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Anlässlich der Heiligsprechung und Erhebung Hildegards von Bingen zur Kirchenlehrerin, hat das Scivias-Institut für Kunst und Spiritualität e.V. im Oktober 2012 zu einer internationalen Tagung nach Bingen eingeladen. Dieses Buch enthält nun die Tagungsbeiträge von Annette Esser, Susan Roll und Hildegund Keul sowie Gedichte von Maureen Boyle und Matthias Gärtner, die während dieser Tagung entstanden sind. Hinzugefügt sind internationale Beiträge der amerikanischen Hildegard-Expertin Barbara Newman, der christlich-buddhistischen Theologin Chung Hyun Kyung und der deutsch-kanadischen Schriftstellerin Karen S.E. Raven.
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Seitenzahl: 297
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Annette Esser (Hg.)
Die Kirchenlehrerin
Hildegard von Bingen
Coverbild: © Annette Esser, „Jungfrau Hildegard“, 2013
Scivias-Institut für Kunst und Spiritualität e.V.
Die Kirchenlehrerin
Hildegard von Bingen
Mit internationalen Beiträgen von Annette Esser, Barbara Newman, Susan Roll, Hildegund Keul, Chung Hyun Kyung, Maureen Boyle, Matthias H. Gärtner, Jone van Rees, Karen S.E. Raven u.a.
INHALTSVERZEICNIS
VORWORT 9
ARTIKEL
Annette Esser
Sieben Stationen aus dem Leben Hildegards von Bingen
– Ein Pilgergang zum Disibodenberg 15
Barbara Newman
Die Kirchenlehrerin und das Schicksal feministischer
Theologie 67
Susan K. Roll
Warum gerade jetzt? Hildegard von Bingen als
Kirchenlehrerin 99
Hildegund Keul
Machtfragen und Wissensformen – die visionäre Kraft
der Mystik Hildegards von Bingen 117
Annette Esser
Hildegards visionäre Theologie 143
Chung Hyun Kyung
Ein Dialog mit Schwester Hildegard. Sieben Punkte aus
christlicher, buddhistischer und ökofeministischer Sicht 207
GEDICHTE - POEMS
Karen S.E.Raven
Hildegards Theologie 8
Matthias Gärtner
Die Seele ist wie ein Wind 13
Dorothea Schemme
Spätherbst 57
Maureen Boyle
Disibodenberg 58
Karen S.E.Raven
Oh Hildegard, mein Kind / Oh Hildegard - My Child 64
Matthias Gärtner
Licht 66
Karen S.E.Raven
Die große Mystikerin Hildegard von Bingen 97
Matthias Gärtner
Flügel 116
Karen S.E.Raven
Oh Hildegard, meine Liebste 141
Matthias Gärtner
Schreiben 205
Karen S.E.Raven
Hildegards Visionen 221
Karen S.E.Raven
Longing For St. Hildegard And Christus Medicus 206
Karen S.E.Raven
Viriditas 227
Annette Esser
Das wünsche ich mir – This is what I wish for 244
MEDITATIONEN
Annette Esser
Drei Hildegard-Meditationen 219
Die Seherin 222
Die Theologie von St. Hildegard von Bingen
1136
Als Magistra gewählt
Von ihren Schwestern
1940
Genehmigt der Vatikan ihren Festtag
In allen deutschen Diözesen
Pfingstmontag 2012
Kanonisiert als Heilige
Von Papst Benedikt XVI
7. Oktober, 2012
Erhoben als die alte und neue
Kirchenlehrerin
Doctor Ecclesia
Sie lehrt uns
Kosmisches
Ganzheitliches
Visionäres und
Ihre Theologie des Weiblichen
Scivias
Eine ganzheitliche Darstellung der Realität
Eine klare Struktur der christlichen Glaubenslehre
Wir sehen die geschichtliche Bedeutung
In der Kunst des Heilens
Die sie praktiziert hat
Die neues Interesse erweckt hat
In der heutigen Welt
Es ist ihre Art zu verstehen
Synergie
Das Zusammenwirken von Gott und Menschheit
Ihre Zusammenarbeit
In der Heilsgeschichte der Menschheit
Zur Verwirklichung
Der Heilung und des Heils
Zur Errichtung der Stadt Gottes
Für die gesamte Menschheit.
Karen S. E Raven
Daher hat die Zuerkennung des Titels Kirchenlehrerin der Gesamtkirche an Hildegard von Bingen große Bedeutung für die heutige Welt und außerordentliche Bedeutung für die Frauen.
Papst Benedikt XVI. am 7. Oktober 2012
Vorwort
Was auch immer Kritisches über Papst Benedikt XVI gesagt werden mag, fest steht, dass es maßgeblich dem deutschen Papst zu verdanken ist, dass Hildegard von Bingen (1098-1179) - nach seinem eigenen Bekunden eine Frauengestalt, die ihn bereits seit seiner Jugend in den 1940er Jahren fasziniert hat[1] - am Pfingstmontag, Anno Domini 2012 offiziell von ihm heiliggesprochen (Kanonisation) und am 7. Oktober desselben Jahres zur Kirchenlehrerin (Promotion) erhoben wurde. Das bedeutet, dass Hildegard schließlich 933 Jahre nach ihrem Tod nicht nur in der ganzen Weltkirche als Heilige verehrt werden darf, sondern dass ihr – als erst vierter Frau nach Teresa von Ávila, Katharina von Siena und Thérèse von Lisieux[2] - eine Ehre zu Teil wurde, die vordem nur Männern vorbehalten war: Als Doctor Ecclesiae ist sie nun eine von vier Kirchenlehrerinnen und 31 Kirchenlehrern.
Als Theologin und als Hildegardfreundin, die sich seit den 1990er Jahren mit der Heiligen beschäftigt hat, habe ich dies zum Anlass genommen, um mit dem von mir 2008 gegründeten Scivias-Institut zu einer internationalen Tagung ins „Land der Hildegard“, d.h. nach Bingen, Disibodenberg und Eibingen einzuladen. In Kooperation mit der Rupertsberger Hildegard-Gesellschaft e.V. und dem Kulturamt derStadt Bingen hatte diese Tagung in deutscher und englischer Sprache das Thema “Saint Hildegard Doctor of the Church – Kirchen Lehrerin Heilige Hildegard”. Sie fand vom 25.-28. Oktober 2012 statt. Davon ausgehend, dass wir von einer „Lehrerin“ etwas lernen können, sollte ganz schlicht danach gefragt werden, was wir in den verschiedenen Bereichen der Theologie, der Literatur, der Musik, der Kunst, der Heilkunde und der Politik nun von dieser neuen Lehrerin der Kirche lernen können. Weil uns der ganzheitliche Charakter der Tagung wichtig war, der nicht nur wissenschaftlich forschende Hildegardexperten, sondern an Hildegard interessierte Menschen aller Art ansprechen sollte, wurden nicht nur Theolog/inn/en eingeladen, sondern auch Künstler/innen aus den verschiedenen Bereichen der Malerei, der Holzbildhauerei, der Literatur und der Musik sowie auch ein Arzt als Vertreter der Hildegard-Medizin.
Dieses Buch enthält nun die wichtigsten Tagungsbeiträge. Hinzugefügt sind Beiträge, die zum Anlass der Erhebung Hildegards von Bingen zur Kirchenlehrerin entstanden sind.So sind „Die siebenStationen aus dem Leben Hildegards von Bingen“ von mir, Annette Esser, für den „Pilgergang zum Disibodenberg“ auf der internationalen Tagung zuerst verfasst und für spätere Pilgergänge weiter ausgearbeitet worden. - Dazu passend eingefügt ist, in englischer und deutscher Sprache, das Gedicht „Disibodenberg“, der irischen Tagungsteilnehmerin und Dichterin Maureen Boyle.
Es folgt ein Beitrag von Barbara Newman, deren Hildegardbuch „Sister of Wisdom“ von mir 1994 ins Deutsche übersetzt wurde.[3]Auch wenn die profilierte amerikanische Hildegard-Forscherin nicht an der Tagung teilnehmen konnte, hat sie uns ihren aktuell zum Ereignis verfassten und bereits auf Englisch veröffentlichten Beitrag „Die Kirchenlehrerin und das Schicksal feministischer Theologie“ zur Verfügung gestellt. ; dieser hat für die inhaltliche Vorbereitung der Tagung eine große Rolle gespielt. – Es folgt dann der Hauptvortrag von Susan Roll, in dem die amerikanische Liturgiewissenschaftlerin die kirchenpolitische Grundsatzfrage stellt: „Warum gerade jetzt? Hildegard von Bingen als Kirchenlehrerin.“ - Ähnlich theologisch-politisch, aber stärker an der mystischen Sprache orientiert, hat Hildegund Keul das Ergebnis ihres theologischen Workshops in ihrem Artikel zusammengefasst: „Machtfragen und Wissensformen – die visionäre Kraft der Mystik“. - Darauf folgt mein Artikel (Annette Esser), der eine umfangreiche Nacharbeit meines englisch-sprachigen Workshops „Hildegard’s Visionary Theology“ darstellt, und nach meinem Verständnis einen wichtigen theologischen Beitrag zur Hildegardforschung darstellen will. – Dazu fügen wir nun einen Beitrag derprominenten koreanischen TheologinChung Hyun Kyung. Ich habe Chung in meiner Zeit am Union Theological Seminary in New York (1996-98) als Meditationslehrerin kennen gelernt und sie ins Kuratorium des Scivias-Instituts berufen. Bei einem christlich-buddhistischen Retreat im April 2014 in Bingen hat sie sich explizit als Hildegard-Freundin geoutet. Wir veröffentlichen hier ihren Vortrag, in dem sie sieben Punkte benennt, die ihr im Dialog mit Hildegard aus christlich-mystischer, buddhistischer und öko-feministischer Sicht wichtig sind.
Im Sinne einer spirituellen Vertiefung fügeich noch die Texte zu drei Hildegard-Meditationen bei, die im Kontext der internationalen Tagung gehalten wurden. Diese verdeutlichen, dass es bei den Veranstaltungen des Scivias-Instituts auch um Meditation und Gebet im Geist Hildegards geht. - Aus diesem Geist heraus sind auch im Literaturworkshop von Petra Urban kurze Gedichte entstanden. Matthias H. Gärtner und Dorothea Schemme haben uns Ergebnisse ihrer literarischen Arbeit zur Verfügung gestellt. Und die deutsch-kanadische Schriftstellerin Karen S.E. Raven hat schließlich in Reaktion auf die Arbeit des Scivias-Instituts noch exklusiv sieben weitere, ganz neu von ihr verfasste Gedichte zur Veröffentlichung in dieser erweiterten Auflage zur Verfügung gestellt. – Diese laden zusammen mit den Fotos von Jone van Rees und den Visionsbildern Hildegards von Bingen zwischen die eher akademischen Artikeln zur Be-Sinnung im wahrsten Sinne des Wortes ein. - Am Ende des Tagungsbandes steht ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Dieses enthält eine Aufstellung von Hildegards Werken (in lateinischer, deutscher und englischer Sprache), die Nennung der offiziellen Dokumente zur Kanonisation und Promotion Hildegards von Bingen sowie eine Auflistung akademischer und populärer Hildegard-Literatur.
Zum Schluss möchte ich Claudia Arns, Heike Klaft, Angelika Fromm, Sabine Herder, Andrea Spindler und Kees den Biesen für ihre Hilfe beim Korrekturlesen und beim Erstellen der Druckvorlage danken. Und „last not least“ geht ein ganz besonders herzlicher Dank an die Abtei St. Hildegard, die die Erlaubnis erteilt hat, die Visionsbilder Hildegards hier abdrucken zu dürfen – ganz im Geist der Verbreitung er originären Lehren der neuen Kirchenlehrerin.
Dr. theol.Annette Esser
Köln und Bad Kreuznach im Sommer 2015
Die Seele ist wie ein Wind …
Ich, eine lebendige Seele,
will mit dem Lebendigen
um mich herum,
über und unter mir
und in mir
in Berührung kommen,
berühren
und berührt werden,
so wachsen,
reifen,
leben –
woher – wohin?
Gott,
Du bist die Seele,
mein Gott,
meine Seele.
DU
ICH
WIR
leben
Leben
DU
WIR
ICH
DU
ES
WIR
Die Seele ist wie ein Wind …
Matthias H. Gärtner
Hildegard von Bingen, „Die Seele und ihr Zelt“ (Scivias I.4)
Annette Esser
Sieben Stationen aus dem Leben von Hildegard von Bingen
Ein Pilgergang zum Disibodenberg
Während der Internationalen Tagung sind wir am Freitag, dem 26. Oktober 2012, zum ersten Mal den Pilgergang vom Tagungshaus „Bannmühle“ in Odernheim/Glan über den sog. „Eselspfad“ bis hin zur Ruinenstätte auf dem Disibodenberg gegangen. Als „Pilger“ sind wir dabei schweigend gegangen, um in angemessener Weise über die Stationen des Lebens von Hildegard von Bingen nach-denken und nach-sinnen zu können. Dazu sollten auch die an jeder Station gestellten Impulsfragen helfen. Auf dem Hinweg gab es drei Stationen. Oben, um den Altar der alten Kirche herum, haben wir ein Mittagsgebet gehalten. Auch auf dem Rückweg sollte es drei Stationen geben; diese haben wir wegen des Regens ins Tagungshaus verlegt. Als Autorin und Leiterin bin ich diesen Pilgergang seitdem noch viele Male gegangen, nicht nur am Disibodenberg. Die schriftliche Fassung, die ich hiermit veröffentliche, ist das Resultat dieser bisherigen Pilgergänge. Meine primäre Quelle sind dabei die Schriften Hildegards, aber auch die Lektüre der Vita Juttas von Sponheim.[4] Darüber hinaus verdanke ich viele Formulierungen Barbara Newman, deren Buch Sister of Wisdom ich Anfang der 1990er Jahre ins Deutsche übersetzt habe;[5] und viele neuere Erkenntnisse verdanke ich der Kölner Historikerin Barbara Beuys.[6]
Insgesamt möchte ich auch anmerken, dass mein biographischer Text etwas mehr Material enthält, als ich in mündlichem Vortrag, jeweils angepasst an verschiedene Pilgergruppen, verwenden würde. Folgende sieben Stationen gibt es:
Erste Station
Hildegards Kindheit und visionäre Gabe (1098-1106/1112)
Zweite Station
Eintritt ins Kloster St. Disibod am Allerheiligentag 1112
Dritte Station
Fast vierzig Jahre auf dem Disibodenberg (1112-1150)
Vierte Station
Die „Offenbarung“ der Scivias (1141-1152)
Fünfte Station
Die Gründung des Frauenklosters auf dem Rupertsberg (1150)
Sechste Station
Literarisches Lebenswerk und Predigtreisen
Siebte Station
Erste Station
Hildegards Kindheit und visionäre Gabe
Im Frühjahr des Jahres 1098 wurde auf einem Herrenhof inmitten des Heiligen Römischen Reiches ein Mädchen geboren.[7] Die Eltern Hildebert und Mechthild nannten ihr zehntes Kind Hildegard und weihten es „Gott unter Seufzen“ als Zehnt. Diese in ihrer Zeit nicht unübliche Form der Weihe durch ihre Eltern hat Hildegard später für sich selbst akzeptiert; bei anderen Menschen hat sie jedoch eine Weihe ohne eigene Willensbekundung später nicht mehr empfohlen.
Von Hildegards neun älteren Geschwistern sind uns sieben bekannt: die drei Brüder Drutwin (als Ältester der Erbe des Hofes), Roricus (später Kantor am Mainzer Dom) und Hugo (später Kanoniker in Tholey) sowie die vier Schwestern Irmgard, Jutta, Odila und Clementia, von denen eine später den Schleier in Hildegards Kloster nimmt. Das bedeutet, dass vier der zehn Kinder für sich ein religiöses Leben gewählt haben – auch dies war damals nicht so unüblich wie heute.
Bis zu ihrem achten Lebensjahr wuchs das oftmals kränkliche Kind Hildegard auf dem elterlichen Herrenhof im Kreis ihrer Geschwister so wohlbehütet und gut versorgt auf, wie es in ihrer Zeit nur sein konnte. Die adlige Familie hatte leibeigene Knechte und Mägde, die auf ihrem Hof für sie arbeiteten. Die unfreien Bauern der umliegenden Hufen mussten Abgaben an den Herrenhof leisten. Denn der adlige Stand galt als von Gott mit besonderen Qualitäten und Fähigkeiten ausgestattet und musste keine Arbeit an Grund und Boden leisten. Er war frei, frei auch zum Studium der „freien Künste“, was allerdings nur den Männern („Freiherrn“) vorbehalten war. - Hildegard hat das Standesdenken der adligen Gesellschaft mit seinen sozialen Bezügen und Abhängigkeiten und seinem eindeutigen Raster von oben und unten sehr verinnerlicht und lange verteidigt.[8]
Das 12. Jahrhundert war eine bewegte Zeit und Hildegards Familie lebte nicht am Rande, sondern im Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Die Kaiserpfalz bei Ingelheim war nahe. Die Schiffe auf dem Rhein brachten Waren und Kunde aus aller Welt: von Skandinavien bis Italien und von Spanien bis nach Jerusalem. Ihre Familie hatte sicher gute Kontakte ins „Goldene Mainz“:
Hildegards Vater wird etliche Male von Bermersheim nach Mainz, an den Sitz des Erzbischofs, geritten sein. Vielleicht hat er sich von dort einen schmucken Harnisch mitgebracht, denn in dieser Zeit waren die Mainzer Harnische so begehrt, dass sie bis nach London gehandelt wurden. Für die Mutter mag er auf dem Markt kostbaren Stoff gekauft haben und für die Küche Gewürze aus fernen Ländern. Zurück auf dem Herrenhof wird die Familie gebannt Hildebert von Bermersheim zugehört haben, wenn er von der Stadt am Strom erzählte, von den mächtigen Mauern, hinter denen die Türme prächtiger Kirchen aufragten und in deren Schutz große steinige Gebäude, Weingärten und Obstwiesen lagen.[9]
Im Heiligen Römischen Reich mit seinen erst 17 befestigten Städten war die alte römische Bischofsstadt Mainz, neben der anderen römischen Bischofsstadt Köln (deren Stadtmauer im Jahre 1106 gerade halbkreisförmig erweitert worden war) und neben Regensburg, eine der drei politisch und wirtschaftlich führenden Städte und galt als das „Diadem des Reiches“. So war die adlige Familie gut informiert über das Geschehen im Reich: der erste Kreuzzug ins Heilige Land (1096), der Judenmord in Speyer und Mainz (1096), die Flucht (1099) und die Rückkehr des Mainzer Erzbischofs Ruthard (1105), der Sturz von König Heinrich IV durch seinen eigenen Sohn Heinrich V (1104) und seine Gefangennahme in der nahen Burg Böckelheim (1105). All das war sicher auch Gesprächsstoff auf dem Herrenhof. Ohnehin war dort immer etwas los, viel Arbeit, aber auch Spiel und Feste.
Hildegard selbst aber hat uns über diese äußerlichen Ereignisse vom Anfang ihres Lebens eigentlich nichts berichtet. In ihren späteren autobiographischen Aufzeichnungen erwähnt sie nur das Jahr 1100, das sie als Zeitenwende zu einer „weibischen Zeit“ (muliebre tempus) verstanden hat. Scheinbar kam es ihr im Rückblick auf ihr Leben auf etwas ganz anderes an, nämlich auf ihre innere Erfahrung:
Bei meiner ersten Gestaltung, als Gott mich im Schoße meiner Mutter durch den Hauch des Lebens erweckte, prägte er dieses Schauen in meiner Seele ein. Denn im Jahre 1100 nach der Menschwerdung Christi begann die Lehre der Apostel und die glühende Gerechtigkeit, die er in den Christen und Geistlichen grundgelegt hatte, nachzulassen und ins Schwanken zu geraten. Zu jener Zeit wurde ich geboren, und unter Seufzen haben mich meine Eltern Gott geweiht. In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern. In meinem achten Lebensjahr wurde ich Gott für das geistliche Leben dargebracht. Und bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so dass die, die es hörten, sich sehr wunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst, dass ich während ich tief in meiner Seele schaute, doch auch das äußere Sehvermögen behielt, und dass ich dies von keinem anderen Menschen hörte. Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte.[10]
Erst ganz spät in ihrem Leben, im Alter von 79 Jahren, hat Hildegard die Erfahrung ihrer visionären Schau näher in einem Brief an Guibert von Gembloux beschrieben:
Von meiner Kindheit an aber, als meine Knochen, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, bis heute erfreue ich mich stets dieser Schau in meiner Seele, da ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin.
Mein Geist jedoch steigt, je nachdem, wie Gott es will, in dieser Schau bis zur Höhe des Firmaments empor und erhebt sich in die verschiedenen Luftregionen. Und sie erstreckt sich auf verschiedenartige Menschen, mögen sie auch weit entfernt von mir in fernen Gegenden und Orten sein. Und weil ich das auf solche Weise schaue, erblicke ich es auch gemäß der Veränderlichkeit der Wolken und der anderen Kreaturen. Dies aber höre ich weder mit leiblichen Ohren, noch in der Phantasie meines Herzens, und empfange es nicht durch die Vermittlung meiner fünf Sinne, sondern nur in meiner Seele, mit offenen äußeren Augen, sodass ich dabei niemals den Erschöpfungszustand einer Ekstase erleide. Vielmehr sehe ich es wach, Tag und Nacht…
Das Licht, das ich also sehe, ist nicht räumlich, sondern viel strahlender als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt, und ich vermag seine Höhe, Länge und Breite nicht zu ermessen. Und es wird mir als Schatten des lebendigen Lichts bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne im Wasser erscheinen, so strahlen Schriften, Worte, Tugenden und manche Werke der Menschen - in ihm dargestellt – für mich wieder. Was immer ich jedoch in dieser Schau gesehen oder erfahren haben mag, behalte ich lange Zeit im Gedächtnis, sodass ich mich erinnere, weil ich das einmal gesehen oder gehört habe. Ich sehe, höre und weiß es gleichzeitig und lerne gleichsam in einem Augenblick, was ich weiß. …
Die Gestalt dieses Lichtes vermag ich überhaupt nicht zu erkennen, wie ich auch den Sonnenball nicht ganz anschauen kann. Und in demselben Licht erblicke ich zuweilen - nicht oft – ein anderes Licht, das mir als „Lebendiges Licht“ bezeichnet wird.
Allerdings bin ich noch viel weniger imstande, auszusagen, wie ich es sehe, als beim vorhergehenden, und doch wird mitunter, während ich es schaue, alle Traurigkeit und aller Schmerz aus meiner Erinnerung genommen, sodass ich mich wie ein einfaches junges Mädchen verhalte und nicht wie eine ältere Frau….[11]
Impulsfragen
Kann ich die Erfahrung, von der Hildegard hier berichtet, nachvollziehen?
Was verstehe ich unter einer visionären Schau?
Zweite Station
Eintritt ins Kloster St. Disibod am Allerheiligentag 1112
Am Vorabend des Allerheiligentages, dem 1. November des Jahres 1112, versammelten sich drei Jungfrauen aus adligem Geblüt mit ihren Familien (hier) am Fuße des Disibodenbergs, um im Kloster des Hl. Disibod als Inklusen aufgenommen zu werden. Dies waren: Jutta von Sponheim (geb. 1092 – 20 Jahre alt), Hildegard von Bingen (geb. 1098 – 14 Jahre alt) und eine andere Jungfrau, die (vielleicht) ebenfalls Jutta hieß.
Der Disibodenberg ist seit Menschengedenken ein „heiliger Berg“ gewesen. Schon in keltischer und römischer Zeit wurde er als heilige Stätte genutzt. Anfang des 7. Jahrhunderts gründete der irische Wandermönch Disibod mit einigen Gefährten hier ein Kloster. Die Gründung hat Aufblühen und Niedergang im Wechsel der Zeiten erlebt. Im Jahre 1108 zogen dann zwölf Benediktinermönche im Schutz und mit Förderung des Mainzer Erzbischof Ruthard hierhin und wagten einen Neubeginn in den zerstörten Gebäuden. Der neue Konvent war im Jahr 1112 aber in weiten Teilen eine Baustelle und sollte es auch noch viele Jahre bleiben (bis ca. 1123).
Mit den drei Jungfrauen unter der Leitung der hochwohlgeborenen Gräfin Jutta von Sponheim wurde das Männerkloster nun endlich um eine Frauenklause ergänzt. Als Magistra sollte Frau Jutta dort eine Frauengemeinschaft aufbauen und leiten und damit etwas ganz Neues gestalten können. Damit konnte sich der Disibodenberg - wie die Mehrheit aller Benediktinerklöster seit Beginn des 12. Jahrhunderts – zu einem Doppelkloster entwickeln. Auch die Mönche des Benediktinerklosters warteten darauf. Die Idee, dass nämlich eigentlich erst Frauen das Mönchsein „in höchster Perfektion verkörpern“ (Abt Theoger von St. Georgen), dass sie religiöse Gemeinschaften gründen (z.B. Herluka in Hirsau) und sogar die Leitung eines Doppelklosters übernehmen können (z.B. Kloster Fontevraud, das 1101 von Robert von Abrissel gegründet worden war, und dem 1115 mit Äbtissin Petronella eine Frau vorstand) verkörperte das neue Denken der Zeit.
Gräfin Jutta hatte für diesen Eintritt gekämpft. Fasziniert von den neuen Reformbewegungen ihrer Zeit, die zu einem ursprünglichen Leben in Christus zurückkehren wollten, hatte sie - während einer schweren Krankheit mit zwölf Jahren (1104) – gelobt, auf die Ehe zu verzichten. Und obwohl viele „edle und reiche Männer“ sie zu heiraten begehrten, hat sie mit 14 Jahren (1106) - gegen den Willen ihrer Verwandten – den Schleier von Bischof Ruthard von Mainz genommen, d.h. sie versprach das Leben einer Nonne zu führen.[12] Ihren ebenfalls langgehegten Wunsch auf Pilgerfahrt ins Heilige Land zu gehen (der erste Kreuzzug von 1096 – vor 16 Jahren - hatte viel Kunde davon gebracht!), konnte sie dann allerdings nicht mehr verwirklichen. Ihr Bruder Graf Meinhard wusste dies zu verhindern, dies mit Unterstützung von Bischof Otto von Bamberg. Dieser hatte Jutta davon überzeugen können, dass sie ihrem Wunsch der Welt zu entsagen besser in einem Kloster nachgehen könne; und er vermittelte ihr auch den Eintritt in das neu errichtete Kloster Disibodenberg, das nicht weit von Burg Sponheim (bei Schloßböckelheim in der Nähe von Bad Kreuznach) liegt.
Bei Jutta war nun ihre Verwandte Hildegard, die mit ihren 14 Jahren ebenfalls bereits eine junge Frau im heiratsfähigen Alter war. Hildegard war seit ihrem achten Lebensjahr bei Jutta gewesen, d.h. zu dem Zeitpunkt als sie, wie sie es später selbst sagte, „Gott für das geistliche Leben dargebracht wurde.“[13] Da Hildegard bereits bei ihrer Geburt Gott als Zehnt geweiht worden war, hatte es sich für ihre Eltern gut gefügt, dass ihre Verwandte Jutta mit vierzehn Jahren den Schleier genommen hatte (1106). So konnten sie die Einlösung ihres Weiheversprechens erfüllen, indem sie ihre Tochter zu Jutta auf Burg Sponheim gaben. Wie es für Söhne und Töchter des Adels wünschenswert ist, konnte sie dort auch eine gute Erziehung erhalten. Denn Jutta, die „seit zartester Kindheit“ von ihrer Mutter Sophie von Sponheim im Lesen und Schreiben der Heiligen Schrift unterwiesen worden war, verfügte bereits über eine gute Bildung. Anders als adlige Jungen, die in den Tugenden eines christlichen Ritters ausgebildet werden sollten und daher primär das Kämpfen erlernen und das Lateinische nur lesen können mussten, war es erstrebenswert, dass die adligen Mädchen, neben anderen feinen Handarbeiten wie Sticken und Weben, auch noch Kalligraphie und damit das Schreiben erlernten. Wenn sich nun die junge Gräfin Jutta „von Gott geleitet“, wie es in ihrer Vita heißt, „für drei Jahre derWitwe Uda von Gölheim, die im Habit der heiligen Religion lebte, als Schülerin“ unterordnete, war das auch eine Chance für Hildegard.[14] Denn was lag näher als beide adligen Mädchen nun gemeinsam von der frommen Witwe erziehen zu lassen!?
Dass das achtjährige Mädchen sich als Rekluse „auf dem Berg des hl. Disibod einschließen“ ließ, „um mit Christus begraben zu werden und mit ihm zur Glorie der Auferstehung zu gelangen“, gar eingemauert an die Klosterkirche, wurde erst über ein halbes Jahrhundert später behauptet.[15] In dieser Zeit, nach dem II. und III. Laterankonzil (1139 und 1179), hatten sich starke Regulierungen für Priester (so das Zölibat) und Nonnen (so kein gemeinsamer Gesang mit den Mönchen mehr) durchgesetzt.
Stabilität, Uniformität und strengste Klausur heißen jetzt die Ideale für fromme Frauen. Und diesen Idealen soll auch die inzwischen berühmte Prophetin genügen. Als Nonnen wurden Hildegard und Jutta bei ihrer Ankunft dem Disibodenbergkloster nicht angefügt. Diese Tatsache war zu bekannt, um sie in der Biographie zu verfälschen. Aber wenn die ‚Vita‘ die jugendliche Hildegard als Inklusin einmauern ließ – es sprach nichts dafür aber auch nichts dagegen – war dem rigorosen, wenig frauenfreundlichen Zeitgeist gegen Ende des 12. Jahrhunderts Genüge getan.[16]
Dass es in Wirklichkeit zu Beginn des 12. Jahrhunderts vielfältige religiöse Lebensformen für Frauen gegeben hat, davon berichtet eine kleine Begebenheit im vierzig Jahre zuvor geschriebenen „Leben der Frau Jutta, Inkluse“ (Vita Jutta um 1140). Danach kam eine „alte Frau namens Trutwib, die in ihrer Witwenschaft viele Jahre die Kirche“ aufgesucht bei Tagesanbruch des „1. November, wenn das Fest Allerheiligen gefeiert wird“, in das Hospiz „wo die Frau Jutta mit ihren Mädchen wartete, um an diesem Tag Inkluse zu werden.“ Über diese Frau, die wohl am oder sogar im Klostergelände gelebt hat, heißt es, dass sie wie die Prophetin namens Hanna im Evangelium dem Herrn ‚Tag und Nacht mit Fasten und Beten‘ (Lk 2,36f.)“ diente und in der Allerheiligennacht „fromm den nächtlichen Laudes“ beigewohnt hat.
Die Vita hätte uns von der Begegnung sicher nicht berichtet, wenn diese fromme Frau nicht eine ahnungsvolle Vision vom Leben und Sterben Juttas gehabt hätte, - eine Vision, die Jutta bis an ihr Lebensende begleiten sollte.[17]
Impulsfragen
Welche Vorstellung habe ich vom Tag des Eintritts dieser drei Jungfrauen auf dem Disibodenberg?
Warum hatte nicht nur Jutta, sondern hatten auch Hildegard und die dritte Jungfrau diese religiöse Lebensform der Inkluse für sich gewählt?
Was hat sie wohl an diesem ganz besonderen Tag bewegt? Und was bewegte die Menschen, die mit ihnen waren? Was bewegte Hildegards Eltern, die ihre Tochter bei ihrer Geburt Gott „unter Seufzen“ geweiht hatten? Und was bewegte die Mönche die sie im Kloster erwarteten?
Was würde das für ein neues Leben werden?
Dritte Station
Fast vierzig Jahre auf dem Disibodenberg
Hildegard lebte viele Jahre auf dem Disibodenberg, ohne über ihre seltsamen und verwirrenden Erfahrungen visionärer „Schau“ und „Gesichte“ zu sprechen. Nur Jutta musste etwas davon gewusst haben oder ist sich zumindest der besonderen Gabe Hildegards bewusst gewesen. Denn Hildegard galt als die „treue Schülerin der Frau Jutta“, die ihr „besonders vertraut” war.[18] Nach dem Zeugnis ihrer Vita erzog sie Jutta „sorgfältig im Gewande der Demut und lehrte sie das Singen der Psalmen.“[19] Und dann war da der gleichaltrige gelehrte Mönch Volmar, dem man Hildegards weitere Erziehung anvertraute, und der ihr lebenslanger Freund, Vertrauter und Sekretär wurde.
Die Tatsache, dass Hildegard nicht Theologie im heutigen Sinne studiert hat, muss im Kontext ihrer Zeit des 12. Jahrhunderts gesehen werden. Bevor Papst Gregor im Jahr 1079 verfügte, dass an den großen Kathedralen Schulen errichtet werden sollten, an denen dann scholastische Theologie gelehrt wurde, hatten die Klöster das Bildungsmonopol. D.h. in der frühmittelalterlichen Gesellschaft waren Mönche die Träger der Bildung und das größte Wissen wurde in den Klöstern vermittelt, also an den Orten, die das Wissen der Antike über die dunkle Zeit in das christliche Abendland des Mittelalters gerettet hatten. Hildegard befand sich also zu ihrer Zeit an einem exzellenten Bildungsort. Dass sich aber später aus den Kathedralen in den Städten im 12. Jahrhundert bedeutende theologische Schulen und dann schrittweise im 13. Jahrhundert die ersten Universitäten entwickelt haben, war eine Entwicklung, an der sie als Frau nicht mehr teilhaben konnte. An diesen neuen Bildungsorten wurde das Studium der sieben freien Künste, der „artes liberales“, gelehrt, in denen seit dem Jahre 1000 der gesamte Lehrstoff der allgemeinbildenden Fächer zusammengefasst war (im Gegensatz zu den „artes mechanicae“, in denen Handwerker für einen Beruf ausgebildet wurden). Den ersten Teil der Schulung bildete dabei das Trivium mit den drei Fächern (lateinische) Grammatik, Rhetorik und Logik. Für Fortgeschrittene folgte ein Quadrivium mit den exakten Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Nur wer das Standartcurriculum durchlaufen hatte, konnte sich höhere Erkenntnis erschließen und war berechtigt, sich an das Studium der Theologie zu wagen.[20] Aber obwohl die neuen (Prä) Scholastiker an den Kathedralschulen selbstverständlich Männer waren, hatten auch die meisten männlichen Priester keineswegs Theologie studiert, sondern konnten oft nur notdürftig das Lateinische und damit „die Messe lesen“. Das bedeutet , dass Magistra Jutta und Magistra Hildegard im Kontext ihrer Zeit äußerst gebildet waren. Und in Volmar hatten sie einen gebildeten Mönch an ihrer Seite, der die sieben freien Künste und damit die lateinische Grammatik und das Schreiben der Noten (Neumen) beherrschte.
Hildegard nahm zu ihrer Zeit auf dem Disibodenberg am benediktinischen Leben des Doppelklosters teil: Stundengebet und Psalmengesang in der Klosterkirche, feierliche Messen an den Hochfesten, Pflege des Klostergartens, Lektüre der Heiligen Schrift (der lateinischen Vulgata). Manchmal kam auch hoher Besuch.
Als 1120 die Reliquien der Heiligen Ursula in Köln gefunden worden waren, wurde etwas davon (die Teilung heiliger Reliquien war üblich) auf den Disibodenberg gebracht. Die Jungfrau Ursula, die mit ihren 11.000 Jungfrauen mutig den Hunnen widerstand, war Hildegards Vorbild und Lieblingsheilige, der sie einen ganzen Zyklus von Liedern widmete:
In visione verae fidei Ursula Filium Dei amavit, et virum cum hoc saeculo reliquit, et in solem aspexit… / In der Schau des wahren Glaubens hat Ursula den Gottessohn geliebt und den Mann mit dieser Welt verlassen und in die Sonne geblickt...[21]
Im Jahr 1138 kam Bischof Sigward von Uppsala, Schweden, und weihte drei Seitenaltäre und den Altar im Hauptchor ein. Im Film „Vision“ wird gezeigt, dass er dabei auch seine Reisebibliothek mit wertvollen Büchern, u.a. von griechischen Philosophen und arabischen Medizinern, mitgebracht hat, in denen Hildegard studierte.
Im Jahr 1143 weihte Erzbischof Heinrich von Mainz die große Klosterkirche und ihren Hauptaltar dem Heiligen Johannes, der nach damaligem Verständnis zugleich der Lieblingsjünger Jesu, Apostel, Evangelist und Seher ist. In ihrer späteren Selbstbezeichnung als „Posaune Gottes“ (Offb. 1,10) und als „Adler“ identifizierte sich Hildegard sehr mit Johannes:
„Ei, ei, Adler, warum schläfst du in deinem Wissen? Erhebe dich aus deiner Unschlüssigkeit.“[22]
Im gleichen Jahr 1143 wurden auch die Gebeine des Heiligen Disibod feierlich im Hochgrab der Klosterkirche bestattet. 30 Jahre später schrieb Hildegard auf Bitte von Abt Helenger und der Disibodenberger Mönche die Vita des Heiligen (1170).[23]
So hat Hildegard in ihren fast vierzig Jahren auf dem Disibodenberg viel erlebt und gelernt. Alles Wissen, das sie in späteren Jahren in lateinischer Sprache über Steine, Pflanzen und Tiere sowie deren Bedeutung und Heilkraft für den Menschen aufschrieb, muss sie in dieser Zeit erworben haben. Dabei ist ihr Schreiben zu originell, als dass sie es nur von Volmar oder aus den Büchern der großen Klosterbibliothek gehabt haben konnte. Auch die Annahme, dass Hildegard bloß ein „inspiriertes Gefäß“ gewesen sei und ihr Wissen in Visionen „in einem direkten Diktat von Gott empfangen hat”[24], ist so nicht zu halten. Vielmehr ist es heute spannend, zu erforschen, aus welchen antiken und arabischen Quellen Hildegard für ihr medizinisches Wissen geschöpft hat, auch wenn sie selbst direkt keine Autoren zitiert.
Hildegards Aufzeichnungen enthalten solch detaillierte Naturbeobachtungen, dass sie endlich auch als eine echte Naturforscherin mit großem Wissensdrang bezeichnet werden muss. Zum Beispiel schreibt sie über Fische:
Es gibt bestimmte Fische, die aufgrund ihrer Natur am Grund des Meeres und der Flüsse hausen und dort ihre Nahrung suchen, und so durchfurchen sie den Grund wie Schweine die Erde und fressen dort bestimmte Pflanzen und bestimmte Wurzeln, durch die sie lange leben, und sie suchen dort auch immer anderes, das als ihre Nahrung passt. Manchmal steigen sie auch bis fast zur Mitte dieser Gewässer auf und manchmal steigen sie zum Grund hinab und bleiben hauptsächlich dort…. Einige lieben den Tag und den Sonnenschein mehr als die Nacht und den Mondschein, manche jedoch lieben die Nacht und den Mondschein mehr als den Tag und den Sonnenschein.[25]
Und über den Fluss Glan, der den Disibodenberg umfließt, und in dem sie solche Fische vielleicht bei Tag und bei Nacht beobachtet hat, schreibt sie:
Der Glan entspringt anderen Flüssen. Daher ist sein Wasser ziemlich herb und gesund, und es taugt zu Speisen und Getränken und zu Bädern und zum Gesicht waschen. Auch seine Fische sind gesund, aber sie können sich nicht lange halten wegen der Herbheit des Wassers. Auch sein Sand ist schön und gesund.[26]
Sich vorzustellen, dass sich Hildegard selbst das Gesicht am Fluss gewaschen hat, scheint das beste Argument gegen die Vermutung, sie hätte vierzig Jahre lang eingemauert als „Rekluse“ hinter Mauern gelebt. Vielmehr können wir uns vorstellen, dass sich im Laufe der Jahre die kleine Frauenklause zu einem benediktinischen Nonnenkonvent entwickelt hat. Der außerordentliche Ruf von Magistra Jutta hatte dazu geführt, dass zehn weitere junge Frauen als Postulantinnen aufgenommen werden konnten. Als Jutta dann am 22. Dezember 1136 kurz vor Weihnachten starb, wurde Hildegard – auch auf den Wunsch der Verstorbenen hin - zu ihrer Nachfolgerin bestimmt.
Jede/r erwartete nun, dass die neue Magistra „in Juttas Fußstapfen treten“ und vielleicht auch so werden würde wie sie. So hatte Jutta ein „fürsorgliches Herz“ gehabt und viele persönliche Begegnungen und Briefkontakte mit Menschen aller Stände gepflegt. Aber – was nicht alle sahen – Jutta hatte sich selbst auch eine sehr strenge Askese auferlegt
durch Nachtwachen, Beten und Fasten in Kälte und ohne Kleidung.Neben anderen Formen, mit denen sie sich schreckliche Kreuzigungen und Wunden zufügte, pflegte sie vom Tag ihrer Einschließung bis zu ihrem Ende eine eiserne Gürtelkette, mit der sie ihre jungfräulichen Glieder züchtigte, auf dem bloßen Leib zu tragen.[27]
Wie sehr sie dabei ihren Leib geschunden hat, das wurde ihrer Vertrauten Hildegard erst nach ihrem Tod völlig sichtbar, als sie mit zwei anderen Schwestern ihren Leib waschen musste:
Als nun ihre […] Schülerinnen den Leib ihrer geliebten geistlichen Mutter und Meisterin mit ihren Tränen benetzten und näheranschauten, fanden sie unter unzähligen Anzeichen ihres Leidens auch, dass die Kette, die sie auf ihrem Fleisch getragen hatte, drei Furchen rings um ihren Leib eingedrückt hatte.[28]
Impulsfragen
Welche Gefühle haben Hildegard bewegt, als sie Juttas geschundenen Leib sah? Was bewegte sie nach dem Tod ihrer Magistra, deren wichtigste Vertraute sie doch gewesen war und deren Nachfolge sie nun antreten sollte? Wollte sie so werden wie Jutta?
Konnte sie als neue Magistra ihre eigenen Erfahrungen von der Schönheit und Heilkraft der Natur dem Erbe Juttas entgegenstellen?
Sollte sie nun vielleicht von ihren Erfahrungen visionärer Schau berichten, von der sie bisher nur mit Jutta gesprochen hatte?
Vierte Station
Die „Offenbarung“ der Scivias
Hildegard war 38 Jahre alt, als sie nach Juttas Tod die zweite Magistra auf dem Disibodenberg wurde. Juttas Ideal, äußere Liebenswürdigkeit mit körperlicher Züchtigung zu verbinden, wollte sich Hildegard anscheinend nicht zu Eigen machen. Auch hat sie ihre Autorität zunächst nicht genutzt, um ihre Visionen zu offenbaren.
Ihre Vita berichtet vielmehr, dass sie dies „aus weiblicher Scheu, aus Furcht vor dem Gerede der Leute und dem verwegenen Urteil der Menschen unterließ.“ Erst fünf Jahre später „nahte die Zeit, in der ihr Leben und ihre Weisheit zum Heile vieler offenkundig werden sollten…. Da sollte ein heftiger Stachel sie zwingen, nicht länger mit der Enthüllung des Geoffenbarten zu zögern.“[29] Eine langwierige Krankheit, die Hildegard ihrer Verweigerung des Willens Gottes zuschrieb, mahnte sie, nicht länger mit dem Aufschreiben ihrer Visionen zu zögern: „Da wurde ich in dieser Schau unter heftigen Schmerzen dazu gezwungen zu offenbaren, was ich gesehen und gehört hatte.“ Schließlich vertraute sie sich ihrem Lehrer Volmar an, denn – wie sie schreibt - liegt ihm „das neugierige Ausfragen, das vielen Menschen anhaftet“, fern:
Daher hörte er auch diese wunderbaren Erscheinungen gerne an, war voller Staunen und trug mir auf, sie insgeheim aufzuschreiben, bis er sähe, welcher Art sie seien und woher sie kämen. Als er jedoch erkannte, dass sie von Gott waren, vertraute er sie seinem Abt Kuno an und arbeitete von an mit großem Eifer mit mir daran.[30]
Das nun folgende Geschehen, bei dem allein geistliche Männer über die visionären Erfahrung dieser Jungfrau zu befinden und zu urteilen haben, mutet wie ein Gerichtsprozess an, der erahnen lässt, warum sich Hildegard jahrzehntelang gefürchtet und geschämt hat, darüber zu sprechen.
So berichtet ihre Vita in allen Einzelheiten, dass Abt Kuno zunächst „das außergewöhnliche Ereignis“ erwog und „erkannte, dass bei Gott nichts unmöglich sei“. Er berief dann „die Klügsten des Klosters und legte ihnen das Gehörte zur Beurteilung vor. Er fragte Hildegard aus nach ihren Schriften und Visionen und riet ihr, das kundzutun, was Gott ihr eingebe.“ Weil ihm aber „