Aufruhr in Oxford - Dorothy L. Sayers - E-Book

Aufruhr in Oxford E-Book

Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

«Die Geschichte des feministischen Kriminalromans beginnt 1935 in Großbritannien, mit Dorothy Sayers' Roman ‹Aufruhr in Oxford›.» Deutschlandfunk Am Mädchencollege in Oxford geschehen merkwürdige Dinge: Schülerinnen erhalten Drohbriefe, eine Puppe hängt von einem Messer durchbohrt an einem Dachbalken. Talare werden verbrannt, Manuskripte zerstört. Der Dekan bittet die Krimiautorin und ehemalige Absolventin Harriet Vane um Unterstützung. Sie beginnt zu recherchieren, bemüht, einen Skandal zu vermeiden. Als sie nur knapp einem Mordanschlag entgeht, eilt Lord Peter Wimsey, Amateurdetektiv und Ermittler aus Leidenschaft, ihr zu Hilfe … Der zehnte Band der Reihe in attraktiver Neuausstattung

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Seitenzahl: 812

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Dorothy L. Sayers

Aufruhr in Oxford

«Gaudy Night»

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Otto Bayer

 

Über dieses Buch

Das Glanzstück von der Grande Dame des Kriminalromans

 

Am Shrewsbury Mädchencollege in Oxford geschehen merkwürdige Dinge: Schülerinnen erhalten Drohbriefe, eine Puppe hängt von einem Messer durchbohrt an einem Dachbalken. Talare werden verbrannt, Manuskripte zerstört.

Der Dekan bittet die Krimiautorin und ehemalige Absolventin Harriet Vane um Unterstützung. Die beginnt zu recherchieren, bemüht, jeden Skandal zu vermeiden. Als sie nur knapp einem Mordanschlag entgeht, eilt Amateurdetektiv und Ermittler aus Leidenschaft Lord Peter Wimsey ihr zu Hilfe …

 

«Der muntere Collegeroman, ironisch und politisch inkorrekt, gilt als erster feministischer Krimi der Krimigeschichte.» (Der Tagesspiegel)

Vita

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des zwanzigsten Jahrhunderts.

Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.

 

«Sayers ist eine der besten Krimiautorinnen überhaupt.» (Daily Telegraph)

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der gedruckten Ausgabe des Titels, die 2001 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, erschien.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Die Originalausgabe erschien 1935 unter dem Titel «Gaudy Night» im Verlag Victor Gollancz Ltd., London.

«Gaudy Night» Copyright © 1935 by Anthony Fleming

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildung xenia-ok/shutterstock.com

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

ISBN 978-3-644-21881-9

www.rowohlt.de

Die Universität ist ein Paradies, Ströme von Wissen fließen darin, Geistes- und Naturwissenschaften kommen von dort. Die Seminare sind horti conclusi (wie es im Hohelied heißt), verschloßne Gärten, und fontes signati, versiegelte Borne; bodenlose Tiefen unerforschlichen Ratschlusses.

JOHN DONNE

Vorbemerkung der Verfasserin

Es wäre müßig, zu leugnen, daß es die Stadt und Universität Oxford (in aeternum floreant) wirklich gibt und daß sie eine Anzahl von Colleges und anderen Einrichtungen beherbergen, von denen einige in diesem Buch mit Namen genannt sind. Um so nachdrücklicher muß ich versichern, daß von den Personen, die ich auf diese öffentliche Bühne gestellt habe, keine ihr Gegenstück im wirklichen Leben hat. Insbesondere ist das Shrewsbury College mitsamt seinen Professorinnen, Studentinnen und Hausmädchen völlig frei erfunden; und ebensowenig verbergen sich hinter den bestürzenden Ereignissen, die sich hier in seinen Mauern abspielen, solche, die sich irgendwann irgendwo wirklich abgespielt hätten. Kriminalschriftsteller sehen sich durch ihren garstigen Beruf genötigt, ebenso erschreckende wie unerfreuliche Vorfälle und Menschen zu ersinnen, und es steht ihnen frei (wie ich meine), sich auszumalen, was geschehen würde, wenn solche Vorfälle und Menschen über eine unschuldige, wohlgeordnete Gemeinschaft hereinbrächen; darum darf man ihnen aber nicht unterstellen, sie täten so, als wären solche Störungen im Leben einer Gemeinschaft jemals vorgekommen oder könnten möglicherweise einmal vorkommen.

Gewisse Entschuldigungen meinerseits sind jedoch angebracht: erstens bei der Universität Oxford, der ich einen Kanzler und Vizekanzler eigener Machart vorgesetzt und, über die in den Statuten festgesetzte Höchstzahl hinaus, noch ein College mit 150 Studentinnen angedichtet habe; alsdann (und in tiefster Zerknirschung) beim Balliol College – nicht nur, weil ich ihm so einen ungeratenen Alumnus wie Peter Wimsey aufgeladen habe, sondern vor allem für die bodenlose Unverschämtheit, das Shrewsbury College ausgerechnet auf seinem geheiligten Kricketplatz errichtet zu haben. Beim New College ebenso wie beim Christ Church College und vor allem beim Queen’s College muß ich Abbitte leisten für die Narreteien gewisser junger Herren, beim Brasenose College für die Albernheit eines schon etwas reiferen Herrn und beim Magdalen College für die peinliche Lage, in die ich einen erfundenen Proproktor gebracht habe. Die städtische Müllkippe hingegen ist oder war ein Faktum, und dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen.

Bei der Rektorin und den Dozentinnen des Somerville College, an dem ich selbst studiert habe, bedanke ich mich herzlich für ihre großzügige Hilfe in Sachen Haus- und allgemeiner Studienordnung – wobei sie für die einzelnen Hausordnungsbestimmungen am Shrewsbury College, von denen ich manche nach eigenen Bedürfnissen erfunden habe, nicht verantwortlich zu machen sind.

Wen die Chronologie interessiert, der mag aus seinem bisherigen Wissen über die Familie Wimsey schließen, daß dieses Buch im Jahre 1935 spielt; er möge mir dann aber bitte nicht übelnehmen, daß ich das Jubiläum des Königs mit keinem Wort erwähne oder daß ich Wetter und Mondzyklen nach eigenem Gutdünken gestaltet habe. Denn sei der Hintergrund noch so real, die wahre Heimat des Schriftstellers ist das Wolkenkuckucksland, in dem er nichts als Possen treibt, den Mord zur Posse macht; das tut der Welt nicht weh.

1. Kapitel

Du Narrenmal, du selbsterwählte Schlinge,

Des Wahnes Abschaum, dem der Geist verfiel,

Der Übel Ausbund, Nest der Sorgendinge,

Du Willenswirrsal ohne End und Ziel,

Begier, Begier, ich zahlte, ach, zuviel

Durch Geistesnacht dein Gut, das nur geringe.

SIR PHILIP SIDNEY

Harriet Vane saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Mecklenburg Square hinaus. Die späten Tulpen in den Beeten hielten sich tapfer, und vier frühe Tennisspieler zählten laut den Punktstand ihres ziemlich verworrenen, ungeübten Spiels. Doch Harriet sah weder Tulpen noch Tennis. Vor ihr auf der Schreibunterlage lag ein geöffneter Brief, doch ein anderes Bild verdrängte dessen Anblick vor ihrem inneren Auge. Sie sah ein steinernes Viereck, erbaut von einem modernen Architekten in einem Stil, der nicht neu noch alt war, vielmehr versöhnliche Hände nach Vergangenheit und Gegenwart ausstreckte. Inmitten der Mauern lag ein gepflegter Rasen mit Blumenbeeten an den Ecken, umrundet von einem breiten steinernen Plattenweg, der Plinthe. Hinter den gleichmäßig hohen Dächern aus Cotswold-Schiefer erhoben sich die Backsteinkamine eines älteren, nicht so strengen Gebäudekomplexes – auch einigermaßen quadratisch angelegt, aber noch an die Biederkeit der ehemals dort stehenden viktorianischen Wohnhäuser erinnernd, in denen die ersten schüchternen Studentinnen des Shrewsbury College einst gewohnt hatten. Vorn standen die Bäume des Jowett Walk, und dahinter ragten die alten Giebel und der Turm des New College empor, von seinen Dohlen umkreist, die sich von einem stürmischen Himmel abhoben.

Ihre Erinnerung belebte den Hof mit Gestalten. Paarweise schlenderten Studentinnen dahin; andere eilten in die Vorlesung, die Talare eilig über leichte Sommerkleider geworfen, die Barette vom Wind gezaust, daß sie Narrenkappen ähnelten. In die Pförtnerloge waren Fahrräder eingestellt, die Gepäckträger hoch beladen mit Büchern, die Lenkstangen mit Talaren umwickelt. Eine angegraute Professorin schritt verträumten Blickes über den Rasen, die Gedanken auf philosophische Fragen des sechzehnten Jahrhunderts gerichtet, mit wehenden Talarärmeln, die Schultern leicht nach vorn gezogen, wie um das nach hinten ziehende Gewicht der Popelinfalten ihrer akademischen Tracht auszugleichen. Zwei Studenten auf der Suche nach einem Repetitor, barhäuptig, Hände in den Hosentaschen, in lautem Gespräch über Boote. Die Rektorin – grau und würdevoll – und die Dekanin – untersetzt, lebhaft, vogelartig, ein kleiner Zeisig – in angeregtem Gespräch unter dem Torbogen, der in den Alten Hof führte. Hohe Ritterspornstauden vor dem Grau der Mauern, blau schillernd wie Flammen, wenn es so blaue Flammen je gab. Die Collegekatze, gedankenverloren und stolz, mit hocherhobenem Schwanz auf dem Weg zur Kantine.

Es war ja alles so lange her; so fest verpackt und abgeschlossen; so wie mit Schwertern abgetrennt durch die bitteren Jahre, die dazwischen lagen. Konnte sie sich dem allem jetzt stellen? Was würden diese Frauen über sie sagen, über Harriet Vane, die mit einer Eins in Englisch abgeschlossen hatte und nach London gegangen war, um Kriminalromane zu schreiben, dort mit einem Mann zusammengelebt hatte, mit dem sie nicht verheiratet war, und sich für seine Ermordung in einem aufsehenerregenden Prozeß vor Gericht hatte verantworten müssen? Dies war keine Karriere, wie sie das Shrewsbury College von seinen ehemaligen Studentinnen erwartete.

Sie war nie mehr zurückgegangen; zuerst nur, weil sie den Ort zu sehr geliebt hatte und eine glatte Trennung ihr besser schien als ein langsames, schmerzhaftes Sich-los-Reißen; auch weil sie nach dem Tod ihrer Eltern völlig mittellos dastand und der Kampf ums tägliche Brot all ihre Zeit und Gedanken in Anspruch nahm. Und dann war später der schwarze Schatten des Galgens zwischen sie und dieses sonnenbeschienene, grau-grüne Viereck gefallen. Aber jetzt –?

Sie nahm den Brief von neuem zur Hand. Es war eine dringliche Bitte an sie, an der Jahresfeier des Shrewsbury College teilzunehmen – eine Bitte von der Art, die man nicht gut ausschlagen kann. Eine Freundin, die sie seit ihrer gemeinsamen Studienzeit nicht mehr gesehen hatte; inzwischen verheiratet und ihr entfremdet, jetzt aber krank, und bevor sie sich zu einer schwierigen und gefährlichen Operation ins Ausland begab, wollte sie Harriet unbedingt noch einmal wiedersehen.

Mary Stokes, so hübsch und zierlich wie Miss Patty in dem Schauspiel, das sie nach dem zweiten Studienjahr aufgeführt hatten; so charmant und vollendet in ihrem Auftreten, so sehr der gesellschaftliche Mittelpunkt ihres Jahrgangs. Sonderbar, daß gerade sie sich so stark zu Harriet Vane hingezogen gefühlt hatte, die in ihrer Schroffheit und Ungeschicklichkeit alles andere als beliebt gewesen war. Mary war die Führende gewesen, und Harriet hatte sich führen lassen: Wenn sie mit einem Erdbeerproviant und Thermosflaschen bewaffnet den Cherwell hinaufstakten; wenn sie am ersten Mai vor Sonnenaufgang auf den Magdalen-Turm stiegen und fühlten, wie er mit den Glocken unter ihnen schwang; und wenn sie bei Kaffee und Pfefferkuchen bis spät in die Nacht am Feuer saßen, war es stets Mary gewesen, die in den langen Diskussionen über Liebe und Kunst, Religion und Bürgerrechte das Wort führte. Mary war nach Ansicht aller ihrer Freundinnen eine klare Einserkandidatin; nur die dummen und undurchschaubaren Professorinnen waren nicht überrascht, als dann die Prüfungsergebnisse kamen und Harriets Name unter den Einsern stand, Marys aber erst unter den Zweiern. Und später hatte Mary dann geheiratet, und man hatte kaum noch etwas von ihr gehört; nur daß sie sich geradezu krankhaft an das College klammerte und kein Ehemaligentreffen und keine Jahresfeier ausließ. Harriet dagegen hatte alle alten Bande hinter sich zerrissen und die Hälfte aller Gebote gebrochen, ihren Ruf durch den Schmutz gezogen und Geld verdient; sie hatte den ebenso reichen wie amüsanten Lord Peter Wimsey zu Füßen liegen und konnte ihn jederzeit heiraten, wenn sie nur wollte, und sie steckte voll Energie und Bitterkeit und genoß die ungewissen Früchte des Ruhms. Prometheus und Epimetheus hatten scheint’s die Rollen getauscht; doch für den einen war die Büchse mit den Übeln, für den andern der nackte Felsen und der Geier; und nie mehr, glaubte Harriet, würden sie sich auf gemeinsamem Boden treffen können.

«Aber mein Gott», dachte Harriet, «ich will kein Feigling sein! Ich gehe hin und basta. Schlimmer, als man mir weh getan hat, kann mir nichts mehr weh tun. Und was macht es schließlich aus?»

Sie füllte die Antwortkarte aus, adressierte sie, knallte eine Briefmarke darauf und lief schnell nach unten, um sie in den Briefkasten zu werfen, bevor sie es sich doch noch anders überlegte.

Sie kam langsam durch die Parkanlage zurück, stieg die steinerne Adam-Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, kam dort nach fruchtloser Durchsuchung eines Kleiderschranks wieder heraus und stieg weiter hinauf zum Speicher. Sie schleifte eine alte Truhe auf den Gang, schloß sie auf und klappte den Deckel hoch. Ein dumpfer, kalter Geruch. Bücher. Ausrangierte Kleidung. Alte Schuhe. Alte Manuskripte. Eine verblaßte Krawatte, die einmal ihrem verstorbenen Liebhaber gehört hatte – wie schrecklich, daß die noch hier herumlag! Sie wühlte sich bis auf den Boden durch und zerrte ein dickes schwarzes Bündel ans staubdurchtanzte Sonnenlicht. Der Talar, nur einmal getragen, als sie ihren Magister Artium bekam, hatte durch die lange Verbannung nicht gelitten: die steifen Falten wiesen fast keine Knitterspuren auf. Die rote Seide des Überwurfs leuchtete tapfer. Nur das Barett war leicht vom Mottenzahn gezeichnet. Als sie die losen Fusseln davon abklopfte, flatterte ein kleiner Nesselfalter, aus seinem Winterschlaf unter dem Truhendeckel gerissen, in das helle Licht des Fensters und verfing sich dort in einem Spinnennetz.

 

Harriet war froh, daß sie sich inzwischen ein eigenes kleines Auto leisten konnte. Dadurch würde ihr Einzug in Oxford sie nicht an ihre früheren Ankünfte mit der Eisenbahn erinnern. Noch ein paar Stunden länger konnte sie das wimmernde Gespenst ihrer toten Jugend ignorieren und sich einreden, sie sei eine Fremde, eine Durchreisende, eine wohlhabende Frau mit einer Stellung in der Welt. Die heiße Landstraße blieb hinter ihr zurück. Ortschaften wuchsen aus der grünen Landschaft, drängten sich dicht an sie heran mit ihren Wirtshausschildern und Tankstellen, ihren Läden und Polizeistationen und Kinderwagen, wirbelten hinter sie zurück und waren vergessen. Der Juni ging inmitten von Rosen dem Ende entgegen, und die Hecken verdunkelten sich zu einem stumpferen Grün; das aufdringliche Rot der Ziegelbauten entlang der Landstraße mahnte sie daran, daß die Gegenwart unerbittlich die leeren Felder der Vergangenheit verbaute. In High Wycombe nahm sie in aller Ruhe ein kräftiges Mittagessen zu sich, bestellte dazu eine halbe Flasche Weißwein und gab der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld. Sie wollte sich so deutlich wie möglich von der vormaligen jungen Studentin unterscheiden, die sich im Schatten eines Waldweges mit einem Packen Butterbrote und einer Thermosflasche Kaffee hätte begnügen müssen. Wenn man älter wurde, sicherer in seiner Persönlichkeit, bekam man wieder mehr Geschmack an äußeren Formen. Ihr Kleid für das Gartenfest, passend zu ihrer akademischen Tracht gewählt, lag säuberlich zusammengefaltet im Koffer. Es war lang und schlicht, aus glatter schwarzer Georgette und von untadeliger Korrektheit. Darunter lag fürs Festbankett ein Abendkleid aus sattem Petunienrot, von ausgezeichnetem, aber dezentem Schnitt, der nicht ungehörig viel Brust oder Rücken zeigte; damit würde sie sicher nicht die Porträts toter Rektorinnen beleidigen, die von den allmählich verblassenden Eichentäfelungen des großen Speisesaals blickten.

Headington. Sie war jetzt sehr nah, und trotz allem krampfte ihr ein kaltes Unbehagen den Magen zusammen. Headington Hill, wo man so oft sein klappriges Fahrrad mühsam hinaufgeschoben hatte. Jetzt kam er einem lange nicht mehr so steil vor, wenn man hinter vier rhythmisch pulsierenden Zylindern sittsam hier hinunterfuhr; aber jedes Blatt, jeder Stein grüßte einen mit der zudringlichen Vertrautheit einer alten Schulfreundin. Dann die schmale Straße mit ihren eng zusammengedrängten, unordentlichen Läden, wie eine Dorfstraße; hier und da war sie ein wenig verbreitert und ausgebessert worden, aber es gab wenig wirkliche Veränderungen, die einem Zuflucht boten.

Die Magdalen-Brücke. Der Magdalen-Turm. Hier war überhaupt kein Wandel sichtbar – nur die herzlose, gleichgültige Dauerhaftigkeit menschlichen Werkens. Hier mußte man ernsthaft anfangen, sich zu wappnen. Die Long Wall Street. Die St. Cross Road. Man fühlte die eherne Hand der Vergangenheit an den Eingeweiden. Das Tor zum College; und nun mußte man es auch durchstehen.

Am Eingang in der St. Cross Road saß ein neuer Pförtner, der Harriets Namen ungerührt zur Kenntnis nahm und auf einer Liste abhakte. Sie übergab ihm ihr Gepäck, fuhr den Wagen um die Ecke zu einer Garage im Mansfield Lane[*], ging dann, den Talar überm Arm, über den Neuen Hof in den Alten und gelangte schließlich durch einen häßlichen Toreingang aus Ziegelsteinen in den Burleigh-Bau.

Auf den Korridoren und im Treppenhaus begegnete sie niemandem von ihrem Jahrgang. An der Tür zum Studentengemeinschaftsraum begrüßten sich drei ehemalige Kommilitoninnen eines viel älteren Jahrgangs mit überschäumender, wenn auch verspäteter Mädchenhaftigkeit; sie kannte aber keine von ihnen und ging, ohne etwas zu sagen oder von ihnen angesprochen zu werden, an ihnen vorbei wie ein Geist. Das ihr zugewiesene Zimmer identifizierte Harriet nach einigen Berechnungen als dasjenige, das zu ihrer Zeit von einer ihr ausgesprochen unsympathischen Kommilitonin bewohnt worden war; sie hatte einen Missionar geheiratet und war nach China gegangen. Der kurze Talar der jetzigen Bewohnerin hing hinter der Tür; die Bücher in den Regalen ließen auf ein Geschichtsstudium schließen; nach ihren persönlichen Habseligkeiten zu schließen, schien sie eine Studentin im ersten Jahr mit Hang zur Modernität und wenig natürlichem Geschmack zu sein. Das schmale Bett, auf das Harriet jetzt ihre Sachen warf, war mit einer Tagesdecke von geschmacklos grüner Farbe und unausgewogen futuristischem Muster überzogen; darüber hing ein schlechtes Bild in neoarchaischem Stil; eine verchromte Lampe von eckiger, unhandlicher Form paßte wenig zu dem collegeeigenen Mobiliar, einem Tisch und Kleiderschrank, ihrerseits von einer Art, bei der man meist an die Tottenham Court Road denkt; die ganze Disharmonie wurde gekrönt und akzentuiert durch eine eigenartige Statuette – oder ein dreidimensionales Diagramm – aus Aluminium auf der Kommode; es ähnelte einem übergroßen, verbogenen Korkenzieher und trug am Sockel die Aufschrift STREBEN. Mit einiger Überraschung und Erleichterung fand Harriet im Kleiderschrank drei funktionstüchtige Kleiderbügel. Der Spiegel war nach bewährtem Collegebrauch etwa dreißig mal dreißig Zentimeter groß und hing in der dunkelsten Ecke des Zimmers.

Sie packte ihren Koffer aus, zog Mantel und Rock aus, warf sich einen Bademantel über und machte sich auf die Suche nach einem Badezimmer. Sie hatte sich eine dreiviertel Stunde zum Umkleiden und Frischmachen zugebilligt, und die Warmwasserversorgung hatte schon immer zu den bewundernswertesten kleinen Annehmlichkeiten am Shrewsbury College gehört. Sie wußte nicht mehr genau, wo sich die Badezimmer auf diesem Flur befanden, aber sie mußten hier irgendwo links sein. Ein Abspülraum, zwei Abspülräume mit Hinweisschildern an den Türen: GESCHIRRSPÜLEN NACH 23 UHR UNTERSAGT; drei Toiletten mit Hinweisschildern an den Türen: NACH VERLASSEN BITTE LICHT LÖSCHEN; ja, und hier war sie richtig – vier Badezimmer mit Hinweisschildern an den Türen: BADEN NACH 23 UHR UNTERSAGT, und darunter jeweils der entrüstete Zusatz: WENN EINZELNE STUDENTINNEN WEITERHIN NACH 23 UHR BADEN, WERDEN DIE BADERÄUME KÜNFTIG UM 22.30 UHR ABGESCHLOSSSEN. EINEgewisseRÜCKSICHTNAHME AUF ANDERE IST IN EINER GEMEINSCHAFT UNERLÄSSLICH. Unterzeichnet: L. MARTIN, DEKAN. Harriet suchte sich das größte Bad aus. Da hing eine Merktafel mit VERHALTENSMASSREGELN IM BRANDFALLE und in großen Lettern der Hinweis: DER WARMWASSERVORRAT IST BEGRENZT. BITTE NICHT UNNÖTIG VERGEUDEN! Mit dem vertrauten Gefühl, in Vorschriften eingebettet zu sein, drückte Harriet den Stöpsel in den Abfluß und drehte den Hahn auf. Das Wasser war siedendheiß; allerdings hätte der Badewanne ein neuer Emailüberzug gutgetan, und die Korkmatte hatte auch schon bessere Tage gesehen.

Nach dem Bad fühlte Harriet sich schon viel wohler. Wieder hatte sie das Glück, auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer niemandem zu begegnen, den sie kannte. Sie war nicht in der Stimmung für erinnerungsseligen Klatsch im Bademantel. An der Tür zum vorletzten Zimmer vor dem ihren las sie den Namen «Mrs. H. Attwood». Die Tür war zu, und darüber war sie froh. An der nächsten Tür stand kein Name, doch als Harriet vorbeiging, drehte von drinnen jemand am Türknauf, und die Tür bewegte sich langsam. Harriet huschte rasch vorbei und brachte sich in Sicherheit. Sie hatte ganz lächerliches Herzklopfen.

Das schwarze Kleid paßte wie angegossen. Es hatte eine kleine viereckige Passe und lange, schmale Ärmel, durch Rüschen aufgelockert, die fast bis zu den Fingerknöcheln reichten. Es betonte ihre Figur bis zur Taille und fiel von da lose zum Boden, wodurch es ein wenig an die Mode des Mittelalters erinnerte. Der Stoff war matt und trat so hinter dem sanften Schimmer der akademischen Tracht zurück. Harriet zog die schweren Falten des Talars ein wenig über die Schultern nach vorn, so daß das strenge Vorderteil glatt wie eine Stola nach unten fiel. Mit dem Überwurf hatte sie gewisse Schwierigkeiten, bevor ihr wieder einfiel, wie man ihm am Hals den richtigen Dreh gab, so daß die rote Seide nach außen zeigte. Sie steckte ihn unsichtbar an der Brust fest, so daß er unverrückbar in der richtigen Lage blieb – eine schwarze und eine rote Schulter. Gebückt vor dem unzulänglichen Spiegel stehend (die jetzige Bewohnerin des Zimmers mußte recht klein sein), drückte sie sich das weiche Barett flach und gerade auf den Kopf, so daß die Spitze über der Mitte der Stirn herunterklappte. Im Spiegel sah sie ihr Gesicht ziemlich blaß, mit schwarzen, eckigen Brauen rechts und links von einer kräftigen, für gängige Schönheitsideale etwas zu breiten Nase. Ihre Augen starrten ihr aus dem Glas entgegen – ein wenig müde, ein wenig trotzig –, Augen, die schon Angst gesehen hatten und noch immer argwöhnisch dreinblickten. Der Mund verriet einen Menschen, der freigebig gewesen war und die Freigebigkeit bereut hatte; die weit auseinanderstehenden Winkel waren nach hinten gezogen, wie um nichts preiszugeben. Nachdem das dichte, wellige Haar unter dem schwarzen Tuch steckte, wirkte das Gesicht gleichsam entblößt, wie zur Tat bereit. Harriet betrachtete sich stirnrunzelnd und fuhr ein paarmal mit den Händen den Talar hinauf und hinunter; dann drehte sie sich, allmählich ungehalten über den Spiegel, zum Fenster und blickte hinaus auf den Innenhof, der auch Alter Hof hieß. Es war eine rechteckige Grünanlage, um die sich die Collegegebäude gruppierten. An einem Ende des Rasens waren unter schattenspendenden Bäumen Tische und Stühle aufgestellt. Gegenüber zeigte der fast fertige Flügel der neuen Bibliothek sein nacktes Gebälk inmitten eines Waldes von Baugerüsten. Eine Gruppe von Frauen überquerte den Rasen; Harriet sah mit einer leichten Verärgerung, daß die meisten ihre Barette schlecht auf dem Kopf sitzen hatten, und eine hatte sogar die Ungeschicklichkeit besessen, ein zitronengelbes Kleid mit Musselinrüschen anzuziehen, das unter dem Talar sehr unpassend wirkte.

«Obwohl diese leuchtenden Farben ja durchaus etwas Mittelalterliches haben», dachte sie. «Und die Frauen sind jedenfalls nicht schlimmer als die Männer. Einmal habe ich doch den alten Hammond in der Prozession zum Stiftungsfest im Talar eines Doktors der Musik, einem grauen Flanellanzug darunter, braunen Schuhen und einer blauen, getüpfelten Krawatte gesehen, und niemand hat etwas darüber gesagt.»

Sie mußte plötzlich lachen und fühlte sich zum erstenmal wieder voll Zuversicht.

«Das können sie mir jedenfalls nicht nehmen. Was ich seitdem auch getan habe, dies bleibt: Studium, Magister Artium, Domina, Seniorin dieser Universität (statutum est quod Juniores Senioribus debitam et congruam reverentiam tum in privato tum in publico exhibeant); ich habe eine Stellung im Leben erreicht, die mir niemand streitig machen kann und der man Achtung entgegenzubringen hat.»

Sie verließ festen Schrittes ihr Zimmer und klopfte an die übernächste Tür.

 

Die vier Frauen gingen zusammen durch den Garten – langsam, weil Mary krank war und nicht schnell gehen konnte. Und während sie so gingen, dachte Harriet:

«Es war ein Fehler – es war ein großer Fehler – ich hätte nicht kommen sollen. Mary ist ja ein liebes Ding, das war sie schon immer, und es ist so rührend, wie sie sich freut, mich wiederzusehen, aber wir haben uns nichts mehr zu sagen. Und jetzt werde ich sie immer so in Erinnerung behalten, wie sie heute ist, mit diesem abgehärmten Gesicht und dem geschlagenen Ausdruck. Und sie wird mich in Erinnerung behalten, wie ich bin – verhärtet. Sie hat gesagt, ich sehe erfolgreich aus, und ich weiß, was das heißt.»

Sie war froh, daß Betty Armstrong und Dorothy Collins alles Reden besorgten. Die eine von ihnen war eine vielbeschäftigte Hundezüchterin; die andere führte einen Buchladen in Manchester. Sie waren offenbar miteinander in Verbindung geblieben, denn sie sprachen über Dinge, nicht über Menschen, wie es eben Leute tun, die lebendige gemeinsame Interessen haben. Mary Stokes (jetzt Mary Attwood) schien von ihnen isoliert durch Krankheit, durch Ehe, durch – es hatte keinen Sinn, vor der Wahrheit die Augen zu verschließen – durch eine Art geistigen Stillstand, der nichts mit ihrer Krankheit und nichts mit ihrer Ehe zu tun hatte. «Ich nehme an», dachte Harriet, «daß sie eines dieser kleinen Eintagsgehirne hatte, die früh erblühen und in Samen schießen. Da ist sie nun, meine vertraute Freundin von einst, und spricht zu mir mit einer geradezu peinlich bewundernden Höflichkeit über meine Bücher. Und ich spreche zu ihr mit peinlich bewundernder Höflichkeit über ihre Kinder. Wir hätten uns nicht wiedersehen sollen. Es ist einfach unerfreulich.»

Dorothy Collins unterbrach sie in ihren Gedanken, indem sie ihr eine Frage nach Verlagsverträgen stellte, deren Beantwortung sie über die Zeit rettete, bis sie auf den Hof hinaustraten. Auf dem Weg kam ihnen eine resolute Gestalt entgegengeeilt und hielt mit einem Begrüßungsruf mitten im Schritt inne.

«Nanu, das ist ja Miss Vane! Wie schön, Sie nach so langer Zeit einmal wiederzusehen.»

Harriet ließ sich dankbar von der Dekanin entführen, zu der sie schon immer eine sehr große Zuneigung gehabt und die ihr damals freundliche Worte geschrieben hatte, als aufmunternde Freundlichkeit ihr mehr hatte helfen können als alles andere auf der Welt. Die andern drei wußten, was die Achtung vor der Autorität ihnen gebot, und gingen weiter; sie hatten der Dekanin schon im Laufe des Tages ihren Respekt erwiesen.

«Wie schön, daß Sie kommen konnten!»

«Ziemlich mutig von mir, nicht wahr?» meinte Harriet.

«Ach, so ein Unsinn!» antwortete die Dekanin. Sie legte den Kopf schief und musterte Harriet mit glänzenden Vogelaugen. «Sie dürfen an das alles nicht mehr denken. Kein Mensch kümmert sich heute noch darum. Wir sind nicht annähernd so ausgetrocknete Mumien, wie Sie glauben. Schließlich ist die Arbeit, die Sie leisten, das einzige, was wirklich zählt, nicht wahr? Übrigens kann die Rektorin es kaum erwarten, Sie zu sehen. Sie war so begeistert von Sand des Verbrechens. Sehen wir mal, ob wir sie noch erwischen, bevor der Vizekanzler eintrifft … Was sagen Sie zum Aussehen von Stokes – ich meine Attwood? Ich kann mir ihre neuen Namen einfach nicht merken.»

«Ziemlich elend, finde ich», sagte Harriet. «Im Grunde bin ich ja nur ihretwegen hierhergekommen, aber ich fürchte jetzt, es wird nicht sehr erfreulich.»

«Aha!» sagte die Dekanin. «Wahrscheinlich in der Entwicklung stehengeblieben, wie? Sie war mal Ihre Freundin – aber ich fand schon immer, daß sie einen Verstand hatte wie ein eintägiges Küken. Sehr altklug, aber kein Stehvermögen. Trotzdem hoffe ich, daß man sie wieder hochbringt … Mein Gott, dieser Wind – ich kann mein Barett nicht auf dem Kopf halten. Ihres hält erstaunlich gut; wie machen Sie das? Und ich sehe, daß wir beide Dunkel tragen, wie sich’s gehört. Haben Sie Trimmer in diesem entsetzlichen Kleid gesehen? – Wie ein kanariengelber Lampenschirm!»

«Ach, Trimmer war das? Was treibt sie eigentlich?»

«Du lieber Gott! Sie hat sich auf psychologische Heilkunst verlegt, Freude und Liebe und so weiter … Ah, ich hab mir doch gedacht, daß wir die Rektorin hier finden.»

Das Shrewsbury College hatte stets Glück mit seinen Rektorinnen gehabt. In den Anfangstagen hatte eine Frau von Rang sein Ansehen gehoben; in der schwierigen Zeit des Kampfes um akademische Abschlüsse für Frauen hatte es eine Diplomatin an der Spitze gehabt; und jetzt, nachdem es in die Universität eingegliedert worden war, sorgte eine Persönlichkeit für ein annehmbares Bild in der Öffentlichkeit. Dr. Margaret Baring trug ihr Scharlachrot und Grau sehr selbstbewußt. Sie war eine prachtvolle Galionsfigur bei allen öffentlichen Anlässen und verstand es mit viel Takt, die verletzten Gefühle verkrusteter und gekränkter männlicher Akademiker zu besänftigen. Sie begrüßte Harriet freundlich und fragte, wie ihr die Neue Bibliothek gefalle, die den Alten Hof auf der Nordseite abschließen solle. Harriet bewunderte pflichtschuldigst, was von dem Gebäude bisher zu sehen war, nannte es einen großen Fortschritt und fragte, wann es fertig sein werde.

«Zu Ostern, hoffen wir. Vielleicht dürfen wir Sie zur Eröffnung begrüßen.»

Harriet antwortete höflich, sie freue sich darauf, und als sie in der Ferne den wehenden Talar des Vizekanzlers erscheinen sah, zog sie sich taktvoll zurück und mischte sich wieder unter die Ehemaligen.

Talare, Talare, Talare. Es war manchmal schwierig, nach zehn und mehr Jahren die Leute zu erkennen. Diese Frau mit dem blauen Überwurf mit Kaninchenfellbesatz mußte Sylvia Drake sein – demnach hatte sie doch noch ihren Bakkalaureus geschafft. Miss Drakes Baccalaureus Litterarum war am College ein stehender Witz gewesen; sie hatte so lange dafür gebraucht; immer wieder hatte sie ihre Zulassungsarbeit umgeschrieben und war schier darüber verzweifelt. An Harriet, die soviel jünger war als sie, erinnerte sie sich gewiß nicht mehr, aber Harriet erinnerte sich gut an sie – wie sie in dem Jahr ihres Collegeaufenthalts dauernd in den Gemeinschaftsraum der Studentinnen gekommen war und von mittelalterlichen Minnehöfen geredet hatte. Du lieber Himmel! Und da kam diese fürchterliche Muriel Campshott an und berief sich auf alte Bekanntschaft. Campshott mit dem einfältigen Lächeln, das sie heute noch hatte. Ihr Kleid hatte einen schaurigen Grünton. Und gleich würde sie fragen: «Wie kommst du nur auf alle diese Geschichten?» Sie fragte es. Dummes Frauenzimmer. Und Vera Mollison. Sie fragte: «Schreibst du gerade wieder etwas?»

«Ja, natürlich», antwortete Harriet. «Und du unterrichtest noch?»

«Ja – noch immer an derselben Schule», sagte Mollison. «Im Vergleich mit deiner Arbeit ist meine ja wohl nur Kleinkram.»

Darauf gab es als Antwort nur ein abwehrendes Lachen, und Harriet lachte abwehrend. Bewegung kam in die Versammelten. Man strömte in den Neuen Hof, wo eine Uhr enthüllt werden sollte, und stellte sich auf dem steinernen Weg hinter den Blumenbeeten auf. Eine amtliche Stimme ließ sich vernehmen und legte den Gästen nahe, Platz für den Zug der Honoratioren zu lassen. Harriet benutzte diese Gelegenheit, um sich von Vera Mollison freizumachen und sich hinter eine Gruppe zu stellen, in der sie kein bekanntes Gesicht sah. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs sah sie Mary Attwood und ihre Freundinnen. Sie winkten ihr zu. Sie winkte zurück. Aber sie würde nicht über den Rasen gehen und sich zu ihnen stellen. Sie wollte sich abseits halten, für sich allein in der großen Masse.

Die Uhr konnte unter ihrer Fahnentuchhülle wohl ihren ersten Auftritt in der Öffentlichkeit nicht erwarten und schlug drei. Schritte knirschten auf dem Kies. Die Prozession kam unter dem Torbogen in Sicht, ein kleiner Zug älterer Leute in Zweierreihe; herausgeputzt in der nicht mehr angemessenen Pracht einer prunksüchtigeren Zeit, schritten sie mit der lässigen Würde dahin, die so typisch für Universitätsveranstaltungen in England ist. Sie überquerten den Hof. Sie bestiegen das Podest unter der Uhr. Die Professoren nahmen zum Zeichen der Ehrerbietung vor dem Vizekanzler ihre akademische Kopfbedeckung ab, die Professorinnen nahmen eine andächtige Haltung ein wie zur Gebetsstunde. Der Vizekanzler hob mit dünner, gezierter Stimme zu reden an. Er sprach von der Geschichte des College; er wies huldvoll auf Errungenschaften hin, die nicht nur nach dem Ablauf der Zeit zu messen seien; er machte ein kleines Witzchen über die Relativität und schmückte es mit einem klassischen Zitat; er verwies auf die Großzügigkeit der Spenderin und die hochgeschätzte Persönlichkeit des dahingegangenen Mitglieds des akademischen Rats, zu dessen Gedenken die Uhr gestiftet worden war; er nannte sich glücklich, diese hübsche Uhr enthüllen zu dürfen, die so viel zur weiteren Verschönerung dieses Hofs beitragen werde – eines Hofs, der, wie er hinzufügen möchte, zwar zeitlich gesehen neu, aber dennoch vollkommen würdig sei, seinen Platz zwischen diesen alten, ehrwürdigen Gebäuden einzunehmen, die der Universität zur Ehre gereichten. Im Namen des Kanzlers der Universität Oxford enthülle er jetzt die Uhr. Seine Hand griff nach der Schnur; ein Ausdruck gespannter Besorgnis trat in das Gesicht der Dekanin und löste sich zu einem breiten, triumphierenden Lächeln auf, als das Tuch ohne peinliche Panne herunterkam; die Uhr war enthüllt, und ein paar kühne Geister applaudierten; die Rektorin dankte in einer kurzen, wohlgesetzten Rede dem Vizekanzler für sein liebenswürdiges Kommen und seine freundlichen Worte; der goldene Zeiger der Uhr rückte weiter, und ein sanfter Ton verkündete die Viertelstunde. Ein Seufzer der Befriedigung ging durch die Versammelten; die Prozession trat wieder an und schritt durch den Torbogen zurück, und die Feier war glücklich zu Ende.

Harriet, die im Gedränge folgte, entdeckte zu ihrem Entsetzen, daß Vera Mollison wieder neben ihr aufgetaucht war und soeben sagte, ihrer Meinung nach müßten alle Kriminalschriftsteller ein großes persönliches Interesse an Uhren haben, da doch so viele Alibis sich um Uhren und Zeitzeichen drehten. An der Schule, an der sie unterrichte, habe es einmal einen merkwürdigen kleinen Zwischenfall gegeben; sie finde, das sei ein hervorragendes Thema für einen Detektivroman – für jemanden, der so klug sei, sich so etwas auszudenken. Sie habe sich darauf gefreut, Harriet wiederzusehen und ihr davon zu erzählen. Und damit baute sie sich in beträchtlicher Entfernung von den Büffettischen auf dem Rasen auf und begann von dem merkwürdigen Vorfall zu berichten, der einiger vorausgehender Erklärungen bedurfte. Ein Hausmädchen kam mit einem Tablett voller Teetassen. Harriet nahm sich rasch eine und wünschte sofort, sie hätte das nicht getan, denn die Tasse hinderte sie an schneller Bewegung und schien sie bis in alle Ewigkeit hier bei Vera Mollison festzunageln. Dann erblickte sie mit warmer Dankbarkeit Phoebe Tucker. Die gute Phoebe hatte sich überhaupt nicht verändert. Harriet entschuldigte sich hastig bei Vera Mollison, sagte, sie möchte in einem ruhigeren Moment die Uhrengeschichte unbedingt zu Ende hören, schob sich durch einen Wald von Talaren und rief: «Hallo!»

«Ja?» machte Phoebe. «Ach, du bist es. Gott sei Dank! Ich dachte schon, außer Trimmer und dieser schrecklichen Mollison ist überhaupt niemand von unserm Jahrgang hier. Komm, wir holen uns ein paar Sandwichs; sie sind recht gut, so unglaublich es klingt. Wie geht’s dir denn so? Alles bestens?»

«Nicht schlecht.»

«Jedenfalls machst du gute Sachen.»

«Du auch. Komm, wir suchen uns irgendwo einen Platz zum Hinsetzen. Ich möchte gern etwas über deine Ausgrabungen hören.»

Phoebe Tucker hatte Geschichte studiert und einen Archäologen geheiratet, und die Kombination schien bemerkenswert gut zu klappen. Sie gruben in vergessenen Winkeln der Erde alte Knochen und Steine und Gefäße aus, schrieben Abhandlungen darüber und hielten Vorträge vor der Gelehrtenwelt. Irgendwann dazwischen hatten sie ein fröhliches Kindertrio in die Welt gesetzt, das sie ohne Umstände bei den beglückten Großeltern abzuliefern pflegten, bevor sie wieder zurück zu ihren Knochen und Steinen eilten.

«Also, wir sind gerade erst von Ithaka zurück. Bob ist ganz aus dem Häuschen wegen ein paar neuer Begräbnisstätten und hat eine völlig neue, revolutionäre Theorie über Begräbnisriten aufgestellt. Er schreibt an einem Aufsatz, in dem er allen Schlußfolgerungen des alten Lambard widerspricht, und ich helfe ihm, indem ich seine Adjektive etwas abschwäche und mildernde Fußnoten einflicke. Ich meine, Lambard mag ja ein verschrobener alter Trottel sein, aber es ist würdevoller, das nicht mit ganz so vielen Worten zu sagen. Eine höfliche, tödliche Nettigkeit ist viel vernichtender, findest du nicht auch?»

«Unbedingt.»

Hier hatte sie immerhin jemanden gefunden, der sich keinen Deut geändert hatte, den verflossenen Jahren und der Ehe zum Trotz. Harriet war ganz in der Stimmung, sich darüber zu freuen. Nachdem das Thema der Begräbnisriten ausgiebig erschöpft war, erkundigte sie sich nach der Familie.

«Na ja, die Kinder fangen an, uns Spaß zu machen. Richard – das ist der älteste – ist ganz begeistert von den Begräbnisstätten. Seine Großmutter war erst neulich wieder sehr schockiert, als sie ihn dabei erwischte, wie er mit einer Engelsgeduld und nach allen Regeln der Kunst den Abfallhaufen des Gärtners abtrug und sich eine Knochensammlung anlegte. Ihre Generation hat immer so fürchterliche Angst vor Krankheitskeimen und Schmutz. Wahrscheinlich hat sie ja recht damit, aber die Sprößlinge scheinen trotzdem keinen Schaden zu nehmen. Sein Vater hat ihm also eine Vitrine geschenkt, damit er die Knochen darin aufbewahren kann. Er bestärkt ihn noch darin, sagt Mutter. Ich glaube, nächstes Mal sollten wir Richard mitnehmen, aber dann würde Mutter sich solche Sorgen machen und immer nur an die fehlende Kanalisation denken und was er sich bei den Griechen alles holen könnte. Unsere Kinder scheinen sich alle als recht intelligent zu entwickeln, Gott sei Dank. Es wäre einfach fürchterlich, die Mutter von Schwachköpfen zu sein, aber dabei ist es doch reine Glücksache, nicht? Wenn man sie einfach erfinden könnte wie Romanfiguren, wäre das für wohlgeordnete Seelen viel befriedigender.»

Von diesem Punkt ging die Unterhaltung ganz natürlich auf die Biologie, die Mendelsche Vererbungslehre und Schöne neue Welt über. Sie wurde unterbrochen, als aus einer Gruppe ehemaliger Studentinnen plötzlich Harriets frühere Tutorin auftauchte. Harriet und Phoebe eilten ihr wie auf Kommando zur Begrüßung entgegen. Miss Lydgate hatte noch genau dieselbe Art an sich wie früher. Den unschuldigen und ehrlichen Augen dieser großen Gelehrten schien sich nie ein moralisches Problem zu stellen. Selbst von untadeliger persönlicher Integrität, beurteilte sie die Irrungen anderer mit einer allumfassenden, rückhaltlosen Nächstenliebe. Wie es sich für Kenner der Literatur gehört, kannte auch sie natürlich alle Sünden dieser Welt mit Namen, aber ob sie eine davon erkannt hätte, wenn sie ihr im wirklichen Leben begegnet wäre, war sehr fraglich. Es war, als ob jede Missetat, begangen von einem Menschen, den sie kannte, bereits durch die persönliche Bekanntschaft entschärft und geläutert wäre. So viele junge Menschen waren schon durch ihre Hände gegangen, und sie hatte so viel Gutes in ihnen allen gefunden; es war ihr unmöglich, zu glauben, daß jemand absichtlich böse sein könnte wie Richard III. oder Jago. Unglücklich, ja; irregeleitet, ja; mit Schwierigkeiten und vielschichtigen Versuchungen konfrontiert, von denen Miss Lydgate selbst gnädig verschont geblieben war, ja. Wenn sie von einem Diebstahl hörte, einer Scheidung oder Schlimmerem gar, kräuselte sie besorgt die Stirn und überlegte, wie unvorstellbar schlecht es den Missetätern ergangen sein mußte, bevor sie so etwas Schreckliches taten. Nur einmal hatte Harriet sie mit uneingeschränkter Mißbilligung von jemandem reden hören, den sie kannte, und das war eine ehemalige Schülerin von ihr gewesen, die ein populäres Buch über Carlyle geschrieben hatte. «Überhaupt nichts recherchiert», hatte da Miss Lydgates Verdikt gelautet, «und nicht einmal der Versuch einer kritischen Beurteilung. Sie hat nur den ganzen alten Klatsch wieder aufgewärmt und sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Schlampig, auf Effekthascherei und schnell verdientes Geld angelegt. Ich schäme mich für sie.» Und selbst dann hatte sie noch hinzugefügt: «Aber ich glaube, die Ärmste hatte es sehr nötig.»

Miss Lydgate machte nicht den Eindruck, als ob sie sich für Miss Vane schämte. Im Gegenteil, sie begrüßte sie aufs herzlichste, bat sie, am Sonntagmorgen zu ihr zu kommen, sprach anerkennend über ihre Arbeit und hob lobend hervor, daß sie sich selbst im Unterhaltungsroman eines gepflegten Englisch befleißigte.

«Der ganze Lehrkörper hat viel Freude an Ihnen», fügte sie hinzu, «und ich glaube, Miss de Vine gehört auch zu Ihren großen Verehrerinnen.»

«Miss de Vine?»

«Ach ja, die kennen Sie natürlich nicht. Unsere neue Forschungsstipendiatin. Eine sehr reizende Person, und ich weiß auch, daß sie gern mit Ihnen über Ihre Bücher sprechen möchte. Sie müssen mitkommen und sie kennenlernen. Wir haben sie nämlich für drei Jahre hier. Das heißt, sie wird erst ab dem nächsten Trimester hier im College wohnen, aber sie hält sich schon seit ein paar Wochen in Oxford auf und arbeitet in der Bodleiana. Sie arbeitet an einem großen Werk über die Staatsfinanzen unter den Tudors und versteht darüber richtig interessant zu schreiben, sogar für Leute wie mich, die von Geld keine Ahnung haben. Wir sind alle so froh, daß sich das College entschieden hat, ihr das Jane-Barraclough-Stipendium zu geben, denn sie ist eine hervorragende Wissenschaftlerin und hat eine schwere Zeit hinter sich.»

«Ich glaube, ich habe schon von ihr gehört. Hat sie nicht irgendein College in der Provinz geleitet?»

«Doch, sie war drei Jahre lang Rektorin von Flamborough; aber die richtige Aufgabe war das nicht für sie; zuviel Verwaltungsarbeit, obwohl sie natürlich in Finanzfragen unübertrefflich war. Aber es war einfach zuviel – ihre eigene Forschungsarbeit, die Prüfung von Doktorarbeiten und so weiter, und dann noch die Studentinnen – Universität und College zusammen haben sie zerrieben. Sie gehört nämlich zu den Menschen, die unter allen Umständen ihr Bestes geben; aber ich glaube, die zwischenmenschlichen Kontakte waren für sie sehr unbefriedigend. Sie wurde krank und mußte für ein paar Jahre ins Ausland gehen. Eigentlich ist sie gerade erst nach England zurückgekehrt. Natürlich bedeutete der Abschied von Flamborough auch finanziell eine große Veränderung; um so erfreulicher ist es, zu wissen, daß sie jetzt die nächsten drei Jahre an ihrem Buch weiterarbeiten kann, ohne sich über diese Seite des Lebens Gedanken machen zu müssen.»

«Jetzt fällt es mir wieder ein», sagte Harriet. «Ich erinnere mich, irgendwo eine Meldung über die Wahl gelesen zu haben, vorige Weihnachten oder um die Zeit.»

«Wahrscheinlich haben Sie es im Shrewsbury-Jahrbuch gelesen. Wir sind natürlich sehr stolz darauf, sie hier zu haben. Eigentlich müßte sie ja eine Professur bekommen, aber ich weiß nicht, ob sie den Lehrbetrieb durchhalten würde. Je weniger Ablenkung sie hat, desto besser, denn sie ist nun einmal eine echte Gelehrte. Dort ist sie, da drüben – ach du lieber Himmel! Ich fürchte, jetzt ist sie an Miss Gubbins geraten. Erinnern Sie sich an Miss Gubbins?»

«Verschwommen», sagte Phoebe. «Sie stand schon im dritten Jahr, als wir anfingen. Eine Seele von Mensch, aber so schrecklich ernst und bei Studentenversammlungen die Langeweile in Person.»

«Sie ist ein sehr gewissenhafter Mensch», sagte Miss Lydgate, «aber sie hat nun einmal die unglückliche Gabe, jedes Thema trocken und langweilig anzugehen. Das ist so schade, weil sie andererseits so ausnehmend vernünftig und verläßlich ist. Aber bei ihrer derzeitigen Arbeit ist das nicht so wichtig; sie hat irgendwo eine Bibliothekarstelle – Miss Hillyard weiß sicher, wo –, und ich glaube, sie beschäftigt sich noch mit der Familie Bacon. Sie arbeitet sehr fleißig. Aber ich fürchte, sie unterzieht soeben die arme Miss de Vine einem Kreuzverhör, und das scheint mir bei einer solchen Gelegenheit nicht ganz das Wahre. Sollen wir ihr zu Hilfe eilen?»

Während Harriet Miss Lydgate über den Rasen folgte, fühlte sie sich auf einmal von einem großen Heimweh erfaßt. Wenn man doch nur hierher in diese stillen Mauern zurückkehren könnte, wo nur intellektuelle Leistungen zählten! Wenn man hier ruhig und zielstrebig an einem klar umrissenen Problem arbeiten könnte, ohne Ablenkung und ohne Rücksicht auf Agenten, Verleger, Verträge, Klappentexter, Interviewer, Verehrer, Autogrammjäger, Geltungssüchtige und Konkurrenten! Alle persönlichen Beziehungen aufgeben, alle persönlichen Fehden und Eifersüchteleien; sich in etwas Langweiliges und Dauerhaftes verbeißen; zur Festigkeit reifen wie die Buchen von Shrewsbury – dann könnte man vielleicht das Unglück und die Katastrophen der Vergangenheit vergessen oder sie wenigstens in den richtigen Proportionen sehen. Sie waren nämlich in gewissem Sinne gar nicht wichtig. Daß man einmal geliebt und gesündigt und gelitten hatte und dem Tod entgangen war, hatte letztlich weniger zu bedeuten als eine Fußnote in einer obskuren Gelehrtenzeitschrift, in der das wahre Alter eines Manuskripts bewiesen oder ein verlorengegangenes Jota subscriptum wieder zu Ehren gebracht wurde. Es war nur der Mann-gegen-Mann-Kampf mit den hartnäckigen Persönlichkeiten der anderen, die alle nach einem Platz im Rampenlicht strebten, was die Unglücksfälle im Abenteuer des eigenen Lebens im Zusammenhang der Dinge so groß und bedeutend wirken ließ.

Aber sie war nicht sicher, ob sie zu einem solchen Rückzug aus der Welt jetzt imstande wäre. Sie hatte vor langer Zeit den Schritt getan, der das grau ummauerte Paradies Oxford für sie in die Vergangenheit verwies. Niemand kann im selben Fluß zweimal baden, nicht einmal in der Isis. Diese beengte Ruhe würde ihr heutzutage auf die Nerven gehen – das sagte sie sich zumindest.

Sie rief ihre abschweifenden Gedanken zurück und hörte gerade noch, wie sie Miss de Vine vorgestellt wurde. Auf den ersten Blick sah sie, daß sie hier eine Gelehrte völlig anderer Art vor sich hatte als zum Beispiel Miss Lydgate, und erst recht anderer Art als das, was aus Harriet Vane je werden könnte. Diese Frau war eine Kämpferin, o ja; aber eine, für die der Hof des Shrewsbury College gerade die richtige Arena war, in der sie sich zu Hause fühlte: eine Kämpferin, die keine persönlichen Loyalitäten kannte und deren Treue nur den Fakten galt. Eine Miss Lydgate konnte die Welt, von der sie nicht berührt war, mit echter, warmer Liebe umfangen; diese Frau aber, die von der Welt unendlich viel mehr verstand, würde über diese ein gerechtes Urteil sprechen und sie aus ihrem Weg räumen, wenn sie sich durch sie behindert fühlte. Das schmale, interessierte Gesicht mit den großen, grauen, tief und funkelnd hinter dicken Brillengläsern liegenden Augen war für Eindrücke durchaus empfänglich; aber hinter dieser Empfänglichkeit lag ein Verstand so hart und unverrückbar wie Granit. Die Leitung eines Mädchencollege mußte ihr eine sehr unangenehme Aufgabe gewesen sein, fand Harriet, denn sie sah aus, als ob das Wort «Kompromiß» aus ihrem Wörterbuch gestrichen wäre; und dabei war doch alle Staatskunst Kompromiß. Sicher tolerierte sie keinerlei Wankelmütigkeit im Ziel und keine Unklarheit im Urteil. Wenn je etwas zwischen sie und den Dienst an der Wahrheit träte, würde sie ohne Gewissensbisse und ohne Mitleid darüber hinwegschreiten – und wenn es ihr eigener Ruf wäre. Eine furchtbare Frau, wenn sie ein ins Auge gefaßtes Ziel verfolgte – um so furchtbarer ob der trügerischen Mäßigung und Bescheidenheit, die sie an den Tag legte, wenn es sich um einen Gegenstand handelte, den sie nicht beherrschte. Als sie hinzutraten, sagte sie gerade zu Miss Gubbins:

«Ich stimme Ihnen völlig zu, daß man es als Historiker mit dem Detail sehr genau nehmen muß; solange man aber nicht alle beteiligten Charaktere und Umstände in Betracht zieht, läßt man Fakten außer acht. Die Proportionen und Beziehungen der Dinge zueinander sind ebenso Fakten wie die Dinge selbst; und wenn man die nicht recht versteht, wird das Gesamtbild arg verfälscht.»

An dieser Stelle erblickte Miss de Vine, gerade als Miss Gubbins mit störrischem Mauleselblick zum Widerspruch ansetzen wollte, die Englisch-Tutorin und entschuldigte sich. Miss Gubbins blieb nur noch, sich zurückzuziehen; Harriet sah mit Bedauern, daß ihr Haar unordentlich und ihre Haut ungepflegt war und eine große weiße Sicherheitsnadel ihren Überwurf am Kleid festhielt.

«Meine Güte!» sagte Miss de Vine. «Wer ist nur diese absolut phantasielose Frau? Sie scheint sich ja furchtbar über meine Besprechung von Mr. Winterlakes Buch über Essex zu ärgern. Offenbar meint sie, ich hätte den armen Mann in Stücke reißen müssen, nur weil er sich an einer Stelle, wo er sich zufällig mit der Familie Bacon befaßt, mal um ein paar unbedeutende Monate geirrt hat. Daß es sich bei dem Buch um die bis dato aufschlußreichste und wissenschaftlichste Abhandlung über die Wechselwirkungen zwischen zwei äußerst rätselhaften Charakteren handelt, scheint ihr gar nichts zu bedeuten.»

«Die Geschichte der Familie Bacon ist ihr Arbeitsgebiet», sagte Miss Lydgate, «darum nimmt sie das sicherlich sehr ernst.»

«Es ist ein schwerer Fehler, das eigene Thema so überproportional vor seinem Hintergrund zu sehen. Natürlich muß der Irrtum berichtigt werden; ich habe ihn sogar berichtigt – in einem privaten Brief an den Autor, was bei solch unbedeutenden Richtigstellungen der beste Weg ist. Aber ich bin ganz sicher, daß der Mann den Schlüssel zu den Beziehungen zwischen diesen beiden Männern gefunden hat, und damit hat er eine wirklich bedeutende Entdeckung gemacht.»

«Nun», sagte Miss Lydgate, indem sie ihre kräftigen Zähne zu einem herzlichen Lächeln entblößte, «Sie scheinen es Miss Gubbins jedenfalls kräftig gegeben zu haben. Nun habe ich hier jemanden mitgebracht, den Sie gern einmal kennenlernen wollten, wie ich weiß. Das ist Miss Harriet Vane – auch eine Künstlerin in der Wiedergabe von Details.»

«Miss Vane?» Die Historikerin näherte ihre funkelnden, kurzsichtigen Augen Harriet, und ihre Miene hellte sich auf. «Das ist ja wunderbar. Lassen Sie mich Ihnen bitte sagen, wie sehr Ihr letztes Buch mir gefallen hat. Ich fand, es war das beste, das Sie je geschrieben haben – obwohl ich natürlich nicht kompetent bin, da ein Urteil aus wissenschaftlicher Sicht abzugeben. Ich habe mit Professor Higgins darüber gesprochen, der ein großer Verehrer von Ihnen ist, und der sagt, es eröffnet eine hochinteressante Möglichkeit, die ihm bisher noch nie in den Sinn gekommen ist. Er war nicht ganz sicher, ob das funktionieren könnte, aber er wollte alles tun, um es herauszufinden. Sagen Sie mal, worauf stützen Sie sich da eigentlich?»

«Nun, ich hatte natürlich fachmännischen Rat», sagte Harriet, die sich mit einemmal scheußlich unsicher fühlte und Professor Higgins aus tiefstem Herzen verwünschte. «Aber selbstverständlich –»

In diesem Augenblick erspähte Miss Lydgate eine andere ehemalige Schülerin in der Ferne und eilte davon. Phoebe Tucker war auf dem Weg über den Rasen bereits verlorengegangen. Harriet war ihrem Schicksal ausgeliefert. Nach zehn Minuten, in denen Miss de Vine ihrem Opfer unbarmherzig das Innerste nach außen kehrte und die Fakten aus ihm herausschüttelte wie ein resolutes Stubenmädchen den Staub aus einem Bettvorleger, es ausklopfte, bürstete, auffrischte, die Oberseite aufrauhte, wieder ausbreitete und mit fester Hand zurechtrückte, erschien zu ihrer Erlösung die Dekanin und machte der Diskussion ein Ende.

«Gott sei Dank, der Vizekanzler hat sich verabschiedet. Jetzt können wir endlich diesen elenden Bombasin ablegen und uns in unsern Partykleidern zeigen. Mußten wir uns wirklich um akademische Würden und das Vergnügen reißen, uns in voller Amtstracht an heißen Tagen dünsten zu lassen? So, er ist weg! Geben Sie mir diese tristen Fetzen, dann deponiere ich sie mit meinem zusammen im Dozentenzimmer. Haben Sie Ihren Namen drinstehen, Miss Vane? Das nenne ich ordentlich! In meinem Büro hängen schon drei herrenlose Talare. Die lagen am Trimesterende einfach in der Gegend herum. Natürlich ohne jeden Hinweis auf die Besitzer. Diese unordentlichen kleinen Kröten halten es anscheinend für unsere Aufgabe, uns um ihre jämmerlichen Siebensachen zu kümmern. Sie schmeißen sie achtlos irgendwohin und borgen sich dann andere aus; und wenn jemand ohne Talar draußen erwischt und dafür bestraft wird, kommt es immer nur daher, daß ihn jemand geklaut hat. Und schmuddelig sind die Sachen immer, wie Putzlumpen. Die müssen sie als Staublappen und zum Kaminausfegen benutzen. Wenn ich daran denke, wie unsere Generation sich aufgeopfert und das Recht auf diese Gewänder erkämpft hat – und diesen jungen Dingern sind sie einfach egal! Die laufen in Lumpen herum, wie das Bettelvolk in alten Illustrationen – so rückständig! Aber Modernsein heißt für sie anscheinend nur, das nachzumachen, was männliche Studenten vor einem halben Jahrhundert gemacht haben.»

«Mit einigen von uns Ehemaligen ist aber auch nicht gerade Ehre einzulegen», meinte Harriet. «Sehen Sie sich zum Beispiel Miss Gubbins an.»

«Ach du liebes bißchen! Diese Nervensäge. Und alles mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt. Wenn sie sich wenigstens mal den Hals waschen würde!»

«Ich glaube», sagte Miss de Vine, wie stets gewissenhaft darauf bedacht, die Fakten ins rechte Licht zu rücken, «das ist die natürliche Farbe ihrer Haut.»

«Dann soll sie Karotten essen und ihren Körper entschlacken», versetzte die Dekanin, indem sie Harriet den Talar aus den Händen riß. «Nein, bemühen Sie sich nicht. Ich brauche keine Minute, die Dinger durchs Fenster ins Dozentenzimmer zu werfen. Und unterstehen Sie sich nicht, hier wegzulaufen, sonst finde ich Sie nie mehr wieder.»

«Ist meine Frisur in Ordnung?» fragte Miss de Vine, plötzlich ganz menschlich und unsicher, sowie sie ohne Barett und Talar dastand.

«Na ja», sagte Harriet, indem sie die dichten, grauen Wellen inspizierte, aus denen eine Anzahl überstrapazierter Haarnadeln hervorstand wie Krocket-Tore. «Ein bißchen verrutscht.»

«Das tut sie immer», klagte Miss de Vine und drückte ziellos an den Nadeln herum. «Ich glaube, ich muß mir das Haar kurz schneiden lassen. Das dürfte viel weniger Arbeit machen.»

«Mir gefällt es so. Diese weiche Welle steht Ihnen. Lassen Sie mich mal heran, ja?»

«Gern», antwortete die Historikerin und ließ sich dankbar die Haarnadeln feststecken. «Ich bin sehr ungeschickt mit den Fingern. Irgendwo habe ich auch einen Hut», fuhr sie fort und sah sich dabei unschlüssig auf dem Hof um, als erwartete sie, den Hut auf einem Baum wachsen zu sehen, «aber die Dekanin hat ja gesagt, wir sollen hier stehenbleiben. Aha, danke. So fühlt es sich schon besser an – ein wunderbares Gefühl der Sicherheit. Ah, da kommt ja Miss Martin! Miss Vane hat sich freundlicherweise als Friseuse für die Weiße Königin betätigt – aber sollte ich nicht lieber einen Hut aufsetzen?»

«Jetzt nicht», sagte Miss Martin entschieden. «Ich möchte jetzt einen ordentlichen Tee trinken, und Sie auch. Ich fühle mich wie ausgewrungen. Die ganze Zeit habe ich mich an den alten Professor Boniface hängen müssen, der schon neunundsiebzig und ziemlich vertrottelt ist. In die tauben Ohren mußte ich ihm brüllen, bis ich fast tot umfiel. Wieviel Uhr ist es? Na ja, mir geht es jedenfalls wie Marjory Flemings Truthahn – diese Ehemaligentreffen können mir gestohlen bleiben; ich muß jetzt etwas essen und trinken. Machen wir uns schnell mal an den Tisch heran, bevor Miss Shaw und Miss Stevens uns das letzte Eis wegschnappen.»

2. Kapitel

Es ist allen melancholischen Menschen eigen, sagt Mercurialis, sich mit jedwedem Dünkel, den sie einst gepflegt haben, sehr ernst und leidenschaftlich und beständig zu befassen. Invitis occurrit, sie mögen tun, was sie wollen, loskommen können sie nicht davon, sondern müssen gegen ihren Willen tausende Male daran denken, perpetuo molestantur, nec oblivisci possunt, stets werden sie davon geplagt, in Gesellschaft oder allein; beim Mahl, beim Exerzitium, zu allen Zeiten und an allen Orten, non desinunt ea, quae minime volunt, cogitare; besonders wenn es schmerzt, können sie es nicht vergessen.

ROBERT BURTON

So weit, so gut, dachte Harriet, als sie sich zum Abendessen umzog. Es hatte ein paar unerfreuliche Momente gegeben, zum Beispiel als sie versucht hatte, ihre Beziehung zu Mary Stokes zu erneuern. Es war auch zu einer kurzen Begegnung mit Miss Hillyard gekommen, der Tutorin für Geschichte, die noch nie etwas für sie übrig gehabt hatte und jetzt den Mund verzog und spitz sagte: «Nun, Miss Vane, Sie haben ja allerlei erlebt, seit wir Sie zuletzt gesehen haben.» Aber es hatte auch schöne Augenblicke gegeben, die in sich die Verheißung auf Beständigkeit in einem heraklitischen Universum trugen. Sie hatte jetzt das Gefühl, auch das Festbankett überstehen zu können, obwohl Mary Stokes, wie schon befürchtet, dafür gesorgt hatte, daß sie neben ihr saß, was sicher noch anstrengend würde. Zum Glück hatte sie es bewerkstelligen können, daß Phoebe Tucker auf der anderen Seite von ihr saß. (In dieser Umgebung hießen die beiden für sie noch immer Stokes und Tucker.)

Das erste, was über sie hereinbrach, nachdem der Zug der Professorinnen langsam zur Hohen Tafel geschritten war, war der entnervende Lärm im Speisesaal. «Hereinbrach» war das richtige Wort. Er stürzte mit der Wucht eines Wasserfalls auf einen herab; er dröhnte einem um die Ohren wie das Gehämmer einer Höllenschmiede; er füllte die Atmosphäre wie das Klappern von fünfzigtausend Monotypen-Setzmaschinen. Zweihundert Frauenzungen, wie auf Knopfdruck losgelassen, schnatterten in höchster Tonlage und Lautstärke los. Harriet hatte ganz vergessen, wie das war, aber heute abend erinnerte sie sich wieder, daß sie jedesmal zu Beginn eines Trimesters gedacht hatte, sie werde verrückt, wenn dieser Lärm auch nur noch eine Minute länger anhielte. Nach einer Woche hatte sich das dann gegeben. Die Gewohnheit hatte sie immun gemacht. Jetzt aber zerrüttete es ihre entwöhnten Nerven mit um so größerer Heftigkeit. Man schrie ihr in die Ohren, und schon schrie sie selbst zurück. Sie warf einen besorgten Blick zu Mary. Konnte eine Kranke wie sie das überhaupt aushalten? Mary schien es aber gar nichts auszumachen; sie wirkte viel aufgekratzter als tagsüber und brüllte Dorothy Collins munter die Ohren voll. Harriet wandte sich Phoebe zu.

«Menschenskind, ich hatte schon ganz vergessen, was das für ein Krach ist. Wenn ich genauso kreische, bin ich bald heiser wie eine Krähe. Ich werde lieber heulen wie ein Nebelhorn. Hast du was dagegen?»

«Keineswegs. Ich höre dich so ganz gut. Was hat der liebe Gott sich nur dabei gedacht, als er den Frauen so schrille Stimmen gab? Aber so viel macht es mir gar nicht aus. Es erinnert mich ein bißchen an die Streitereien der Einheimischen an den Ausgrabungsstellen. Aber heute verwöhnt man uns hier ganz schön, was? So gute Suppe haben wir nie gekriegt.»

«Sie haben sich eben für das Fest besondere Mühe gegeben. Außerdem ist die neue Quästorin recht gut, glaube ich; sie hatte auch schon mal was mit Wirtschaftslehre zu tun. Die gute alte Straddles fühlte sich ja über Verpflegungsfragen erhaben.»

«Schon, aber ich konnte die Straddles trotzdem gut leiden. Sie war so furchtbar anständig zu mir, als ich kurz vor dem Examen krank wurde. Erinnerst du dich daran?»

«Was ist aus ihr geworden, nachdem sie hier wegging?»

«Schatzmeisterin am Brontë College. Finanzen waren ja ihr eigentliches Gebiet. Sie hatte eine geradezu geniale Begabung für Zahlen.»

«Und was ist aus dieser einen geworden – wie hieß sie noch? – Peabody? Freebody? – du weißt doch – die immer so ernst davon gesprochen hat, daß es ihr Lebensziel sei, einmal Quästorin am Shrewsbury College zu werden?»

«Ach du meine Güte! Die hat sich mit Haut und Haaren irgendso einer neuen Religion verschrieben und ist einer ganz verrückten Sekte beigetreten, wo man im Lendenschurz herumläuft und Nüsse und Pampelmusen ißt und ganz der Liebe lebt. Das heißt, falls du Brodribb meinst.»

«Brodribb – ich wußte doch, daß es so was Ähnliches wie Peabody war. Ausgerechnet! Die war doch immer so ausgesprochen nüchtern und fade.»

«Wahrscheinlich ins andere Extrem umgeschlagen. Unterdrückte Triebe und so. Im Grunde ihres Herzens war sie nämlich furchtbar sentimental.»

«Ich weiß. Sie ist immer so herumgeschlichen und hatte sozusagen eine Schwäche für Miss Shaw. Vielleicht waren wir damals alle ziemlich gehemmt.»

«Na ja, daran leidet die heutige Generation jedenfalls nicht, wie ich mir habe sagen lassen. Keinerlei Hemmungen.»

«Nun hör aber auf, Phoebe. Wir hatten auch so unsere Freiheiten. Anders als zu der Zeit, bevor Frauen studieren durften. Klosterschülerinnen waren wir auch nicht.»

«Das nicht, aber wir wurden doch lange genug vor dem Krieg geboren, um uns noch an ein paar Beschränkungen gebunden zu fühlen. Wir hatten noch ein gewisses Verantwortungsgefühl mitbekommen. Und Brodribb kam aus einem sehr sittenstrengen Elternhaus-Positivisten oder Unitarier oder Presbyterianer oder so was. Die Heutigen sind die echte Kriegsgeneration.»

«Das ist richtig. Im übrigen glaube ich ja nicht, daß ich ein Recht habe, mit Steinen nach Brodribb zu werfen.»

«Ach du liebes bißchen! Das ist nun wieder etwas ganz anderes. Das eine ist natürlich; das andere ist – ich weiß nicht, aber für mich ist das doch eine völlige Degeneration der grauen Zellen. Sie hat sogar ein Buch geschrieben.»

«Über diese ‹Häuser der Liebe›?»

«Ja. Und die ‹Höhere Weisheit›. Und ‹Schöne Gedanken›. Lauter solches Zeug. Und durchgehend in sehr schlechtem Englisch.»

«O Gott! Ja – das ist schon schlimm, nicht? Ich verstehe gar nicht, warum Phantasiereligionen immer so einen schlechten Einfluß auf die Grammatik haben.»

«Ich fürchte, es ist der allgemeine geistige Verfall. Aber was davon nun Ursache und was Wirkung ist oder ob beides Symptome für etwas anderes sind, weiß ich nicht. Wenn ich an Trimmers Heilkräfte der Seele denke, und daß Henderson zu den Nudisten gegangen ist –»

«Nein!»

«Doch. Da sitzt sie, am Tisch nebenan. Darum ist sie doch so braun.»

«Und ihr Kleid ist so schlecht geschnitten. Wohl nach dem Motto: Wenn du nicht nackt gehen kannst, geh so schlecht angezogen wie möglich.»

«Manchmal frage ich mich, ob den meisten von uns nicht ein bißchen ganz normale, gesunde Schlechtigkeit gut täte.»

In diesem Moment lehnte Miss Mollison, die drei Plätze weiter auf derselben Tischseite saß, sich über ihre Nachbarinnen herüber und schrie etwas.

«Was?» schrie Phoebe zurück.

Miss Mollison lehnte sich noch weiter herüber und quetschte Dorothy Collins, Betty Armstrong und Mary Stokes dabei so zusammen, daß sie fast keine Luft mehr bekamen.

«Ich hoffe, daß Miss Vane Ihnen nichts allzu Blutrünstiges erzählt!»

«Nein», sagte Harriet laut. «Mrs. Bancroft läßt mir die Haare zu Berge stehen.»

«Wie denn das?»

«Sie erzählt mir die Lebensgeschichten unseres Jahrgangs.»

«Oh!» kreischte Miss Mollison bestürzt. Gerade wurde Lammbraten mit grünen Erbsen serviert, wodurch die Formation etwas aufgelockert wurde, und die Nachbarinnen bekamen wieder Luft. Aber zu Harriets maßlosem Entsetzen schienen Frage und Antwort einer ihr gegenübersitzenden Frau mit großer Brille, streng zurückgekämmtem, dunklem Haar und einer sehr entschiedenen Art ein Stichwort gegeben zu haben, denn sie beugte sich vor und fragte mit unüberhörbarem amerikanischem Akzent:

«Sie erinnern sich wohl nicht mehr an mich, Miss Vane? Ich war nur ein Trimester an diesem College, aber ich würde Sie überall wiedererkennen. Ich empfehle meinen Freunden in Amerika, die so scharf auf englische Detektivliteratur sind, immer Ihre Bücher, denn ich finde sie einfach ungemein gut.»

«Das ist sehr nett von Ihnen», meinte Harriet kraftlos.

«Und wir haben einen sehr lieben gemeinsamen Bekannten», fuhr die bebrillte Dame fort.

Himmel! dachte Harriet. Welche Plage der Menschheit mag jetzt wieder aus der Versenkung auftauchen? Und wer ist nur dieses schreckliche Frauenzimmer?

«Wirklich?» erkundigte sie sich laut, um ein wenig Zeit zu gewinnen und in ihrem Gedächtnis kramen zu können. «Wer ist das denn, Miss –?»

«Schuster-Slatt», flüstere Phoebe ihr rasch ins Ohr.

«Schuster-Slatt.» (Natürlich! Sie war in Harriets erstem Sommertrimester gekommen. Sollte Jura studieren. War nach nur einem Trimester wieder abgegangen, weil die Verhältnisse am Shrewsbury College ihre Freiheit zu sehr einschränkten. Sie hatte dann extern weiterstudiert und war ihnen damit aus den Augen und glücklicherweise aus dem Sinn entschwunden.)

«Wie schön von Ihnen, sich noch an meinen Namen zu erinnern! Nun, also, es wird Sie überraschen, wenn Sie den Namen hören, aber bei meiner Tätigkeit komme ich viel mit den Angehörigen Ihrer britischen Aristokratie zusammen.»

Verflixt! dachte Harriet. Miss Schuster-Slatts durchdringende Stimme setzte sich spielend gegen den allgemeinen Höllenlärm durch.

«Es ist Ihr wunderbarer Lord Peter. Er war so nett zu mir und furchtbar interessiert, als ich ihm sagte, daß ich mit Ihnen aufs College gegangen bin. Ich finde ihn als Mann einfach hinreißend.»

«Er hat tadellose Manieren», sagte Harriet, aber die Andeutung war wohl zu dezent. Miss Schuster-Slatt fuhr fort: