Auferstehung als Lebenskunst - Hildegund Keul - E-Book

Auferstehung als Lebenskunst E-Book

Hildegund Keul

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Beschreibung

Die Auferstehung bildet den Kern des christlichen Glaubens. Ebenso unverzichtbar ist es, sich von der Armut in der Welt bewegen zu lassen. Beides hängt innerlich zusammen. Wo sonst, wenn nicht mitten in bedrängenden Erfahrungen von Armut ist Auferstehung gefragt? Das Buch führt in inspirierender Weise vor Augen, wie der Glaube an die Auferstehung zur Lebenskunst wird, die auf Erfahrungen von Armut antwortet. Es verändert den Blick auf die Armut und stärkt den Glauben an die Auferstehung. Dazu behandelt es u.a. Jesu Orientierung an den Armen, die Armutsbewegung im Hochmittelalter, das II. Vaticanum, das „die Armen und Bedrängten aller Art" in den Mittelpunkt rückt und den heutigen säkularen Kontext am Beispiel der Arbeit der Missionsärztlichen Schwestern in Berlin-Marzahn.

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Hildegund Keul

Auferstehungals Lebenskunst

Was das Christentum auszeichnet

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

ISBN (E-Book) 978-3-451-80132-7

ISBN (Buch) 978-3-451-33287-6

Für Hans-Joachim

Die Auferstandenen

Wo sind

die Auferstandenen

die ihren Tod

überwunden haben

das Leben liebkosen

sich anvertrauen

dem Wind

Kein Engel verrät

ihre Spur

Rose Ausländer

Inhalt

Hinführung

1. Teil: Das Evangelium Jesu Christi – Leben aus der Geistkraft der Auferstehung

1.1 Die Geburt Jesu – Gott bückt sich

1.1.1 Den Verstummten das Wort! Der Jubelgesang Marias

1.1.2 Die freiwillige Armut Gottes – das Kind in der Krippe

1.2 Das Reich Gottes und seine soziale Verortung – Menschwerden im Wagnis der Hingabe

1.2.1 Das Reich Gottes als Heterotopie – keine Utopie, aber auch kein Ort wie alle anderen

1.2.2 Die vielen Gesichter der Armut – Heilung in einer verwundeten Welt

1.2.3 Armut bewegt – der barmherzige Samariter

1.2.4 Das Vaterunser – Hunger und Sättigung, Schuld und Versöhnung

1.2.5 Das Wunder der Brotvermehrung – teilen lässt wachsen

1.2.6 Öffentlich für das Reich Gottes einstehen – angreifbar werden

1.3 Kreuz und Erlösung in einer verwundeten Welt – die befreiende Macht der Auferstehung

1.3.1 Das Letzte Abendmahl – der Übermacht des Todes widerstehen, das Leben feiern

1.3.2 Gewagte Hingabe bis zum Tod am Kreuz – Macht aus Verletzlichkeit

1.3.3 »Halte mich nicht fest« – Maria Magdalena und der Machtwechsel vom Tod zum Leben

1.3.4 Auf Gottes geistreichen Spuren – Theologie im Zeichen von Emmaus

1.4 Die junge Kirche – eine Lebenskünstlerin aus der Geistkraft der Auferstehung

1.4.1 Die friedenstiftende Macht der Eucharistie in alltäglichen Erfahrungen der Armut

1.4.2 Menschwerdung als Leitgedanken der frühen Konzilien: »er entäußerte sich«

1.4.3 Die großen Heiligen – treibende Kraft einer christlichen Kultur des Teilens

2. Teil: Armut und Spiritualität im Hochmittelalter – Impulse der Mystik für eine Armutsbewegung heute

2.1 Franziskus von Assisi und die geliebte Armut

2.1.1 Das Gewaltpotential des Geldes und das christliche Alternativprogramm – die Krippe Jesu

2.1.2 Die unerschöpflichen Reichtümer des Lebens im Sonnengesang

2.1.3 Mystik – eine christliche Friedenstradition, die aus dem Glauben an die Auferstehung lebt

2.2 Mechthild von Magdeburg: in Bedrängnis die Liebe zum Leben besingen

2.2.1 Freiwillige Armut – eine Antwort auf erzwungene Armut

2.2.2 Das Monopol des Geldes und der Teufelskreis der Armut

2.2.3 Den Tunnelblick durchbrechen – gegenwärtig leben

2.2.4 »Die Liebe gebietet mir« – eine streitbare Kultur des Teilens

2.2.5 Unerhörte Gottesrede – die poetische Kraft der Armutsbewegung

2.3 Unsäglichen Machtzugriffen widerstehen: »Gott allein genügt«

3. Teil: »Besonders die Armen und Bedrängten aller Art« – der Meilenstein des 2. Vatikanischen Konzils

4. Teil: Armut und Auferstehung heute – Gott in Marzahn

4.1 Wohin die Armut ruft – was haben die Missionsärztlichen Schwestern in Marzahn zu suchen?

4.1.1 Marzahn – ein in jeder Hinsicht herausfordernder Ort

4.1.2 Berufen sein – den Ort wechseln in die Armut hinein

4.1.3 Armut verwundet – ein unsäglicher Machtzugriff

4.1.4 Freiwillige Armut – Lebenszeichen der Hoffnung

4.2 Aufbrechen aus der Lähmung: christliche Spiritualität in heilender Präsenz

4.2.1 Utopische Heilsversprechen – ein religiöses Thema in säkularen Kulturen

4.2.2 Heilung durch »hearing to speach«: Verstummte zu ihrer Stimme erhören

4.3 Das Leben zum Klingen bringen – spirituelle Ressourcen in der Musiktherapie

4.3.1 Musik löst behutsam die Zunge

4.3.2 Spiritualität in der Musiktherapie

4.4 Seelsorge im Notfall – Ritualkompetenz, die sich aus den Quellen der Mystik speist

4.4.1 Ritualkompetenz in der Schwellenzeit der Wende 1989

4.4.2 Religiös sprachlos, aber mystisch sensibel – säkulare Menschen in Ostdeutschland

4.4.3 Christliche Ressourcen entdecken, bearbeiten und anbieten – ein Dienst an den Menschen der Gegenwart

4.5 Auf Schritt und Tritt – wo Gott in Marzahn begegnet

5. Teil: Auferstehung als widerständige Lebenskunst

5.1 Mit Verwundungen leben – dem Wunder der Wandlung trauen

5.2 Gewagte Hingabe – Macht aus Verletzlichkeit

5.3 Im Zeichen der Gegenwart: wissen, glauben und handeln

5.4 Die Geistesgegenwart einer neuen Armutsbewegung – die kulturschaffende Kraft der österlichen Lebenskunst

5.4.1 Arrival Cities – eine neue Armutsbewegung

5.4.2 Innovative Klöster als Arrival Cities der Kirche – Armut teilen, Reichtum gewinnen

5.5 »Am Fenster der Verheißungen« – Auferstehung bewegt

Zitierte Literatur

Hinführung

»Alles, was du liebst, wird sterben.« Diese unheilvolle Botschaft verkündete 2012 ein berühmter Buchverlag, um damit in 110 Bahnhöfen Deutschlands einen Kriminalroman zu bewerben.1 Der Spruch trifft, denn tatsächlich stirbt irgendwann alles Lebendige auf Erden. Trotzdem braucht er eine Ergänzung durch den christlichen Glauben: Alles, was du liebst, wird auferstehen. Die Liebe ist eine Macht, die den Tod überwindet. Dies geschieht manchmal eher mühsam, manchmal aber auch leichtfüßig, und immer ganz und gar überraschend.

Im Glauben an die Auferstehung liegt die größte Stärke des Christentums. Denn Auferstehung bewegt und setzt Tatkraft frei. Sie bringt Menschen dazu, auch unscheinbaren Zeichen der Hoffnung zu folgen und den Aufbruch in unbekanntes Terrain zu wagen. Sie motiviert dazu, sich zusammenzuschließen und gemeinsam etwas zu tun gegen Unrecht und Krieg, Armut und Leid, Verwundung und Not. Auferstehung ist nicht nur eine Lehre, die erst am Lebensende zur Geltung gelangt. Sie will vielmehr täglich neu erprobt und praktiziert werden. Denn mitten in den Brüchen des Lebens geht es dem österlichen Glauben um einen Machtwechsel vom Tod zum Leben.

Allerdings muss man feststellen, dass der christliche Auferstehungsglaube in unserer heutigen Gesellschaft in Argumentationsnot geraten ist. Reinkarnationslehren erfahren wachsenden Zuspruch. Ostern erscheint jedoch zweifelhaft, nicht einmal alle Kirchenmitglieder glauben an die Auferstehung Jesu Christi.2 Vielleicht liegt dies auch daran, dass sowohl die Theologie als auch die Glaubenspraxis die Auferstehung häufig von Erfahrungen der Armut getrennt haben. Sie stehen unverbunden nebeneinander, als würden sie einander kaum kennen. Aber wo sonst, wenn nicht mitten in bedrängenden Erfahrungen von Armut, mitten in der Zerbrechlichkeit des Lebens, ist Auferstehung gefragt?

Auferstehung ist eine christliche Lehre, die eine bestimmte Lebenspraxis der Hoffnung eröffnet. Sie ist vom Jenseits her auf das Diesseits bezogen als konkretes Hier und Heute. Auferstehung ist eine Lebenskunst, die auf Erfahrungen von Armut antwortet und sich in ihnen zu bewähren hat. Schon die Evangelien erzählen davon, dass Jesus gekommen ist, »um den Armen Frohe Botschaft zu bringen« (Lk 4,18). Diese Botschaft gipfelt im Glauben an die Auferstehung. Aus diesem Glauben gewinnt das Christentum die Kraft, die es braucht, um all dem Lähmenden zu widerstehen, das Menschen in der Verletzlichkeit ihres Lebens erfahren.

Leider heißt dies jedoch keineswegs, dass sich die Kirchen insgesamt oder gar jederzeit auf die Seite derjenigen gestellt haben, die von Armutsfragen bedrängt werden. Allzu häufig ließen und lassen sie sich nicht von Armut bewegen, sondern bringen sie selbst mutwillig hervor. So werden Armutsfragen zu Streitfällen kirchlicher Debatten. Sie sind quer durch die Geschichte des Christentums hindurch ein umstrittenes Thema. Auch in jüngster Zeit hat die berechtigte Frage nach Armut und Reichtum der katholischen Kirche in Deutschland zu prekären Turbulenzen geführt. Im Folgenden möchte ich daher vor Augen führen, wie das Neue Testament den Auferstehungsglauben mit Armutserfahrungen verbindet und welche Debatten sich hieraus an Kreuzungspunkten der Geschichte entzünden.

Im 1. Teil steht das Neue Testament im Mittelpunkt, das mit seinem Auferstehungsglauben den Grundstein der christlichen Option für die Armen legt. Wer in der Bibel liest, wird unweigerlich mit Freude und Hoffnung, Bedrängnis und Not menschlichen Lebens konfrontiert sowie mit der Frage, was Gott hierzu zu sagen hat. Die Evangelien erzählen, dass Jesus sich gezielt den Armen und Bedrängten zuwendet und ihnen überraschende Lebensperspektiven eröffnet. Und die Predigten Jesu zeigen, dass er auch andere Menschen dazu bewegen will, sich von der Armut berühren zu lassen. Vermag der Glaube an die Auferstehung nicht nur in beglückenden Erfahrungen, sondern auch in der Armut Berge zu versetzen?

Die Bibel eröffnet einen konfliktträchtigen Diskurs zu Armutsfragen, der die Geschichte des Christentums durchzieht. Hierbei nimmt das 13. Jh. einen hervorragenden Platz ein. Als damals die Geldwirtschaft die Tauschwirtschaft verdrängt, entsteht als Alternative das, was die Forschung »die Armutsbewegung« nennt. Sie ist von besonderem Interesse, weil hier die klassische Mystik entsteht. Sie begreift Armut und Spiritualität, Gottes- und Nächstenliebe in einer inneren, wechselseitigen Beziehung. Wenn man in heutigen Armutsfragen Impulse aus der christlichen Tradition sucht, so kann man hier fündig werden. Aus diesem Grund beleuchtet der 2. Teil die damalige Armutsbewegung.

Der 3. Teil rückt das 2. Vatikanische Konzil in den Mittelpunkt, weil es einen theologischen Meilenstein in Armutsfragen setzt. Es ist mit seiner Pastoralkonstitution von der Option für die Armen geprägt, der die Befreiungstheologie öffentliche Aufmerksamkeit verliehen hat. Eine Schlüsselerkenntnis des 2. Vatikanischen Konzils besagt, dass Dogma und Pastoral, Leben und Lehre unzertrennlich sind. Ohne einander werden sie leer und bedeutungslos: die Lehre bewegt sich dann in vergangenen Diskursen, ohne im Heute Wirkung zu gewinnen; und die Pastoral bewegt sich in aktuellen Diskursen, ohne die spezifische Lebensmacht des christlichen Glaubens entfalten zu können. Theologisch gehört es zu den größten Herausforderungen des 2. Vatikanischen Konzils, Armutsfragen neu in der Theologie zu verorten. Das Konzil ist ein theologischer Meilenstein in Armutsfragen der Gegenwart, an dem sich das vorliegende Buch orientiert.

Im 4. Teil kommt die Theologie mit der pastoralen Praxis ins Gespräch. Wo sind in der Armut, die Menschen heute bedrängt, verschwiegene Spuren Gottes erkennbar? Diese Frage lässt sich nicht im luftleeren Raum behandeln. Sie braucht einen konkreten Ort. Einen solchen Ort habe ich in Marzahn-Hellersdorf gefunden, mitten in der größten Plattenbausiedlung Ostberlins, wo die Missionsärztlichen Schwestern leben und arbeiten. Seit 1993 kooperiere ich in verschiedenen Projekten mit ihnen – im Ostberliner Stadtkloster der Schwestern, in Bonn und Steyl, Magdeburg und Madrid. Einen Grundstein für den 4. Teil des Buchs bilden Interviews, die wir für den Deutschlandfunk geführt haben. Hieraus ist die Sendung »Am Sonntagmorgen« entstanden, die am 11. Oktober 2009 unter dem Titel »Gott in Marzahn: Armut bewegt« ausgestrahlt wurde.

In bedrängenden Erfahrungen, die Menschen in vielfältiger Armut machen, halten die Missionsärztlichen Schwestern Ausschau nach den verschwiegenen Spuren Gottes. Sie hoffen darauf, dass die Zeichen der Auferstehung, die Gott in der Armut setzt, Bedrängnis zu lösen vermag. Diese Herausforderung stellt sich jedoch auch andernorts in einer Gesellschaft, wo Armut wächst. Marzahn ist ein signifikanter Ort. Die Bruchlinien hier machen Aussagen über Störungsgebiete andernorts. Sie machen Bewegungen sichtbar, die in viel größeren Gebieten für Veränderung sorgen. In diesem Sinn ist Marzahn überall.

Im 5. Teil kommt der christliche Glaube an die Auferstehung als Lebenskunst nochmals fokussiert ins Wort. Dieser Glaube entsteht im Widerstand zu dem, was Menschen verletzt und arm macht, was sie in Ohnmacht treibt und verstummen lässt: das Leben steht auf aus dem Tod. Auch die heutigen Kirchen können den Armutserfahrungen der Menschen nicht ausweichen, wenn sie ihren Auftrag erfüllen wollen. Sie brauchen »Arrival Cities«, Orte der Ankunft, die Aufbruch eröffnen, indem sie eine Kultur des Teilens etablieren. Kirche wird zukunftsfähig, wenn sie sich Armutsfragen stellt, weil sie an die Auferstehung glaubt.

Anmerkungen

1 Die Kampagne des Rowohlt-Verlags bestand aus einer bundesweiten Großflächenplakatierung in Regional- und Fernbahnhöfen, die von Anzeigen in überregionalen Zeitungen unterstützt wurden.

2 Eine Umfrage aus dem Jahr 2012 besagt, dass in Deutschland 22,1% der Befragten an die Reinkarnation glauben und 34% an die Auferstehung Jesu Christi (http://de.statista.com/).

1. Teil:Das Evangelium Jesu Christi – Leben aus der Geistkraft der Auferstehung

Bereits im Alten Testament nehmen Armutsfragen breiten Raum ein. Dafür stehen die prophetischen Schriften, die unermüdlich Gerechtigkeit einklagen. Gottes- und Nächstenliebe sind nicht voneinander zu trennen. Diese Tradition führt das Neue Testament fort, wenn es die Armen selig preist und ihnen die Frohe Botschaft in besonderer Weise zuspricht. Zugleich gibt das Neue Testament diesem Anliegen eine neue Ausrichtung, indem es Armutsfragen im Licht der Auferstehung beleuchtet. Dabei geht es keinesfalls um eine Vertröstung ins Jenseits. Vielmehr wollen die Evangelien die Kraft der Auferstehung Jesu Christi im Alltag der Gläubigen zur Wirkung bringen.1

Auf die Bedeutung des Glaubens an die Auferstehung in konkreten Lebenskontexten hat 2002 das Buch »Sich dem Leben in die Arme werfen. Auferstehungserfahrungen« hingewiesen, das von Luzia Sutter Rehmann, Sabine Bieberstein und Ulrike Metternich herausgegeben wurde. Später bringt die Schweizer Theologin Sutter Rehmann den dortigen Ansatz nochmals auf den Punkt: »Auferstehung ist ein theologisches Kunstwort. Zwei Buchstaben, die Silbe ER macht aus einem ganz alltäglichen Wort ein höchst theologisches Gebilde. In der Bibel ist aufstehen und auferstehen aber dasselbe Wort. Wenn es heißt: ›Er ist auferstanden!‹ und wenn die Schwiegermutter des Petrus, die Tochter des Jairus, der Gelähmte oder Maria aufstehen, dann ist es dasselbe Wort.«2

Wenn dasselbe Wort verwendet wird, so heißt dies nicht automatisch, dass genau Dasselbe gemeint ist. Was Sutter Rehmann beschreibt, das ist vielmehr ein metaphorischer Prozess. Man greift auf ein säkulares Wort zurück, um etwas Theologisches zu beschreiben, für das es noch keinen Fachbegriff gibt. Die Theologie erschafft eine Metapher, die von der alltäglichen Erfahrung des Aufstehens ausgeht, um das zu beschreiben, was sich so schwer sagen lässt: das Unfassbare, worum Maria Magdalena am Leeren Grab ringt, als ihr der Auferstandene völlig überraschend erscheint. Mit einer Metapher entsteht ein neues Wort, Auferstehung. Dieses darf mit dem Herkunftswort »Aufstehen« nicht einfach identisch gesetzt werden. Aber es ist auch nicht von seiner Herkunft zu trennen.3 Hier ist kein beliebiges Aufstehen gemeint, sondern jenes Aufstehen, das aus der Geistkraft der Auferstehung Jesu Christi geschieht.

In diesem Sinn ist der Zusammenhang von Armut und Auferstehung für das Neue Testament grundlegend. Dieser Zusammenhang schärft das Profil dessen, was Jesus »das Reich Gottes« nennt und wofür er in der Öffentlichkeit eintritt. Dieses Reich bricht an, wo den unsäglichen Machtzugriffen der Armut Einhalt geboten wird, so dass Menschen den Blick wieder heben und aufstehen können. Aus der Geistkraft Jesu Christi ereignet sich Auferstehung im Alltag. Der Glaube an das Reich Gottes, den Jesus von Nazareth öffentlich bezeugt, kulminiert in der Auferstehung Jesu Christi, der sich seinen Jüngerinnen und Jüngern in völlig überraschender Weise zeigt. In der Auferstehung wird die vorherrschende Macht des Todes entmachtet, und das Leben kommt endgültig zum Durchbruch.

Das Neue Testament ist von diesem Ereignis her geschrieben. Ausgangspunkt seiner Schriften ist die Auferstehung Jesu Christi und die Frage, was sie für die Einzelnen und die Kirche, für Politik und Gesellschaft bedeutet. Vom Leeren Grab ausgehend, wird die Geschichte Jesu Christi erzählt – angefangen bei der geheimnisvollen Geburt über sein öffentliches Wirken bis in seinen schrecklichen Tod hinein. Schauen wir also von der Auferstehung Jesu her zurück auf den Anfang, seine Geburt, die das Christentum an Weihnachten feiert.

1.1 Die Geburt Jesu – Gott bückt sich 4

Der zentrale Glaubenssatz des Christentums besagt, dass Jesus Christus zugleich wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch ist. In Jesus Christus nimmt Gott selbst Fleisch und Blut an. Die Theologie hat hierfür später ein Fachwort entwickelt, »Inkarnation«, was wörtlich übersetzt »In-Fleisch-Werdung« heißt. Gott wird Mensch. Und wie jeder Mensch wird er geboren von einer Frau. Gott gibt sich der menschlichen Armut preis, indem er als verletzliches Kind zur Welt kommt. Diese Bewegung versteht das Christentum als eine Abwärtsbewegung, denn Gott wird metaphorisch »hoch im Himmel« verortet. Sprachprägend war hierbei der Philipper-Hymnus, der über Christus Jesus sagt: »Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.« (Phil 2,6–8)

Die Theologin und bildende Künstlerin Benita Joswig5 hat diese Bewegung Gottes 2008 in einer Glasmalerei ins Bild gebracht. Sie hatte sich längere Zeit mit der Mystikerin Mechthild von Magdeburg auseinandergesetzt. Daraufhin bemalte sie im Magdeburger Roncalli-Haus ein bodennahes Glasfenster mit leuchtend roter Farbe und schrieb dort mit filigranem Schriftzug die Worte ein: »Gott bückt sich«. Ein spezieller Effekt entstand daraus, dass man sich selbst bücken musste, um diese Worte lesen zu können. »Gott bückt sich« wird so zu einer Metapher der Inkarnation. Zur Menschwerdung Gottes und der Menschen gehört es, sich zu bücken. Diese Praxis trägt zum Aufbau einer humanen Welt bei.

Dass Gott sich auf diese Weise bückt, ist einer der erstaunlichsten Punkte des Christentums. Auf die Verwundbarkeit der Welt und die Armut der Menschen reagiert Gott nicht, indem er sich unverwundbar hält. Vielmehr setzt er sich in Jesus Christus selbst dieser Armut aus. Dass das Heil der Menschen zutiefst mit diesem göttlichen Wagnis verbunden ist, das sich in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi verkörpert, macht den Kern der christlichen Heilsbotschaft aus. Gott kommt zur Welt – und zwar nicht wie die Göttin Athene in der griechischen Mythologie, die aus dem Kopf des Zeus als Erwachsene entspringt, geschützt durch eine Rüstung und mit Waffen in der Hand sofort zum Kampf bereit. Sondern der christliche Gott kommt zur Welt, indem er geboren wird als verletzliches, der Hilfe und Unterstützung bedürftiges Kind. Gott geht selbst mitten in die Armut hinein, die die Menschen alltäglich bedrängt. Armut ist daher ein Schlüsselthema des Christentums.

1.1.1 Den Verstummten das Wort! Der Jubelgesang Marias

Der erste programmatische Text des Neuen Testaments zu Armutsfragen stammt aus dem Mund einer Frau, nämlich der Mutter Jesu. »Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern [und Müttern] verheißen hat, Abraham [und Sarah] und seinen [ihren] Nachkommen auf ewig.« (Lk 1,46–55)

Dieses Lied der Befreiung singt die Mutter Jesu, als sie schwanger ist und ihre ebenfalls schwangere Verwandte Elisabet besucht. Es wird nach dem Beginn der lateinischen Übersetzung »Magnifikat« genannt. Entstanden ist es im Rückgriff auf das Danklied Hannas im Alten Testament (1 Sam 2,1–11), denn die Option Gottes für die Armen ist jüdischer Herkunft. Erst die neutestamentarische Begründung dieser Option mit der Inkarnation gibt dem Jubellied sein christliches Profil. In nuce stellt es die christliche Position zur Armut dar: Gott sieht die soziale Ausgrenzung der Armen und stellt sich mit der Inkarnation auf die Seite der Marginalisierten, damit sie den Blick heben und aufstehen können. Allein schon die Tatsache, dass Maria im Neuen Testament das Wort ergreift und ein prophetisches Lied singt, steht für diese befreiende Botschaft. Das Lukas-Evangelium stellt Maria als Protagonistin einer Armutsbewegung dar, in deren Zentrum die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe steht.

Aber inwiefern war Maria selbst arm? Die sozialgeschichtliche Forschung über die Zeit Jesu stellt allgemein fest: »Die große Mehrheit der antiken Landbevölkerung lebte auf dem schmalen Grad zwischen der Sicherung der Subsistenz und dem Hunger.« (Stegemann 2010, 256) Das jüdische Palästina durchlitt damals eine wirtschaftliche Krise, viele Menschen waren bettelarm. Das Magnifikat beschreibt Maria mit dem Wort »Niedrigkeit der Sklavin«, auf die Gott schaut. Das Griechische tapeinos bedeutet niedrig und demütig, aber auch in sozialem Sinn erniedrigt. »Zwischen der Demut als Haltung und der sozialen Armut bewegt sich die Bedeutung von tapeinos im Danklied Mariens« (Berges / Hoppe 2009, 60). Im Evangelium wird nicht benannt, worin diese Erniedrigung besteht. Aber als schwangere Frau, die noch nicht auf einen Ehemann verweisen kann, steht Maria in der Gefahr, unter die Räder zu geraten. Nach damaligem Recht gefährdet die Schwangerschaft ihr Leben. Im Streitfall kann sie nicht einmal für sich selbst sprechen, denn vor Gericht ist ihr Wort ein Leichtgewicht. Von ihrem Verlobten erwartet sie zunächst keinen Beistand. Es braucht erst die Vermittlung eines Engels, dieser Himmelswesen, die in der Bibel mancherorts zwischen Frauen und Männern vermitteln. Erst das Wort des Engels öffnet Josef die Augen (Mt 1,20ff) und befähigt ihn, ganz anders zu handeln.

In seiner Menschwerdung setzt sich Gott der Verwundbarkeit aus, die Menschen verarmen lässt. Diese Fleischwerdung Gottes aber hat eine Voraussetzung: Gott braucht eine Mutter. Damit das Wort Gottes tatsächlich Mensch wird und Hand und Fuß bekommt, braucht es eine Frau. Nun könnte man vermuten, dass Gott sich einfach einer Frau »bedient« – zumal, wenn sie nicht zur herrschenden Schicht der Gesellschaft gehört. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Das Lukasevangelium erzählt, wie Gott ausdrücklich ihre Zustimmung einholt.6 Der Engel Gabriel überbringt der jungen Frau den Wunsch, dass sie die Mutter Gottes wird und Jesus zur Welt bringt (Lk 1,26–38). Erst als sie zustimmt, erhält das Kind Raum in ihr. Dabei ist das Wort aufschlussreich, mit dem diese Zustimmung erfolgt. Das griechische Wort »ginomai«, im Lateinischen »fiat«, ist ein Wort aus der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments. »Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.« (Gen 1,3) Genauso antwortet Maria: »Es werde mir gemäß deinem Wort«. Die Zustimmung Marias ist also kein resignierendes Ja-Wort, das sich in ein unveränderliches Schicksal fügt, sondern ein entschiedenes Ja zum »Es werde«, zur schöpferischen Macht Gottes, die neues Leben weckt (vgl. Keul 2003b).

An dieser Stelle ist eine Unterscheidung hilfreich, die aus der Religionssoziologie stammt und die in Armutsfragen eine besondere Rolle spielt. In der deutschen Sprache haben wir nur ein Wort für »Opfer«. Das Englische aber unterscheidet zwischen Victim und Sacrifice.

Wenn Gott einfach über Maria verfügen würde, wäre sie ein Victim. Da Gott aber ihre Zustimmung erbittet, kann sie entscheiden, ob sie ein Sacrifice geben will. Sie ist nicht Opfer eines anderen, sondern sie wird selbst aktiv, als sie in das schöpferische Handeln Gottes einstimmt. Sie spricht ihr Fiat freiwillig. Damit praktiziert sie das, was im Christentum »freiwillige Armut« genannt wird. Sie verzichtet auf vorgebahnte, sichere Wege. Sie geht große Risiken ein, denn sie weiß nicht, was ihr in diesem Abenteuer geschehen wird.7 Sie riskiert die Ablehnung ihrer Familie, ihres Verlobten, ihres Dorfes. Sie kann verarmen und alles verlieren. Aber Maria tut dies um eines höheren Zieles Willen: sie schenkt Leben.

Nach ihrem Ja-Wort macht sich Maria auf den gefährlichen Weg durch das Bergland von Judäa und besucht ihre Verwandte Elisabet, die ebenfalls schwanger ist. Lukas schweigt sich darüber aus, ob sie zuvor überhaupt mit Josef gesprochen hat. »Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib.« (Lk 1,41) Elisabet steht ebenfalls an der Schwelle eines neuen Lebens. Sie wird als alte, bisher kinderlose Frau ihr erstes Kind gebären – ein lebensgefährliches Unterfangen. Ihr Mann ist in dieser Situation nicht sonderlich hilfreich, denn er ist verstummt und spricht kein Wort mehr (Lk 1,20). Bei Maria aber können ihre Befürchtungen und Ängste genauso wie ihre Freude und Hoffnung zur Sprache kommen.

Nach Lukas geraten beide Frauen durch ihre Schwangerschaft in eine riskante Lage. Als sie sich begegnen, stimmt Maria das Magnifikat an. Ihr prophetischer Liebesgesang beschreibt jene andere Ordnung, die in Kraft tritt, wo Gott sich erbarmt. Übliche Verhaltensweisen werden umgekehrt. Diejenigen rücken in den Mittelpunkt, die sozial ganz unten platziert und damit erniedrigt sind. Gesellschaftlich stehen die Mächtigen, Angesehenen, finanziell Reichen im Blickfeld des öffentlichen Interesses. Im Reich Gottes aber haben die Armen Vorrang. Daher bestreitet und wendet das Magnifikat die sozial üblichen Praktiken.

Auch heute lässt sich alltäglich beobachten, wie sich auf der einen Seite der Hunger potenziert, während auf der anderen Seite Reichtum und Übersättigung wachsen. Wer viel Geld hat, kriegt noch Zinsen dazu, erhält Steuerermäßigungen oder wird lukrativ bestochen. Wer hingegen hungert, geht leer aus. Hunger fügt Menschen schwere Verletzungen zu. Er »nagt« am Leben. Er zwingt die Armen dazu, von der Hand in den Mund zu leben und alles zu verzehren, was an Nahrung verfügbar ist. Daher können Arme keine Saat aufbewahren, die in Zukunft Frucht bringt und die Ernährung sichert. Es bleiben auch keine finanziellen Ressourcen, um Werkzeuge anzuschaffen und Ackerboden zu kaufen. Armut zehrt alles auf und treibt in die Verschuldung. So werden Hungernde in einer Spirale des Hungers gefangen. Wer arm ist, wird ärmer; wer reich ist, wird reicher – so ist der normale Lauf der Dinge.

Im Reich Gottes jedoch, das Maria im Magnifikat besingt, werden Hungernde satt und die Reichen gehen leer aus. Dies verändert auch den Blick auf die Herrschenden, die in der Potenzierung ihres Reichtums der Gefahr des Hochmuts erliegen. Sie genießen im Reich Gottes kein privilegiertes Ansehen. Die Pläne der Stolzen, die ohne Rücksicht agieren, macht Gott zunichte. Die Herrschenden werden vom Thron gestürzt, die Erniedrigten erhöht. Von den Reichen wird Bekehrung eingefordert, damit sie ihre Reichtümer zum Wohlergehen der Armen einsetzen und die Spirale der Armut durchbrechen.

Diese Position ist befreiend für die Erniedrigten, und zwar nicht erst im Jenseits, sondern bereits hier und jetzt. Daher ist die schwangere Maria, obwohl sie und ihr Kind gefährdet sind, beGEISTert und voller Leben. Sie begreift, dass Gott die Macht derer ist, die von herrschenden Mächten und Gewalten marginalisiert sind. Um Fleisch zu werden, geht das Wort Gottes nicht zu denen, die immer schon das Sagen haben. Vielmehr steht es denen zur Seite, die in ihrer Ohnmacht verstummt sind. Das Wort Gottes, das der Engel an Maria richtet, verhilft ihr zur Sprache. Maria vertraut dem Schöpfungswort »es werde« und wird zur Prophetin des Magnifikat. Sie bricht in ihren Jubelgesang aus und besingt die Schöpfungsmacht Gottes. So findet die Erniedrigte zu ihrer Stimme – aufrecht und kraftvoll, widerständig und lebensfroh.

Maria und Elisabet, Frauen in Not und Bedrängnis, werden der Herrschaft anonymer Mächte entzogen, die dem Tod Raum verleihen. Im Zeichen des Wortes Gottes überwinden sie ihre Ohnmacht, um mit Leib und Seele dem Leben zu dienen. Sie sind als Frauen in eine Lebensordnung gestellt, in der das Männliche ein Monopol auf das Wort beansprucht. Aber das Wort Gottes, das Maria erhört und dem sie ihr Ja-Wort gibt, macht Maria sprachfähig. Damit aber wird die christliche Position deutlich: diejenigen, die der Hunger stumm macht und denen Unrecht die Sprache verschlägt, kommen vor Gott und durch Gott zu Wort.8 Das Magnifikat ist ein christlicher Schlüsseltext in Armutsfragen. Denn er stellt die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus unter das Zeichen von Armut und Auferstehung.

1.1.2 Die freiwillige Armut Gottes – das Kind in der Krippe

Gott lässt sich von der Armut der Menschen bewegen. Er bleibt nicht hoch oben im Himmel, wo er unverwundbar ist, sondern setzt sich in Jesus Christus der irdischen Not menschlichen Lebens aus. Tomáš Halík, Prager Theologe und ehemals Priester der tschechischen Untergrundkirche, schreibt pointiert: »Mein Gott ist der verwundete Gott.« (Halík 2013, 15) Die biblischen Weihnachtsgeschichten bringen diesen christlichen Glauben narrativ ins Wort. Von der Auferstehung Jesu her gehen Matthäus und Lukas zurück zum Anfang und erzählen von der Geburt Jesu. Dabei setzen sie durchaus unterschiedliche Akzente, ihre Erzählungen sind historisch nicht kompatibel. Aber theologisch liegen sie auf einer Linie. Sie setzen bei der Auferstehung an und begreifen von ihr her, was an Weihnachten geschieht.9

Das Lukasevangelium (Lk 1,5–2,20) stellt den Geburtsort Jesu heraus und trifft mit ihm eine besondere Aussage. Denn Jesus kommt nicht »zuhause« zur Welt, sondern an einem fremden Ort, der vielfach von Armut und Bedrängnis bestimmt ist. Maria ist hochschwanger, die Geburt steht kurz bevor, als sie mit Josef zusammen aufbrechen muss. Kaiser Augustus hat die Eintragung in Steuerlisten der Heimatgemeinde befohlen – so stellt Lukas es dar. Aus steuerpolitischen Gründen müssen sich die Eltern auf einen Weg machen, der das Leben von Mutter und Kind gefährdet. Jesus kommt an einem fremden Ort und am Rande der Gesellschaft zur Welt. Sein Geburtsort ist nicht der repräsentative, prunkvolle Palast, wie man es von einem Königssohn erwarten könnte, sondern in einem Unterstand für Tiere, wo er in eine Krippe gelegt wird. Beide biblischen Weihnachtserzählungen sagen, dass der Geburtsort Betlehem ist, das »Haus des Brotes«. Dieser Ort macht politisch nichts daher. Er ist so unerwartet, dass sich die drei Sterndeuter aus dem Osten erst einmal verlaufen. Sie landen im Palast des Königs Herodes (Mt 2,1f). Dort ist die herrschaftliche Welt des Kaisers Augustus präsent und übt mit Steuerlisten eine Macht aus, die sich an finanziellen Ressourcen und öffentlichem Ansehen orientiert. Aber diese Ordnung der Dinge erhält mit der Krippe eine Gegenplatzierung. Nicht erst das Kreuz Jesu, sondern schon sein Geburtsort ist eine Ungeheuerlichkeit, ein Skandalon, eine Provokation: der König des Himmels, Gottes eigener Sohn, kommt nicht in reich geschmückten, großzügig angelegten, wohlgeschützten Räumen eines Palastes zur Welt, sondern in der Armseligkeit der Fremde, einer Krippe.

Das Lukasevangelium erzählt sogar, dass nicht einmal in der Herberge Platz für die junge Familie war (Lk 2,7). Ob dies ein Zufall ist? Immerhin ist diese Frau keine Königin, für die man immer Platz hätte, sondern eine Dahergelaufene, eine Hochschwangere, die bald gebären wird. Eine Geburt aber macht Arbeit und erzeugt Lärm, sie stiftet Unruhe und ist insgesamt eine riskante Sache. Da ist es schon leichter zu sagen, dass leider kein Platz mehr in der Herberge sei. Selbst die Schwangere, ja gerade jene, die kurz vor der Niederkunft steht, erhält keinen Einlass. Hier zeigt sich ein Mechanismus, den Menschen in Armut häufig erleiden: die Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft am meisten Schutz bedarf, wird aus den Schutzräumen der Gesellschaft ausgeschlossen. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Die Menschen in der Herberge zeigen keine Bereitschaft, ihre Lebensressourcen zu teilen. Sie befürchten, dass die Schwangere sie in Schwierigkeiten bringt und zuviel kostet.

Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg greift Jahrhunderte später diesen Ausschluss auf. In einer Marienvision stellt sie heraus, dass Jesus von Anfang an arm war. Er wird geboren »am Straßenrand in der Nacht, in Bethlehem in der Fremde, wo Maria selbst ein armer Gast ohne Herberge war« (FLG V,23).10 Aber dieser Ausschluss durch die Wohlhabenden scheint die junge Familie nicht sehr zu bekümmern. Im Neuen Testament beklagen sie sich nicht über Schutzlosigkeit, Hunger oder Unbequemlichkeit. Sie schwören keine Rache. Vielmehr treten die Menschen in der Herberge einfach zurück und spielen keine Rolle mehr im Fortgang der Geschichte. Indem die Herberge die Bedürftigen ausgeschlossen hat, schließt sie sich selbst von jener Heilsgeschichte aus, die sich an Weihnachten ereignet. Die Bibel erzählt nichts davon, dass Menschen aus der Herberge später zur Krippe kommen. Der Ort der Gottesgeburt bleibt ihnen verschlossen, denn sie sind nicht zum Teilen bereit.

Noch schlimmer ergeht es König Herodes. Er trägt den Sterndeutern auf, ihm Bescheid zu geben, wenn sie den neuen König gefunden haben. Er tut zwar sehr freundlich, will seine Besucher jedoch ohne deren Wissen als Staatstrojaner einsetzen. Denn er weiß, dass er auf ihre Auskunft angewiesen ist. Aber warum geht er nicht einfach selbst hin? Die Antwort ist aufschlussreich: in seiner Ordnung der Dinge verhaftet, die sich an Macht und Ansehen, Herrschaft und Besitz orientiert, kann er das Wunder der Menschwerdung nicht erkennen. Seine Augen sind blind für jenes Licht, das an Weihnachten aufleuchtet. Er könnte direkt neben der Krippe stehen und würde nichts sehen als ein alltägliches Ereignis, ein neugeborenes Kind. Er kann die Zeichen jener anderen Ordnung nicht wahrnehmen, die mit der Geburt Jesu in Kraft tritt. Die Krippe ist Herodes verschlossen, weil er blind ist für die Geburt Gottes im Menschen. Zu jener Humanität, für die Weihnachten steht, ist er nicht bereit.

Das hat Konsequenzen. Zunächst versucht er mit aller List, die Sterndeuter zu missbrauchen. Dies funktioniert nicht. Denn nach einem eindrücklichen Traum (Mt 2,12) halten sich die drei Weisen nicht an seinen Auftrag, zu ihm zurückzukommen und Bericht zu erstatten. Dennoch merkt Herodes, dass hier eine Kraft am Werk ist, die die Grundlagen seiner eigenen Herrschaft in Frage stellt. Daraufhin versinkt er noch tiefer in seiner inhumanen Art der Politik. Sein Wunsch, unverwundbar zu sein und seine herrschaftliche, angesehene Position nicht zu verlieren, lässt ihn zu noch drastischeren Mitteln greifen. Um selbst nicht verwundet zu werden, verwundet er andere Menschen. Das ist die Herodes-Strategie, mit der eigenen Verwundbarkeit umzugehen. Nachdem die Sterndeuter nicht mehr erscheinen, ruft er zu den Waffen und lässt in Betlehem und Umgebung »alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten« (Mt 2,16). Er raubt seinem Volk das, was ihm am Herzen liegt und heilig ist, die eigenen Kinder. Das Klagegeschrei ist entsprechend laut und herzzerreißend.

Mitten in diesen bedrängenden Erfahrungen von Armut und Gewalt setzt Gott ein Zeichen der Humanität. Gott wird selbst Mensch und verbindet sich auf innigste Weise mit den Menschen, die in Not und Bedrängnis verstrickt sind. Sie brauchen Gottes Solidarität und erhalten sie auch. Jahrzehnte später bringt der Apostel Paulus dies treffend auf den Punkt: »Ihr wisst ja, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat. Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.« (2 Kor 8,9) Zeuginnen und Zeugen der Gottesgeburt sind deswegen nicht die Wohlhabenden der Herberge, die ihre Lebensressourcen horten, und auch nicht die Großen am Königshof, die ihre Machtmittel rücksichtslos einsetzen, sondern die dahergelaufenen Sterndeuter, die aus der Fremde kommen. Sie sind mit ihren Gaben zum Teilen bereit und finden endlich doch den Weg zur Krippe. Auch die Hirtinnen und Hirten auf freiem Feld, jene armseligen Gestalten, die nie im Rampenlicht öffentlichen Interesses stehen, erhalten eine besondere Einladung des Himmels. Sie opfern nicht nur bereitwillig ihren Schlaf, sondern riskieren sogar den Verlust ihrer Schafe, um zu diesem unscheinbaren Ort der Gottesgeburt zu gelangen. Das Lukasevangelium widmet ihnen eine eigene, raumgreifende Erzählung, denn »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erde den Menschen seiner Gnade.« (Lk 2,14)

Und was sehen die Menschen, als sie zur Krippe kommen? Nackt und bloß, klein und verletzlich, hilflos in allem – so kommt Gott zur Welt. Nicht ein Gott der Herrschaft und des Triumphes ist hier am Werk, der die Kleinen noch kleiner macht; sondern ein Gott, der sich auf das menschliche Leben einlässt, es selbst auf sich nimmt, es mit den Menschen teilt. Die Krippe zeigt die Armut, die Fremde und das Ausgeschlossensein, in denen Jesus zur Welt kommt. Sie macht deutlich, dass Gott mit der Inkarnation freiwillig arm wird. Damit wird die Krippe zum reellen und symbolischen Ort jener freiwilligen Armut, für die das Christentum steht. Auf die Verwundungen der Welt antwortet Gott nicht, indem er sich unverwundbar macht und unverwundbar bleibt. Vielmehr geht er selbst das Wagnis der Verwundbarkeit ein. Er wird geboren an einem Ort, der von vielfältiger Armut gezeichnet ist.

Für Maria, Josef und das neugeborene Kind bedeutet der unsägliche Machtzugriff des Herodes, dass sie fliehen müssen – so stellt es das Matthäus-Evangelium dar. Ein Engel erscheint Josef im Traum und fordert ihn auf: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten […], denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.« (Mt 2,13) Eine politische Macht trachtet dem Neugeborenen nach dem Leben. Alle drei müssen über die kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Grenzen ihres Landes fliehen. So wird Jesus in Ägypten zum Kind mit Migrationshintergrund, das den Gefährdungen des Lebens in besonderem Maß ausgesetzt ist.

Aber wenn Gott in einem Akt gewagter Hingabe selbst Mensch wird, dann verändert sich auch der Ort, an dem dies geschieht. Mit der Krippe schreibt Gott der Armut das Zeichen der Liebe ein, die alles verwandelt. Denn die Inkarnation ist ein Akt der Menschenliebe Gottes. Sie eröffnet ungeahnte Reichtümer. Als Maria Jesus in die Krippe legt, erfährt die Ordnung der Dinge eine Wende. Unter den zerlumpten Hirtinnen und fremden Sterndeutern, die die unerhörte Botschaft von der Ankunft Gottes in der Krippe erhören, bricht Friede an. Der soziale Vater Josef, der sich unter der Bedrohung durch Herodes aus dem Staub machen könnte, steht Maria und Jesus standhaft bei. Er entwickelt eine erstaunliche Stärke. Die Armen beklagen nicht ihre Armut, denn ihnen wird ein Reichtum ganz anderer Art zuteil. Sie schöpfen Kraft und Lebensmut. Zu Recht werden die Eltern, die Hirten und Magier in Krippendarstellungen als lebendige, ergriffene, bewegte, fröhliche, liebevolle Menschen dargestellt. Denn an der Krippe leuchten Lebensperspektiven auf, die dem Alltag neue Orientierung und frischen Lebensschwung geben. In der Krippe ist die Verheißung der Auferstehung bereits präsent – und wirksam dort, wo sie Frieden stiftet. Die Weihnachtsgeschichten erzählen bereits von Auferstehung.

1.2 Das Reich Gottes und seine soziale Verortung – Menschwerden im Wagnis der Hingabe

Das Magnifikat Marias und der Geburtsort Jesu bestimmen das Reich Gottes sozial und theologisch zugleich. Jesus folgt dieser Spur, als er seine öffentliche Tätigkeit als Prediger und Praktiker des Gottesreiches beginnt. Es zeichnet ihn aus, dass er sich von Armut bewegen lässt. Seine Gleichnisse, Heilungen und Wunder zeigen, wie er sich hingebungsvoll Menschen in Not und Bedrängnis zuwendet, auch wenn es ihn selbst in Schwierigkeiten bringt. Er schaut hin und sieht sogar jene Armut, die sich versteckt. Armut hat etwas Lähmendes und stößt Menschen schnell ins Verstummen. Um diesem Sog zu widerstehen, spricht Jesus sein Nein dem gegenüber, was in der Armut ohnmächtig macht. Den christlichen Glauben an die Auferstehung hat die junge Kirche erst nach dem Tod Jesu entwickelt. Aber Jesus selbst lebt bereits aus der Geistkraft, die dieser Glaube eröffnet.

Jesu Handeln spiegelt das, was Gott in der Menschwerdung tut: er bückt sich, um erniedrigte Menschen aufzurichten. Tatsächlich erzählt das Neue Testament viele Geschichten, in denen Jesus sich bückt. Er wiederholt diese kenotische Geste der Inkarnation. Er berührt Kranke, die darniederliegen, und verhilft ihnen zur Heilung, so zum Beispiel die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31). Als man eine Frau zu ihm bringt, »die beim Ehebruch ertappt worden war«, heißt es: »Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.« (Joh 8,6) Erst nach beharrlichem Nachhaken sagt er auch etwas: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.« Wer Andere aufrichten will, muss sich bücken. Besonders eindrucksvoll und mit symbolischem Gewicht tut Jesus dies in der Fußwaschung seiner Jüngerinnen und Jünger11: »Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit einem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war.« (Joh 13,6) Fragen nach Erniedrigung und Erhöhung, Armut und Reichtum durchziehen sein öffentliches Wirken. Jesus bückt sich, um den Erniedrigten Auferstehung zu eröffnen. Die lateinamerikanische Theologin Ivone Gebara sagt: »Die Auferstehung hat zu tun mit dem Magnifikat und mit der Bergpredigt, mit der Kraft des Senfkorns und dem Teilen des Brotes.« (Gebara 2002, 45)

1.2.1 Das Reich Gottes als Heterotopie – keine Utopie, aber auch kein Ort wie alle anderen

Im Neuen Testament weist Jesus beharrlich auf die Realität und Wirksamkeit des Reiches Gottes hin. Er benennt konkrete Orte, an denen dieses zunächst unsichtbare Reich sichtbar wird, weil es mitten in der von Armut bedrängten Welt eine andere Ordnung der Dinge begründet. Diese ist nicht von dieser Welt, verwandelt sie aber grundlegend. Hier werden die Armen selig gepriesen, während den Reichen ein Weheruf folgt. Hier gilt: »So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.« (Mt 20,16)12 Hier hat die Person Vorrang vor der Institution, daher wird sie vor ihrem übermächtigen Zugriff bewahrt: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27) Und in allem werden Gottes- und Nächstenliebe untrennbar aufeinander bezogen. Die übliche Trennung von profanem und heiligem Raum; von profaner und heiliger Zeit; von profaner Tätigkeit und Gottesdienst wird durchkreuzt. »Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes« (Lk 6,20), verheißt Jesu Bergpredigt. Diese provozierende Verheißung ist ein Affront gegenüber einer Gesellschaft, die Menschen allein nach finanziellem Reichtum und öffentlichem Ansehen bemisst und denkt, dass diese Ordnung der Dinge auch vor Gott gültig sei.

Das Reich Gottes ist ein jüdisches Thema, das zu Lebzeiten Jesu »zwar nicht gerade weit verbreitet war, aber insbesondere auch in Krisenzeiten des jüdischen Volkes aktiviert wurde« (Stegemann 2010, 27). In der theologischen Debatte um den historischen Jesus und seine Zugehörigkeit zum Judentum steht es nach wie vor im Mittelpunkt. Eine neuere Interpretation, die die Reich-Gottes-Botschaft Jesu als »Heterotopie«, als Andersort begreift, ist im Blick auf Armutsfragen besonders aufschlussreich. Wolfgang Stegemann hat diesen Begriff, der auf den französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) zurückgeht, in die exegetische Debatte eingebracht.13

Dass das Reich Gottes ein Andersort, eine Heterotopie ist, fällt an einem Punkt besonders auf. Das Reich Gottes ist weder auf Landkarten noch in Stadtplänen verzeichnet. Es ist weder bei google noch bei bing lokalisierbar. Daher gelangt man auch nicht so einfach dorthin wie an andere Orte. Man kann sich problemlos nachmittags in einem Café verabreden. Aber »heute um 16.30 Uhr im Reich Gottes« – eine solche Verabredung funktioniert nicht.14 Außerdem ist dieses Reich leicht zu übersehen: »Amen, Amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.« (Joh 3,3) Nichts weniger als eine neue Geburt, eine Auferstehung ist notwendig, damit dieser spezielle Ort in den Blick rückt.

Aber obwohl das Reich Gottes nicht wie eine Eisdiele lokalisierbar ist, so ist es dennoch keine Utopie. Es dient nicht der eschatologischen Vertröstung in ein ortloses Jenseits. »Utopie« bedeutet Nicht-Ort, also ein Ort, den es nur virtuell, nicht aber reell gibt – »Kein Ort. Nirgends« hat die Schriftstellerin Christa Wolf dies in einem Romantitel genannt (Wolf 1979). Das Reich Gottes ist jedoch keine Utopie, genauso wie es kein Alltagsort ist. Vielmehr bezeichnet es eine konkret verortete und sehr wirksame, eine besondere Realität. »Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen.« (Lk 11,20) Dämonen üben eine unsägliche Macht aus. Sie haben das Leben hart im Griff und saugen ihm alle Kraft aus. Wo diese unsägliche Macht gebrochen wird, da ist das Reich Gottes präsent. Daher erteilt Jesus seinen zwölf Jüngern den Auftrag: »Geht aber und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.« (Mt 10,7f) Das Reich Gottes ist schon da. Aber es ist nicht überall, sondern steht vielerorts noch schmerzlich aus. ›Schon und noch nicht‹ heißt seine Kurzformel. Im Trubel der Alltagsorte sind die Zeichen seiner Präsenz leicht zu übersehen. Jesus macht daher die Menschen auf jene Zeichen aufmerksam, an denen seine Realität und Wirksamkeit erkennbar wird.