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Stephan Schaar

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Beschreibung

Theo Hirte ist glücklich verheiratet und routiniert in seinem Beruf als evangelischer Pfarrer. Doch gerade dies gibt ihm mehr und mehr zu denken: Ist er, der Pfarrer, nicht selber eingepfercht in ein Korsett aus Erwartungen und Traditionen? Selbst, wenn ihm das Anerkennung und Privilegien einbringt: Er muß da raus! Nur wie? Humorvoll bringt der Autor eigene Berufserfahrungen ein und gewährt seinen Leser:innen amüsant-kritische Einblicke in das Innenleben der Evangelischen Kirche.

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EINGEHEGT

Theodor Hirte ist Mitte vierzig, verheiratet mit der Enddreißigerin Tabea, einer Ergotherapeutin aus frommem Haus, sowie Stief- bzw. Adoptivvater zweier jugendlicher Söhne und seit geraumer Zeit schon evangelischer Pfarrer. Er hat in seinem Beruf einen großen Erfahrungsschatz gesammelt, fühlt sich sicher und einigermaßen wohl - auch privat, besonders, wenn er seinen Hobbies nachgeht, dem Tangotanzen und dem Schlagzeugspielen.

Aber zunehmend beschleicht ihn das Gefühl, daß “man” - also sein Arbeitgeber, die Ev. Kirche - seine theologische Leidenschaft absorbiert  und seinen Enthusiasmus “eingehegt” hat, ihn zu einem Religionsbeamten hat werden lassen.

Das behagt ihm nicht - und er träumt von einer Befreiung (sowohl seiner selbst als auch der Kirche und der Theologie) aus diesem Kokon, und er spinnt sich aus, was er sagen - und womöglich gar tun - würde, wenn er könnte, wie er wollte.

Aber tut er das tatsächlich? Er muß lange mit sich ringen. Bis sich unerwartet eine Chance auftut, die er nach einigem Hin und Her ergreift: Der Hirte entweicht seinem Pferch...

 Inhalt

1 Trübe Gedanken 3

2 Der ungebetene Gast 10

3 Ruhestörung 17

4 Verhandlungssache 24

5 Nicht anstoßen 33

6 Mit Gottes Segen auf den Wegen 39

7 Another day in paradise 46

8 Was Gott zusammengefügt hat... 55

9 Play it again, Sam! 62

10 Geh aus, mein Herz 71

11 Familienbande 79

12 Auf ein Wort 88

13 Alles muß klein beginnen 96

14 Seid fröhlich in Hoffnung... 103

15 Trommelwirbel 110

16 Du weidest mich auf einer grünen Aue 118

1 Trübe Gedanken

‘Bei dem Regen?’ Sagt sie: ‘danke’, erinnerte sich Theodor Hirte an eine Zeile aus dem Lied`Sonne wie ein Clown’ von “Pannach und Kunert”, zwei Gesangsbarden, die einst aus der DDR rausgeschmissen wurden, wie ihm sein Onkel Edwin seinerzeit erzählt hatte - ihm, der am Schalttag jenes Jahres 1976 geboren worden war, in dem einst Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert worden war und das  sich im Rückblick als so etwas wie der Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs erweisen sollte.

Die Melodie dieses Liedes ging ihm gerade nicht mehr aus dem Kopf. Eine Sonne, die gute Laune verbreitet, könnte er jetzt auch gut gebrauchen. Denn ihm war wieder mal zum Heulen zumute. Jedes Mal aufs Neue passierte das, wenn er auf dem Friedhof stand, zumindest, wenn es dabei regnete - so wie heute, Anfang Januar 2022, so wie allzu oft.

Der Seelsorger war eine halbe Stunde früher als gewöhnlich aufgestanden, denn der Südwest-Friedhof befand sich ein gutes Stück außerhalb der Stadt und war nur mit dem Auto einigermaßen erreichbar; und wenn man das Pech hatte, die erste Trauerfeier des Tages um 9 Uhr begleiten zu sollen, dann hieß das, um kurz nach acht Uhr das Haus zu verlassen, um (zum Glück gegen den Strom) die Schnellstraße hinaus nach Stahnsdorf zu nehmen.

Er war gerade fertig mit dem Umkleiden, da trat der Friedhofsmitarbeiter zu ihm: “Sie wissen aber schon, daß die Trauerfeier nicht in dieser schönen norwegischen Kapelle, sondern unmittelbar am Grab stattfindet?” Auf Hirtes verdutzten Blick hin hatte er erklärt, daß der Pfarrer sich beeilen müsse, wenn er es rechtzeitig zur Gruft schaffen wolle - “oder wollen Sie die Leute warten lassen?”, hatte der Uniformierte mit vorwurfsvollem Unterton hinzugefügt. Also das Beffchen in den Kragen geknüpft und die Mappe in die Hand genommen, und schon setzt sich der Seelenhüter zügig in Bewegung; natürlich will er niemandem warten lassen - wozu ist er extra früh zu diesem Termin aufgebrochen?!

Seit beinahe zwanzig Jahren im Beruf, hat Theodor Hirte mehr Kurioses auf Friedhöfen erlebt, als er sich zuvor je hätte träumen lassen. Schmunzelnd erinnert er sich an die Beisetzung eines - wie in den allermeisten Fällen - kirchenfernen Gemeindeglieds, Mitglied in gleich mehreren Fanclubs des damals einzigen Berliner Bundesliga-Fußballclubs, was nicht ohne Auswirkungen auf die Zeremonie geblieben war: Zur musikalischen Rahmung der Feier wurden (anstelle frommer Lieder, leichter Klassik oder  auch deutscher Schlager) mehrere Fan-Gesänge des Vereins eingespielt, und die Anwesenden hatten es sich nicht nehmen lassen, in blau-weißer Kluft zu erscheinen.

Hirte erinnerte sich, seinerzeit allerhand Phantasie aufgeboten zu haben, um eine Brücke zu bauen zwischen der Kirche - also ihm selbst - und dem Volk, in diesem Fall gewiß tieftraurige Leute (denn der Verstorbene hatte früh gehen müssen), die aber seiner Einschätzung zufolge seit ihrer Konfirmation (sofern eine solche denn stattgefunden haben sollte) nicht öfter an einem Gottesdienst teilgenommen hatten als sie Finger an einer Hand besaßen. Zum krönenden Abschluß der Beileidsbekundungen zogen die beiden letzten Trauergäste, an das Urnengrab herantretend, aus der Gesäßtausche je eine Dose Bier, öffneten diese, gossen dem Kumpel einen Schluck auf die Urne, um dann auf sein Wohl den Rest des Gerstensaftes zu  schlucken.

Vor wenigen Jahren hatte Hirte ein weiteres Schauspiel eigener Art miterlebt, als er zu einer  Trauerfeier auf dem Wedding gerufen wurde, an der, wie man ihm avisierte, 80 - 100 Personen teilnehmen würden, die gar nicht alle gleichzeitig in der Kapelle Platz finden würden. Das mache nichts, wurde ihm versichert, denn den Gepflogenheiten der Sinti-Großfamilie entsprechend habe man vor, individuell von der Verstorbenen Abschied zu nehmen, weswegen die Kapelle bereits ab 11 Uhr gebucht sei, obwohl die eigentliche Trauerfeier erst um 13 Uhr stattfinden sollte.

Etwa zwanzig Minuten vor diesem Termin traf Hirte am Ort des Geschehens ein und hörte schon aus einiger Entfernung ungewohnte Klänge aus der Kapelle über den Friedhof wabern: eine Art Jahrmarkt-Sound, hervorgerufen auf einem Keyboard, das einer der Angehörigen mit Können und Hingabe traktierte und dadurch ersichtlich für eine gute Stimmung sorgte. Überhaupt herrschte - zumindest dem äußeren Schein nach - eine beinahe ausgelassene, lebensfrohe Stimmung.

Noch nie zuvor hatte Theodor Hirte eine solche Anzahl großer Kränze gesehen - mindestens zehn müssen es nach seiner Erinnerung gewesen sein -, und das besonders Auffällige daran war zum einen, daß sie alle exakt dieselbe Größe hatten, und zum anderen, daß sie sichtlich alle von demselben Floristen gefertigt waren.

Die eigentliche Trauerfeier verlief beinahe wie gewohnt; das war mühsam abgesprochen worden. Doch am Grab meldete sich der freikirchlich orientierte Teil der Familie - wie schon singend in der Kapelle - ein weiteres Mal zu Wort, und diesmal kostete es den Liturgen eine Menge Selbstdisziplin, die Fassung zu wahren, denn der fromme Verwandte hielt, als “Grußwort” verpackt, an der Gruft eine zweite Predigt, die nicht nur ihrer Länge wegen schwer zu ertragen war.

Und nun war es an ihm, Theodor Hirte, seinerseits am Grab zu sprechen, besser gesagt an einer Gruft, die mitten im Wald ausgehoben worden war, allerdings nicht als Doublette zu einer vorher bereits stattgefundenen Trauerfeier in der Kapelle. Er hatte vergeblich versucht, diesen (seiner Vermutung nach durch das häufige Anschauen amerikanischer Filme entstandenen) Wunsch abzuwehren: zu schwierig sei die akustische Situation unter freiem Himmel, hatte er eingewandt; doch das hatte die Angehörigen nicht zu überzeugen vermocht. “Und wenn es regnet?”, hatte er noch einen Versuch unternommen, doch auch dies wurde nicht als Grund zum Umdisponieren akzeptiert.

Er schüttelte den Gedanken ab, denn ein kurzer Blick auf die Armbanduhr verriet dem Geistlichen, daß er - trotz aller Pünktlichkeit und Eile - drauf und dran war, zu spät zu kommen. Hatte er sich auf dem weitläufigen Gelände verlaufen? - Aber nein: nur wenige Meter vor ihm trottete der Friedhofsmitarbeiter durch den Nieselregen den sich in die Länge ziehenden matschigen Weg entlang, und nach einer Biegung war auch schon die versammelte “Trauergemeinde” zu sehen (die Anführungsstriche setzte Hirte in Gedanken immer dann, wenn außer der zu beerdigenden Person seines Wissens niemand Mitglied der Kirche war).

Man hatte ihm zu verstehen gegeben, daß es völlig genüge, ein paar biographische Notizen  zum Vortrag zu bringen - “keine Predigt, bitte!” -, doch auf einem Vaterunser und einem Segenswort hatte er unerbittlich bestanden. Nach einer kurzen Begrüßung und der Vergewisserung, daß alle, die erwartet wurden, auch erschienen waren, hob Hirte mit seiner kleinen Ansprache an:

“Liebe Familienangehörige und Freund:innen von Norma Kurtz! Wir sind hier nicht freiwillig, nein, wir haben uns dagegen gesträubt, diesen Weg antreten zu müssen, diesen letzten Weg an der Seite Ihrer Schwester, Schwägerin, Tante jetzt gehen zu müssen. Ihre Angehörige selbst hat mit aller Kraft gegen ihr Schicksal angekämpft, das sie als ungerecht empfunden hat. ‘Sterben müssen wir alle - aber warum so früh?!’ Sie konnte das nicht akzeptieren - und ich werde Ihnen hier nicht erklären, weshalb man das doch tun muß, liebe Trauergemeinde!

Gewiß müssen wir alle sterben, und wir wissen - gottlob - nicht, welche Spanne uns zugemessen ist. Und doch haben wir so unsere Vorstellungen, Vergleichswerte, Wünsche und Träume. Wenn die nicht in Erfüllung gehen, dann sind wir enttäuscht, dann stellt sich das Gefühl ein, um etwas betrogen worden zu sein - umso mehr, wenn man mit ansehen muß, wie andere, die womöglich kein bißchen auf ihre Gesundheit geachtet haben, trotzdem uralt werden dürfen; und man selbst hat sich alle Mühe gegeben, sich gesund ernährt und regelmäßig Sport getrieben. Aber das rettet uns nicht, wir haben es nun einmal nicht in der Hand, unserem Leben auch nur eine handbreit hinzuzufügen....”

Nach dem kleinen theologischen Exkurs, den Hirte seinem Auditorium als angesichts seines Amtes unvermeidlich angekündigt hatte, folgten allerhand Fakten aus dem Lebenslauf der Verstorbenen und der Hinweis darauf, daß die Erinnerung an das gemeinsam gelebte Leben bleiben werde, bei allem Schmerz über den Verlust. Diesen Ausführungen schenkte die Versammlung gespannte Aufmerksamkeit, Hirte wurde sogar mit dankbaren Blicken belohnt. Das änderte sich freilich schlagartig, als er seine Ansprache beendet hatte und zum christlich-rituellen Teil der Zeremonie überging, den die Anwesenden mit einer Mischung aus Widerwillen und Schicksalsergebenheit über sich ergehen ließen. Nach Erdwurf, Vaterunser und Segenswort wartete der Seelsorger geduldig, bis alle einzeln an der Gruft Abschied genommen hatten, dann verabschiedete er sich zügig und strebte zurück zu der gänzlich aus Holz konstruierten Stabkirche, wo er sich umziehen konnte, um den Rückweg nach Berlin anzutreten, der gut und gern eine Dreiviertelstunde in Anspruch nehmen würde.

Das Gute an derartigen Diensten war, daß man so viel Zeit für die Rückfahrt einplanen mußte, daß man im Normalfall keine Gefahr lief, wegen eines unmittelbaren Anschlußtermins in Zeitnot zu geraten; und wenn der Rückweg mal länger dauerte als gedacht, dann bedurfte es nur eines kurzen Anrufs, und auch die nächste Veranstaltung mußte entweder ohne ihn auskommen oder man hatte seine Verspätung hinzunehmen.

Also setzte sich Hirte entspannt hinter das Lenkrad und steuerte seinen elektronischen Golf sachte vom Friedhofsgelände, bog in die Bahnhofstraße ein und wählte dann die Strecke durch Teltow und Lichterfelde. In Gedanken standen die Trauergäste noch einmal vor ihm - und diesmal hielt er eine ganz andere Rede als vorhin.

Nicht, daß es Gründe gäbe, die Verstorbene selbst in schlechterem Licht erscheinen zu lassen, als das der Fall gewesen war; aber manchmal phantasierte der Pastor von Klartext-Passagen in seinen Ansprachen, bei denen den Zuhörenden die Kinnladen herunterklappen würden. Wenn er etwa seinen Eindrücken Ausdruck verliehe von dem schlechten Zusammenhalt innerhalb der Familie, oder wenn er gar aus den Erzählungen der Dahingegangenen selbst wußte, wie es um Hilfsbereitschaft einerseits und Gier auf das Erbe andererseits bestellt war. Aber solche Gedanken blieben stets ungesagt, jedenfalls bisher. Doch schon die Vorstellung, er könnte einmal gehörig aus der Rolle fallen - ‘die Wahrheit wird euch freimachen`, hatte Jesus doch gesagt! - ließ ihn schmunzeln und verschaffte ihm enorme mentale Befriedigung.

2 Der ungebetene Gast

Die Glocken dröhnen ihren vollsten Ton und Photographen stehen knipsend krumm. Es braust der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn. Der Pfarrer kommt! Mit ihm das Christentum.

Dieses Gedicht des Schweizer Dichter-Pfarrers Kurt Marti - eines von vielen dieses Poeten, den er verehrte - fiel ihm ein, als das Display seines Smartphones eine Messenger-Nachricht als neu eingegangen anzeigte, die sich als Terminanfrage für eine kirchliche Trauung entpuppte.

Kaum, daß Hirte das Anmeldeformular überflogen hatte, kam ihm die letzte Strophe dieses  Werkes in den Sinn, die sein sprachbegabter Leidensgenosse einst formuliert hatte:

Sanft wie im Kino surrt die Liturgie zum Fest von Kapital und Eleganz. Nur einer flüstert leise "Blasphemie!" Der Herr. Allein, Ihn überhört man ganz.

Damals war das noch ein Aufreger - Martis Bloßlegung einer verlogenen kirchlichen Praxis, die wenig nach dem Glauben fragte, solange die formalen Angelegenheiten wie Kirchenmitgliedschaft (gegebenenfalls zu kompensieren durch großzügige Zuwendungen)  in Ordnung waren. An diese Praxis haushalterischer Vernunft, die sich im Laufe der Zeit durchgesetzt hatte gegen überkommene romantische Vorstellungen von einer Gemeinschaft der Gläubigen, hatten sich selbst die etwas frommeren unter den Kolleg:innen nach und nach gewöhnt, sofern es in der Landeskirche fromme Pastorinnen und Pastoren überhaupt noch gab; Theodor Hirte war sich da keineswegs sicher - nur seiner selbst war er in dieser Hinsicht gewiß, wenngleich man (anders als in früheren Zeiten) seine Frömmigkeit - treffender vielleicht Glaubenseifer zu nennen - besser unter cooler Geschäftigkeit verbarg und sich öffentlich nicht durch Äußerungen hervortat, die dem religiös-liberalen Mainstream ein Dorn im Auge waren - also etwa, die problematischen Seiten der Katholischen Kirche im Laufe der Geschichte zu thematisieren als einer im Bunde mit der weltlichen Macht stehenden Größe, die zahllose Angehörige des reformatorischen Glaubens in Tod oder Exil getrieben hatte: das ging natürlich gar nicht in Zeiten gemeinsamer öffentlicher Fernsehauftritte der Oberrepräsentanten bei Staatsakten aus Anlaß eines fremdenfeindlichen Attentates oder einer Naturkatastrophe, von denen man mitunter meinen mochte, sie seien den Kirchenoberen willkommen als - immer seltenere - Gelegenheit, die Relevanz von Religion im öffentlichen Raum zu demonstrieren. Und bei aller Treue - immerhin - zu den jüdischen Geschwistern: Zu muslimkritisch durfte man auch nicht auftreten, ging es doch allenthalben um friedliches Miteinander aller Konfessionen (und deren Negation) in der zivilen Bürgerschaft, deren Bestes es zu suchen galt, statt auf Defizite hinzuweisen etwa bei Frauenrechten und dem Umgang mit Andersgläubigen.

Mittlerweile war der Pastor zuhause angekommen. Nach einem kurzen Telefonat mit Martin Lutze, dem Gemeindesekretär, und einem Kontrollblick in den digitalen Kalender wandte er sich nun  mit voller Aufmerksamkeit jener Anmeldung einer Trauung zu, die am Sonnabend nach Himmelfahrt stattfinden sollte. Heimlich fluchte er über die Terminwahl: Selbst wenn wahr wäre, was manche scherzhaft über den Pfarrberuf sagen, daß man nur am Sonntag arbeiten müsse und den Rest der Woche frei habe, würde hier doch gelten, daß auch der Donnerstag ein Feiertag - und somit Arbeitszeit für Geistliche - ist; und dann liegt zwischen diesen beiden Tagen noch eine gottesdienstliche Feier, die man mit aller Akribie vorbereitet und nicht mal eben aus dem Ärmel schüttelt; andere Leute verbringen diese Tage als verlängertes Wochenende...

Vielleicht könnte ja Sonja Lenz, seine Vikarin, diese Trauung übernehmen, kam ihm in den Sinn. Es ist auf jeden Fall eine Anfrage beim Superintendenten wert. Sofern Sonja sich überhaupt schon zutraut, eine Trauung eigenständig zu leiten; aber irgendwann mußte sie ja mal loslegen mit eigenständigem Arbeiten. Also er selbst - das würde er ihr auch honigsüß unterbreiten - sei selbstverständlich davon überzeugt, daß sie das mittlerweile alleinverantwortlich durchführen könnte. So würde er sie wahrscheinlich einwickeln können. Gerade junge Geschwister haben eine gewisse Eitelkeit, wenn es um die Kompetenz geht, die ihnen ein älterer Kollege zutraut - oder eben nicht. Mit einem Anflug von Scham erinnerte er sich daran, zu Beginn seiner Pfarrer-Laufbahn von demselben Übel geplagt gewesen zu sein.

Aber er ahnte schon, was Harry Winter entgegnen würde: Mit einem schlecht kaschierten Grinsen würde der Superintendent den Mentor für seinen Mut und seine Großzügigkeit loben und im selben Atemzug deutlich machen, daß dies für Hirte selbstverständlich eine Pflichtveranstaltung sei, um der jungen Theologin das Feedback geben zu können, das sie in einer solchen Angelegenheit mit Fug und Recht von ihrem Ausbilder erwarten dürfe.

Dann also doch nicht? Schließlich sind Gottesdienste aus Anlaß einer Eheschließung seltene Veranstaltungen, die obendrein einen erheblich angenehmeren Erlebniswert besitzen als eine durchschnittliche Trauerfeier, wie man sie nahezu wöchentlich zu halten hat. Und dann darf ja nicht vergessen werden, daß die Jungen so merkwürdig umgehen mit Gottesdiensten aller Art, am wenigsten noch mit Trauerfeiern, bei denen der Spielraum für gestalterische Akzentsetzung stärker begrenzt ist als bei Trauungen; von Familiengottesdiensten und anderen kirchlichen Happenings ganz zu schweigen!

Auf der anderen Seite hatte Hirte es auch bei Trauungen noch nicht übers Herz gebracht, Klartext zu reden im Sinne von Kurt Marti, allenfalls hier eine Andeutung und dort eine rhetorische Frage, die, wer wollte, als Einwand gegen die Vorhaben der (oft gar nicht so) jungen Leute verstehen mochte, den lieben Gott zum Bundesgenossen zu machen für ihr Projekt, das selbstverständlich den Erwerb und die Mehrung von Wohlstand beinhaltete, bei dem nicht interessierte, zu wessen Lasten dieser entstand.

Na ja, das wird dann wohl kein freies Wochenende über Himmelfahrt in diesem Jahr, das hätte ich früher absprechen und beantragen müssen, dachte Theodor Hirte - und sah schon die enttäuschten Gesichter seiner Musikerfreund:innen vor sich. Zwar gab es keine feste Band, aber Bekannte und Freund:innen aus unterschiedlichen Formationen sprachen ihn immer wieder an, und er sagte dann immer wieder gern zu, in wechselnden Konstellationen Schlagzeug zu spielen - mal Jazz, mal Rock und Pop, was gerade Spaß machte.