Was macht die Sehnsucht, wenn sie bleibt? - Bruny Fritz - E-Book

Was macht die Sehnsucht, wenn sie bleibt? E-Book

Bruny Fritz

4,9

Beschreibung

Zwölf Geschichten, die von unterschiedlichsten Sehnsüchten erzählen. Da ist z.B. Alma, die sich nach ihrem Vater sehnt; ihrer ersten großen Liebe. Gisela, die so gerne die Freundin ihrer Tochter wäre, oder Frau Winterbohm, deren Sehnsucht ein Leben ohne Gewalt und Schmerzen ist. Die erfolgreiche Hanna sehnt sich danach, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben und der sechzig Jahre alte Udo sehnt sich in die Kindheit zurück. Sehnsucht kann man nicht abstellen, sie versteckt sich bisweilen oder äußert sich auf bizarre Weise. Wir können uns vor Sehnsucht verzehren, wir können aber auch nach Mitteln und Wegen suchen, das Begehrte zu erreichen. Sehnsucht kann uns antreiben, wichtige Entscheidungen zu treffen, um unserem Leben eine neue Richtung zu geben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 130

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Reinhard

Inhalt

Echte Kerle

Lenis Wochenende

Die Magie von Kolumba

Tomatenliebe

Die schwarzen Männer

Wie schön sie ist

Das alles so bleibt

Durchgeknallt

Die Jagd ist auf

Frau Winterbohms Besuch im Himmel

Der eine Moment

Trolldomland

Sehn sucht sinn – verloren im substrat – von einerlei – all guten tag – war nicht alpen – traum – war real

Bruny Fritz

Echte Kerle

Alma war gerade 16 Jahre alt, als sie ihn im Frühjahr 1967 entdeckte.

Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie seine Stimme im Radio hörte.

Heiser. Am Ende des Satzes ging die Stimme nicht nach unten, sondern sie hob noch einmal an. So hatte auch die Stimme ihres Vaters geklungen. Es war ihr, als hörte sie die Stimme ihres Vaters, der zwei Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Damals begann sie alles, was sie an Zeitungsartikeln über Rudi Dutschke fand, auszuschneiden und in ein Album zu kleben.

In ihrer Studentenzeit bewegte sie sich in linken Gruppierungen; nicht zuletzt, weil sie davon überzeugt war, dort die echten Kerle zu finden.

Als Dutschke Heiligabend 1979 seine letzten Atemzüge in der Badewanne tat, war ihre Trauer so groß, dass sie sich weigerte, Weihnachten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie hatte nach ihrem Vater einen zweiten Helden verloren.

Am frühen Morgen des 11. Septembers 2001 stieg Alma in ihr Cabrio, um die knapp dreihundert Kilometer nach Bad Brodstedt zu ihrer Freundin Sybil zu fahren. Es gäbe etwas zu besprechen, das keinen Aufschub dulde, hatte Sybil am Telefon gesagt.

Alma kannte Sybil seit dem Studium. Sie gründeten damals eine WG, in die nach wenigen Monaten Peter, Sybils späterer Ehemann einzog.

Alma erinnerte sich, wie wichtig ihr es gewesen war, die Freundschaft zu Sybil und Peter wieder aufzufrischen. Sie hatte viele Jahre im Ausland gearbeitet. Über diesen Zeitraum hielt sie einen losen Briefkontakt zu Sybil. Ehrlicherweise musste sie eingestehen, dass es ihr letztlich nur um Peter gegangen war; Peter, den sie nicht vergessen konnte.

Alma hatte nie verstanden, warum Peter sich nicht für sie entschieden hatte. Als er nach so vielen Jahren vor ihr stand, wusste sie sofort: Er war ihr Kerl. Zumindest war er seit diesem Tag wieder ständiger Gast ihrer Gedanken, Träume und Visionen. Diese Härte, die er ausstrahlte, ja auch diese gewisse Kälte war das, was sie bei Männern suchte. Fast schon trivial fand sie dagegen seine äußere Attraktivität: groß, muskulös, ganz kurz rasierte blonde Haare, Dreitagebart – ein Nachfahre der Wikinger. Wenn sie zu Besuch kam, fieberte sie Peters Begrüßungsritual entgegen. „Hallo, du Schöne“, hauchte er ihr ins Ohr, gefolgt von einem Küsschen links, einem Küsschen rechts. Ganz schnell schnupperte er dann an ihrem Hals, seine grau-blauen Augen fixierten sie mit kühlem Blick. Dabei tat er so, als bemerke er nicht, wie sie dahinschmolz.

Alma hatte das Autobahnkreuz mit der größten Staugefahr hinter sich gelassen. In der Septembersonne stieg das Thermometer trotz des frühen Morgens auf zwanzig Grad. Sie hielt auf einem Parkplatz an, um das Verdeck des Wagens hinunterzurollen und ihr seidenes Kopftuch umzubinden. Sie kreuzte es vorn am Hals und schloss es dann im Nacken. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie Rast machende Lkw-Fahrer sie beobachteten. Für die ließ sie den Motor beim Starten ihres Sportwagens aufheulen, um dann wieder auf die Autobahn einzuscheren. Die Strecke war Alma vertraut; das Auto schnurrte die Kilometer nur so herunter und kurz vor Bad Brodstedt hielt sie an einem Blumenladen an. Sie wählte Sybils Lieblingsblume aus; eine schneeweiße Calla. Während die Floristin diese mit etwas Grün zusammenband, musterte sie Alma mit strengem Blick.

„Wie kann man sich bloß eine Totenblume ins Zimmer stellen.“

Alma reagierte keineswegs schnippisch, wie es vielleicht sonst ihre Art gewesen wäre.

„Ach, dann ist die Lieblingsblume meiner Freundin eine Totenblume?

Wissen Sie eine Geschichte dazu?“

„Was soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Gehen Sie doch mal auf den Friedhof und schauen Sie, was dort in den Kränzen steckt.“

„Danke für den Tipp“, meinte Alma schnell und verließ den Laden. Ihr war kalt und sie fühlte sich unbehaglich. Sie lehnte sich für einen Moment an das von der Sonne aufgewärmte Auto und schloss die Augen. Sie sah Sybil in einem Meer von Callablüten liegen. Tote Augen starrten sie an.

Alma schüttelte sich kurz, bevor sie in ihr Auto stieg. „Alma, Mädchen, du bist überspannt“, sprach sie zu sich selbst.

War das ihr schlechtes Gewissen, dass sie nun schon Bilder ihrer toten Freundin im Kopf hatte? Alma hatte sich bis jetzt nicht schlecht dabei gefühlt, in Gedanken ihrer Freundin den Mann wegzunehmen. Sie konnte sich ebenso vorstellen, ihn mit Sybil zu teilen. Eine Menage- à-trois halt. Alma lächelte in sich hinein. Die Gedanken sind frei und vielleicht würde es den beiden helfen, ihre angespannte Beziehung zu lockern, überlegte sie und glaubte in diesem Augenblick selber daran, dass Altruismus die einzige Triebfeder ihrer Idee wäre.

Sybil sprach selten über ihre Ehe. Deswegen hatte Alma aufgehorcht, als sie vor einigen Monaten damit begann, äußerst bizarre Bemerkungen über ihre Partnerschaft in die Gespräche einzustreuen. Einmal tat sie nach einigen Gläsern Rotwein so, als sei sie Opfer einer Verschwörung.

Es wäre ja wohl kein Zufall – sie rückte ganz nah an Alma heran –, dass sie ausgerechnet in der Albert-Einstein-Straße wohne. Einstein hätte seine Frau nämlich ebenso niederträchtig behandelt, wie sie sich von Peter behandelt fühlte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Alma erstmalig das Gefühl, dass mit ihrer Freundin etwas nicht in Ordnung sei. Ein paar Wochen später – Alma wollte gerade nach Hause fahren – begann Sybil zu weinen.

„Du musst heute bei mir bleiben. Ansonsten droht mir das Gleiche wie Martha“, schluchzte sie.

„Um Himmels willen, wer ist denn Martha und was ist mit ihr geschehen?“, fragte Alma daraufhin besorgt.

Sybil erzählte ihr von einem Fassbinder-Film, in dem die Protagonistin namens Martha von ihrem Ehemann aufs Perfideste gequält wurde.

Alma versprach ihr, diesen Film unbedingt anzuschauen; doch es blieb ein Versprechen, das sie bislang nicht eingelöst hatte.

Immer wieder begann Sybil Gespräche über Partnerwahl.

„Sag mal, Alma, welchen Einfluss hatte dein Vater auf die Auswahl deiner Männer?“

„Ich versuchte immer solch einen Mann zu finden, wie mein Vater einer war“, hatte Alma ehrlich geantwortet. Weiteres hatte sie nicht preisgegeben. Ihre Freundin sollte nichts von den sehnsüchtigen Gedanken erfahren, die ihrem toten Vater galten. Er war sehr streng mit ihr gewesen, doch jede körperliche Züchtigung wurde ihr anschließend mit Schmuseeinheiten versüßt. Sie hatte ihren Vater ebenso gefürchtet wie sie ihn abgöttisch geliebt hatte.

Alma war im Zentrum von Bad Brodstedt angekommen, als sie im Rückspiegel plötzlich nur noch Blaulicht sah. Martinshörner gellten durch die Allee. Fast schmerzhaft fühlte sie sich aus ihren Gedanken gerissen. Zwei Polizeiautos sowie ein Notarztwagen drängten sie rechts an den Bordstein. Alma ließ ihr Auto in eine Parklücke rollen, stieg aus und entschied sich, an diesem sonnenverwöhnten Septemberdienstag, den Weg durch den Park zu Sybils Haus zu nehmen.

Alma wusste, dass sie mit ihrer androgynen Erscheinung viele Blicke auf sich zog. Obwohl sie bald fünfzig wurde, besaß sie die Körperspannung einer Dreißigjährigen. Ihr herzförmiges Gesicht, das fast kindlich wirkte, bildete einen starken Kontrast zu den raspelkurzen grauen Haaren. Während sie durch den Park schlenderte, genoss sie die bewundernden Blicke der Menschen, die ihr entgegen kamen. Dort, wo der Parkweg in die Albert-Einstein-Straße mündete, stockten ihre Schritte. Sie fröstelte. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf und gleichzeitig war da diese unbestimmte Ahnung, dass sie am Morgen nicht auf den Wecker hätte hören sollen, sondern sich stattdessen besser unter dem Plumeau verzogen hätte. Nach kurzem Zögern betrat sie dann die Albert- Einstein-Straße, die längste Straße im Franzosenviertel, wie dieses Wohngebiet im Volksmund immer noch hieß. Nach dem ersten Weltkrieg war es für die französischen Offiziere erbaut worden; in den Sechzigerjahren wurden die Häuser verkauft.

Vom Denkmalamt gab es strenge Auflagen, was das äußere Erscheinungsbild anging. Die Häuser mit ihrem pastelligen Putz, mit ihren weißen Klappläden, erinnerten Alma an hübsch verpackte Bonbons. Die Eingangswege zierten niedrige Buchsbaumhecken, die einen Blick in die Gärten freigaben. Eine Reminiszenz an die Zeit nach dem ersten Weltkrieg schienen auch die mit weißem Kies bedeckten Wege zu sein. Alma beobachtete beim Vorbeigehen ein Mädchen, das selbstvergessen auf den Kieseln saß und einzelne Steine in ein Eimerchen zählte. Ein paar Häuser weiter harkte ein alter Mann die Wege zwischen den Rosenbeeten. Kein Unkraut störte hier den Blick.

Hier ist die Welt noch in Ordnung, dachte Alma, doch als sie die Kurve an der Albert-Einstein-Straße passiert hatte, wusste sie, dass nichts mehr in Ordnung war.

Rot-weiße Flatterbänder versperrten den Zugang zu Sybils Villa. Davor standen Polizeiautos mit flirrendem Blaulicht und eine gaffende Menschenmenge, die versuchte, hinter die Absperrungen zu kommen.

Alma sah das Blitzlichtgewitter der Reporter. Sie hatte Angst vor dem, was sie dort gleich erwarten würde. Sie schob sich ein Stück Traubenzucker in den Mund, und ließ ihn auf der Zunge zergehen. Sie stellte sich vor, wie sich das süße Pulver auf den Weg durch ihre Adern machte. Es half ihr aber nicht dabei, Haltung zu bewahren. Sie schaffte es nicht, ihre Schultern zu straffen; sie hielt lediglich die Calla wie ein Schutzschild vor ihrer Brust und steuerte auf einen Polizisten zu, der jedem ihrer Schritte so entgegensah, als ob er sie erwartet hätte.

„Sind Sie Alma?“, begrüßte er sie und sprach anschließend leise in ein Walkie-Talkie.

„Es kommt jetzt jemand zu Ihnen, der mit Ihnen sprechen wird und Ihnen ein paar Fragen stellen muss.“

Der Polizist sah sie mitfühlend an und schob sie hinter einen an der Straße stehenden Transit, um sie vor dem Blitzlichtgewitter der lauernden Reporter zu schützen. In diesem Augenblick glitt ein langes, elegant aussehendes, schwarzes Auto die Straße entlang, ganz so als suche es noch sein Ziel. Alma schaute ihm zuerst interessiert entgegen; sie begriff nur langsam. Dann aber erschrak sie selbst vor der Urgewalt ihres Schreies.

Zwei starke Arme packten sie und hoben sie in einen Mannschaftswagen der Polizei. Almas Schrei hatte sich in ein Wimmern verwandelt, der Fremde wartete eine Weile, bis er sie ansprach.

„Mein Name ist Kommissar Reiniger“, Ihnen ist offensichtlich klar, dass etwas Schreckliches geschehen ist.“

Alma hörte, dass Reiniger zu ihr sprach, doch sie verstand nichts. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen; es kam nur ein undefinierbarer Laut heraus. Dann begann sie Reiniger zuzuhören, ihr Gehirn verband in winzigen Schritten die einzelnen Worte und langsam, ganz langsam verstand sie die Bedeutung. Sie erfuhr, dass Sybil tot war. Sie schnappte nach Luft, begann zu husten, dann zu würgen, bis ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

Reiniger redete und redete. Er reihte weiter Wort an Wort aneinander, als Alma längst ihre Ohren verschlossen hatte. Wieso war Sybil tot? Sie hatten doch gestern noch miteinander gesprochen. Wer kümmerte sich nun um Peter? Das war doch ihre Chance! Peter bräuchte sie jetzt! In ihr jubilierte ein Lied mit nur einer Textzeile:

Dieser Kerl gehört jetzt mir, dieser Kerl gehört jetzt mir, dieser Kerl gehört jetzt mir …

Erst als Reiniger davon sprach, dass ein Kollege sie in die Kreisstadt bringen würde, schenkte Alma ihm wieder ihre Aufmerksamkeit.

„Wieso, was soll ich da, was wollen Sie von mir?“

„Aus den Aufzeichnungen der Toten geht hervor, dass Sie von ihr erwartet wurden. Wir müssen Ihre Aussage protokollieren.“

„Und der Peter, wo ist der Peter?“

„Keine Sorge, um den kümmern sich Ärzte.“

Danach weigerte sich Reiniger, ihr noch irgendeine Frage zu beantworten.

Nach der Befragung hatte sich Alma wieder nach Bad Brodstedt bringen lassen. Sie stand auf dem Balkon ihres Hotelzimmers. Sie hatte es angemietet, um am nächsten Tag der Polizei für weitere Ermittlungen zur Verfügung zu stehen. Obwohl es ein lauschiger Abend zu werden versprach, waren die Wege im Kurpark merkwürdigerweise menschenleer. Die Laternen flackerten in der Dämmerung und beleuchteten die wenigen Autos vor dem Kasino. An einem anderen Abend hätte sie vielleicht auch ein paar Jetons gesetzt, doch heute reichte es an Nervenkitzel. Der Whiskey in ihrer Hand sollte Entspannung verschaffen. Sie musste jetzt ganz ruhig und kühl über all das nachdenken, was sie von der Kripo erfahren hatte, es aber vor allen Dingen richtig einordnen.

Die Haushälterin von Sybil und Peter hatte morgens in dem völlig zertrümmerten Wohnzimmer Peter auf dem Teppich vor dem Kamin vorgefunden. Er hatte auf sie einen verwirrten Eindruck gemacht.

Zahlreiche leere Weinflaschen lagen auf dem Boden herum. Dann fand sie Sybil tot auf ihrem Bett liegend. In Panik hatte sie vom Fenster aus um Hilfe gerufen. Nachbarn verständigten den Krankenwagen und die Polizei. In der Zwischenzeit hatte Peter sich mit einem Küchenmesser Verletzungen zugefügt. Die Polizei veranlasste seine Einweisung ins Krankenhaus. Der Polizeiarzt vermutete bei Sybil Tod durch Erwürgen.

Eine Obduktion sollte allerdings noch Klarheit bringen. Auf einem Beistelltisch fand man einen aufgerissenen DIN-A4-Umschlag, auf dem mit Filzstift „Alma“ geschrieben stand. In dem Umschlag lagen herausgerissene Buchseiten, auf denen bestimmte Zeilen mit Textmarker angestrichen waren, sowie ein an sie gerichtetes Anschreiben. Alma stellte ihr leeres Whiskeyglas auf den Boden, um in ihrer Tasche nach Sybils Brief und den Aufzeichnungen zu suchen. Sie zog den Brief aus dem Umschlag und las: „Liebe Alma, ich sehe keinen anderen Ausweg, als mein Zuhause zu verlassen. Wenn ich mich sicher fühle, bekommst du ein Lebenszeichen von mir. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass du dich von Peter angezogen fühlst. Ich warne dich, lass dich nicht von ihm einwickeln! Er ist hochgradig gestört! Bleibe mir in Freundschaft verbunden! Deine Sybil“

Wie im richtigen Leben setzt sie auch hier zu viele Ausrufezeichen, dachte Alma und schaute sich erneut die herausgerissenen Buchseiten mit den Markierungen an.

„Der narzisstisch Perverse liebt die Kontroverse.“

„Wenn du den anderen destabilisieren willst, sende paradoxe Botschaften.“

„Der narzisstisch Perverse braucht deine positive Energie. Du gibst ihm damit die Möglichkeit, sich zu erneuern. Sozusagen als Dank bekommst du seine gesamte negative Energie.“

„Der Perverse möchte erreichen, dass seine eigene Boshaftigkeit in den Normalzustand verwandelt wird. Er versucht, dem anderen das einzuimpfen, was in ihm selbst an Bosheit ist.“

Schon als sie diese markierten Sätze im Polizeipräsidium zum ersten Mal gelesen hatte, war es aus ihr herausgeplatzt:

„Was soll das? Klagt sie hiermit Peter an, ihren Ehemann? Sie kennt ihn seit dreißig Jahren!“

Dann war ihr etwas eingefallen. „Sie hatte ja schon länger diese paranoiden Anwandlungen …“

Dem verhörenden Kommissar, der fragend seine Augenbraue hob, erzählte sie dann von der merkwürdigen Angst, die die Tote in den vergangenen Monaten entwickelt hatte.

„Nun“, hatte der Kommissar gekontert, „ich könnte die markierten Sätze auch so interpretieren, dass der Ehemann persönlichkeitsgestört ist und seine Ehefrau seelisch traktiert hat.“

„Niemals, wieso ist sie dann bei ihm geblieben?“ entfuhr es Alma.

Der Kommissar hatte gar nichts mehr gesagt. Während er auf einem Stift kaute, rollte er mit seinem Bürostuhl vor und zurück und fixierte Alma eindringlich. Zu Beginn ihrer Zeugenaussage hatte Alma noch geglaubt, er sei der gute Cop. Doch als er sie so wortlos anstarrte, glaubte sie, Messer in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Er hatte überhaupt keine Eile zu sprechen.

„So, so, niemals“, wiederholte er nachdenklich.

Schwerfällig war er von seinem Stuhl aufgestanden und ganz nah an Alma herangetreten. Sie hatte seinen leicht säuerlichen Atem riechen können. Nachdem er sie abermals für einige Sekunden wortlos fixiert hatte, war er zum Fenster gegangen, hatte es geöffnet und dabei fast beiläufig gemurmelt:

„Heute ist Ihre langjährige Freundin getötet worden. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass Sie darüber kein bisschen traurig sind.

Oder irre ich mich da?“

„Was würde meine Trauer für Sie ändern?“, war ihre Replik gewesen.

Alma wusste ab diesem Zeitpunkt, dass sie den Kommissar nicht leiden konnte. Der sollte sich die Zähne an ihr ausbeißen. Doch der Kommissar tat so, als ob er ihre Gegenfrage nicht gehört hatte.