Aufgeräumt - Stephan Schaar - E-Book

Aufgeräumt E-Book

Stephan Schaar

0,0

Beschreibung

Berlin vor der Wahl: Weiter so mit dem Chaos oder Aufbruch in eine neue soziale Struktur? Der Protagonist N. Bohse hat sehr spezielle Ansichten darüber, wie man mit bestimmten Missständen aufräumen sollte. - Das stößt manche von seinen alten Freunden vor den Kopf, auch wenn sie ihm in der Problemanalyse widerwillig zustimmen müssen...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 200

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 Stephan Schaar

 

 Aufgeräumt

 

 Eine Berlin-Social-Fiction

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Berlin, 2020/21 verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes: Stephan Schaar | Manfred-von-Richthofen-Straße 169 | 12101 Berlin

Covermotiv: Renée Strecker, Berlin

Beratung: Noah Schaar

Lektorat: Aaron Schaar & Noah Schaar

1Unrasiert und fern der Heimat, fern der Heimat unrasiert, summte Norbert und dachte, als ihm das bewußt wurde: Wieso muß ich immer an meinen Vater denken, der das immer mal vor sich hin gesungen hat, wenn wir gemeinsam unterwegs waren, auf dem Fahrrad oder zu Fuß, im Grunewald oder auf dem Weg zum Garten?  Vielleicht lag es daran, daß er für seine Verhältnisse heute ungewöhnlich früh aufgestanden war. Aber gar keine Frage: selbstverständlich hatte sich Norbert rasiert, extra sorgfältig sogar, und nach einer Tasse Kaffee im Stehen das Taxi bestiegen, das ihn soeben vor der Eingangshalle des Flughafens Willy Brandt abgesetzt hatte; die Uhr zeigte 750 Uhr - es blieben noch zehn Minuten bis zur planmäßigen Landung.

Er betrat das Gebäude des BER mit forschenden Blicken: Wo kommt sie an? Aha, das schaffe ich locker. Dann aber hieß es warten, mehr als eine halbe Stunde. Noch 30 Minuten, bis wir uns endlich im wirklichen Leben wiedersehen nach - wie lange war das her? Ein paar Jahre + 1. Das “Bonusjahr” war in Wahrheit ein Malusjahr gewesen, ein verlorenes Jahr, weltweit; ihn und seinesgleichen hatte es noch vergleichsweise milde getroffen. Für andere war es um die nackte Existenz gegangen, und er kannte nicht wenige, die diesen Kampf gegen die Gesetze des Marktes und eine schwerfällig-bevormundende Politik verloren hatten.

Gleich, als er am Blumen-Shop vorbeikam, war ihm ein kleiner, aber besonders stilvoller Strauß ins Auge gefallen, und er hatte sofort seinen hastigen Schritt abgebremst, um die Blumen zu erwerben; denn mit leeren Händen wollte er seine alte Freundin nicht in Empfang nehmen. Gleichwohl nahm er nun das Bündel in die linke Hand, um seine rechte frei zu haben und Masako besser in die Arme schließen zu können, wenn sie um die Ecke käme.

Da, endlich - sie strahlte ihn schon von weitem an, als die Schiebetür sich öffnete und man bis zur Paßkontrolle blicken konnte auf die Passagiere, die auf dem Weg zur großen Halle nur noch den Zoll passieren mußten, ehe sie ganz angekommen waren.

Nach der ebenso herzlichen wie langen Begrüßungszeremonie schlenderten beide zum Ausgang, doch statt in ein Taxi zu steigen, wollte die Japanerin lieber mit der S-Bahn fahren: “Ich komme erst richtig in Berlin an, wenn ich mit der S-Bahn gefahren bin.”

Unterwegs nach Tempelhof berichtete die ebenso zierliche wie energische Frau von einem angenehmen Flug, dessen größter Vorteil für sie darin bestanden habe, etliche Stunden schlafend verbringen zu können. Dann und wann hob Masako ruckartig den Kopf, um konzentriert auf  Orte und Gebäude zu blicken, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen - die einen, weil sie sich so wenig verändert hatten, daß die Japanerin diese auch nach Jahren mühelos  wiedererkennen konnte, die anderen, weil sie so zugepflastert waren mit Wahlplakaten in elektronischer oder papierner Ausführung, daß sie kaum zu identifizieren waren.

Dann hielt der Zug im Bahnhof Tempelhof, und voller Ungeduld drückte Masako auf den Türöffnet. “Eine weiter wäre näher”, meinte Norbert; aber Masako hatte schon ihren Fuß auf den Bahnsteig gesetzt. Er folgte ihr mit den Koffern die Treppe hinab und bemerkte ihr Erstaunen, als beide die verkehrsreiche Straße erreicht hatten: “Worüber wunderst du dich? In Tokyo kann man doch von der Straße essen - hast du immer gesagt, und ich fand das auch. Ich habe euch immer darum beneidet. Hier sieht es jetzt endlich halbwegs zivilisiert aus. Aber es ist leider nur eine Wahlkampf-Maßnahme. Wenn es nach mir ginge, dann würde richtig aufgeräumt.”

Die kleine Frau sah ihn verwundert an, insbesondere seinen angewiderten Gesichtsausdruck. War das noch derselbe Norbert, den sie aus gemeinsamen Studienzeiten kannte? Na ja - das war ja nun auch schon eine ganze Weile her, überlegte sie: Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war Berlin nicht nur ein Drecksloch, es war obendrein von einer Mauer umgeben. Wie ein Zoo, wie ein Museum für seltsame Lebensweisen.

Hierhin - also: in den Westen der damals geteilten Stadt - hatte es seinerzeit allerhand merkwürdige Menschen gezogen, angefangen bei den jungen Männern, die keine Lust auf Bundeswehr hatten, über entlaufene Schwabenkinder, die der Enge ihrer Heimatdörfer entgehen wollten (um nach dem Mauerfall in großstädtische Wohlstandsoasen wie den Kollwitz-Kiez zu fliehen) bis hin zu zahnlosen Obdachlosen, Suffkes und Junkies aus dem In- und Ausland, auch Prominente aus der Glitzerwelt des Rock ’n’ Roll darunter.

Während Masako Kagawa ganz in Gedanken an damals versunken war und zugleich den Tempelhofer Damm beäugte, den sie in Richtung Platz der Luftbrücke entlanggingen, um dann aber doch in die Höppnerstraße abzubiegen, weil das nicht nur kürzer, sondern vor allem auch angenehmer war, hatte ihr Norbert ein paar Erklärungen zu geben versucht; doch seine Worte drangen nicht zu ihr durch.

“Entschuldige bitte: Was sagtest du gerade?”, strahlte sie ihn mit jenem immer noch gewinnenden Lächeln an, dem er bisher nie hatte widerstehen können. “Willst du behaupten, ihr hättet in Berlin kein Armutsproblem mehr, mit einem Mal?”

“Das Problem mit der Armut ist global, das weißt du so gut wie ich”, entgegnete Norbert, “aber dem Problem mit den Pennern wird endlich bald nicht mehr ausgewichen.”

“Ah, bekommen die jetzt alle ein Zuhause, und dann ist es gut, oder wie?”

“So ähnlich. Die bekommen, also: wenn es nach mir ginge, - je nachdem, was genau für ein Problem sie haben - eine Therapie angeboten. Der Staat bezahlt das, damit sie wieder in ein geregeltes Leben zurückkehren können: ohne Alkohol, mit Arbeit, Nachbarschaft, Freunden - na eben das ganze Pipapo.”

“Und schon sind sie weg von der Straße!”

“Und schon sind sie weg von der Straße, Tatsache. Denn wenn sie das Angebot ablehnen, werden sie, wenn es nach mir geht, in die Uckermark verfrachtet. Das heißt: Genau genommen werden alle erst einmal dorthin gekarrt, ob sie wollen oder nicht. Und dann haben sie die Wahl: Therapie und Rückkehr in ein mehr oder weniger normales Leben - oder sie vegetieren weiter vor sich hin.

Aber dann nicht mehr auf eigene Faust, sondern unter Aufsicht und mit Betreuung.  Sie bekommen sogar den Fusel, wenn sie partout nicht davon lassen können - stell dir das so ähnlich vor wie die Methadon-Abgabestellen für Heroinsüchtige. Nur eben: Weit weg von der Hauptstadt. Damit schaffen sie sogar noch Arbeitsplätze in einer strukturschwachen Gegend!”

Dieser Schlag in die Magengrube war heftiger, als Masako nach dem langen Flug vertragen konnte.

Ein gedanklicher Schlagabtausch mit Norbert, ihrem einstigen Schöneberger WG-Genossen und Kommilitonen an der FU - er Jura, sie Soziologie - war zwar immer schon eine unterhaltsame Angelegenheit gewesen, die sie stets zu schätzen wußte. Aber nicht mit dem Jetlag und nach - wie viele Jahre waren das jetzt, fragte auch sie sich jetzt - nicht nach mindestens fünf Jahren, die sie sich nur per Skype gesehen hatten.

Er wohnte jetzt im sogenannten Fliegerviertel - “in grüner Citylage”, wie es in der Maklersprache hieße. Nach der Scheidung von Marion hatten sie das gemeinsame Haus verkauft (was sollte er oder sie ohne Kinder auch  mit dem großen Kasten in Schmargendorf? ), und er hatte durch seinen Kumpel Wolfgang aus dem ARC den Tip erhalten, daß ein altes Mütterchen ohne Verwandte einen Käufer suche.

Mit ihr war er sich dank seinem unwiderstehlichen Charme im Umgang auch mit älteren Damen rasch handelseinig geworden, und nach einem allerdings umfangreichen Umbau des alten Gemäuers zu einem Smart Home hatte er sich vor nunmehr drei Jahren in einer Nebenstraße dieser ruhigen Gegend niedergelassen, wie er es in Gedanken selbst nannte; mit über 50 ist man irgendwann nicht mehr der Unruhegeist, der man womöglich jahrzehntelang war...

“Schön hast du es hier, wirklich schön”, lobte Masako die moderne und vor allem funktionale Einrichtung des nur zweistöckigen Hauses, das sie nun endlich in echt besichtigen konnte, wo es - wie zu erwarten war - ganz anders wirkte als auf Fotos oder per Skype-Kamera. Es verfügte neben einem Wohn- und einem Schlaf- sowie einem Arbeitszimmer lediglich über ein kleines Gästezimmer sowie zwei Bäder und eine von Künstlicher Intelligenz dominierten Küche, hatte aber auch einen Garten, in dem es nicht nur ein Swimmingpool, sondern auch eine Sauna gab; und das alles wirkte beileibe nicht so, als wolle ihr alter Freund mit seinem Wohlstand protzen, sondern machte lediglich den Eindruck, daß er sich leisten konnte, woran er Freude hat - und das gefiel ihr.

Er lächelte versöhnlich: “Wie spät ist es jetzt bei euch, 18 Uhr?” - “Ja, acht Stunden später als hier”, gähnte sie und verabschiedete ihn mit Blicken nach oben.

Erst als sie - ohne den Wecker gestellt zu haben - nach etwa anderthalb Stunden wieder erwachte, bemerkte sie, mit wieviel Liebe er das Gästezimmer für sie hergerichtet hatte: Nicht nur standen ihre Lieblingsblumen, ein buntes Arrangement aus Dahlien, in einer stilvollen Vase auf einer kleinen Jugendstilkommode, an der Wand sah sie auch ein offenbar reproduziertes Foto aus den bewegten 80er Jahren, das sie selbst zeigte und daneben Norbert mit Britta, seiner damaligen Freundin, und Nelson, den verrückten Chilenen, mit dem sie andauernd unterwegs gewesen war durch Clubs, die damals noch Discos hießen, privaten Parties in Dutzenden WGs und natürlich in Vorlesungen und Seminaren bei Hoppe, dem Soziologie-Guru, an dem kein Weg vorbei führte, wenn man etwas auf sich hielt.

“Sag mal, das habe ich ganz aus dem Blick verloren: Lebt der Hoppe eigentlich noch?” Sie kam nur langsam die Treppe herab, denn auf dem Weg in das Wohnzimmer konnten sich ihre Blicke schwer von den geschmackvoll ausgesuchten Gemälden lösen, die im Treppenhaus hingen - abstrakte Malerei, Originale natürlich; aber der Name der Künstlerin “R. Strecker” sagte ihr nichts.

“Der ist schon eine ganze Weile tot. Mensch, das Studium ist über dreißig Jahre her, Masako! Der war doch Kettenraucher!”

“Werden die neuerdings auch zwangstherapiert?” Sie nippte an ihrem Tee.

Die Abneigung gegen die Ideen zum rabiaten Umgang mit Obdachlosen, von denen Norbert beim Abholen erzählt hatte, war ihr wohl eine Spur zu deutlich anzumerken, so spitz, wie ihre Stimme jetzt geklungen hatte. Aber was hilft’s: Solche Methoden konnte sie nicht unkommentiert lassen.

“Dir scheint es wieder besser zu gehen. Freut mich”, grinste Norbert. Was möchtest du heute machen? Möchtest du überhaupt etwas unternehmen? - Wir können gern auch den Tag zuhause verbringen.”

Masako mußte nicht lange überlegen: “Jetzt wohnst du so nahe am Tempelhofer Feld” - “in der Amtssprache ursprünglich ‘Tempelhofer Freiheit’ genannt”, warf er ein - “da möchte ich gern ein wenig dort spazieren gehen.”

Er war einverstanden und schlug vor, einmal die nördliche Startbahn hinauf zu laufen und im Schillerkiez eine Kleinigkeit zu essen. “Und dann sehen wir einfach weiter. Was hältst du davon?” Masako lächelte und nickte; das genügte. Also schlenderten sie den Loewenhardt-Damm und die Paradestraße entlang, das war der kürzeste Weg zum Tempelhofer Feld, das sie direkt neben dem im Halbrund langgestreckten Flughafengebäude betraten.

Masako staunte über die - für europäische Verhältnisse - Menschenmassen, die sich nicht eben drängten, aber dennoch zur ständigen Vorsicht gezwungen waren, denn neben Spaziergängern und spielenden Kindern gab es auch jede Menge ambitionierte Sportsleute unterschiedlichster Disziplinen und aller möglichen Stufen technischen Könnens - von Inline-Skater*innen über Radsport-Fans bis hin zum Kite-Surfing; dies war allerdings nur in besonders markierten Bereichen erlaubt, dafür aber für Außenstehende umso rasanter anzusehen und geradezu bedrohlich wirkend, wenn man sich auf dieses Terrain vorwagte und die Fahrzeuge auf einen zu rasten.

Als sie das Feld auf der Neuköllner Seite verließen, mußten sie nicht mehr weit laufen, bis sie neben einer alten Kirche ein breites gastronomisches Angebot fanden, das ihnen auf Anhieb zusagte, so daß sie sich niederließen und Snacks bestellten. Beim Kaffee  angekommen, hielt Norbert die Gelegenheit für günstig, eine kleine Verteidigungsrede zu halten; denn er hatte, so stand zu befürchten, mit seinen lockeren Sprüchen Masako vorhin womöglich erschreckt. Das wollte er nun gern richtigstellen.

“Du zweifelst hoffentlich nicht daran: Ich bin kein Rechter, war nie einer und werde auch nie einer werden. Aber ich finde, es ist höchste Zeit, daß jemand jetzt mal was macht, und auch wenn mir manche Leute, die das ebenso sehen, nicht gefallen und ihre Zielsetzung noch weniger: Den Staat wieder stärker sichtbar zu machen, halte ich für richtig. Nicht alles, was da an Konzepten herum wabert natürlich. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen gar nichts machen und vielleicht ein bißchen zu drastisch durchgreifen - dann bevorzuge ich im Augenblick letzteres.”

Obwohl Masako, wie ihm nicht entgangen war, überaus schläfrig wirkte, als sie am Morgen auf dem BER landete - sie hatte sich für die Route via Helsinki entschieden -, waren ihr sofort die Wahlplakate ins Auge gesprungen, die an Berlins Straßenkreuzungen die Aufmerksamkeit der Passanten heischten.

Der Ton hatte sich verändert, das stand fest, das Koordinatensystem war erkennbar nach rechts verschoben.

“Ach, Norbert: Ich will dich nicht provozieren, will keinen Streit. Mensch, ich freu mich so, dich endlich mal wieder ganz analog zu sehen und dein neues Zuhause kennenzulernen. Wenn du deine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen geändert hast, ist das schade, aber schließlich sind wir beide älter geworden. Die Utopien von damals - jetzt endgültig als Utopien entlarvt; wir haben unsere Träume verabschiedet. Daraus ergibt sich noch nicht gleich ein Problem für unsere Freundschaft. Allerdings: Für mich ist es schon ein dicker Hund, daß du jetzt auf Law and Order machst.”

“Was heißt denn hier ‘Law and Order?!’ Weißt du noch, wie wir uns immer darüber amüsiert - nein: eigentlich aufgeregt - haben, daß man in Singapur eine hohe Geldstrafe riskiert, wenn nicht sogar Gefängnis, sobald man auch nur einen Kaugummi auf die Straße spuckt? Das ist, der Meinung bin ich immer noch, stark übertrieben.

Aber weißt du auch, welche Kosten der Allgemeinheit allein dadurch entstehen, daß die Leute gedankenlos ihre Kippen auf den Gehweg werfen? Oder: Hast du eine Ahnung, wieviel Plastikmüll anfällt von all den Coffee-to-Go-Bechern? In Japan hat man das Problem ja radikal gelöst: Es gibt schlicht kaum noch Papierkörbe, und das  Wegwerfen wird empfindlich bestraft.”

“Zugegeben: Die Neurotiker bei uns haben die Papierkörbe fast vollständig abgeschafft. Aber nicht wegen der Müllberge, sondern aus Angst vor Bomben.”

Sie debattierten noch eine ganze Weile weiter über innen- und gesellschaftspolitische Fragen, und Masako erfuhr, daß Norbert mehr war als ein übellaunige Beobachter einer zunehmenden “Verwahrlosung” - wie er es nannte -, sondern sich schon an Initiativen beteiligt hatte wie etwa der, per Volksentscheid den Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit verbieten zu lassen. Dafür allerdings, “ist die Zeit anscheinend noch nicht reif”, bekannte Norbert mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Lächeln und Trauermimik schwankte.

Für den Rückweg nahmen sie ein Taxi, und Masako brachte, wie er erwartet hatte, schon am frühen Abend den Wunsch zum Ausdruck, den Tag zu beenden, um am nächsten die Folgen der Zeitverschiebung gänzlich  überwunden zu haben. “Na dann, gute Nacht, Masako!”, wünschte Norbert bereits gegen halb neun; sie winkte mit einem matten Lächeln und zog sich dankbar ins Gästezimmer zurück.

 - - - - -

2  Der nächste Morgen begann angenehm entspannt mit einem ausgiebigen Frühstück, das Norbert, der dafür extra ein weiteres Mal früher als gewöhnlich aufgestanden war, in liebevoller Sorge um etliche Details vorbereitet hatte. Nicht nur gab es mehrere Sorten Tee, die er eigens besorgt hatte (denn er selbst zog Kaffee vor, ja, ohne Kaffee konnte er kaum einen Tag beginnen), Norbert hatte auch für eine reichhaltige Vielfalt an süßen und deftigen Speisen gesorgt. All das war dank dem nahegelegenen Bio-Laden nicht schwer zu beschaffen und hatte nicht allzu viel Zeit in Anspruch genommen.

Nach dem Frühstück, das eigentlich eher ein Brunch gewesen war, zwar nicht von der Uhrzeit her, wohl aber hinsichtlich seiner Reichhaltigkeit, lehnte sich Masako im Wohnzimmer in das bequeme currygelbe Ledersofa und beobachtete für einen Moment das lebhafte Treiben im Garten: Spatzen jagten einander und wurden aufgescheucht von einer getigerten Katze, die jedoch ihr Opfer verfehlte, das aufgeregt schimpfend das Weite suchte, derweil in den Wipfeln der Birken und Lärchen Krähen zu landen zu versuchten, deren Gewicht jedoch die dünnen Zweige nicht zu tragen vermochten.

Sie bemühte sich um einen betont ruhigen Klang, als sie erneut in Sachen Politik das Wort an Norbert richtete: “Ich habe gestern diese vielen Plakate gesehen auf dem Weg hierher - das übliche: Politiker, die einen unverschämt nichtssagend angrinsen, aber gelegentlich auch witzige Grafiken oder einfach nur schlichte Parolen mit dreisten Forderungen. Was sagst du denn nun eigentlich zu Forderungen wie denen, alle Kopftücher zu verbieten?”

Norbert zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete, denn zwar machte es ihm Spaß - und er wußte: es bereitete beiden Vergnügen -, sich verbal zu attackieren; aber sie hatten doch schon auf dem Weg zu seinem Haus das Thema “Rechtspopulismus” eigentlich erschöpfend traktiert. Doch dann war seine Streitlust geweckt. “Du meinst: ‘Was die AfD will.’ Wenn du wissen willst, was ich von der AfD halte - überhaupt nichts. Das sind und bleiben Schaumschläger, nein: gefährliche Scharlatane, die überhaupt keine Lösungen für unsere Probleme haben.”

Als Norbert sah, wie erleichtert Masako aufatmete, schüttelte er den Kopf und fügte hinzu: “Nein, das kommt in keiner Weise in Frage! Allerdings, meine Liebe: Sie  besitzen ein Gespür für das, was die Leute stört. Das fehlt den anderen, leider! Nicht nur mich stören diese Vogelscheuchen” - Masako blickte ihn fragend an, er erläuterte: “diese vollvermummten Frauen, die sich nicht einmal des Widerspruchs bewußt zu sein scheinen, in den sie sich verwickeln, wenn sie einerseits alle Vorteile eines Lebens in Deutschland ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen und anderseits so tun, als lebten sie im Vorderen Orient.”

Masako mußte schlucken. “Das haben die sich doch nicht ausgesucht!”, warf sie ein. “Es sind ihre Männer, die entscheiden, nach Deutschland zu gehen, und ihre Männer sind es auch und vor allem die Väter, die ihnen auferlegen, sich zu verschleiern - gerade weil sie in der Fremde leben. Sie versuchen doch nur, eine gute Tochter, Ehefrau, Mutter zu sein und ihrer Familie ein Stück jener Heimat zu bieten, nach der sie sich sehnen.”

“Aber genau das ist es doch, Masako, genau das stört mich und viele andere: Entweder man lebt hier - dann bitte mit allen Konsequenzen! - oder eben nicht. Es wird doch niemand gezwungen, nach Deutschland zu kommen, und viele andere würden es gern tun, und das nicht wegen Weißwurst und Krautsalat, sondern weil wir uns ein funktionstüchtiges Gemeinwesen aufgebaut haben und - ja: auch Toleranz aufbringen für mancherlei Lebensentwürfe.”

“Du hast also nichts gegen Schwule, Leben, Transsexuelle und so weiter. Nur der Islam stört diese perfekte Harmonie, oder wie darf ich das verstehen, Norbert? Ausgerechnet du verteidigst auf einmal das christliche Abendland, mit Betonung auf “christlich””

“Es ist nicht die Religion, es ist die Kultur, es ist das gewollt Fremde, die Abgrenzung gegenüber dem, was wir uns aufgebaut und - gerade ihr Frauen - in harter Kleinarbeit erkämpft haben. Selbstbestimmtes Leben? Sexuelle Freiheit? - Fehlanzeige! Die Mullahs werfen uns mit ihrer reaktionären Sicht auf Frauen und Familien dorthin zurück, wo ich um keinen Preis hin möchte: in die spießigen, piefigen 50er, 60er Jahre des 20. Jahrhunderts; auch wenn die Frauen jetzt nicht mehr am Herd stehen, weil das inzwischen Lieferando für sie erledigt.

Schau sie dir nur genau an, die jungen Mädels, die spielerisch umschalten können zwischen Deutsch, Türkisch und Englisch, wenn sie - mit dem Handy am Ohr - mit ihren Freundinnen auf dem Weg von der Schule nach Hause eine ihrer zahlreichen Verwandten treffen: Ordnungsgemäß tragen sie ein Kopftuch, aber die knallenge Jeans verrät, ebenso wie ihre nuttige Schminke, daß sie keine frommen Muslimas sind; denn wären sie das, dann trügen sie Kleidung, die keinerlei Körperbeuge erkennen läßt.”

Masako mußte tief durchatmen: “Das Schlimme ist: Ich kann dir gar nicht rundweg widersprechen. Ich wundere mich nur über die Vehemenz deiner Kritik. Was hat dich bloß so wütend gemacht?”

Das war keine Einladung, das Gespräch fortzusetzen, sondern eher ein Seufzer der Ratlosigkeit. Und so nahm Norbert sie einfach bei der Hand und schlug vor, in den Zoo zu gehen: “Das entspannt dich”, hast du damals immer gesagt.

“Wir waren oft dort”, erinnerte sich Masako mit einem Lächeln. Und schon verließen sie das Haus, um an der Dudenstraße den Bus zu besteigen, der sie zur Berliner Straße bringen würde, von wo aus es nur wenige U-Bahn-Stationen bis zum Zoologischen Garten waren. Dort verbrachten sie einige entspannte Stunden im angenehm warmen Sonnenschein, aufgeheitert von den Affen, Nilpferden und anderen komischen Kreaturen, und aßen nur ein paar belegte Brötchen am Stand.

Zurück fuhren sie mit dem M29er Bus zum Platz der Luftbrücke, den Rest der Strecke legten sie zu Fuß zurück. Auf diese Weise wurden die Wege zum und vom Zoo zu einer Mini-Stadtrundfahrt. Zuhause angekommen, fanden beide, daß es an der Zeit sei, ein wenig auszuspannen.

Nachdem Masako auf der Couch platzgenommen hatte, lehnte sich Norbert in seinen Lieblingssessel. Er schenkte sich einen Cognac ein, nicht ohne nonverbal zu erkunden, ob seine alte Freundin eventuell auch ein Gläschen haben mochte; doch sie schüttelte den Kopf.

Er konnte nicht anders - er mußte noch einmal auf das Streitthema des gestrigen Tages zurückkommen: “Natürlich hat Corona etwas ausgelöst. Ich weiß nicht, das wird doch bei euch in Japan kaum anders gewesen sein - auch wenn das öffentliche Leben in Asien sich deutlich von dem in Westeuropa und Nordamerika unterscheidet.”

Es hatte ja in allen Zeitungen gestanden, war in den elektronischen Medien ebenso zum Dauerthema geworden wie im Radio und Fernsehen: Covid 19 und die schwankende Reaktion der Regierenden auf die immer neuen Herausforderungen hatte im Verlauf des vergangenen Jahres die Gesellschaft noch weiter gespalten - diesmal nicht entlang den Einkommensgrenzen, sondern eher zwischen den Generationen.

Aber ebenfalls generationsübergreifend hatten sich die Unterschiede immer deutlicher abgezeichnet zwischen jenen, die gesetzeskonform lebten, und den immer zahlreicher werdenden Leuten, die sich nur dann um Recht und Gesetz scherten, wenn es keine andere Möglichkeit zu geben schien, persönliche Nachteile zu vermeiden.

“Vielleicht ist es ja eher das Alter, weißt du? Ich meine: Man kommt sich doch ein bißchen bescheuert vor, wenn man vorschriftsmäßig eine Mund-Nase-Bedeckung trägt, auch auf dem S-Bahnhof - obwohl der unter freiem Himmel ist -, und dann grinsen einen asoziale Typen frech an, die es für unter ihrer Würde halten, eine Maske zu tragen oder sich sonst irgendwelchen Regeln zu unterwerfen.

Und wenn du das ansprichst - ich habe das immer zunächst freundlich getan -, dann reagieren sie wahlweise mit Beleidigungen oder drohen dir gleich Prügel an. Die einen leugnen die Existenz einer Pandemie, die anderen erkennen in keinster Weise an, wenn ein Mitbürger den anderen auf die für alle gleichermaßen geltenden Regeln anspricht.”

“Und da fühlst du dich dann ohnmächtig und wünschst dir einen starken Staat - ausgerechnet du, der zwar immer seine Steuern brav gezahlt hat - ein richtiger Biedermann also -, der sich aber auch nicht verbieten lassen wollte, Cannabis zu konsumieren und, wenn es denn geht, selbst anzubauen.”

“Ich gebe durchaus zu, daß das zweierlei Maß sind. Aber ich frage dich: Wem schadet es, wenn ich kiffe und wenn ich das Zeug selbst herstelle, statt bei Dealern verunreinigtes Material zu kaufen, was ebenfalls verboten ist? - Statt daß der Staat erstens den Leuten die Entscheidung selbst überläßt, wie er es bei Alkohol und Nikotin ja ebenfalls tut, und zweitens sogar Steuern einnimmt, wenn er den Verkauf legitimiert?”

“Daß du einmal so vehement nach dem Staat rufen würdest...! Das ist schon schräg, weißt du: Hier nimmst du dir die Freiheit, die Regeln sehr großzügig - in deinem Sinne - auszulegen. Dort engagierst du dich für Geflüchtete, weil der Staat zu wenig macht oder direkt dagegen arbeitet, daß die Fremden hier heimisch werden. Und dann das!” Masako schüttelte den Kopf und hatte vor lauter Engagement das sonst so prägend Leichte, Freundliche, Einladende scheinbar verloren.

Norbert konnte damit umgehen: “Ich sehe einen entscheidenden Unterschied zu dem Rotzlümmel - sorry: mit erkenn- und hörbarem Migrationshintergrund -, der die Luft auf dem U-Bahnhof verpestet und auf meine freundliche Bitte, auf die Straße zu gehen oder die Zigarette auszumachen, nach einem intensiven Scan und kurzem Nachdenken befindet, ich sei zu alt, als daß er mich verprügeln würde. Anders übrigens als ein stark alkoholisierter Raucher auf dem S-Bahnhof Tempelhof, der lallte, statt mit irgendeinem Akzent zu sprechen, und mir im Nullkommanix die Sonnenbrille von der Nase schlug, als ich ihn aufforderte, die Zigarette auszumachen.”