlot an Weihnachten, das ist doch kein Festessen, sondern banaler Alltag‘ überlegte sie und bereute, die Einladung überhaupt angenommen zu haben. Sie kannte Gerda seit ihrer frühesten Kindheit und mochte sie nach wie vor als Vertraute. Doch als Köchin und Gastgeberin brillierte sie nie besonders, da fehlte ihr einfach das Händchen. Vivienne war da anders gestrickt und grad für die Weihnachtstage legte sie grossen Wert auf festlich dekoriertes Ambiente. Nun sass sie an einem Holztisch ohne Tischtuch, lediglich geschmückt mit roten Alltags-Tischsets, ein paar Tannenzweigen und Kerzen. Am liebsten wäre sie gleich nach dem Dessert aufgestanden, um nach Hause zu fahren. Anstandshalber blieb sie sitzen, bis Richard gegen Mitternacht meinte: „Wir müssen los, Vivienne, es beginnt zu schneien. Jetzt sind die Strassen noch fahrbar, in einer Stunde kann dies anders sein.“ Vivienne liess sich nicht zweimal bitten. Nachdem sie sich von ihren Gastgebern verabschiedet hatte, stieg sie bei dichtem Schneetreiben ins Auto ein und Richard fuhr los. „Was ist eigentlich mit dir los?“, wollte er während der Fahrt wissen. „Du warst heute Abend alles andere als gesprächig, was man bei dir als abnormal bezeichnen könnte.“ „Ich will nicht darüber sprechen, ist was Geschäftliches. Zudem bin ich hundemüde“ erklärte Vivienne in einem Ton, der kein Nachfragen duldete.
Am Weihnachtstag nach dem Frühstück setzte sie sich ins Wohnzimmer, um sich weitere Gedanken über ihre Arbeitssituation zu machen. Ihr wurde bewusst, dass es in ihrem Berufsleben bis anhin steil bergauf gegangen war. Egal in welchem Betrieb sie arbeitete, wurde ihr rasch Vertrauen geschenkt und sie durfte einiges bewegen. Dabei schaffte sie fast alles, was sie sich vorgenommen hatte. Vor allem, wenn es um die Einführung von Neuerungen oder das Schlichten verhärteter zwischenmenschlicher Situationen ging. ‚Im Fall Koch/Bolt ist dies aber aussichtslos, weil in den letzten Jahren – bereits vor meinem Eintritt – zu viel Geschirr zerschlagen wurde‘ gestand sie sich ein. Zudem war es für einen Vorgesetzten, wie in diesem Fall Konrad Koch, schier unmöglich, Neuerungen mit Mitarbeitern erfolgreich umzusetzen, die vom Intellekt und von der Ausbildung her so anders tickten, wie er selbst. ‚Wenn ich Konrad Koch wäre, hätte ich längst gekündigt, statt mich jahrelang jeden Tag aufs Neue mit Ewiggestrigen zu duellieren.‘ Genau hingesehen war es ein Kampf gegen Windmühlen! Nur, warum liess sich dies ihr Chef gefallen und machte einfach weiter, obwohl er daran fast zerbrach?
Das Telefon läutete und unterbrach ihre Gedanken. Ihre Freundin Conny meldete sich am anderen Ende der Leitung und fragte nach, ob sie und Richard Lust hätten, den Start ins neue Jahr in Norditalien, genau genommen in Novello, einem kleinen Dorf inmitten der Hügel des Piemonts, zu verbringen. „Eigentlich sind Richard und ich nicht mehr wirklich zusammen“ erklärte Vivienne ihrer Freundin. „Doch es stört mich nicht, wenn er dabei ist, einfach in getrennten Hotelzimmern. Lässt sich das so kurzfristig organisieren?“ „Kein Problem, um diese Jahreszeit hat es kaum Touristen im Piemont“ meinte Conny. Sie zeigte sich nicht erstaunt über die Trennungsabsichten der beiden, denn auch ihr fiel seit längerem auf, dass die beiden nicht das Traumpaar waren. Doch dies waren sie und ihr Mann Armin ebenfalls nicht. Doch sie hatten sich arrangiert, wie man so schön sagte. Seit längerem pflegte sie heimlich eine Liebschaft, die ihr das gab, was sie bei Armin vergeblich suchte. Trotzdem liebte sie ihren Mann und wollte ihn nicht verlassen. „Ich ruf dich gleich zurück, weil ich zuerst abklären muss, ob Richard mit von der Partie ist“ erklärte Vivienne ihrer Freundin. „Etwas Abwechslung tut mir sicher gut nach der monatelangen Rackerei in meinem Geschäft“ willigte Richard ein und so brachen die vier Freunde mit dem Auto einen Tag vor Silvester Richtung Norditalien auf. Armin stellte sich als Chauffeur zur Verfügung und teilte seinen Fahrgästen mit, dass sie in vier Stunden am Ziel sein würden.
Leider wurden daraus sieben Stunden, weil sich der Verkehr vor dem Zoll in Chiasso ellenlang staute. Nachdem sie den Zoll mit über einer Stunde Verspätung endlich passieren konnten, zwang sie Bodennebel in schrittweisem Tempo weiter zu fahren. Statt sich an der hügligen Landschaft des Piemonts zu erfreuen, wähnten sich die Vier in einer Milchsuppe ohne Ausgang. ‚Hoffentlich kommen wir heil in Novello an.‘ Vivienne bat ihre Schutzengel darum, den Nebel zu vertreiben. Doch die Bitte wurde nicht erhört. Erst am späten Abend erreichten sie endlich ihre Pension im nebligen Irgendwo. Zu allem Elend stellte sich heraus, dass die Pensionsbesitzerin, bei der Conny telefonisch die Zimmer gebucht hatte, vorsätzlich doppelte Buchungen vornahm nach dem Motto: „Wer zuerst kommt, hat Glück, die anderen sollen selbst weiter schauen. Hauptsache meine Zimmer sind vermietet.“ Die Vier gehörten nun zu denjenigen, die Pech hatten und weiter schauen mussten. Nur mit Not fand sich auf die Schnelle eine neue Unterkunft, die alles andere als komfortabel war. Die nette Besitzerin zeigte den unerwarteten Gästen ihre wenigen Zimmer und erklärte Conny währenddessen auf Italienisch, dass die Zimmer erst geheizt werden, wenn sie sich zum Bleiben entschlossen hätten. „Doch es dauert eine Weile, bis die Räume aufgeheizt sind. Und im Badezimmer gibt es gar keine Heizung, wir sind eher auf Sommer- und Herbstgäste eingestellt“ ergänzte sie noch. Nachdem Conny übersetzt hatte, was ihr die Hotelière grad mitteilte, zeigte sich Vivienne ausser sich. „Es bleibt uns um diese Tageszeit wohl nichts anderes übrig, als diese eiskalten Zimmer zu nehmen! Ja wir müssen sogar dankbar sein, dass wir überhaupt noch etwas gefunden haben!“ Richard und Armin nickten betreten und so bezogen Conny und Armin ihr Doppel-Zimmer, Richard und Vivienne die Einzelzimmer.
Nachdem sich alle in ihren Zimmern eingerichtet hatten, trafen sie sich zu einem Aperitif in der kleinen Hotel-Bar. „Das wäre in der Schweiz oder sonst wo kaum möglich, dass sich jemand mit Vorsatz erlaubt, doppelte Hotelbuchungen vorzunehmen! Die Frau gehört angezeigt! Nun hocken wir hier bei -5 Grad Aussentemperatur und nicht mehr als 12 Grad Innentemperatur. Habt ihr auf eure Betten geschaut? Hier gibt es nicht mal warme Daunendecken, sondern einzig Leinentuch mit dünner Wolldecke. Und ich habe vorhin im Badezimmer versucht warmes Wasser rauszulassen, um zu duschen. Vergeblich! Eiszapfenkaltes kam raus……ich will nach Hause, sofort!!!“ liess Vivienne ihrem Frust freien Lauf. „Lass es gut sein!“ versuchte Richard seine Freundin kopfschüttelnd zu besänftigen. „Wir müssen uns damit abfinden, dass es eben solche und solche Hotelwirte gibt. Wir hatten nun Pech und sollten das Beste draus machen. Betrachte es als ein Abenteuer….in ein paar Jahren lachst du darüber. Wir gehen jetzt was essen und dann wird uns wieder wärmer.“ Armin versuchte Vivienne ebenfalls zu trösten. „Also im Militär habe ich ganz andere Situationen erlebt, zum Beispiel im Gebirge bei -20 Grad im Zelt zu kampieren.“ „Nun übertreibst du aber!“, tadelte Conny ihren Mann. Dann wandte sie sich Richard und Vivienne zu. „Wir gehen jetzt essen und dann wird uns allen wieder wärmer. Und nachts legen wir unsere Mäntel über die Betten, das kommt einer Daunendecke gleich.“ „Wenn du meinst“ antwortete Vivienne resigniert und trottete den Reisegefährten bis zum nächst gelegenen offenen Restaurant nach. Tatsächlich hatte um die Ecke ein gemütliches Restaurant zu später Stunde noch geöffnet und nach einem reichhaltigen Essen sowie zwei Grappas fühlten sich die vier Reisegefährten wieder besser.
Nach einer unruhigen Nacht in einem Bett mit viel zu weicher Matratze und immer noch viel zu kaltem Zimmer trafen sich die Vier zum Frühstück. „Und, wie habt ihr geschlafen?“ wollte Vivienne mit Blick auf ihre Freunde wissen. „Es geht“ meinte Richard und ergänzte „die Matratze war viel zu weich.“ „Wo verbringen wir überhaupt den Sylvester-Abend?“ wollte Vivienne wissen, während sie ihre heisse Schokolade aus der Tasse schlürfte. „Das müssten wir noch organisieren, auf jeden Fall nicht im geplanten Restaurant, weil das nämlich geschlossen hat“ liess Armin seine Reisegefährten kleinlaut wissen. „Auch das noch, wären wir doch nur zuhause geblieben“ giftete Vivienne und blickte dabei Armin vorwurfsvoll an. „Ich kann nichts dafür, dass hier alles schiefläuft und mir passt es genauso wenig wie dir“ giftete er in seinem Militärton zurück. Conny mischte sich ein und taxierte ihren Mann mit vernichtendem Blick: „Sorry, du hast uns doch während der Reise erklärt, dass du einen Tisch im angesagtesten Piemonteser-Restaurant weit und breit reserviert hättest. Doch anscheinend war das einer deiner berüchtigten Scherze, denn hättest du tatsächlich einen Tisch reserviert, wäre dir aufgefallen, dass der Nobelschuppen eben geschlossen hat!!“ „Ja und wo essen wir jetzt zu Silvester?“ hakte Richard nach. „Wir werden schon noch was finden“ versuchte Armin gewohnt optimistisch zu beschwichtigen. „Also im Militär habe ich schon um einiges schwierigere Probleme gelöst…“ „Es interessiert hier jetzt grad keinen, welche Probleme du im Militär zu lösen hast“ fiel ihm Conny ins Wort. „Wir wollen wissen, wo wir den Silvesterabend verbringen, nichts weiter.“ Armin machte sich auf zur Rezeption und fragte die Hotelwirtin um Rat. Diese gab ihm glücklicherweise die Adresse eines passablen Restaurants ganz in der Nähe. Vorsichtshalber rief sie gleich selbst dort an, um nach einem freien Tisch zu fragen. Sie ergatterte den letzten freien Tisch und Armin war sichtlich erleichtert über die gute Nachricht. „Der Abend ist gerettet, wir werden heute Abend in Novello ganz in der Nähe zu unserem Hotel Sylvester feiern“ meinte er wenig später wieder zurück am Frühstückstisch. Dann schlug er vor, mit dem Auto nach Alba zu fahren, um Steinpilze und Morcheln einzukaufen. Eine Stunde später war Abfahrt und Vivienne war gespannt, was sie im 20 Minuten entfernt gelegenen Städtchen alles erwarten würde. Sie stellte sich auf schicke Einkaufsgeschäfte ein, doch ausser unzähliger Delikatessengeschäfte, die getrocknete Pilze, Käse, Wein, Grappa und regionale Süssigkeiten verkauften, gab es nicht allzu viel zu sehen. Zu ihrem und Connys Bedauern war die Trüffel-Saison längst vorbei und die köstlichen Knollen mit ihrem erotisierenden Duft waren nur konserviert in Gläsern erhältlich. „Gibt es hier keine Kleiderläden?“ wollte Vivienne von ihrer Freundin wissen. „Anscheinend nicht, ich sehe auf jeden Fall keinen.“ Conny schlug vor, sich in einem der kleinen Cafés entlang der Einkaufsstrasse mit Espressi aufzuwärmen. „Mir ist alles recht, um der Kälte zu entfliehen“ stimmte Vivienne dem Vorschlag schlotternd zu. Den beiden Männern konnte die Kälte nichts anhaben, weil sie mit Felljacken ausgerüstet waren. Vivienne und Conny hingegen hatten nur ihre schicken Wintermäntel dabei, die sie wohl vorteilhaft kleideten, jedoch kaum wärmten.
Nachdem alle ihre Espressi fertig getrunken hatten, ging es mit dem Auto wieder zurück Richtung verschneiter Piemonteser Hügellandschaften, um in Barbaresco und Barolo einige Weingüter zu besuchen. ‚Kalt, kalt, kalt‘ stellte Vivienne frustriert fest. ‚Egal wo man hier hingeht, ist es saukalt‘.
Stunden später wieder zurück im Hotel, hatten ihre Zimmer in der Zwischenzeit endlich die gewünschte Raumtemperatur erreicht. Sogar warmes Wasser war der Dusche zu entlocken und Vivienne nutzte die Gunst der Stunde, um zu duschen. Danach fühlte sie sich erfrischter, obwohl nach dem anstrengenden Tag ein heisses Bad genau das Richtige gewesen wäre. Bevor sie sich wieder mit Richard, Conny und Armin in der Hotelbar treffen würde, legte sie sich im Bademantel auf ihr Bett, um noch ein wenig zu dösen. ‚Was wird wohl das neue Jahr bringen? Wer weiss, vielleicht kommt doch noch irgendwann ein Märchenprinz daher geritten, der mich auf Händen trägt, mich leidenschaftlich liebt, mir jeden Wunsch von den Augen abliest und mich all meine Sorgen vergessen lässt…‘ Dann schlief sie ein. Erst durch energisches Klopfen an der Türe wurde sie eine Stunde später wieder wach und hörte Richard rufen: „Vivienne, ist mit dir alles in Ordnung? Wir warten unten beim Eingang auf dich, wo bleibst du nur?“ „Oh, ich bin eingenickt und habe die Zeit vergessen! In ein paar Minuten bin ich unten“ rief sie Richard durch die Türe zu, während sie rasch in ihr schwarzes Cocktailkleid schlüpfte. Dann streifte sie sich ihren Wintermantel über, zog die warmen Stiefel an und steckte die Abendschuhe in eine Plastiktüte. Dann rannte sie in die Hotellobby, wo ihre Reisegefährten ebenfalls festlich gekleidet auf sie warteten. Nach fünf Minuten Fussmarsch auf einer vereisten Strasse erreichten sie das Restaurant und als sie in die warme Gaststube eintraten, stellten Conny und Vivienne überrascht fest: „Wir sind overdressed.“ Der einfach gekleidete Wirt nahm die vier festlich gekleideten Gäste schmunzelnd in Empfang und führte sie zu einem der wenigen mit weissem Tischtuch gedeckten Tische. „Wir machen das Beste draus“ meinte Richard, der sich wie Armin in einen Anzug mit Krawatte geworfen hatte. ‚Ja, wir machen das Beste draus, überlegte Vivienne. Nach einem üppigen Nachtessen und kurz vor Mitternacht fragte sie sich einmal mehr: ‚Was wird wohl dieses neue Jahr bringen?‘ Vor zwei Jahren hatte sie sich genau dieselbe Frage gestellt und gespürt, dass sich etwas nachhaltig verändern würde. Tatsächlich veränderte sich 1989 nicht nur ihr persönliches Leben durch den neuen Job als Personalchefin, sondern im selben Jahr fiel die Mauer in Berlin mit nachhaltiger Wirkung auf den gesamten Ostblock und die restlichen europäischen Länder. ‚Im Laufe des Januars werde ich mich nach einer neuen Stelle umsehen‘ nahm sie sich vor. Dann prostete sie ihren Freunden aufs neue Jahr zu.
Gegen Abend des 1. Januars waren die Vier wieder zurück in der Schweiz. Kaum zuhause angekommen und zur Türe rein, stellte Vivienne ihren Koffer ab und ging ins Badezimmer, um sich ein warmes Bad einlaufen zu lassen. Während das warme Wasser in die Wanne plätscherte, packte sie rasch den Koffer aus und grad als sie ins Bad steigen wollte, klingelte das Telefon. Zu ihrem grossen Erstaunen meldete sich ihr Chef völlig aufgelöst am anderen Ende der Leitung. „Guten Abend Frau Zeller. Zuerst mal ein gutes neues Jahr, ich hoffe, Sie sind besser gestartet als ich.“ Vivienne war völlig perplex über den unerwarteten Anruf und kam nicht dazu, ihrem Chef ebenfalls ein gutes neues Jahr zu wünschen, weil er ohne Unterbruch weiterredete. „Es ist mir morgen nicht möglich zur Arbeit zu kommen, weil meine Tochter Charlotte völlig überraschend einen Herzstillstand erlitten hat und in Lebensgefahr schwebt“ liess er seine Mitarbeiterin verzweifelt wissen.
Vivienne zeigte sich betroffen über die Nachricht und wollte wissen, was der Grund der Herzattacke war. „Charlotte fuhr am 31. Dezember, ihrem 22. Geburtstag, mit Freunden zum Schlitteln in die Berge. Dort brach sie auf der Piste für alle überraschend zusammen. Keiner wusste, was los war, und darum konnte man ihr auch nicht sofort helfen“ schluchzte es verhalten aus dem Telefonhörer. „Mit nur 22 Jahren muss sie jetzt wahrscheinlich sterben“, fügte er noch hinzu.
Vivienne gab sich keine Mühe, irgendwelche tröstenden Floskeln zu finden. Keiner, wirklich keiner konnte auch nur ahnen, welch unermesslichen Schmerz ein Angehöriger eines geliebten sterbenden oder schwer kranken Menschen fühlte. Das Einzige, was in solch einem Fall etwas Trost spendete, war Betroffene in die Arme zu nehmen, um so Mitgefühl zu signalisieren. Doch das war in diesem Fall nicht möglich. Einmal, weil sie ihren Chef niemals in die Arme nehmen würde und wenn doch, er nicht zugegen war. Vivienne versicherte Konrad Koch, dass er der Arbeit beruhigt fernbleiben könnte und sie auch ohne ihn den „Laden im Griff“ haben würde. Konrad Koch nahm dies dankbar zur Kenntnis und teilte Vivienne mit, dass er Rudolf Matter bereits über den Schicksalsschlag verständigt hätte und bat sie, Stillschweigen gegenüber den anderen Mitarbeitern zu bewahren. „Solange noch nicht feststeht, wie es um Charlottes Gesundheitszustand wirklich steht, bitte ich um Diskretion.“ „Sie können sich auf mich verlassen“ sicherte ihm Vivienne ihre Verschwiegenheit zu und wünschte ihm und seiner Familie viel Kraft. „Vielleicht geschieht ja noch ein Wunder und Charlotte wird wieder gesund“, versuchte sie nun doch noch tröstende Worte zu finden. „Ihr Wort in Gottes Ohr“, entgegnete er und legte auf. Nach dem unerfreulichen Telefongespräch nahm Vivienne ihr Bad und versuchte sich zu entspannen. Durch die Badezimmertüre hörte sie, wie ihr Sohn nach Hause kam und nach ihr rief. „Ich bin im Bad, Fabian!“ rief sie zurück. „Okay, Mami. Ich pack jetzt aus, und später erzähle ich dir von all meinen Geschenken, die ich zu Weihnachten bekommen habe.“ „Ja, machen wir so, doch jetzt will ich für eine halbe Stunde Ruhe, um auszuspannen.“ Vivienne war dankbar, dass ihr Sohn wieder heil aus den Weihnachtsferien zurück war. Wie ihr nun nach dem Gespräch mit Konrad Koch bewusst wurde, war dies keine Selbstverständlichkeit. Vivienne versuchte sich im warmen Wasser zu entspannen, was ihr nicht gelang. Zu sehr waren ihre Gedanken mit der Familie Koch und deren Schicksal beschäftigt. Sie hoffte inständig, dass sich Charlotte, die sie nicht näher kannte, bald wieder erholen würde.
Während sie im wohlduftenden Badewasser weiter vor sich hindöste, wurde ihr plötzlich bewusst: ‚Oh Gott, nun kann ich nicht kündigen!‘ Wenn Charlotte Koch nach der Herzattacke stürbe, käme ihr Vater mit diesem Schicksalsschlag kaum zurecht, da war sie sich fast sicher. Zu sehr hing ihr Chef an seiner Tochter, wie sie immer wieder beobachtete. Charlotte war sein ganzer Stolz, sein Lebensmittelpunkt. Von seinem Sohn Mike sprach er selten. Trotzdem war sie überzeugt, dass die Familie Koch ein sehr harmonisches Familienleben führte. Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr ging Vivienne früher als üblich ins Geschäft, um sich auf die zusätzlichen Aufgaben vorzubereiten, die sie für einige Zeit übernehmen würde.
Erst in der zweiten Arbeitswoche liess sich Konrad Koch kurz blicken, um nach dem Rechten zu sehen. Vivienne war schockiert, als er ihr Büro betrat, um ein paar Unterlagen auf ihr Pult zu legen. Nicht der selbstbewusste, unbesiegbar scheinende Personaldirektor aus früheren Tagen stand vor ihr, sondern ein gebrochener Mann, dem unterdessen bewusst war, dass seine Tochter nach dem Herzstillstand und zu später Reanimation wohl überleben, jedoch ihr restliches Leben als Schwerstinvalidin in einer Pflegeeinrichtung verbringen würde. Charlotte, die eben noch quirlige und lebenslustige junge Frau, würde nie wieder sprechen, selbst essen, sitzen, geschweige denn gehen können. Ein ortsansässiger Arzt, der für seine undiplomatische Art bekannt war, liess die Familie in ihrem allergrössten Schmerz wissen, dass man Charlotte besser nicht reanimiert hätte und dass dies ein Ärztefehler gewesen sei. Als der Leid geprüfte Vater Vivienne von diesem Gespräch erzählte, rollten ihm Tränen über die Wangen, denn für ihn wäre der Tod seiner Charlotte noch unerträglicher gewesen. Nun blieb ihm wenigstens die Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschehen und seine Tochter sich eines Tages wieder erholen würde.
Die Reaktionen innerhalb der Firma Matter auf Kochs Familiendrama, das sich unterdessen herumgesprochen hatte, waren zu Viviennes Erstaunen vielfältiger Natur. Auf der einen Seite herrschte Betroffenheit, vor allem weil Charlotte vielen als fröhliches Mädchen und mittlerweile als junge sympathische Frau bekannt war. Früher während der Schulferien jobbte sie ab und zu in einer der Produktionsstätten und besuchte dieselben Schulen wie die Kinder der Angestellten. Nebst der Betroffenheit gab es jedoch auch andere Stimmen. „Das ist jetzt die Strafe für sein Benehmen“ meinte zum Beispiel der Finanzchef zum Lohnbürochef. Hermann Bolt widersprach ihm nicht, wie er Vivienne später versicherte. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Personaldirektor bekam für Vivienne auf diese Weise ein neues Gesicht oder besser, eine hässliche Fratze. Sie nahm sich vor, auch wenn sie nicht immer mit seinem Verhalten einverstanden war, ihm Rückendeckung zu geben.
Beim nächsten Massagetermin erzählte Vivienne ihrem Therapeuten über Charlottes Herzstillstand und dessen Folgen. „Das ist karmisch“ antwortete er spontan. „Was ist denn das?“ wollte sie erstaunt wissen. „Ja das ist etwas, das in einem anderen Leben noch nicht erledigt wurde und sich nun in diesem Leben wieder manifestiert.“ „Wie bitte? In einem anderen Leben!?“ fragte Vivienne zur Sicherheit nach. „Ja“ belehrte er seine Kundin. „Wir kommen immer wieder auf die Welt, und wenn wir etwas in einem anderen Leben nicht aufgearbeitet haben, dann erledigen wir es eben im nächsten. Dies kann auch über eine Krankheit oder einen Schicksalsschlag sein. Manchmal ist es nicht unbedingt das Opfer, das etwas zu lernen hat, sondern seine Angehörigen. Das Opfer stellt sich somit als Lehrpfad für die anderen zur Verfügung.“ „Also Reto, so einen Quatsch habe ich noch nie gehört, woher willst du das denn wissen? Wer wird schon krank, um anderen quasi als „Lehrpfad“ zu dienen!?! Ich finde, du gehst nun zu weit." Dann erklärte sie Reto kurz ihre persönlichen Ansichten zum Thema Religion. „Der Mensch stirbt irgendwann und je nachdem, wie sein Sündenregister ausfällt, geht‘s in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer. Danach ist Schluss! Also komm mir nicht mit früheren Leben. Du versündigst dich damit."
Reto lächelte milde. „Nein, nein, so ist es ganz bestimmt nicht. Das erzählen uns die Kirchenoberen nur, um uns klein zu halten. Das läuft alles ganz anders. Ich weiss das, weil ich mit meinem besten Freund jeden Montag einen sehr weisen Mann besuche, der mehr sieht und weiss, als der normale Mensch“ flüsterte Reto nun fast verschwörerisch. „Das klingt nach Sekte“ gab Vivienne zu bedenken. „Sicher nicht, sehe ich aus wie ein Sektierer?“ entrüstete sich Reto. Vivienne schaute dem weiss gekleideten, mittelgross gewachsenen, blonden jungen Mann in seine hellblauen Augen und meinte dann lachend: „Nein, eigentlich siehst du nicht wie ein Sektierer aus." Nachdem Reto Viviennes Neugierde geweckt hatte, wollte sie mehr über seine geheimen Treffen mit dem weisen Mann wissen. „Kann ich an solch einem Treffen mal mit dabei sein?“ fragte sie darum Reto erwartungsvoll. „Du wirst im Laufe deines Lebens sicher noch mehr darüber erfahren, was zwischen Himmel und Erde tatsächlich so läuft. Mehr, als du Dir vorstellen kannst. Doch nun ist die Zeit noch nicht reif dafür. Sowas kann man nicht erzwingen, der richtige Moment wird kommen!“ schloss er das Thema ab. Nach der Massage verabschiedete sie sich und hoffte, dass Reto sie irgendwann doch noch zu einem seiner Geheimtreffen mitnehmen würde. Bereits Wochen zuvor hatte sie ihr Massage-Abo verlängert. Nicht nur, weil ihr die Therapie als willkommene Entspannung diente, sondern weil sich ihr spiritueller Horizont durch die Gespräche mit Reto um einiges erweiterte.
Eine Woche später begrüsste Reto seine Kundin freudestrahlender als üblich. „Ich habe eine gute Idee, wie du mehr über Karma und Weiterleben nach dem Tod erfahren könntest.“ „Ah ja? Und wie willst du das anstellen?“ wollte Vivienne erstaunt wissen. „Nimmst du mich nun doch zu einem deiner Geheimtreffen mit?“ „Nicht zu meinem weisen Freund. Doch gerne würde ich dich zu einem Medium aus England mitnehmen, das in ein paar Monaten in der Ostschweiz auf Besuch weilt. Ich habe für mich einen Channeling-Termin über die Parapsychologische Gesellschaft in Basel gebucht und das wär auch was für dich. Das bekannte Medium reist jedes Jahr für ein paar Wochen in die Schweiz und ist jetzt schon fast ausgebucht.“ „Medium? Bitte Reto, klär mich auf. Was um Gotteswillen ist ein Medium?! Und was ist ein Channeling?“ „Ein Medium ist eine Person mit einer besonderen Begabung, in diesem Fall eine Frau. Sie stellt sich als Kanal zwischen der geistigen Welt der Verstorbenen und der irdischen Welt der Lebenden zur Verfügung. Das nennt man Channeling. Ein Kollege erzählte mir davon. Er war begeistert, weil ihm sein Grossvater eine Botschaft durch das Medium übermittelte, die hundertprozentig stimmte. Dir könnte so eine Sitzung helfen, um dich mit deinem verstorbenen Vater zu versöhnen. Vielleicht hat er dir noch etwas zu sagen. Obwohl, zum Vornherein weiss man natürlich nie, wer sich alles meldet, weil auch Verstorbene ihren freien Willen haben. Es gibt solche, die mit früheren Angehörigen keinen Kontakt mehr wünschen und dies gilt es dann zu respektieren.“