Auf der Suche nach den Schmetterlingen - Bruny Fritz - E-Book

Auf der Suche nach den Schmetterlingen E-Book

Bruny Fritz

0,0

Beschreibung

"Auf der Suche nach den Schmetterlingen" ist ein Kurzgeschichtenband, der Menschen beschreibt, die auf der Suche nach den großen und kleinen Fragen des Lebens sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 90

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Sabrina und Carina

Inhalt

Alles weiß

Beinahe eine Milonga

Das Statement

Der Stuhlkreis

Die Metamorphose

Gestern war mehr Idylle

Giftige Botschaften

Heimat zu viel

Karaoke für Brisbane

Rolle rückwärts

Soul divide

Alles weiß

Sechs Wochen nach der Beerdigung von Richard begann Elsa, in der Wohnung umherzugehen und gelbe Post-its zu verteilen. Der Herr vom Umzugsunternehmen verzog keine Miene, als er erfuhr, dass jeder Gegenstand, der mit einem gelben Post-it versehen war, in Richards Arbeitszimmer zu verbringen sei. Die Möbel des Zimmers, allesamt aus schwerer Eiche, hatte schon ein alter Freund abholen lassen. Nun wurden die Gegenstände von den Umzugskräften hineingeräumt, welche eine sechzigjährige Sammelleidenschaft dokumentierten. Dazu gehörten neben siebzehn Fotoapparaten aus sämtlichen Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zweiundzwanzig Musikinstrumente - wovon Richard nicht ein einziges hatte spielen können –, fünfzehn Telefone sowie ein Münzfernsprecher. Ferner insgesamt einunddreißig Radios, Tonband- und Schallplattengeräte. Die sieben Bronzefiguren, die aussahen, als seien sie Arno Brekers Werkstatt entsprungen, und zahlreiche Gefäße aus schwerem Silber sowie zwei Landschaftsbilder der Düsseldorfer Schule machten den Raum schließlich derart voll, dass Elsa Mühe hatte, die Flügeltür zu schließen.

Am nächsten Tag klebte Elsa gelbe Post-its auf die Möbel, an denen ihr Herz hing. Es waren zwei Cocktailsessel, die sie nach dem Tod ihrer Eltern übernommen und mit einem Stoff hatte überziehen lassen, der auf hellgrünem Grund Maiglöckchen zeigte, ein Sideboard aus Nussbaum sowie einen Esstisch aus Nussbaum mit schräg montierten, konischen Tischbeinen und vier dazugehörigen Stühlen.

Sie machte Liegeproben in zahlreichen Bettenhäusern und dachte über die Einrichtung eines begehbaren

Kleiderschranks nach. Für den Wohnraum bräuchte sie ein gemütliches Sofa und schlichte Regale. Lampen mochte sie im skandinavischen Stil, am liebsten in Weiß.

Sie dürstete nach Weiß und nach Helligkeit; wegen dieser Tatsache mussten schon die Tüllgardinen samt Kölner Brettern weichen. Eine Freundin hatte ihr eine gebrauchte weiße Küchenzeile geschenkt; so konnte sie sich erleichtert von der Eichenküche mit bleiverglasten Scheiben trennen. Das vor wenigen Jahren renovierte Bad war schon weiß; der einzige Ort, an dem Richard Weiß hatte ertragen können.

Sie ließ die aussortierten Möbel abholen. Einen Tag später begann der Bodenverleger, mattweiß lasierte Landhausdielen zu verlegen.

In dieser Zeit des Umbruchs, deren eindeutiges Dokument das Matratzenlager war, auf dem Elsa nächtigte, standen plötzlich ihre Söhne Thomas und Lukas unangemeldet vor der Tür. Mit einem knappen Gruß eilten sie an ihr vorbei. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ein empörtes „Mutter, was hast du bloß gemacht?“. Wegen des leer geräumten Zimmers hallte die Empörung im Zimmer nach, und Elsa spürte die negative Energie ihrer Söhne noch, als sie langsam ins Zimmer geschlendert kam und sich mit verschränkten Armen an die frisch getünchte Wand lehnte.

„Hätte ich euch vorher Bescheid sagen sollen?“

„Ich habe gestern die Hausmeisterin getroffen. Sie hat mir von diesen Umbauarbeiten erzählt. Mein Gott, es ist so dermaßen pietätlos Vater gegenüber!“

Thomas konnte seine Wut kaum mehr im Zaum halten. Sein Gesicht verfärbte sich. Wie ähnlich Thomas in seinem Zorn doch seinem Vater ist, dachte Elsa, ohne die Wut ihres Sohnes an sich heranzulassen.

„Vielleicht hätten Thomas und ich noch ein Erinnerungsstück von Vater haben wollen“, maulte Lukas, der jüngere Sohn.

„Bitte schön!“ Elsa schloss die Tür des Arbeitszimmers auf.

„Ihr habt noch eine Woche Zeit. Nächsten Sonnabend veranstalte ich hier einen Hauströdelmarkt.“

Thomas schaute sie schockiert an. Lukas ging seufzend durch die engen Reihen des Arbeitszimmers, um sich die Früchte eines langen Sammlerlebens anzuschauen. Dann entschied er, sich eine Hasselblad mitzunehmen, wogegen Thomas zögernd nach einer Bronzefigur griff.

Bevor sie sich verabschiedeten, tranken die Brüder mit Elsa noch einen Kaffee. Beide bemühten sich, die angespannte Stimmung ein wenig aufzulockern; erzählten Anekdoten aus ihrem Arbeitsleben, doch die Ratlosigkeit und der Vorwurf in ihren Gesichtern ließ sie erahnen, dass Thomas und Lukas bei ihr - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt - keine Veränderungen ertrugen.

Elsa hatte viel über ihr vergangenes Leben nachgedacht. Über die Tatsache, dass sie während der letzten zehn Ehejahre ständig überlegt hatte, Richard zu verlassen, und es dann doch nicht getan hatte. Auch dann noch hatte sie am vertrauten Schrecklichen geklebt, als sie ihre Söhne nicht mehr als Grund dafür benennen konnte, warum sie der Lieblosigkeit ihres Ehealltages nicht entflohen war. Lediglich die letzten zwei Jahre, als es für Richard wegen seiner Erkrankung immer schwieriger geworden war, das Haus zu verlassen, hatte es für sie Lichtblicke gegeben. Richard hatte sie als Schachpartnerin akzeptiert. So wenig Elsa vermochte, um ihren Ehemann zu trauern, so sehr trauerte sie um ihren Schachpartner, mit dem sie sich wenigstens beim Spiel auf Augenhöhe befunden hatte.

Sie hatte nie Spiele gemocht, die vom Würfel oder vom Zufall der ausgeteilten Karten abhängig gewesen waren. Sie liebte es, zu taktieren, ihre nachfolgenden Züge und die möglichen Züge ihres Mannes möglichst weit voraus im Blickfeld zu haben, Konzentration sowie Urteilsvermögen zu trainieren und ihre Emotionen beherrschen zu lernen. In den zwei Jahren, in denen sie Richards Schachpartnerin gewesen war, hatte sie ihn fünf Mal schachmatt gesetzt. Richard hatte ihre Siege niemals sofort kommentiert, sondern war mit seinem Rollstuhl wortlos ins Arbeitszimmer gerollt. Am nächsten Tag dann seine Frage, sie hatte sie eher wie eine Aufforderung wahrgenommen, er verstand sie sicher wie eine Auszeichnung: „Wollen wir zusammen meine Fehler analysieren?“

Nach dem erfolgreichen Hauströdelmarkt hatte Elsa begonnen, die Schutzfolie von den neuen Dielen zu reißen. Sie lag jetzt zusammengeballt wie eine Kugel im Flur und wartete darauf, in der gelben Tonne zu verschwinden. Elsa öffnete die Korridortür und trat vor Schreck einen Schritt zurück. „Ups“, sagte das Wesen, das im Hausflur vor ihr stand, es hatte den Arm noch erhoben, um gerade die Klingel zu betätigen, und schien auch ein wenig erschrocken ob der Tatsache, dass es nun vor der Schutzfolienkugel stand, die den direkten Aufprall mit Elsa verhindert hatte. Das Wesen sah aus wie von einem anderen Stern und lächelte sie an. Die Augen grün, tief liegend, irgendwie geheimnisvoll. Frohsinn signalisierten dafür die struppigen Haare, rot wie von Pumuckl. Der rundgeschnittene Pony ließ dem zarten sommersprossigen Gesicht viel Freiraum; ohne ihre bunt tätowierten Arme und Beine hätte sie die Ausstrahlung eines scheuen Rehs gehabt. So aber verliehen die Tattoos der jungen Frau eine gewisse Aggressivität. Die zierliche Figur steckte in einem schwarzen Jumpsuit mit kurzen Beinen, an den Füßen trug sie schwarze Birkenstockschlappen mit roter Sohle.

„’tschuldigung, ich bin Charlotte zu Plessnitz.“

Elsa holte erst einmal tief Luft und legte die Folienkugel erneut auf dem Dielenboden ab.

„Künstlername?“, fragte sie streng.

Das Mädchen lachte. „Nein, kein Künstlername, um genau zu sein, heiße ich Charlotte Freiin zu Plessnitz.“

„Ach, du meine Güte! Ich hoffe, Sie erwarten jetzt keinen Knicks von mir. Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich hörte, Sie haben ein Zimmer zu vermieten.“

„Du liebe Zeit, nein! Wer hat Ihnen denn das erzählt?“

„Eine Frau, die vor dem Haus gekehrt hat. Die meinte, dass Sie zu viele Zimmer für sich alleine hätten.“

Elsa spürte in sich einen Vulkan. Diese blöde Kuh von Hausmeisterin … Doch warum sollte sie das Mädchen mit ihrem Ärger behelligen … die hatte doch nur gefragt.

„Tut mir leid, das ist absurd. Nur weil ich jetzt Witwe geworden bin, muss ich nicht zwangsläufig untervermieten.“

„Nein, natürlich nicht. Tja … dann bitte ich mein Auftauchen hier zu entschuldigen. Hochparterre wäre auch zu schön gewesen …“

Die junge Frau zeigte auf die Folienkugel und bot an, sie mit nach unten zu nehmen und zu entsorgen. Da fiel ihr Blick auf ein kleines Tischchen, das in Elsas Diele stand. Darauf ein Schachbrett mit Figuren: Würfel, Zylinder, Kugel.

„Oh, Sie spielen Schach“, sagte sie und machte einen langen Hals, um die Schachfiguren besser sehen zu können.

„Na, treten Sie schon ein, das sind besondere Figuren“, antwortete Elsa nicht ohne Stolz.

„Wer hat sich die denn ausgedacht?“

„Josef Hartung, 1923 am Bauhaus in Weimar.“

„Sie scheinen aber nicht mehr den kompletten Satz zu haben …“ Das Mädchen trat näher an den Spieltisch heran.

Elsa stellte sich neben sie. „Selbstverständlich existieren noch sämtliche Spielfiguren. Mein Mann hatte sich vor seinem Tod mit einer berühmten Partie beschäftigt und die Figuren dementsprechend aufs Feld gestellt. Wir selbst haben nur mit den üblichen Turnierfiguren gespielt.“

Die junge Besucherin betrachtete konzentriert die verbliebenen Spielfiguren. Dann schaute sie Elsa begeistert an und rief: „Hey, ich hab es! Das ist die Partie Carlsen gegen Karjakin, 2016 in New York. Nach zwei Remis kommt es zur Entscheidung. Karjakin nimmt das Bauernopfer auf e4, und ab da sieht Carlsen seine Chance. Er tauscht die Läufer aus und erobert dann ein wichtiges Feld für seine schwarze Dame im Zentrum des Bretts. Karjakin gibt auf.“

Nein, so etwas, dachte Elsa verblüfft und sprach eine spontane Einladung aus, was ansonsten überhaupt nicht ihre Art war.

„Freiin, besäßen Sie die Freundlichkeit und würden mir bei meiner Teestunde Gesellschaft leisten?“

„Wer mich so formvollendet fragt, dessen Einladung nehme ich gerne an. Nennen Sie mich doch bitte Charlotte.“

„Ich bin Elsa, und ich hätte gleich einmal eine Frage: Warum ist es so erstrebenswert für Sie, im Hochparterre zu wohnen?“

Charlotte folgte Elsa in die Küche.

„Ich studiere an der Musikhochschule Harfe und Gesang. Eine Harfe in den 4. Stock zu schleppen – und ich wohne augenblicklich im vierten Stock -, ist echt heftig.“

„Ach“, sagte Elsa kopfschüttelnd und dann „ach, wie interessant.“ Sie schaute Charlotte versonnen an, und während sie den Tee und das Geschirr auf ein Tablett stellte und Charlotte zum Esstisch ins Wohnzimmer führte, meinte sie: „Sie sind ja quasi ein Gesamtpaket.“

Charlotte stutzte kurz, dann folgerte sie: „Das hört sich ja an, als wollten Sie mich vermarkten.“

„Nicht doch, obwohl … ich könnte es. Ich habe im Marketing gearbeitet. Sie haben gerade aufgedeckt, dass ich die Welt immer noch unter Marketingaspekten sehe.“

Beide nahmen am Tisch Platz, tranken Tee und sprachen über Gott und die Welt, über Charlottes Musikstudium und Elsas Kammerchor, dem sie seit zwanzig Jahren angehörte. Irgendwann begann Elsa, die weißen Rosen, die in einer Kugelvase auf dem Tisch standen, zu richten.

„Alles so weiß hier“, sagte Charlotte und schaute dabei Elsa an, die einen weißen Overall trug.

„Jaja, ich bin weißsüchtig … ein Tick von mir …“, begann Elsa. „Mein Mann war nicht nur von Gestalt ein barocker Mensch. Er liebte die Farbigkeit … deswegen jetzt nach seinem Tod … ach, was erzähle ich Ihnen da. Sie lieben es ja ebenso bunt …“

Elsa verließ den Tisch und öffnete die Flügeltür zum angrenzenden Zimmer. Die grün-goldene Barocktapete sprang ihnen regelrecht entgegen.

„Krass, ein absoluter Gegensatz zu dem Rest der Wohnung!“

Charlotte hielt es nicht auf ihrem Sitz. Sie lief in den leeren Raum und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tapete.

„Ach, liebe Elsa, ich hätte eine Bitte: Dürfte ich einmal mit meiner Harfe kommen und Sie machten ein Foto von uns vor dieser Tapete?“

Elsa ließ sich von Charlottes Begeisterung anstecken.