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Beschreibung

Die Welt ist in Bewegung, Europa ist in Bewegung, Deutschland ist in Bewegung. Migration bestimmt unseren Alltag mehr denn je. Anfang des 21. Jahrhunderts ist Deutschland eine multikulturell geprägte Gesellschaft. Gerade vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen nach Werten, Tradition und Identität neu. Mündet ein Multikulturalismus notwendig in einen Wertekonflikt? Welche Rolle spielen religiöse Wertvorstellungen, und wie sind sie in eine Multi-Options-Gesellschaft einzubringen? Woher kommt die Sympathie für das Autoritäre und Extreme, und wie kann sich eine Gesellschaft der Mitte dagegen wehren? Das vorliegende Buch gibt Antworten und entwirft Zukunftsszenarien, wie wir in Deutschland zusammenleben könnten.

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Bacem Dziri/Amir Dziri (Hg.)
Aufbruch statt Abbruch
Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft
Dieser Band ist im Auftrag des Rats muslimischer Studierender und Akademiker e.V. als Teil des Projektes »Zukunft bilden!« ­entstanden. Das Modellprojekt Zukunft bilden! wird im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Förderer sind die Stiftung Mercator und die Robert Bosch Stiftung.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Über Partikularität und Universalität von Werten
Religiöse Pluralität: Vielfalt braucht Dialog
Yasemin El-Menouar
Islam im Westen – ein Prüfstein für die Universalität der Werte?
Hansjörg Schmid
Tugend, Wert, Norm – kontextlose Entwicklung?
Wolf D. Ahmed Aries
Mündiges Subjekt und kosmopolitische Demokratie
Micha Brumlik
Über christliche und islamische Menschenbilder – Warum ich als Muslimin der CDU angehöre
Cemile Giousouf
Muslime in der Moderne
Ayyub A. Köhler
2. Was ist (Islam-)Kritik?
Die Überhitzung und Verzerrung der »Islamdebatten«
Floris Biskamp
Political Correctness Reloaded: Zur notwendigen Neuverhandlung des Liberalismus als Metawert der Gesellschaft
Kai Hafez
Die (islamische) Welt braucht ein säkulares Narrativ
Alexander Görlach
Wir sind nicht nur Muslime!
Nushin Atmaca
3. Zur Konstruktion von Identität, Autorität und Freiheit
Selbstbehauptung, Annäherung, Dissens: Die Bedeutung kultureller Anerkennung im Prozess der sozialen Integration Türkeistämmiger in Deutschland
Detlef Pollack/Olaf Müller
Von innen nach außen – Muslime zwischen Opferdiskurs und gesellschaftspolitischer Teilhabe
Ali Baṣ
Mittendrin – aber auch in jeder Hinsicht gleichgestellt?
Gabriele Boos-Niazy
Die Falle schnappt zu: Zur Ambivalenz der muslimischen Identitätskonstruktionen in Deutschland
Armina Omerika
Chancen und Herausforderungen für die religiöse Bildung in einer globalisierten Gesellschaft
Fahimah Ulfat
Muslime in Deutschland – Für eine Philosophie der Anerkennung der Differenzen
Reza Hajatpour
Die Herausgeber
Die Autor(inn)en
Anmerkungen
Vorwort
Die Welt ist in Bewegung, Europa ist in Bewegung, Deutschland ist in Bewegung. Anfang des 21. Jahrhunderts ist Deutschland eine plural geprägte Gesellschaft. Gerade vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen nach Werten, ­Traditionen und Identitäten neu. Mündet ein Multikulturalismus notwendig in einen Wertekonflikt? Welche Rolle spielen religiöse Wertvorstellungen, und wie sind sie in eine Multi-Options-Gesellschaft einzubringen? Woher kommt die Sympathie für das Autoritäre und Extreme, und wie kann sich eine Gesellschaft der Mitte dagegenstellen? Was ist Kritik, und wie kann sie sinnvoll in den öffentlichen Diskurs ein­gebracht werden?
Der Rat muslimischer Studierender & Akademiker e.V. (RAMSA) bildet eine Plattform zur Meinungsbildung und Diskursförderung von jungen Studierenden und Akademi­kerInnen und beschäftigt sich seit seiner Gründung mit Fragen, die junge Studierende und AkademikerInnen bewegen. Ziel dabei ist es, progressive Perspektiven auf aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse zu entwickeln und diese aktiv in die Gesellschaft zu kommunizieren. Ein besonderes Merkmal unserer Plattform ist dabei die Pluralität der Stimmen, die wir als Chance begreifen und pflegen wollen.
Der vorliegende Band ist im Kontext dieser Bemühungen im Rahmen des Modellprojektes »Zukunft bilden!« entstanden. Mit diesem Projekt, das durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« desBundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugendgefördert und getragen wird, engagiert sich der RAMSA für einen offenen gesellschaft­lichen Austausch. Weitere hervorzuhebende Partner des Modellprojekts »Zukunft bilden!« sind dieStiftung Mercatorund dieRobert Bosch Stiftung. Wir danken allen mitwirkenden Personen sowie Institutionen, die zur Entstehung dieses Bandes beigetragen haben.
Einleitung
It is certain, in any case, that ignorance, allied with power, is the most ferocious enemy justice can have.
James A. Baldwin
Konsultiert man die einschlägigen Analysten, gestalten sich ihre Einschätzungen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen relativ einhellig. Die Rede ist vom ineinander verflochtenen Ringen gegenläufiger Dynamiken, von protektionistischer Wirtschaftsordnung und allumfassender Kommodisierung, von autoritärem gegen liberalem Regierungsverständnis oder von der Forderung nach kultureller Homogenität gegen den Siegeszug des globalen Multikulturalismus. Die neoliberale Wirtschaftsideologie frisst demzufolge ihre gehorsamsten Kinder. Als einstiger Musterstaat der Marktliberalisierung und Deregu­lierung stimmt Großbritannien jüngst mehrheitlich für den Austritt aus der EU und damit aus ihrem wettbewerblichen Binnenraum. Eine Erklärung dafür lautet: Die EU-weite Arbeit­nehmer­frei­zügig­keit setze klassische Arbeitnehmerexistenzen und Familienmodelle mit Einverdienerhaushalten so unter Druck, dass ein Großteil der traditionell sozialdemokratisch orientierten britischen Arbeitnehmerschaft protektionistisch wählt. Auch für die Wahl des US-amerikanischen Präsidenten Trump hätten Wählerstimmen der traditionellen Arbeiterschaft aus demRust Belteinen entscheidenden Anteil für dessen Wahlerfolg gehabt. Die Eigenlogik des Kapitals, immer wieder neue Absatzmärkte zu erschließen, zerstöre notwendigerweise Arbeitnehmerbiografien oder untergrabe solidarische Wertvorstellungen des Sozialstaats. Der progressive Neoliberalismus transnational agierender Technologie- und Dienstleistungsunternehmen bilde eine Allianz, so die US-amerikanische Politologin Nancy Fraser weiter, mit sozialen Gleichstellungsforderungen, so wie sie weltweit in offenen Gesellschaften vehement und ohne jede Rücksicht durchgefochten würden. Feminismus, Anti-Rassismus, Multikulturalismus, LGBTQ* – all dies seien Beispiele dafür, wie sich der progressive Neoliberalismus beliebig bestimmter Wertehaltungen bediene, um Marktpositionen zu verteidigen und neue Marktzugänge zu gewinnen. Denn das ist die wesentliche Kritik Frasers an aktuellen sozialen Gleichstellungsforderungen; sprich, dass sie in ihren eigenen Mechanismen höchst meritokratisch und ausgesprochen wenig solidarisch seien. Individualkapitalistische Lebensmodelle, sozusagen die in alle Lebensbereiche universalisierte Ich-AG, würden im Deckmantel sozialer Gleichstellung im Grunde nur jener meritokratischen Logik des Kapitals folgen, die sie zu bekämpfen vorgeben.1
The Winner Takes It All? –da ist was dran. Wer über Jahre hinweg im täglichen Kampf um soziale Gleichberechtigung geworben und gefochten hat, wird schnell zugeben, dass ­Frasers Beobachtungen nicht unsachgemäß sind. Auch ihre Schlussfolgerung, in einem überhasteten politischen Reflex oder gar apokalyptischer Manier den Neoliberalismus als einzige Rettung einem wachsenden Autoritarismus gegenüberzustellen, um schließlich alle demokratischen Kräfte unter seiner Standarte zu einigen, lässt sich inhaltlich trefflich diskutieren. Fraser plädiert für ein neues soziales Emanzipationsverständnis, das sich jenseits der kapitalistisch vereinnahmten Vorzeichen von Leistung, Diversität und Empowerment bewegt und soziale Integration unter den neuen Bedingungen postsäkularer Gesellschaften denkt und herstellt. Sie beschreibt damit eine grundlegende Krise der sozialdemokratischen Politik, der es nicht mehr gelinge, ihre zentralen Werte und Botschaften an die Menschen zu bringen. Kritisch wird Frasers Analyse, wenn sie die aktuelle US-amerikanische Präsidentschaft als über­­fälli­gen Bruch zwischen Finanzkapitalismus und Emanzi­pa­tions­forderungen willkommen heißt. Trump als frühlingshafte Erweckung, als langersehnte und heilvolle historische Erfrischung, die den korrupten Mechanismen der kapitalistischen Selbstverständlichwerdung entschlossen entgegentritt? Mit dieser Wahrnehmung stößt Nancy Fraser auf. Zum einen verharmlost sie damit die Situationen derjenigen, die tatsächlich aufgrund welcher Zu­schreibungen auch immer unter Ungleich­behandlung täglich zu leiden haben. Zum anderen erhärtet Fraser mit dieser Wahrnehmung tatsächlich selbst eine Zuspitzung der Antagonismen Neoliberalismus und Autoritarismus. Die kapitalistische Durchdringung vermeintlich emanzipatorischer und solidarischer Gleichstellungsbewegungen ist die eine Seite der Medaille; die andere ist die bittere Realität vieler sozial Marginalisierter, die da lautet: Vor dem Kapital, und nur vor dem Kapital sind wir alle gleich. Es ist für Menschen, die im Hinblick auf eine bestimmte Kategorie zur unhinterfragbaren Normalität und Normativität gehören, kaum möglich nachzuvollziehen, was es für sozial Marginalisierte be­deutet, festzustellen, dass das Versprechen absoluter Gleichheit am ehesten von einer kapitalistischen Weltsicht gehalten wird. Und es sagt sehr viel darüber aus, wie allgemeine Grund- und Menschenrechte tatsächlich in den jeweiligen globalen Gesellschaften verankert sind. Frasers Eintreten für eine neue solidarische Graswurzelbewegung ist unbedingt beizupflichten. Dieses Eintreten darf vorangegangene Versäumnisse aber nicht unterschlagen oder gar jenen anlasten, die am wenigsten Anteil daran haben.
Was hat das alles mit Muslimen zu? Es ist für sich bereits aussagekräftig, dass eine solche Einführung in die Thematik überrascht. Während weltweite Gesellschaftsanalysen penibel ausdifferenzierten soziopolitischen Deutungskategorien folgen, stößt man überall dort, wo Muslime eine signifikante gesellschaftliche Gruppe darstellen, auf nur eine Analysekategorie, und das ist ihre Religion. Es ist bezeichnend, wenn in einer aktuellen und viel rezipierten Publikation zur »Internationalen Debatte über die geistige Situation der Zeit«2 von den USA bis nach Indien über ein Dutzend Beobachter die innergesellschaftlichen und globalen Spannungen zwischen konkurrierenden Wirtschafts- und Regierungsordnungen scharfsinnig reflektieren, jedoch keine einzige Position aus einem Land mit signifikanter muslimischer Bevölkerung anzutreffen ist. Die zeitgenössische soziopolitische Analyse macht einen großen Bogen um diese Erdteile, um nur umso nachdrücklicher festzustellen, welche zentrale Rolle die Religion in diesen Ländern spiele. Hätte es denn keine sinnvolle soziopolitische Perspektive auf Gesellschaften mit muslimischen Mehrheiten gegeben, die nicht den unbestrittenen Einfluss des Symbolsystems des Islams in diesen Ländern unterschlägt, aber zumindest dennoch in einem vernünftigen Verhältnis zwischen politischen Machtstrategien, ökonomischen Antriebskräften und Verteilungskämpfen und gesellschaftlichen Werteorientierungen zu differenzieren weiß? Wäre ein solcher Zugang zu so gänzlich anderen Einschätzungen gekommen, als wie sie für Gesellschaften in den USA, Italien oder Indien formuliert sind?
Das Versäumnis ist jedoch nicht einseitig. Man muss es klar festhalten: Die Anzahl muslimischer Intellektueller, die sich auf Augenhöhe zu globalen Herausforderungen konstruktiv und intersubjektiv zugänglich zu artikulieren vermögen, ist gering. Und dennoch scheinen in diesem Kontext im Hinblick auf den Islam zwei Phänomene als unverhältnismäßig und daher prägnant. Zum einen betrifft es die Fetischisierung der Deutungskategorie Religion, spezifischer: Islam, in allen Wahrnehmungen und Bewertungen von Haltungen und Handlungen von Menschen, die in mehrheitlich muslimischen Ländern leben oder aus diesen Ländern kommen. Andere Bewertungsmaßstäbe wie soziale Zugehörigkeit, politische Orientierung, Bildung oder biografisch bedingte Wertedispositionen werden als Deutungskategorien im Vorhinein weitestgehend ausgeschlossen. Innerhalb einer solchen Perspektive zum Ergebnis zu kommen, der Islam dominiere das Denken und Handeln jener Gesellschaften, bis hin zur Feststellung einer totalen oder faschistischen Religion, ist folgerichtig, wenn man keinen anderen Maßstab zur Wahrnehmung nahöstlicher Gesellschaften zulässt, mit Blick auf ihre Sachmäßigkeit allerdings äußerst zweifelhaft. Auf der anderen Seite spiegelt sich diese europäische Fetischisierung des Islams als absolute Ordnungsgröße muslimischer Gesellschaften in einer orientalischen Fetischisierung des Islams wider, die den Islam nur allzu gerne und gerade genau als einzige absolute Ordnungsgröße muslimischer Gesellschaften sehen würde und ihrerseits in einer essenzialistischen Reinheitsideologie jegliche Ansätze der historischen Genese oder kulturellen Verflechtung leugnet. Wird in beiden Perspektiven die Wirkungskraft des Islams hier nicht grotesk überschätzt? Schlägt das Überangebot von Werteorientierungen in offenen Gesellschaften nicht in eine Überstilisierung der normativen Bindungskraft des Islams um, die anschließend entweder als Bedrohung oder als alternatives Lebensmodell gewertet wird? Und bedient die Überstilisierung des Islams bei Menschen nahöstlicher Herkunft nicht die aktuelle Sehnsucht, nach Jahrhunderten der zivilisatorischen Unbedeutsamkeit endlich wieder auf Zuwendung, wenn auch ablehnende, zu stoßen? Es geht hier nicht darum, zu unter­minieren, dass der Islam in seinem Lehrverständnis ein dominantes Symbol­system aufweist und dieses religiös wie kulturell veranschlagt; die islamische Welt bliebe die islamische Welt auch ohne wechselseitige Spiegelungen zu anderen Zivilisationsräumen. Es geht hier um eine Justierung der aktuellen Wahrnehmungen, die unter dem Bedürfnis nach Abgrenzung und konstruierter Differenz geschehen.
Das zweite Phänomen, das es sinnvoll erscheinen lässt, diese Einführung in einen übergeordneten soziopolitischen Kontext zu stellen, besteht in einem äußerst unheilvollen Umstand, den die sogenannte Islamdebatte in unterschiedlichen Graden in europäischen Gesellschaften eingenommen hat. Denn sie scheint zu einem Prisma zahlreicher Aushandlungsprozesse postsäkularer Gesellschaften geworden zu sein, die weit über den vermeintlichen Themengegenstand hinausgehen. Es sind Spannungen zwischen dem grundsätzlichen Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit, von kultureller Homogenität und Öffnung, zwischen sozialer Solidarität und dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, dem Verhältnis von globalem Markt und internationaler Migration oder der Relation von Demokratie und Liberalismus. Gerade die versessene Bezugnahme alternativer politischer Bewegungen in europäischen Ländern macht deutlich, wie sehr die Islamdebatte zu einer in mehrfacher Hinsicht symbolisch aufgeladenen Plattform grundsätzlicher postsäkularer Fragestellungen geraten ist, die weit über den Betreff Muslime hinausreicht. Die Gründe dafür sind spekulativ, aber eventuell lassen sie sich in folgenden Merkmalen erhärten: Muslime sind äußerlich überwiegend (und allzu oft auch vermeintlich) erkennbar, migrations- und integrationspolitisch relevant, haben offenbar ein anderes Verständnis von gelebter Religiosität, und im Weiteren des Verhältnisses von Religiosität und Öffentlichkeit, und scheinen unnachgiebig und lautstark Forderungen zu stellen. In großen Teilen speziell der deutschen, allgemeiner der europäischen Öffentlichkeiten, wird unmittelbar zu verstehen gegeben: Muslime nerven (im Übrigen genauso, wie es Muslime nervt, sich permanent in ihrer Religion erklären zu müssen). Und auch hier sind die Ursachen dieser Eindrücke nicht einseitig zu schlussfolgern. Gelingt es Muslimen in offenen Gesellschaften nicht, vermehrt aufzuzeigen, dass sie in der Lage sind, ihre vielschichtigen Identitäten nach Innen differenziert zu reflektieren, diese im Hinblick auf lokale Sprache und Symbolik hin zu adaptieren und ihre Wahrnehmungen und Bewertungen in gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit und intersubjektiv zugänglicher Art und Weise zu artikulieren, werden sie unabhängig ­ihres faktischen Integrationsgrades als unzugänglich und eventuell als gesellschaftliche Belastung betrachtet. Fehlt auf der anderen Seite die Bereitschaft, muslimische Identitäten in unterschiedlichen Facetten zu erkennen, die sie haben, als Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer und -geber, als politisch heterogene Gruppe, in unterschiedlichen Sozialisationen und biografischen Umständen und selbstverständlich auch in unterschiedlichen religiösen Ausprägungen und Interpretationen, verharrt ihre Wahrnehmung prinzipiell suggestiv, tendenziös und unsachgemäß.
»Aufbruch statt Abbruch. Religion und Werte in einer pluralen Gesellschaft« sieht sich diesem Leitgedanken verpflichtet und spiegelt ihn in den Beiträgen der Autorinnen und Autoren weitestgehend wider. Es ist der maßgebliche Versuch, muslimische Stimmen aktiv in die aktuelle Wertedebatte, so wie sie gerade erst wieder im Frühjahr 2018 in Deutschland prominent befeuert wird, einzubringen und damit dem konventionellen Mantra der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts währenden Krisen- und Reformliteratur zum Islam zu entfliehen. Unmittelbar daraus erkennbar werden eine breite Varianz an Zugängen, Perspektiven und Positionen, aber bewusst auch streitbare und provokante Aussagen und Einstellungen. Der Band eröffnet Perspektiven organisierter und nichtorganisierter Muslime, wertprogressiver wie werttraditioneller Grundhaltungen sowie unterschiedlicher biografischer Hintergrün­de und unterschiedlichen Alters. Weitere Positionen werden von politisch in unterschiedlichen Parteien engagierten Muslimen eingebracht, wobei hier ausdrücklich zu bedauern ist, dass eine sozialdemokratisch nahe Position trotz größter An­strengung nicht realisiert werden konnte. Eine zweite Ebene der Perspektiven bilden wissenschaftlich unterlegte, stilistisch jedoch als Diskussionspositionen festgehaltene Beiträge aus den Bereichen der Soziologie, der Medien- und Politikwissenschaften, der Religionspädagogik sowie allgemeiner der Islamischen Theologie.
Bacem Dziri/Amir Dziri Osnabrück/Freiburg i.Ü. 2018
1.
Über Partikularität und Universalität von Werten
Religiöse Pluralität: Vielfalt braucht Dialog
Yasemin El-Menouar
1. Einleitung
Der Islam gehört zu Deutschland. Das ist keine Frage, sondern eine Tatsache. Weltreligionen haben ihren Platz in der modernen Gesellschaft. Aufgeklärt und beim Glauben tolerant zu sein, das ist kein Widerspruch, sondern geht zusammen. Zumal das Grundgesetz die Religionsfreiheit und die religiöse Neutralität des Staats garantiert. Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse desReligionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, dass zwischen der Wahrnehmung des Islams in der Mehrheitsgesellschaft und der von den Muslimen in Deutschland tatsächlich gelebten Religion eine große Lücke klafft ­(Kapitel 2 und 3). Die Folgen dieser Wahrnehmungsverzerrung äußern sich in zahlreichen Islamdebatten, die um eine »Integrationskrise« kreisen, die sich in weiten Teilen nicht aus empirischen Daten erhärten lässt. Dazu zählt beispielsweise der Streit um Kopftuch, Burka und Burkini (Kapitel 4).
Von diesen Befunden ausgehend wird in diesem Beitrag argumentiert, dass die auf der religiös-politischen Ebene angesiedelten Debatten, die von der eher archaischen Denk­figur vomWir und die Anderenbeherrscht werden, den Um­gang mit der kulturell und religiös-pluralistischen Wirklichkeit mo­derner Demokratien mehr behindern als fördern (Kapitel 5).
Deshalb wird in diesem Beitrag dafür plädiert, dem ­partikulärenWir, das einer Sprache und dem Denken der Homogenität verhaftet ist, ein allgemeineres, dynamischesWir entgegenzustellen, das kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede anerkennt. Eine solche dynamische Anerkennungskultur braucht den Austausch und die Auseinandersetzung, aus denen heraus das Miteinander gestaltet wird. Längst gehört der Islam zur europäischen Vielfalt; nun geht es darum, Muslimen auch entsprechendes Gehör im laufenden Prozess des Aushandelns von Gemeinsamkeiten zu verschaffen. So entstehen neue »große Erzählungen«, die in der Lage sind, einen neuen Gemeinsinn zu begründen, der den unterschiedlich kleinen und großen Zugehörigkeiten eine Basis für das Zusammenleben bietet (Kapitel 6).
Voraussetzung dafür ist, dass an die Stelle des aufgeregten Nebeneinanders der Monologe in den Islamdebatten ein kontinuierlicher Dialog tritt – und zwar auf innerreligiöser, interreligiöser und gesamtgesellschaftlicher Ebene (Kapitel 7). In diesem Zusammenhang werden abschließend die Vorschläge der Bouchard-Taylor-Kommission daraufhin befragt, welche Impulse sie für das Miteinander in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft liefern (Kapitel 8).
2. Verzerrte Islamwahrnehmung
Eine Mehrzahl der nichtmuslimischen Deutschen sieht den Islam heute als Gefahr. Mehr als jeder Zweite stuft die Religion als Bedrohung ein. In Deutschland war die Ablehnung des Islams schon 2012 größer als etwa in Großbritannien oder Frankreich. 53 Prozent der nichtmuslimischen Befragten imReligionsmonitorder Bertelsmann Stiftung hielten damals den Islam für »sehr bedrohlich« oder »bedrohlich«. Zwei Jahre später waren es bereits 57 Prozent. Die Ablehnung des Islams nimmt in Deutschland also zu.1
Noch deutlicher ist der islamskeptische Trend bei der Frage spürbar, ob der Islam in die westliche Welt passe. 61 Prozent der 2014 befragten nichtmuslimischen Deutschen meinten »eher nicht« oder »gar nicht« – eine Steigerung von neun ­Prozentpunkten im Vergleich zur Befragung für denReligionsmonitor 2012. Lediglich ein Viertel der deutschen Bevölkerung nahm den Islam 2014 noch als Bereicherung wahr.
Laut den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage, die das MonatsmagazinCiceroim Juni 2017 in Auftrag gegeben hatte, nimmt die Islamskepsis immer noch weiter zu. Nicht einmal jeder sechste Deutsche (17,9 Prozent) ist demnach derzeit der Meinung, dass der Islam zu Deutschland gehört. Zwei Drittel der Befragten (64,2 Prozent) lehnen diese Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff und der Bundeskanzlerin Angela Merkel mittlerweile ab.2
Dabei meinten 85 Prozent der Anders- und Nichtgläubigen imReligionsmonitor, sie stünden anderen Religionen sehr tolerant gegenüber. Das scheint aber nicht für den Islam zu gelten. Die Islamwahrnehmung läuft der behaupteten eigenen Akzeptanzfähigkeit zumindest diametral zuwider. Davon zeugt nicht zuletzt das regelmäßige Wiederaufflammen einer inzwischen längst religiös akzentuierten Leitkulturdebatte. Zuletzt ist es der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière gewesen, der Ende April 2017 »Zehn Thesen« präsentierte, auf die sich angeblich alle in Deutschland einigen können.3 Tatsächlich definiert der Begriff der Leitkultur je­doch eher, wer dazu gehört und wer nicht. Zwischen aufgeklärter Gesellschaft und Islam wird so eine symbolische Grenze gezogen.
Muslimische Religiosität findet sich heute im Fokus verschiedener Diskurse wieder, die den Islam problematisieren. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft nimmt den Islam in erster Linie nicht als Religion wahr, sondern vor allem als eine demokratiefeindliche und extremistische Ideologie.4 Durch essenzialistische Argumentationen und kulturalistische Fehlschlüsse ist das vielschichtige Spektrum muslimischer Strömungen und Lebenswelten schon lange aus dem Blickfeld geraten. Dadurch ist es kaum mehr möglich, zwischen Islam und Extremismus, zwischen gut integrierten, frommen Muslimen und Fanatikern zu unterscheiden. Stattdessen wird ein homogener, unveränderlicher Islam imaginiert, der in dieser reduzierten Form zur Projektionsfläche für Ängste und letztlich zum Feindbild taugt.
3. Die Realität muslimischer Lebenswelten
Misst man die Wahrnehmung muslimischer Religiosität, wie von Anders- und Nichtreligiösen angenommen, an der selbst ausgesagten religiösen Lebenspraxis von Muslimen, entpuppt sich eine solche Fremdwahrnehmung des Islams allerdings schnell als Trugbild. Denn tatsächlich steht die Mehrheit der etwa 4,5 Millionen Muslime dem Land und ­seiner nichtmuslimischen Bevölkerung offen gegenüber.5 Für sie ist Deutschland längst Heimat. Und ihre Religion ist ihnen vor allem eins: eine wichtige Ressource, aus der sie die Kraft für ihren Alltag schöpfen. Umgekehrt bereichern Muslime mit ihrer gelebten Religiosität die Diversität in Deutschland. So ist etwa das Fastenbrechen während des Ramadans mittlerweile ein Teil der deutschen Alltagswirklichkeit.
Forschungsergebnisse aus demReligionsmonitorbelegen das eindrucksvoll.6 So halten 80 Prozent der muslimischen Befragten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Unter den hochreligiösen Muslimen sagen das sogar 90 Prozent. Neun von zehn Befragten haben in ihrer Freizeit Kontakt zu Nichtmuslimen. Jeder Zweite hat sogar mindestens genauso viele Kontakte mit Nichtmuslimen wie mit Muslimen. Offenkundig haben sich Muslime an den Mainstream in Deutschland mehr angenähert, als es die Leitkulturdebatten vermuten lassen.
DieGeschlechterrollenstudieim Auftrag desBundesamts für Migration und Flüchtlingevon 20137 hat zudem gezeigt, dass sich muslimisch fromm und politisch liberal keineswegs ausschließen müssen. 83 Prozent der befragten Muslime sehen in der Gleichberechtigung der Geschlechter einen fest verankerten Wert. 44 Prozent der muslimischen Frauen wünschen sich eine Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Und 60 Prozent der Muslime befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Von den hochreligiösen Befragten mit eher festen Glaubensgrundsätzen sind es immerhin noch 40 Prozent. Diese Zahlen belegen, dass Religion und Religiosität nicht liberalitätshemmend interpretiert werden können.
Die Kluft zwischen der eigenen Alltagsrealität und dem verzerrten Stimmungsbild in der Öffentlichkeit erfahren viele Muslime in Deutschland als Ausgrenzung. Sie leiden unter dem negativen Image ihrer Religion, das von Themen wie Terror, Kriminalität, Frauenfeindlichkeit, Demokratiedistanz und Parallelgesellschaften geprägt wird. Die große Binnenvielfalt des muslimischen Lebens, die bisherigen Integrationsleistungen und die zivilgesellschaftlichen Beiträge werden hingegen kaum zur Kenntnis genommen. Statt den muslimischen Beitrag zur Diversität in Deutschland anzuerkennen, wird ein kultureller Anpassungsdruck auf Muslime erzeugt. Solche Forderungen und Überforderungen hemmen aber den Austausch und die Auseinandersetzung, die für eine pluralistische Gesellschaft lebenswichtig sind.
Muslime erleben ihren Alltag häufig sehr spannungsreich. Nicht selten begegnen sie latenten und manifesten Stereo­typen bis hin zur offenen Ablehnung. Das islamfeindliche Milieu, das sich insbesondere seit dem »Karikaturenstreit« 2005/2006 bis weit in die gesellschaftliche Mitte auch in Deutschland etablieren konnte, macht sich diese Spannungen zunutze und instrumentalisiert sie. DerNeuen Rechten, Akteuren derPEGIDA-Proteste und derAlternative für Deutschlandgelingt es, die Diskurse über den Islam in ihrem partikularen Sinne mitzuprägen.8
Die Politik ist hier gefordert. Die immer wieder formu­lierten Anpassungserwartungen an Muslime sind wenig hilfreich, dieser provozierten Konfrontation an den rechten ­Rändern zu begegnen. Stattdessen sollte der innergesellschaftliche Dialog noch intensiver gefördert werden, um muslimisches Leben als deutsche Normalität anzuerkennen. Noch klafft hier eine Lücke. Denn die in Deutschland lebenden Muslime leben längst eine deutsche Alltagsrealität, die sie laut den Ergebnissen desReligionsmonitors unter anderem auch gerade deswegen sehr schätzen, weil sie ihre Religion hierzulande freier ausleben können als in vielen autokratischen Regimen des Nahen und Mittleren Ostens.
4. Das Beispiel Burkadebatte
Umgekehrt verunsichern und verängstigen eben jene Diskurse, die Muslimen pauschal eine antiwestliche Haltung unterstellen, die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung. Die Differenz zwischen der überdurchschnittlich hohen Religiosität von Muslimen und dem Bedeutungsverlust von Religion in weiten Teilen der Gesellschaft wird in den Diskursen genutzt, um Ängste vor dem Islam zu schüren. Gleichzeitig kann man sich gegenüber einem angstmachenden Islam dann aber auch selbstidealisierend seiner eigenen Fortschrittlichkeit versichern.
Ein Beispiel ist der seit fast 20 Jahren geführte Streit um Kopftuch, Burka und Burkini. Insbesondere die von ver­­schiedenen Seiten immer wieder formulierten Forderungen nach einem Burkaverbot hat manche Stilblüte getrieben. Von ei­nem »Leichentuch für Millionen Frauen« war zum Beispiel die Rede, von einem »Textilgefängnis« oder einfach von »einem Sack über dem Kopf«. Mit paternalistischer Geste schwingen sich Verbotsbefürworter regelmäßig zu Anwälten von vorgeblich durch Kleidungsstücke gedemütigten und ent­würdigten muslimischen Frauen auf.
Dabei hat die Vollverschleierung nichts mit dem Leben von Musliminnen in Deutschland zu tun. 200 bis 300 »Niqabis« – Frauen, die einen Schleier tragen, der nur die Augenpartie freilässt – sollen in Deutschland leben, unter ihnen übrigens viele deutsche Konvertitinnen. Eine Burka, bei welcher die Augen nicht sichtbar sind, konnte in Deutschland bislang nicht ausgemacht werden. Das ist kaum verwunderlich: Eine Burka ist selbst in der islamischen Welt eine Randerscheinung und kommt fast ausschließlich in Afghanistan und einigen Teilen Pakistans vor.
Aber es geht in den »Burkadebatten« auch nicht um die Burka. Die Burka hat lediglich die Funktion eines emotional aufladbaren Symbols. Über dieses Symbol lassen sich weniger greifbare Positionen ins Feld führen, Weichen stellen, symbolische Grenzen ziehen, und es lässt sich Deutungshoheit gewinnen. Die sehr simple Botschaft lautet hier: »Der Islam unterdrückt Frauen, indem er sie verhüllt. Wir dagegen haben die Frauen befreit und sind emanzipatorisch überlegen.« Eben deshalb formulierte Thomas de Maizière in seinen Thesen zur Leitkultur dann auch: »Wir sind nicht Burka.«
Die ganze Absurdität der Debatte um Verschleierungsverbote dokumentiert ein Foto, das Ende August 2016 am Strand von Nizza entstanden ist. In Frankreich ist die Vollverschleierung mit Niqab und Burka seit April 2011 gesetzlich verboten. 30 französische Gemeinden hatten Strandbesuchern nun aber auch verboten, einen Ganzkörperbadeanzug, auch Burkini ge­nannt, zu tragen. Das Foto zeigt, wie vier bewaffnete Polizisten eine Muslimin zwingen, sich vor versammelten Badegästen teilweise zu entkleiden.
Die Szene erinnert an Kontrollen der Religionspolizei in Saudi-Arabien und Iran. Die gesetzlichen Verschleierungspflichten dort werden in Europa zu Recht als mit den Menschenrechten unvereinbar angeprangert. Nur führt eine Pflicht zur Entschleierung hierzulande zu demselben Ergebnis. Die mit polizeilichen Mitteln erzwungene Freiheit, nackte Haut zu zeigen, erweist sich als nicht weniger repressiv. Das führt zu einem absurden Ergebnis: Die Bürgerrechte werden durch Einschränkung der Bürgerrechte verteidigt.
Zwischen Verhüllung und Unterdrückung besteht nicht notwendig ein Zusammenhang. Es ist der Zwang, der unterdrückt – und zwar ganz gleich, ob zur Verschleierung oder zur Entkleidung. Es gibt inzwischen viele integrierte und deutsch sozialisierte Musliminnen, die das Kopftuch in explizit emanzipatorischer Deutung der eigenen Identität positiv besetzen und ihre eigenen Interessen selbstbewusst vertreten.9 Auch sei der Burkini, der Aussage seiner Erfinderin, der australischen Designerin Aheda Zanetti nach, nicht dafür konzipiert, muslimische Frauen zu unterdrücken, sondern um selbstbestimmte Teilhabe zu erleichtern. Die Politisierung des Burkini fand erst durch die jüngeren Islamdebatten statt.
5. Wir und die Anderen
Die Diskussionen um Kopftuch, Burka und Burkini führen die Absurdität vieler aufgeregter Debatten um den Islam vor Augen. Da forderte etwa jüngst der Filmemacher Imad Karim im Gespräch mit dem Soziologen Armin Nassehi, »Europa zu einer Festung der Freiheit zu machen, in der der Islam sich unterordnen muss«.10 Eine Festung ist aber genau das Gegenteil von Freiheit. Und »Unterordnung passt nicht zu einer liberalen Gesellschaft, in der Religionsfreiheit herrscht«, wie Nassehi richtig anmerkt.
Solche Debatten geben selten Antworten. Sie dienen in erster Linie als Plattform, auf der Debattenteilnehmer Position in der Öffentlichkeit beziehen und ihren jeweiligen Standpunkt durchzusetzen versuchen. Dabei wird mehr auf Unterschiede und Konfrontation gesetzt, weniger auf Gemeinsamkeiten und Dialog. Ein Beispiel sind mediale Polittalks, die oft wenig von einer Diskussion haben, sondern eher einem Nebeneinander von Monologen gleichen.
Der eigentliche Dialog bleibt aus; er wird durch die an Negativschlagzeilen orientierte Logik mancher Medien nicht selten sogar beeinträchtigt.11So werden Muslime in Medien überwiegend mit Terror, Unterdrückung und Konflikten assoziiert. Laut der Langzeit-Auswertung des ForschungsinstitutsMedia Tenor Internationalerreichte das Medienbild des Islams in Deutschland 2016 erneut einen Tiefstand: Mehr als drei Viertel aller Berichte über Muslime zeichnen ein negatives Bild.12
Die Kluft zwischen der am Konstrukt eines »Homo islamicus« orientierten Wahrnehmung des Islams und der Realität muslimischen Lebens in Deutschland wird damit zunehmend größer. Zwischen den Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft wird eine Konfliktlinie gezogen. Damit kehrt eine geradezu archaische, aber seit Jahrhunderten vielfältig ein­geübte dichotome Denkweise zurück – das Denken in den Kategorien vonWirunddie Anderen. Statt auf ein gemein­samesWirzu rekurrieren, werden Muslime alsdie Anderen ausgegrenzt. Viele von ihnen fühlen sich pauschal unter Extremismusverdacht gestellt, während ihre Religion weiterhin – entgegen allen bisherigen empirischen Ergebnissen – oft als »Integrationsbremse« dargestellt wird.
Der Diskurs über den Islam wird somit von einer verzerrten Wahrnehmung desWir, der Mehrheitsbevölkerung, bestimmt, welche die Wirklichkeit muslimischer Lebenswelten verkennt und eigene Vorurteile nicht mehr zu erkennen vermag. Die in die Defensive gedrängtenAnderen, die muslimische Minderheit, ist damit eines großen Anteils der Deutungshoheit über ihre Religion beraubt. Lediglich einigen muslimischen Verbänden und organisierten Muslimen, die aber nur geschätzt 15 Prozent der Muslime in Deutschland vertreten, wird eine Stimme in diesem Spiel vonWir und die Anderenzugebilligt. Die Vielfalt muslimischer Stimmen kommt hingegen kaum zu Wort.
Der Journalist und Theologe Alexander Görlach spricht in diesem Zusammenhang davon, dass wir in einem »Zeitalter der Identität« leben.13 Wo es an Sinnstiftung fehlt, wird die eigene Identität durch Herabsetzung der Anderen gestärkt. Der moderne Säkularismus bietet dafür keine Lösung, weshalb auf die alten religiösen Erzählungen einer Gesellschaft zurückgegriffen wird. Denn die politisch-religiösen Narrative, die beispielsweise in den Begriff des christlichen Abendlands eingegangen sind, haben, im Gegensatz zur tatsächlich caritativen Funktion von Religion in modernen säkularen Gesellschaften, keineswegs ihre Wirkung verloren.
Die Rede von der »Wiederkehr der Religion« bezieht sich somit auf die politische Religion, welche die Denkfigur vomWir und die Anderen auf die Bühne zurückgebracht hat. Folgt man Görlachs Argumentation, stehen sich in der gegenwärtigen »Epoche der Unterscheidung« die christliche Welt und die islamische Hemisphäre als die größten Antagonisten einander gegenüber. Über die jeweilige Substanz von Islam und Christentum erfährt man in den Debatten und der sie begleitenden Medienberichterstattung dabei recht wenig. Mehr noch: Die Debatten werden geradezu von einem religiösen Analphabetismus geprägt.
6. Einen neuen Gemeinsinn entdecken
Wie Debatten, die den Kategorien vonWirunddie Anderen verhaftet sind, ins Leere laufen, zeigen diejenigen Beiträge, die sich regelmäßig wiederkehrend dem Thema Leitkultur widmen. Denn bereits mit der Prämisse wird jede Diskussion im Keim erstickt. Alle Leitkulturdebatten gehen stillschweigend davon aus, dass es eine homogene und überlegene ­deutsche Kultur geben würde. Damit wird eine historisch tief ­verankerte gesellschaftliche Vorstellung eines christlich-bikonfessionell-homogenen Normalzustands weiter zementiert.
Solche Normalitätsvorstellungen prägen die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Das Narrativ der Homogenität kann die pluralistische Wirklichkeit einer modernen Gesellschaft aber nicht erfassen. Es subsumiert stattdessen die Vielfaltdem Anderen, gegen das sich dasWirbehaupten müsse. Dabei erscheint dasWirin einer partikularen Perspektive auf die eigene Kultur, die eigene Konfession und die eigene Tradition reduziert, demgegenüberdie Anderen marginalisiert und herabgesetzt werden.
Eine pluralistische, demokratische Gesellschaft braucht jedoch ein sehr viel allgemeineresWir, das einerseits über Einzelinteressen hinausgeht und kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede anerkennt, andererseits nicht statisch, sondern dynamisch und entwicklungsfähig gedacht wird. Zu beobachten ist derzeit aber eher eine Regression. Die politische Öffentlichkeit scheint immer mehr einer radikalen Subjektivität anheimzufallen, die Projektionen mit Wirklichkeiten verwechselt. Carolin Emcke spricht in diesem Zusammenhang von einer »sozialen Entwertung des Gemeinsinns«.14
Ein entscheidendes und unumkehrbares Merkmal moderner Gesellschaft ist nun mal aber ihr kultureller und religiöser Pluralismus. Auf Assimilation ausgerichtete Identitätsdebatten versprechen Lösungen, wo es keine Lösungen gibt. Vielfalt verlangt nicht nach einer Lösung, sondern nach Ge­staltung. Dazu braucht es keinen Schritt zurück zu einer wie auch immer verstandenen Leitkultur. Es geht vielmehr da­rum, einen neuen Gemeinsinn zu finden, der dem Zusam­men­leben vieler Nationalitäten, Kulturen und Religionen in Deutschland eine Basis für die Zukunft bietet.
Die Gestaltung von Diversität ist eine ständige Aufgabe in der modernen Gesellschaft. Dafür gibt es viele Beispiele, sei es die soziale Anerkennung von Homosexuellen und Transgender, die Gleichberechtigung von Frauen oder auch die Rechte von Menschen mit Behinderung. Stets ist zunehmende Vielfalt mit mühsamen Aushandlungsprozessen verbunden ge­wesen, die voranschritten, aber auch zeitweise stagnierten oder blockiert waren. Der Islam als eine weitere Facette der Pluralität fügt sich in dieses Spektrum der gesellschaftlichen Anerkennungsprozesse ein.
Soziale Anerkennung geht nicht zuletzt einher mit einer ständigen Neuerfindung eines tragfähigenWir. Das ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, weil Identität nicht etwas Statisches ist, wie es neurechte Bewegungen immer wieder behaupten, sondern von der Gesellschaft entwickelt wird. Identität verändert sich kontinuierlich. Sie besteht vor allem aus Geschichten, die wir über uns selbst erzählen. Die gestrigen Geschichten, die Homogenität statt Vielfalt be­schwören, hinken der veränderten Wirklichkeit hinterher.
An neuen Geschichten mangelt es bislang. Wir brauchen aber neue »große Erzählungen« über das, was unsere mo­derne Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Das aufgeregte Wechselspiel zwischen Medienberichterstattung und Reaktionen beim Publikum eröffnet kaum Räume, um Alternativen zu den herkömmlichen Erzählungen aufzuzeigen. Wir brauchen aber eben solche neuen Räume des Dialogs und der Begegnung, in denen im Miteinander zwischen Muslimen, Andersgläubigen und Nichtgläubigen neue Erzählungen entstehen können.
Religionen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, insbesondere auch der Islam. Gelingt es nämlich, 1. den Islam als eine gelebte Religion mit ihren vielen Facetten sichtbar zu machen, 2. das durch Anfeindungen von Rechtsextremen und Salafisten geprägte Bild des »Homo islamicus« zu widerlegen und 3. die muslimischen Gemeinschaften durch ihre rechtliche Anerkennung zu normalisieren, dann ist auch ein großer Schritt in Richtung eines neuen Gemeinsinns für die ganze Gesellschaft getan.
Umgekehrt wird die Entdeckung eines Gemeinsinns für eine pluralistische Gesellschaft den Alltag der Muslime in Deutschland verändern. Der Islam hierzulande wird noch ein Stückeuropäischerwerden, und zwar in einem rein deskriptiven Sinn. Julia Gerlach hat im Frühjahr 2016 mit zahlreichen Muslimen in Deutschland und Österreich Gespräche geführt. Ihr Fazit ist, dass die verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen bereits in den letzten 15 Jahren angefangen haben, sich stark zu verändern. Der Islam ist sehr viel vielfältiger geworden und es gibt einen deutlichen Trend zur Individualisierung.15Muslime haben heute einen reflektierteren, selbstbewussteren und individuelleren Zugang zu ihrer Religion. Und sie leben den Islam in vielfältigen Formen, sei es als liberaler oder säkularisierter Islam, aber auch als ein Islam, der streng nachharamundhalal ausgerichtet ist.
Während man hierzulande die veränderte plurale Wirklichkeit muslimischer Lebenswelten immer noch weitgehend ignoriert, wird die Europäisierung des Islams in der arabischen Welt, aber auch in der Türkei sehr wohl zur Kenntnis genommen. Fundamentalisten kritisieren argwöhnisch diese Entwicklung. Viele muslimische Intellektuelle haben hingegen die Hoffnung, dass aus Europa Impulse für einen innerreligiösen Diskurs ausgehen können, der gegenwärtig allzu sehr auf ­Abwehr ausgerichtet und an vielen Stellen ­blockiert ist.16
7. Vielfalt braucht den Dialog
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama formulierte in einer Ansprache im Februar 2015: »Wir müssen die Narrative über den Islam verändern.« Narrative entwickeln sich aber nur aus ständig geführten Dialogen heraus. Um die vielen Stimmen in einer multireligiösen Gesellschaft aufzunehmen, sind Dialoge auf mindestens drei Ebenen notwendig:
● Innerreligiöser Dialog: Der Dialog innerhalb einer Religion dient der Selbstverständigung. Nicht nur Menschen, auch eine relativ neue Religion muss ankommen und sich gewissermaßen erden. Es geht nicht um eine politisch von außen erzwungene Anpassung, sondern darum, Widersprüche, die jeder Religion eigen sind, theologisch von innen heraus zu beantworten. So gibt es zum Beispiel innerislamischen Gesprächsbedarf, wie der muslimische Glauben mit dem Leben in einer pluralen Gesellschaft wie in Deutschland kompatibel sein kann, was es mit dem Exklusivitäts-Anspruch des Islams auf sich hat oder wie die Abkehr vom Glauben als ein elementares Recht anerkannt werden kann. Dabei ist es allein Sache der Muslime in Deutschland, einen dynamischen und reflexiven Zugang zu den ihnen jeweilig maßgeblich erscheinenden kanonischen oder auch weniger kanonischen Quellen zu finden. Nicht Sache deutscher und europäischer Muslime kann es hingegen sein, Glaubensauslegungen etwa in Saudi-Arabien oder in Iran zu verantworten.● Interreligiöser Dialog:In einer pluralen Gesellschaft kommt dem Miteinander der unterschiedlichen Konfessionen und Religionen entscheidende Bedeutung zu. Dabei muss die Vielfalt der Stimmen Berücksichtigung finden, also auch unorganisierte Muslime, Juden, Christen und Andersgläubige, die jenseits der Bekenntnispolitik von Verbänden und Kirchen ihren Glauben leben, müssen Zugang zu diesem Diskurs erhalten. Im Dialog der Religionen geht es um die Anerkennung von Glaubensunterschieden, aber auch um das Auffinden von Gemeinsamkeiten, so zum Beispiel, dass die drei abrahamitischen Religionen auf dieselben Überlieferungen zurückgreifen. Wissen übereinander und Kontakt miteinander sind die besten Wege, um Stereotype und Vorurteile abzubauen.● Gesamtgesellschaftlicher Dialog:Die religiöse Pluralisierung fordert die gesamte Gesellschaft heraus. Um mehr Verständnis füreinander aufbringen zu können, müssen die Menschen mehr übereinander erfahren und sich besser kennenlernen. Dabei sollte der Fokus auf Aspekten des muslimischen, jüdischen, christlichen und andersgläubigen Alltagslebens liegen. Die Normalität religiöser Lebenswelten bleibt oftmals unsichtbar. So etwa findet der Diskurs der jungen, muslimischen Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Es ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Zukunftsaufgabe, die Wissensvermittlung über die religiöse Vielfalt sowie unterschiedliche Dialog- und Begegnungsmöglichkeiten zu fördern. Betont werden muss aber auch, dass religiöser Pluralismus nicht ohne eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus, islamfeindlichen Tendenzen und menschenfeindlichen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft zu haben ist. Auch hier sind gesamtgesellschaftliche Initiativen gefragt, die den positiven Beitrag fördern, den Religion zur Mitmenschlichkeit leisten kann.
Voraussetzung für den Dialog auf den verschiedenen Ebenen ist der Erwerb von religiöser Kommunikationskompetenz. Paradoxerweise geht die »Wiederkehr der Religion« mit einem zunehmenden »religiösen Analphabetismus« einher. Insofern spielt religiöses Grundwissen eine große Rolle. Eine solche religiöse Bildung – deren Grundlagen bereits im Kindergarten und in der Schule spielerisch vermittelt werden können – leistet 1. einen entscheidenden Beitrag für das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen und alltagstheologischen Vorstellungen. Religiöses Wissen fördert 2. nicht nur die Offenheit gegenüber den verschiedenen Glaubensrichtungen, sondern auch den Zugang zu kollektiven Gedächtnissen, Narrativen und Denkstilen im Sinne einer Selbstverständigung über die eigene Identität. Und 3. werden durch ein über die Religion vermitteltes Verständnis anderer Lebensentwürfe, aber auch des eigenen, Kompetenzen erworben, mit anderen Lebens- und Wertvorstellungen umzugehen, ohne sie von vornherein als Bedrohung zu erleben.
8. Das Beispiel Bouchard-Taylor-Kommission
Auf der Suche nach Lösungen für ein gelingendes Zusammenleben in multireligiöser Vielfalt lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Eine Reihe von europäischen Ländern hat beispielsweise nationale Expertenkommissionen eingesetzt, um zu einer ersten Klärung und Verständigung über religions­poli­ti­sche Handlungsoptionen zu gelangen. In der kanadischen Provinz Québec ist man noch einen Schritt weitergegangen.
In Québec legte eine Expertengruppe unter Leitung des Soziologen Gérard Bouchard und des Philosophen Charles Taylor im Jahr 2008 einen Bericht vor, in dem, neben zahlreichen anderen Fragen des Zusammenlebens, die ethnisch-kulturellen Differenzen in der Provinz Québec analysiert worden waren.17 Vorausgegangen war ein Beschluss des Gemeinderats der Kleinstadt Hérouxville, der die Gesichtsverschleierung und die Steinigung von Frauen verbot. Zwar hatte sich dort dieses Problem nie gestellt, dennoch löste der Beschluss eine landesweite »Integrationskrise« aus. Daraufhin setzte die Provinzregierung in Québec die Bouchard-Taylor-Kommission ein und beauftragte sie, Vorschläge auszuarbeiten, »um sicherzustellen, dass die Maßnahmen der Integration mit den Werten einer pluralistischen, demokratischen und egalitären Gesellschaft übereinstimmen«.
Die Kommission veranstaltete 59 Anhörungen mit Vertretern von Religionsgemeinschaften, Verbänden und Kulturvereinen, hielt 22 Regionalforen ab sowie vier überregionale, wertete 900 Eingaben aus und diskutierte 328 persönliche Anhörungen – all dies innerhalb nur eines halben Jahres zwischen August 2007 und Januar 2008. Der Abschlussbericht von Gérard Bouchard und Charles Taylor macht einige konkrete Vorschläge, betont aber vor allem, dass die vorgebliche »Integrationskrise« in erster Linie eine »Wahrnehmungskrise« sei, die sich vor allem auf Unkenntnis der kulturellen Eigenheiten von ethnischen und religiösen Minderheiten zurückführen lasse.
Die Kommission plädiert für eine »vernünftige Übereinkunft« aller Religionen und Kulturen. Dazu gehört einerseits die unabdingbare Anerkennung des politischen Systems von Québec als liberal und demokratisch, der Menschen- und Grundrechte sowie des Französischen als erster Sprache. Innerhalb dieses nicht verhandelbaren Rahmens gibt es andererseits gesellschaftliche Regeln, von denen ausnahmsweise abgewichen werden kann. Statt sich auf abstrakte Prinzipien zu berufen, die in einer pluralistischen Gesellschaft zwangsläufig nicht immer vereinbar sein können, sollen Gestaltungsmöglichkeiten von Fall zu Fall gefunden werden.
Solche Gestaltungsmöglichkeiten setzen den kontinuierlichen interkulturellen Dialog voraus. Die Kommission fordert deshalb alle Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich auf, diesen interkulturellen Dialog mit dem Ziel des friedlichen Miteinanders zu pflegen und voranzubringen. Es sei besser, heißt es im Abschlussbericht, wenn Differenzen öffentlich sichtbar seien. So könne man die Unterschiede »des Anderen« besser kennenlernen, anstatt sie zu verleugnen oder zu marginalisieren. Zudem sollen sowohl die Mehrheitsgesellschaft als auch alle Minderheiten akzeptieren, dass ihre jeweilige Kultur durch den ständigen interkulturellen Austausch transformiert wird.
Die Bouchard-Taylor-Kommission erteilt dem Multikulturalismus als einem bloßen Nebeneinander der Kulturen und Religionen eine klare Absage. Stattdessen plädiert sie für einen vonessentials gerahmten Interkulturalismus. Der »Wahrnehmungskrise« wird dadurch begegnet, dass ein interkultureller Dialog in Gang gebracht wird, über den die Gestaltung der pluralistischen Gesellschaft in einem fortwährenden Prozess vorangetrieben wird. Die Situation in Québec ist sicherlich nicht in jeder Hinsicht vergleichbar mit der in Deutschland. Trotzdem kann der Bericht auch für ein multireligiöses Miteinander hierzulande Impulse setzen. So könnte die Einrichtung einer nationalen Kommission auch in Deutschland der erste Schritt hin zu einer zukunftsfähigen Religionspolitik sein.
9. Schlussfolgerungen
Die religiöse Pluralisierung der Gesellschaft ist eine Herausforderung, der bislang eher ausgewichen wird. Man hält lieber an überkommenen Vorstellungen fest, als zu akzeptieren, dass die eigene Kultur durch den sozialen, kulturellen und religiösen Austausch längst begonnen hat, sich zu transformieren. Rückwärtsgewandheit kann diese Entwicklung moderner Gesellschaften nicht aufhalten, sondern führt letztlich zu zunehmender Konfrontation. Das Ignorieren dieser Veränderungen durch das bloße Beschwören eines multikulturellen Nebeneinanders verpasst die Notwendigkeit, aber auch Chancen der Gestaltung unseres zukünftigen Zusammenlebens.
Wir brauchen in Europa einneues Zeitalter der Aufklärung