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Lernen vom Profi: Hasnain Kazim zeigt, wie man Paroli bietet
Man muss sich wirklich nicht alles sagen lassen! Mit seinem neuen Buch macht Bestsellerautor Hasnain Kazim Lust darauf, sich mal wieder richtig zu fetzen. Viele begeisterte Leser von »Post von Karlheinz« wissen, wie unterhaltsam und gewinnbringend die heftigen Auseinandersetzungen sein können, die Kazim ständig führt, nun gibt er auf vielfachen Wunsch konkrete Tipps fürs richtige Streiten. Dabei darf es gerne laut, hart und lustig zugehen: Hauptsache, man hat die richtigen Argumente parat, um dumpfem Hass und platten Parolen Einhalt zu gebieten. Eine dringend benötigte Anleitung für all die Diskussionen, denen wir sonst lieber aus dem Weg gehen – und verdammt unterhaltsam noch dazu.
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Seitenzahl: 255
HASNAIN KAZIM, 1974 als Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer in Oldenburg geboren, ist Journalist und lebt als freier Autor in Wien. Von 2004 bis 2019 arbeitete er für SPIEGEL ONLINE und den SPIEGEL, seit 2009 als Auslandskorrespondent u.a. in Pakistan, der Türkei und Österreich. Für seine Berichterstattung wurde er als »Politikjournalist des Jahres« geehrt und mit dem »CNN Journalist Award« ausgezeichnet. Er ist ein gefragter Diskussionspartner und Autor mehrerer Bücher, darunter Grünkohl und Curry, Plötzlich Pakistan und Krisenstaat Türkei. Das Taschenbuch Post von Karlheinz (Penguin 2018), das seine Dialoge mit wütenden Lesern versammelt, stand viele Wochen auf der Bestsellerliste.
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Hasnain Kazim
Auf sie mit Gebrüll!
… und mit guten Argumenten
Wie man Pöblern und Populisten Paroli bietet
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Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: Hafen Werbeagentur
Typografie und Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25315-8V002
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In Erinnerung an meinen Vater Hasan Kazim (1941 – 2019), der ungern stritt, mich aber in meinem Streiten unterstützte
Zum Einstieg: Warum wir (mehr) streiten müssen
Streit braucht Regeln Oder: Warum ich Boris Palmer nicht Herrn Schnoggiwoggl nenne
Streit braucht ArgumenteOder: Warum Meinung ohne Fakten Mist ist
Streit darf auch Spaß machenOder: Wie ich Erika B. ein Abonnement andrehte
Wenn Streiten nicht mehr hilft Oder: Warum Ausgrenzen und Ächten manchmal die einzige Lösung ist
Zum Schluss: Wofür wir streiten müssen
Ein Wort des Dankes
»Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.«
Talmud
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Katholiken holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Katholik. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.«
Martin Niemöller, Präsident der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau (1892–1984)
»Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens bis 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. (…) Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus.«
Erich Kästner (1899–1974)
»Ich bin ein Mensch, der von der Kommunikation kommt, den Dialog und die Streitkultur liebt. Aber ich habe für mich eine Entscheidung getroffen: Die Gräben müssen tiefer sein. Die Gräben müssen unüberwindbar sein. Es muss eine klare Ausgrenzung geben: Ich will nichts mit dir zu tun haben! Ich will auch nicht mit dir sprechen, weil ich gelernt habe, dass Diskussion und Dialog null Komma null Chancen haben. Ich würde gerne sagen: Ich hole euch zurück. Aber: Ich sehe keine Chance. (…) Das einzig wirksame Mittel gegen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit ist ein Nicht-Mitmachen und ein Sich-Verweigern.«
Peter Fischer, Präsident von Eintracht Frankfurt
Wir leben in Zeiten, in denen Extremisten an Einfluss gewinnen. Rechtsextremisten, Faschisten und Neonazis hier, Islamisten dort. Viele dieser Leute nennen wir verharmlosend Populisten. Sie bieten vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme, gewinnen auf diese Weise Wahlen, stellen Abgeordnete, machen sich demokratische Strukturen zunutze, um die Demokratie auszuhöhlen. Sie setzen die Agenda, regieren in manchen Ländern mit, stellen in einigen gar den Regierungschef, und stets vergiften sie das Klima in einer Gesellschaft.
Es ist erschreckend normal geworden, andere Menschen auszugrenzen. Um das eigene Wir-Gefühl zu stärken, um Menschen herabzuwürdigen, um sich selbst zu erhöhen. Wer in Deutschland etwas gegen die AfD sagt, wird als »antideutsch« hingestellt, ähnliche Erfahrungen machen Kritiker der FPÖ in Österreich. Wer sich hingegen menschenverachtend und rassistisch äußert, wer seine – verlogene – Argumentation auf »alternativen Fakten« aufbaut, wer sich selbst über das Recht und damit Rechtsstaatlichkeit in Frage stellt, wer bisweilen Religion als Machtinstrument missbraucht (»Blasphemie! Ungläubige!«) und sich selbst als »das Volk« definiert, indem er andere nach Gutdünken ausgrenzt, kommt damit davon und wird von manchen sogar dafür gefeiert.
Nicht nur manche Politiker reden so, auch Rechtspopulisten, Rechtsextremisten, Neonazis sowie ihre Anhänger, die oft nur Mitläufer sind. Und obwohl sie alle, gesamtgesellschaftlich gesehen, lediglich eine Minderheit darstellen, geben sie den Ton an, bestimmen die Debatte und erhalten große Aufmerksamkeit.
Oft genug wird behauptet, bei Menschen, die solche Haltungen vertreten, handele es sich um »besorgte Bürger«, um »Leute, die angstvoll in die Zukunft blicken«, die also nur »ihrem Unmut Ausdruck verleihen«. Man solle sie »ernst nehmen«, »den Dialog suchen«, ihnen »Respekt entgegenbringen«, und das alles bitte schön »auf Augenhöhe«. Was da unausgesprochen mitklingt: Wir sollten ihre Ansichten endlich akzeptieren, sie als »Teil des Meinungsspektrums« hinnehmen, selbst wenn wir sie nicht teilten. Schließlich seien ihre Meinungen ja nicht verboten und die Abgeordneten »demokratisch gewählt«!
Dass es sich um herablassende, feindselige, menschenverachtende, rassistische und oft abgrundtief dumme Äußerungen handelt, wird geflissentlich überhört. »Sie meinen es doch nicht so«, heißt es dann gelegentlich. Ebenso vernimmt man hier und da Zustimmung: »Endlich sagt’s mal jemand!«, oder: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!«
Schluss damit!
Ich möchte nicht, dass solche Leute in unserer Gesellschaft den Ton angeben! Ich möchte, dass wir uns ihnen entgegenstellen! Ich ermutige dazu, sie politisch zu bekämpfen! Ich fordere zum Streit auf!
Denn das, was wir erleben, ist nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern in erster Linie eine moralische Krise. Sie ist, geprägt von einer immensen Verachtung der Wahrheit, eine Gefahr für uns alle. Die distanzierte Analyse alleine, die sich nicht einmischt, die nicht Einhalt gebietet und Konsequenzen folgen lässt, wird uns nicht retten. Wenn wir uns diesen Leuten nicht stellen – und entgegenstellen –, wenn wir keinen Widerstand leisten, sondern den Streit meiden, wird sich unsere Gesellschaft noch stärker verändern, als sie es in den letzten Jahren bereits getan hat. Wir mögen gegen Hass und Menschenverachtung sein, aber wenn wir schweigen, wenn sich jemand rassistisch, fremdenfeindlich, demokratieverachtend äußert, werden solche Haltungen gewöhnlich, sie dringen immer tiefer in immer mehr Köpfe ein, sie werden akzeptiert, bestimmen erst unsere Gedanken und schließlich unser Handeln.
Ich bin überzeugt, dass nur Widerstand, der Konsequenzen hat, hilft. Ich ermutige dazu, sich aufzulehnen gegen diejenigen, die Chaos heraufbeschwören, Freiheiten beschneiden und unsere Art zu leben zerstören wollen.
Es ist nicht so, dass ich mich gerne streite. Ich habe mir dieses Thema nicht selbst ausgesucht, sondern bin, allein aufgrund meiner dunkleren Hautfarbe und meines fremd klingenden Namens, im Laufe meines Lebens immer wieder ins Kreuzfeuer geraten. Ich musste den Streit nie suchen – er hat mich, meist ungewollt, gefunden. Ich brauchte nur eine Reisereportage zu veröffentlichen, und schon bekam ich Post, in der sich Leser darüber beschwerten, was mir »Ausländer« einfiele, »den Deutschen« erzählen zu wollen, wie oder wohin sie reisen sollten. Als Journalist und Autor stand und stehe ich in der Öffentlichkeit, und wenn ich schon wegen banaler Themen angefeindet werde, dann kann ich auch über wirklich kritische, politisch relevante Dinge schreiben, dachte ich mir – streiten muss ich mich so oder so. Ich berichtete als Korrespondent aus vielen islamischen Ländern, lebte jahrelang in Pakistan und in der Türkei, zog später nach Österreich, wo ich bis jetzt lebe – und stritt und streite mich mit Islamisten, religiösen Fanatikern, Taliban, Erdoğan-Anhängern ebenso wie mit Rechtspopulisten, Rechtsextremisten und Neonazis.
Ich habe gelernt, dass es notwendig ist, sich dem Streit zu stellen und ihn nicht zu meiden. Und dass wir keineswegs nur passiv sein dürfen. Wir müssen nicht nur streiten, wenn wir angegriffen werden, sondern müssen von uns aus die Auseinandersetzung suchen, wenn wir unsere Werte, unsere offene, liberale Gesellschaft in Gefahr sehen. Denn es geht um etwas. Ich habe in mehreren Ländern erlebt, was geschieht, wenn man schweigt, anstatt zu streiten: Mühsam erkämpfte Freiheiten werden wieder beschnitten, Autoritarismus macht sich breit, extremistische Ideologien gewinnen immer mehr Anhänger. Und ich habe gelernt, dass Streit konstruktiv geführt werden kann, dass man Streiten durch Übung erlernen kann – und dass man dabei durchaus Spaß haben kann.
Seit dem Erscheinen meines Buches »Post von Karlheinz. Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte« im Jahr 2018 schreiben mir immer wieder Leser, dass sie dankbar sind für die vielen Beispiele, wie ich mit Pöblern und Populisten umgehe. Sie teilen mir mit, sie würden meine Antworten als Vorlage für eigene Auseinandersetzungen nutzen. »Toll, wie Sie das machen! So mache ich das künftig auch!«, lässt mich eine Politikerin wissen.
Halt!
Stopp!
Ja, ich suche den Dialog mit diesen Leuten, streite mich mit ihnen, gehe mit ihnen oft hart ins Gericht. Und nicht selten nehme ich sie auf den Arm, bin ironisch, manchmal zynisch, bisweilen böse, und ja, ich mache mich über die eine oder den anderen auch lustig. Ich bin überzeugt, dass das für mich der richtige Weg ist. Aber meine Antworten sind nur ein Beispiel, wie man es machen kann. Es gibt andere Wege, die ebenso gut sein können. Das antworte ich denen, die meine Streitgespräche als Musterbeispiele auffassen.
Doch natürlich freut es mich, wenn meine Art der Auseinandersetzung andere dazu anstiftet, sich mehr zu streiten. Denn wir müssen reden! Unbedingt! Auch über heikle Themen. Über Dinge, von denen wir sonst denken: Ach, schweigen wir lieber darüber, sonst hängt der Haussegen schief! Aber was wäre schlimm daran? Streit ist nichts Schlimmes, im Gegenteil, er tut gut, bringt uns weiter, erdet uns. Man lässt Dampf ab und sieht Dinge in neuem Licht, in einer anderen Perspektive. Streit verbindet. Man ignoriert den anderen nicht einfach, sondern setzt sich mit ihm, seinen Meinungen, Ansichten und Gefühlen auseinander. Man nimmt ihn wahr und investiert Zeit und Energie in den Austausch mit ihm. Und man selbst lernt, sich mit Haltungen auseinanderzusetzen, die sich deutlich von den eigenen unterscheiden. Am Ende eines Streits steht vielleicht sogar eine Lösung, mit der alle einverstanden sind. Ein gutes, friedliches Miteinander lebt von Kompromissen, weil Menschen nun mal unterschiedlich sind in ihren Vorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Ansichten. Im Streit erreicht man Kompromisse.
Das setzt jedoch eine gewisse Streitkultur voraus. Es verlangt, dass wir wissen, wie man richtig streitet. Das ist gar nicht so einfach. Muss es immer sachlich sein? Mit Argumenten unterfüttert? Darf man beleidigen? Beschimpfen? Polemisch sein? Und wann verliert ein Streit seinen Sinn? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, das Gespräch, die Debatte, die Auseinandersetzung abzubrechen? Darf man Leute ausgrenzen? Sie ignorieren, ihnen den Dialog gar von vornherein verweigern?
Um solche Fragen soll es in diesem Buch gehen. Es sind Erfahrungen und Überlegungen, die aus meinen langjährigen Auseinandersetzungen mit Leuten entstanden sind, die sich um kulturelle Veränderungen sorgen oder Angst vor dem Verlust ihres Wohlstands haben, Diskussionen mit Politikverdrossenen, Medienkritikern und »Früher war alles besser«-Gläubigen, aber auch mit Rechtsextremisten und Islamisten, mit Neonazis und Taliban-Anhängern, mit »Es war nicht alles schlecht unter Hitler«-Leuten und »Erdoğan ist der beste Führer, den die Türkei je hatte«-Typen.
Im Streit mit dieser Sorte Mensch stoßen viele, die für unsere Werte, unsere Grundrechte, unsere Demokratie einstehen wollen, auf ein Problem: Viele Dinge sind uns so selbstverständlich geworden, dass uns die Argumente fehlen, sie zu verteidigen. Wir haben verlernt zu streiten. Deshalb haben Extremisten und Populisten so leichtes Spiel. Sie sagen zum Beispiel Sachen wie: »In Deutschland gibt es keine Meinungsfreiheit mehr!!!!«, und weil uns so selbstverständlich geworden ist, dass es bei uns Meinungsfreiheit gibt, wissen wir gar nicht, wie wir dagegenhalten sollen – oder ob wir es überhaupt müssen. Uns fällt nicht ein zu sagen, dass das Quatsch ist und jeder sagen kann, was er denkt, aber dass Meinungsfreiheit selbstverständlich nicht einschließt, andere Menschen zu beleidigen oder zu bedrohen, und dass Meinungsfreiheit schon gar nicht Widerspruchsfreiheit oder ein Recht auf Gehör bedeutet.
Selbstverständlich bedeutet Meinungsfreiheit, auch mit Meinungen konfrontiert zu werden und sie aushalten zu müssen, die man nicht mag. Rassismus und Menschenverachtung jedoch sind keine Meinung. Menschen zu beleidigen, zu bedrohen, ihnen die Vergewaltigung oder den Tod zu wünschen, ist keine Meinung. Wer in Frage stellt, dass Menschenrechte für alle gelten, wer Tatsachen als »Fake News« diskreditiert und Lügen als »alternative Fakten« salonfähig macht, wer Zweifel an der Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse sät, indem er nicht ebenfalls auf wissenschaftlicher Basis das Gegenteil beweist, sondern nur »Stimmt nicht! Glaube ich nicht!« schreit, wer Menschen anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer sexueller Orientierung, anderer Art zu leben abwertet und sich selbst über sie stellt, wer so redet und, erst recht, wer so handelt, muss Widerstand zu spüren bekommen.
Viel zu viele Menschen schweigen immer noch. Vielleicht, weil sie insgeheim genauso denken. Oder weil ihnen das Thema egal ist. Oder weil ihnen die Argumente fehlen. Oder weil sie Angst haben, selbst zum Ziel des Hasses zu werden, wenn sie sich einmischen. Natürlich, wer nichts sagt, sagt zunächst einmal auch nichts Falsches. Das ist sehr bequem. Aber wer schweigt, obwohl es dringend geboten wäre, etwas zu sagen, macht sich mitschuldig.
Die Idee, eine Art Anleitung zum richtigen Streiten zu verfassen, kam mir auch, weil selbst gestandene Journalisten und Politiker sagten, sie wüssten nicht, wie sie mit all dem Hass, der über sie ausgekübelt wird, umgehen sollen. Wir alle müssen wieder lernen zu streiten, leidenschaftlich, engagiert, begeistert, enthusiastisch. Und wir müssen unsere Argumente kennen und schärfen. Streit ist fruchtbar, er sollte nicht als etwas Negatives verstanden werden, auch wenn er stört, denn ja, er soll stören! Und wenn wir mit Extremisten und Populisten streiten, dann nützt es nichts zu wissen, dass die besseren Argumente auf unserer Seite stehen – wir müssen diese besseren Argumente auch besser rüberbringen.
Dieses Buch richtet sich an alle, die nach Anregungen suchen, wie man richtig streiten soll, wie man anständig Kritik übt. Und zu kritisieren gibt es derzeit viel. Es richtet sich an all jene, denen eine offene, liberale, tolerante Demokratie am Herzen liegt, an alle, die für Humanismus und für Meinungs- und Pressefreiheit sind und die unsere Werte und unsere pluralistische Lebensform gegen jene verteidigen wollen, die in ihrer Wut nur andere verletzen und unsere gemeinsamen Werte zerstören wollen. Es richtet sich an jene, die zum Ziel von Hassnachrichten, Drohungen und Beleidigungen werden und Rat suchen, wie sie damit umgehen sollen. Aber auch an jene, die Anstöße zum Einmischen brauchen.
Ein allgemeingültiges Regelwerk, einen unfehlbaren Leitfaden kann und will ich nicht aufstellen. Aus den Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe, kann ich im besten Fall Denkanstöße destillieren – Gedanken darüber, dass Streit grundsätzlich natürlich Regeln braucht, dass es im Streit Argumenten bedarf (und nicht Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen), dass Streit aber natürlich auch Spaß machen darf. Und was man tun kann, wenn streiten nicht mehr hilft. Es geht mir nicht um eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema »Streit«, sondern darum, was wir im Alltag erleben und wie wir damit umgehen können. Manche meiner Erkenntnisse und Empfehlungen werden selbstverständlich klingen, vielleicht geradezu banal. Andere werden womöglich provozieren – umso besser, wenn es mir gelingt, mit den folgenden Seiten einen Streit anzuzetteln!
Für mich ist das Schreiben dieses Buches auch ein Akt des Widerstands. Es ist eine Widerrede gegen all jene, die unsere liberale Demokratie angreifen, aushöhlen, untergraben. Die Hass, Spaltung, Niedertracht und Verrohung vorantreiben. Die lügen, drohen, verunglimpfen, beleidigen. Und die die Menschen mit ihrem eigenwilligen Verständnis von Wahrheit einlullen und in eine Parallelwelt entführen, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Ich schreibe es in Sorge, in Wut, aber auch in dem Glauben, dass Dinge besser werden können.
»Demokratie und Streit gehören zusammen. Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine«, sagte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Das Konzept der »liberalen Demokratie« birgt dabei den Kern des Konflikts schon in sich: »Liberal« setzt auf die Gestaltungs-, Handlungs- und Entfaltungsfreiheit des Einzelnen; »Demokratie« hingegen bedeutet Volksherrschaft, hier bestimmt also die Mehrheit über das Individuum. In einer liberalen Demokratie muss es den Ausgleich geben zwischen dem Willen des Volkes, der Gemeinschaft, der Mehrheit einerseits und dem der Minderheit sowie den individuellen Interessen andererseits. Dieser Ausgleich findet durch Streit statt. In einer liberalen Demokratie streiten wir um die besten Lösungen. Nicht irgendein autoritärer Depp bestimmt.
Streit kann sehr anstrengend sein. Aber die Anstrengung lohnt sich, denn es steht viel auf dem Spiel. Der Journalist und Autor Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, Hitlers Generalgouverneur in Polen, auch bekannt als »Schlächter von Polen«, schrieb 2019 im SPIEGEL: »Hitler baute eine furchtbare Diktatur auf. Das deutsche Volk wehrte sich nicht. Für mich ist klar, warum: Unter den achtzig Millionen Deutschen damals und heute waren und sind allenfalls zwanzig Millionen echte Demokraten, von denen sich höchstens Hunderttausend aktiv für die Demokratie einsetzen. Die übrigen Demokraten grummeln abgeschlafft daheim vor sich hin. Folge: Die schweigende Mehrheit von rund sechzig Millionen Deutschen würde sich gegen eine AfD-Diktatur nicht wehren.«
Gerade auch mit Blick auf die deutsche Geschichte können wir es uns nicht erlauben, aus Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit oder Angst zu schweigen.
Also auf sie mit Gebrüll!
Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt keine Bedienungsanleitung zum richtigen Streiten, keine To-do-Liste, an der man sich einfach entlanghangeln könnte. Denn es gibt weder starre Regeln noch schematische Lösungen nach dem Muster: Wenn jemand X sagt, musst du Y darauf antworten. Wer Patentrezepte sucht, wird sie nicht finden, auch nicht in diesem Buch.
Sollten Sie dennoch auf irgendwelche angeblich todsicheren Erfolgsrezepte fürs Streiten stoßen, glauben Sie mir: Sie stimmen nicht. Jeder Mensch ist anders, jeder Dialog neu, jede Situation eine andere. In der Kommunikation gibt es so viele Dinge, die ein Gespräch beeinflussen können und von Fall zu Fall unterschiedlich sind: Wer sagt etwas? Wem sagt er es? Wie sagt er es? In welcher Situation? Mit welchem Ziel? Spricht er alles aus, was ihm durch den Kopf geht? Hat er Hintergedanken, wenn ja, welche? Und wie kommt das Ganze beim Gegenüber an? Wer ist der Empfänger, in welcher Situation steckt er? Wie versteht er die Botschaft? In welcher Beziehung steht er zum Absender, zum Sprecher? Kennt er ihn persönlich? Wenn ja, wie gut? Wenn nicht, in welchem Verhältnis stehen sie dann zueinander? Und kommunizieren sie schriftlich oder mündlich?
Jetzt die gute Nachricht: Selbstverständlich gibt es Erfahrungswerte, wie Kommunikation – also auch ein Streit – gelingen kann. Und es gibt Rahmenbedingungen für ein zivilisiertes Miteinander, die gelten müssen. Wir bewegen uns also nicht in einem regelfreien – und schon gar nicht in einem rechtsfreien – Raum. Das scheint in jüngerer Vergangenheit leider in Vergessenheit geraten zu sein.
Im Folgenden sollen deswegen zunächst einige Regeln vorgestellt werden, die ich für einen guten, sinnvollen Streit für unabdingbar halte und die in den Auseinandersetzungen, die ich führe, gelten müssen. Andere Menschen werden vielleicht andere Regeln entwickeln und werden sich andere Grenzen setzen. Aber wichtig ist aus meiner Erfahrung, dass man es überhaupt tut.
Ich höre in Diskussionen und lese in Internetforen und E-Mails am Ende von Hasstiraden immer wieder: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!« Manchmal, wenn diesen Leuten aufgrund ihrer Äußerungen dann zurecht Kritik entgegenschlägt, sagen oder schreiben sie: »In Deutschland gibt es keine Meinungsfreiheit mehr!« Oder: »Der Meinungskorridor in Deutschland wird immer enger!« Oder: »Immer diese Sprachpolizei!« Oder: »Nieder mit der Political Correctness!« Oder: »Tugendterror!«
Neben blankem Hass wird auch gerne allerlei krudes Zeug verbreitet, Lügen, Gerüchte, Spekulationen, Verschwörungstheorien. Wer das kritisiert, wird der »Zensur!!!!!« bezichtigt. Konfrontiert man die Urheber mit ihrem Unsinn, entgegnen sie: »Ich verstoße gegen kein Gesetz! Solange ich nichts Strafbares sage, können Sie mir das nicht verbieten!«
Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht richtig. Ja, zunächst einmal liegen die Grenzen im Rechtlichen. Wer beispielsweise Menschen verleumdet oder beleidigt, verstößt gegen das Gesetz. Dafür kann er oder sie strafrechtlich belangt werden. Jetzt ziehen manche den Umkehrschluss, alles, was nicht gegen das Recht verstoße, sei erlaubt. Nun ja, erlaubt vielleicht, aber sicher nicht folgenlos sagbar.
Es stimmt: Was rechtlich nicht untersagt ist, kann man juristisch kaum untersagen. Aber richtig ist auch: Worte haben Wirkung. Und zwar sowohl für den, an den sie gerichtet sind, als auch für den, der sie von sich gibt. Für seine Worte muss man geradestehen. Für das, was man sagt oder schreibt, trägt man Verantwortung. Die Messlatte ist aber nicht das Strafrecht oder irgendein anderes Gesetz, sondern in einem alltäglichen zivilisierten Miteinander gelten viel engere Grenzen des Sagbaren: die der Moral und des Anstands.
Ich weiß, jetzt klinge ich wie ein pensionierter Oberstudienrat, der den Finger hebt und sagt: »Wir brauchen wieder mehr Anstand und Moral!«
Aber die Wahrheit ist: Wir brauchen wieder mehr Anstand und Moral!
Rechtlich spräche nichts dagegen, dass ich zum Beispiel den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der glaubt, mit rechtspopulistischen Sprüchen potenzielle AfD-Wähler für sich gewinnen zu können, und mit dem ich mich unter anderem deswegen gelegentlich streite, dass ich also diesen Herrn Palmer nur noch Herr Schnoggiwoggl nenne. Soweit ich weiß, ist Schnoggiwoggl keine Beleidigung und hat auch sonst keine Bedeutung. Das Wort ist mir einfach so eingefallen, und bei Google gibt es dazu nur ein paar Einträge, nämlich über meine Überlegung, Herrn Palmer so zu nennen.
Ich nenne Herrn Palmer aber nicht Schnoggiwoggl, weil es unhöflich wäre. Weil Boris Palmer eben Boris Palmer heißt und weil man Menschen bei ihrem Namen nennt, je nach Gepflogenheit beim Vornamen oder Herr/Frau plus Nachnamen oder mit Spitznamen. Wenn eine Form der Ansprache von jemandem als unhöflich, beleidigend, respektlos oder gar ehrverletzend empfunden werden könnte, unterlasse ich es. Wenn Boris Palmer mir etwa sagte: »Sie, Herr Kazim, man spricht meinen Namen nicht ›Boohris‹ aus, sondern ›Borris‹«, dann würde ich mich bemühen, »Borris« zu sagen, nicht »Boohris«. Wenn er sagte, es sei ihm egal, wie man seinen Vornamen ausspricht, würde ich das auch respektieren.
Manche schreiben meinen Vornamen falsch: »Haznain« statt »Hasnain«. Wenn das zur Gewohnheit wird, weise ich denjenigen auf die korrekte Schreibweise hin. Meistens ist es mir aber egal. Hieße ich »Cem«, würde ich wahrscheinlich Wert darauf legen, dass man den Namen »Dschem« ausspricht, nicht »Tschem«. Ich weiß, von manchen kommt nun der Einwurf: »Das ist aber kein deutscher Name! Woher soll ich wissen, wie man das ausspricht? Mir fällt das schwer, es ›Dschem‹ auszusprechen, ich sage weiter ›Tschem‹!« So eine Diskussion habe ich schon mehrmals führen müssen, neulich wieder mit einer älteren Dame. Die Antwort ist natürlich ziemlich einfach: 1. Mir ist klar, dass Sie die falsche Aussprache nicht böse meinen (davon gehe ich jetzt mal zu Ihren Gunsten aus). 2. Wenn Sie es bisher nicht wussten, wie man es richtig ausspricht – jetzt wissen Sie’s. 3. Jeder Mensch ist lernfähig, auch in fortgeschrittenem Alter. Also lernen Sie doch bitte einfach aus Respekt vor Ihrem Mitmenschen, wie man einen bestimmten Namen oder ein bestimmtes Wort richtig ausspricht. Ich bin zuversichtlich, dass Sie es schaffen!
Ach, und noch etwas: Sprache verändert sich. Es gibt Begriffe, die früher geläufig gewesen sein mögen, die wir aber jetzt nicht mehr benutzen, und zwar aus guten Gründen. Auch wenn es vielleicht schwerfällt, sollte man sich diese Gründe anhören und zu Herzen nehmen. So gibt es für Menschen mit nichtweißer Hautfarbe mehrere Begriffe, die Menschen mit nichtweißer Hautfarbe für inakzeptabel halten, egal, was das Recht dazu sagt, und egal, ob »man« das »früher« so sagte und es »doch gar nicht böse gemeint« ist. Tatsache ist, dass diese Begriffe heute benutzt werden, um Menschen mit nichtweißer Hautfarbe zu diffamieren. Manche Leute weisen dann gerne darauf hin, dass diese Begriffe in dieser oder jener Sprache doch nur »Mensch« bedeuten würden. Mag sein. Heute sind das aber in unserem Sprachgebrauch abwertende Begriffe. Also benutzen wir sie nicht. Punkt.
Als ich noch in der Bundeswehr war und ich mit älteren Menschen über meinen Einsatz sprach, bezeichneten sie die Streitkräfte der Bundesrepublik immer noch als »Wehrmacht«. Sie meinten es nicht böse. Für sie war »Wehrmacht« gleichbedeutend mit »Militär«. Sie kannten es noch so »von früher«. Ich habe meine Gesprächspartner trotzdem korrigiert und gesagt, dass ich mit der »Wehrmacht« definitiv nichts zu tun habe. Alle sahen das ein.
Kürzlich las ich von einer Studie über das Ernährungsverhalten der Deutschen. Man könnte das Ergebnis so zusammenfassen: »Immer mehr Deutsche sind übergewichtig, weil sie vermehrt Fastfood und zuckerhaltige Getränke konsumieren.« Das ist ein akzeptabler Satz, oder? Man kann ihn inhaltlich doof finden, ihn nicht glauben und in Frage stellen, aber letztlich ist an der wissenschaftlich belegten Aussage nichts auszusetzen. Man könnte aber auch formulieren: »Die Deutschen werden immer fetter, weil sie fressen und saufen wie die Schweine.« Dieser Satz sagt im Wesentlichen nichts anderes aus als der erste. Und doch ist er inakzeptabel, weil er beleidigend und herablassend in der Wortwahl ist. Dabei verstößt er gegen kein Gesetz, ich vermute jedenfalls, dass kein Gericht ihn untersagen wird. Aber es ist unanständig, sich so zu äußern. So reden wir nicht miteinander in einer zivilisierten Gesellschaft! Wer es dennoch tut, grenzt sich selber aus.
Ein weiteres Beispiel aus meinem Alltag. Jemand sagt: »Ich habe meine Schwierigkeiten damit, dass sehr viele Muslime mit ultrakonservativen Ansichten kommen und all die Errungenschaften des freien, selbstbestimmten Lebens, nicht nur für Frauen, sondern auch für Homosexuelle, Angehörige anderer Konfessionen und so weiter, rückgängig machen.« Das ist eine Meinung, die man selbstverständlich so äußern darf. Klar kann man dieser Meinung widersprechen, sie kritisieren, es gibt für niemanden ein Recht auf Widerspruchsfreiheit. Aber prinzipiell ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man mit so jemandem eine konstruktive, gute Diskussion führen kann.
Ein anderer schreibt mir: »Scheiß Muselpack, die gehören ausgerottet, ich erschieße die persönlich, wenn es sein muss!!!!« Das ist keine Meinung, sondern das ist Hass. Mit dieser Person wechsele ich kein einziges Wort, mich interessieren auch nicht ihre »Sorgen und Nöte«, und schon gar nicht unterhalte ich mich »auf Augenhöhe« mit ihr. Wenn ich diese Person scharf kritisiere, sozial ausgrenze, ächte, juristisch gegen sie vorgehe, ist noch lange nicht ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt; sie erfährt auch keine »Zensur«. Sondern sie muss einfach nur Kritik ertragen und Verantwortung für ihre Worte übernehmen.
Betrachten wir noch ein Beispiel, das ebenso alltäglich ist: Man könnte theoretisch jedem fremden Menschen, dem man im Zug, auf dem Markt, im Konzert, bei der Post oder in einem Laden begegnet, sagen: »Hören Sie, ich finde, Ihr Kleid ist wirklich unvorteilhaft.« Oder: »Woher haben Sie eigentlich diese sagenhaft hässlichen Schuhe?« Oder: »Ich finde, Sie könnten ruhig mal ein paar Kilogramm zunehmen/abnehmen.« Oder: »Also, Ihre Frisur ist wirklich unterirdisch.« All diese Sätze kommen ohne Schimpfworte aus. Sie mögen beleidigend wirken, aber den Tatbestand einer Beleidigung nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches erfüllen sie nicht ohne Weiteres. Sollten Sie so eine Aussage mal zu hören bekommen, würden Sie, befürchte ich, mit einer Anzeige nicht weit kommen.
Natürlich darf man die Frisur, die Kleidung, überhaupt: das Aussehen eines anderen Menschen unattraktiv finden. Wenn Sie einen Menschen sehen, den Sie besonders schön oder außergewöhnlich hässlich finden, geht Ihnen das vielleicht völlig ungesteuert durch den Kopf. Wenn jemand etwas unfassbar Dämliches sagt, denken Sie womöglich unvermittelt: »Meine Güte, ist der oder die dumm!« Ein zivilisierter, respektvoller Umgang miteinander beruht aber unter anderem darauf, dass man nicht alles so unvermittelt äußert, wie man es denkt. Dass man also nachdenkt, bevor man den Mund aufmacht. Dass man sich fragt: Was will ich mit meiner Äußerung bezwecken? Will ich etwas in der Sache verbessern oder geht es mir darum, den Angesprochenen oder die Angesprochene zu verletzen? Mit welchem Recht tue ich das? Man sollte sich fragen: Fände ich es selbst gut, so angesprochen zu werden? Möchte ich, dass mir jeder seine Meinung über mein Aussehen mitteilt?
Wer stets ungefiltert sagt, was er denkt, ist nicht besonders ehrlich, sondern besonders dumm. Wir können nicht alles sagen, was wir denken – und das hat nichts damit zu tun, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, sondern damit, dass es so etwas wie Anstand gibt.
Nun kann man einwenden: »Es ist aber meine Meinung! Und ich verwende doch gar keine beleidigenden Wörter!« Natürlich: Noch schlimmer wäre eine derbere Ausdrucksweise wie »Mein Gott, siehst du scheiße aus!« oder »Boah, bist du fett!«. Wenn Kinder sich Schimpfworte an den Kopf werfen oder Fäkalsprache benutzen, sagen wir: »Das sagt man nicht!« Und es hat gute Gründe, warum wir Kinder dazu erziehen, auf ihre Sprache zu achten. Gewaltsame Sprache drückt oft unerfüllte Wünsche aus, Bedürfnisse, die unbefriedigt sind. Aber als Erwachsener sollte es in allen Lebensumständen erstrebenswert sein, sich vernünftig, gesittet, zivilisiert auszudrücken.
Ich bin überzeugt, dass man Menschen zumuten kann, sich so zu artikulieren, dass sie andere Menschen nicht verletzen. Und ich bin überzeugt, dass Menschen lernfähig sind. Wenn er oder sie es will, schafft das jeder.
Ich will nicht sagen, dass man grundsätzlich nie schimpfen und sich derbe ausdrücken darf. Das wäre ja langweilig! Ich werde beleidigt (und beklage mich nicht darüber), und ich weiß, dass auch ich hin und wieder mal in meinen Texten den einen oder die andere beleidige. Ein kräftiges Wort, eine ordentliche Beleidigung kann durchaus befreiende Wirkung haben. Und es gibt meiner Erfahrung nach nicht wenige Menschen, die Dinge nur verstehen, wenn man sie sehr, sehr deutlich ausspricht. Allerdings: Wenn man sich so hart ausdrückt, sollte man sich dessen bewusst sein.
Ich nenne Teilnehmer der »Demonstrationen«, die seit Oktober 2014 von den »Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz: »Pegida«, veranstaltet werden, hin und wieder »Pack«. Ich weiß, das ist eine ziemlich derbe Bezeichnung. Dafür werde ich gelegentlich kritisiert. »Solch eine Ausdrucksweise hätte ich von einem Intellektuellen wie Ihnen nicht erwartet!«, schrieb mir etwa ein Leser. Das sei »unangebracht« oder »einer sachlichen Diskussion nicht angemessen«. Hm, na ja, das stimmt zwar, überzeugt mich aber nicht. »Sie begeben sich damit auf dasselbe Niveau wie diese Leute, indem Sie sich so unflätig ausdrücken!«, schrieb ein anderer Leser. Gut, dieses Argument, dass ich der allgemeinen Niveausenkung nicht entgegenwirke, sondern, im Gegenteil, dazu beitrage, leuchtet mir eher ein. Andererseits wird doch immer gefordert, man solle mit diesen Leuten »auf Augenhöhe reden«. Bitte schön, da habt ihr Augenhöhe!