Mord in mageren Zeiten - Dorothy L. Sayers - E-Book

Mord in mageren Zeiten E-Book

Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

Mord in der englischen Countryside - der allerletzte von Dorothy L. Sayers und Jill Paton Walsh geschriebene Fall für Lord Wimsey und Harriet Vane. England, 1940: Während Lord Peter Wimsey in geheimer Mission für den britischen Geheimdienst ins Ausland gereist ist, muss seine Frau Harriet Vane sich allein durchschlagen. Um den Kriegswirren zu entgehen, hat sich die Krimiautorin mit ihren Kindern auf den Landsitz Talboys in Hertfordshire zurückgezogen. Die Zeiten sind mager, doch die in der Umgebung stationierten Royal Air Force Soldaten und die hübschen Mädchen vom Landdienst versuchen für Unterhaltung zu sorgen. Als während einer Tanzveranstaltung der Fliegeralarm ausgelöst wird, kommt man im Keller des Gasthauses zusammen. Danach liegt die schöne, junge Wendy tot auf der Straße. Ein Opfer des Krieges ist sie jedoch ebensowenig wie der nächste Tote…

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Dorothy L. Sayers

Mord in mageren Zeiten

Ein Fall für Lord und Lady Wimsey

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Beate Smandek

 

Über dieses Buch

Mord in der englischen Countryside – der allerletzte von Dorothy L. Sayers und Jill Paton Walsh geschriebene Fall für Lord Wimsey und Harriet Vane.

 

England, 1940: Während Lord Peter Wimsey in geheimer Mission für den britischen Geheimdienst ins Ausland gereist ist, muss seine Frau Harriet Vane sich allein durchschlagen. Um den Kriegswirren zu entgehen, hat sich die Krimiautorin mit ihren Kindern auf den Landsitz Talboys in Hertfordshire zurückgezogen. Die Zeiten sind mager, doch die in der Umgebung stationierten Royal-Air-Force-Soldaten und die hübschen Mädchen vom Landdienst versuchen, für Unterhaltung zu sorgen. Als während einer Tanzveranstaltung der Fliegeralarm ausgelöst wird, kommt man im Keller des Gasthauses zusammen. Danach liegt die schöne, junge Wendy tot auf der Straße. Ein Opfer des Krieges ist sie jedoch ebenso wenig wie der nächste Tote …

Vita

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte und gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des Jahrhunderts. Sie starb 1957 in Witham/Essex.

 

Jill Paton Walsh, 1937 geboren, hat viele Kinderbücher und fünf Romane veröffentlicht, von denen «The Knowledge of Angels» für den Booker Prize nominiert wurde. Nach «In feiner Gesellschaft» ist «Mord in mageren Zeiten» der zweite Lord-Peter-Krimi, den Jill Paton Walsh für Dorothy L. Sayers zu Ende geschrieben hat. Grundlage für dieses Buch sind die «Wimsey Papers», die Dorothy L. Sayers 1939–40 im Spectator veröffentlichte.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel «A Presumption of Death» bei Hodder & Stoughton, London

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek

«A Presumption of Death» Copyright © 2002 by Jill Paton Walsh and the Trustees of Anthony Fleming, deceased

Redaktion Monika Köpfer

Umschlagkonzept any.way, Hamburg

Cathrin Günther/Heidi Sorg/Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Mimadeo/iStock

ISBN 978-3-644-53221-2

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Barbara – sie hält die Erinnerung wach

Prolog

Honoria Lucasta, Herzoginwitwe von Denver, an ihre amerikanische Freundin Cornelia, verehelichte Lambert B. Vander-Huysen, in New York.

Bredon Hall,

Duke’s Denver, Norfolk

12. November 1939

 

Liebe Cornelia,

es ist wohl besser, wenn ich dir meinen gewohnten Weihnachtsbrief schon jetzt schreibe, denn natürlich zieht der Krieg den Postverkehr ein wenig in Mitleidenschaft. Man kann ja auch kein schnelles Vorankommen von Schiffen erwarten, die im Geleitzug unterwegs sind wie Schulkinder im Gänsemarsch – wie nervenaufreibend –, oder dass sie nach dem großen Kreis fahren (oder wie man für den direkten Kurs sagt), wenn die U-Boote sie mal hierhin, mal dahin scheuchen wie die Schnepfen … Wie dem auch sei, ich bringe meine Korrespondenz lieber früher hinter mich als erst im letzten Moment, wenn man den Kopf voll mit Weihnachtsbäumen hat – wobei die wahrscheinlich knapp werden dieses Jahr, aber wie ich schon zu unserer Dorfschullehrerin sagte: Solange die Kinder ihre Geschenke bekommen, ist es ihnen gewiss gleich, ob man sie an eine Konifere hängt oder an die Siegfriedleine. Im Übrigen lässt Denver in den Schonungen gerade eine Menge kleiner Tannen schlagen, und man ist gut beraten, ihn um eine zu bitten, ehe er alle an die Krankenhäuser geschickt hat.

Was du da gehört hast, Cornelia, stammt ganz sicher von Göring oder Goebbels oder diesem Lord Haw-Haw: Der Stadtrand liegt keineswegs in Trümmern, und die Invasion, von der Oxford und Cambridge heimgesucht wurden, bestand aus nichts Schlimmerem als einer Horde junger Studenten von anderen Universitäten, meiner Meinung nach für beide Seiten nur gut, obwohl man mich darauf hinweist, dass die Flut von Fahrrädern in den Straßen eine rechte Landplage darstellt – das war aber doch nie anders. Butter und Kanonen haben wir reichlich, sollte es drauf ankommen, obwohl es immer heißt, sie wollen sie demnächst rationieren, so wie Hitler immer wieder erklärt, dass er demnächst losschlägt, nur tut er es nicht: genau wie in den Piraten von Penzance. Peter sagt, wenn er noch länger wartet, wird ihm das Publikum den Applaus verweigern und dass die Bombe von München vielleicht so etwas wie ein Buhruf war, aber wenn du mich fragst, konnte Klein Adolf in dem Bierkeller da nur auf etwas Hässliches stoßen, weil er es selbst mitgebracht hat. Wo wir gerade bei Peter sind – ich kann dir gar nicht sagen, wo er sich aufhält, weil er zu seiner früheren Tätigkeit zurückgekehrt ist, und was hier übers Außenministerium ankommt, ist immer ohne richtigen Absender. Ich bilde mir ein, er war vor einiger Zeit in der Türkei, da hatte er was von gutem Kaffee geschrieben – einen anderen Ort, wo es so etwas gibt, kann ich mir nicht denken, den französischen Kaffee mag er nicht (zu viel Zichorie), und die anderen haben ja offenbar keinen, von uns abgesehen, aber dass er irgendwo im Ausland ist, steht fest, so lang, wie die Briefe unterwegs sind. Wo immer er auch war, da ist er jetzt jedenfalls nicht mehr, und deshalb denke ich, es muss die Türkei gewesen sein, denn offenbar hat man dort alles aufs Beste geregelt. Aber ich spekuliere freilich nur.

Für die arme Harriet ist es sehr schlimm, dass man ihn so einfach fortbeordert hat, aber sie ist sehr vernünftig; das Haus in London haben sie zugemacht, und jetzt ist sie in Talboys, dem Bauernhaus der Familie in Hertfordshire, zusammen mit den Kindern. Ich lege ein Foto des kleinen Paul bei, er ist bald ein Jahr alt und Bredon eben drei: Wie die Zeit vergeht – und die Rangen von meiner Tochter Mary sind ebenfalls dort. Ich finde es sehr anständig von Harriet, dass sie auch noch die Kinder ihrer Schwägerin versorgt, aber sie sagt, es mache auch nicht mehr Umstände, als sich bloß um die eigenen zu kümmern. Du hörst vermutlich die vernarrte Großmutter heraus, aber es sind wirklich sehr liebe Kinder: Charles Peter, der mit seinen zehn Jahren Charlie genannt werden möchte, Mary, die alle Polly rufen, so wie früher ihre Mutter, und die kleine Harriet, erst drei, aber sehr verträglich. So oder so möchte ich meinen, es bedeutet eine Menge Arbeit für Harriet, aber auf diese Weise hat Mary Zeit für ihren Kriegshilfsdienst. Sie ist beim Luftschutz und kümmert sich um ihren Mann – du erinnerst dich doch an ihn, Charles Parker, Chief Inspector bei der Kriminalpolizei – er kann natürlich nicht aus London weg. Es scheint ihnen gut zu gehen, sie sind offenbar glücklich und sehr beschäftigt. Den guten Charles hat es kürzlich etwas mitgenommen, als zwei Menschenbeine (sie gehörten nicht einmal zusammen) in Packpapier geschnürt in einem Wachhäuschen der Polizei auftauchten. Er sagte, da merke er langsam, dass Peter ihm fehlt. Aber dann stellte sich heraus, dass sie ein Mann auf dem Weg ins Krankenhaus dort hatte stehen lassen, weil er sie vor dem Regen schützen wollte, während er selbst bei Verdunklung versuchte, ein Taxi anzuhalten, und es wäre ja nicht weiter schlimm gewesen – nur als der arme Mann endlich sein Taxi ergattert hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wo der Polizeiposten gewesen war, und nun fuhr er auf der Suche danach kreuz und quer durchs West End; was für ein Durcheinander, aber in Kriegszeiten muss man sich eben auf solche kleinen Unannehmlichkeiten gefasst machen. Und apropos Sandsäcke (ach, die habe ich ja noch gar nicht erwähnt, aber der Posten war aus Sandsäcken errichtet, so eine kleine Hütte, verstehst du, wie ein Nachtwächter sie hat): Du kannst dir nicht vorstellen, wie eigenartig Piccadilly Circus aussieht, der Eros ist fort, und eine Art Cheopspyramide in klein verkleidet den Springbrunnen – allerdings kann ich mir nicht denken, warum man sich die ganzen Umstände gemacht hat (höchstens dass es um die Hauptwasserleitung geht), aber die Leute hängen ja nun mal sehr daran, und wenn jemand eine Bombe darauf fallen ließe, würden sie meinen, das Herz des Empire bleibe stehen. Peter sagt, wir sollten in der umgekehrten Richtung konstruktiv werden und das Albert Memorial mit Flutlicht bestrahlen, dem Park käme sein Fehlen zugute, aber Königin Victoria, die Ärmste, müsste sich ja im Grabe umdrehen, und er, wie ich ihm ins Gedächtnis rief, hatte sie schließlich nicht mehr persönlich gekannt: ich schon.

Ja, meine Liebe, es geht uns allen recht gut. Mein älterer Sohn Gerald, Herzog von Denver, sorgt sich aus verständlichen Gründen wegen meines Enkels Jerry, der in der R.A.F. dient, und das ist natürlich ziemlich gefährlich, aber, herrje, der Junge freut sich so, dass er endlich das Tempo an den Tag legen darf, das ihm zusagt (du weißt noch, wie er uns mit diesem großen Rennwagen früher in Angst und Schrecken versetzt hat). Sein Vater meint, er hätte besser vorher heiraten sollen, damit es für den Fall des Falles einen Erben gibt. «Also wirklich, Gerald», habe ich zu ihm gesagt, «dass du dir in diesen Zeiten um so etwas Sorgen machen kannst! Sollte es tatsächlich noch etwas zu erben geben, wenn wir den Krieg abbezahlt haben, hat immer noch Peter seine beiden Jungs – und im Hinblick auf Jerrys derzeitigen Geschmack in puncto junge Frauen können wir doch wohl von Glück reden.» Das war vielleicht ein wenig taktlos, denn Gerald ist ja wegen des Familienbesitzes ohnehin schon um den Schlaf gebracht; er sagt, wir werden im Ruin enden, wie üblich, aber das nehme er in Kauf, solange er nur seine Pflicht dem Land gegenüber erfüllen könne.

Im Westflügel ist außerdem eine große Knabenschule untergebracht, was ihm mitunter auf die Nerven geht – zum Glück ist wenigstens Helen, seine Frau, nicht hier, das macht die Lage weniger angespannt. Du weißt, dass ich meine Schwiegertochter nur ungern kritisiere, aber sie ist eine sehr schwierige Person, und ich war von tiefer Dankbarkeit erfüllt, als sie sich ans Ministerium für Belehrung und Moral verfügte. Ich weiß zwar nicht, auf welchem Gebiet gerade sie irgendjemanden belehren könnte, aber da es dort von jedermanns Frau und Neffen nur so wimmelt und die wirklich wichtigen Aufgaben an andere Behörden übergeben worden sind, scheint dieser Ort so gut wie jeder andere, um die Unruhestifter der Nation festzusetzen; und obendrein bezahlt ein dankbarer Staat drei Sekretärinnen dafür, dass sie sie ertragen, sodass also alles zum Besten steht. Letzte Woche war ein Bild von ihr in der Zeitung, ein Blick wie der Zorn Gottes, und als Denver es sah, dachte ich schon, ihn trifft der Schlag oder er richtet ein Blutbad an, da schmetterte glücklicherweise in eben diesem Moment einer unserer kleinen Landverschickten einen Kricketball durch das hohe Fenster des Gelben Salons, und unter der Anstrengung, an zwei Fronten gleichzeitig zu schimpfen, verpuffte der ganze Furor im Nu. Es sind lauter Grundschüler (die Evakuierten) aus einer recht heruntergekommenen Gegend Londons, und wie ich dir leider sagen muss, machte das holde Engelchen mit dem Schlagholz einen Sechziger, einen Neunziger und Capot mit Denver, ehe der auch nur einen Bruchteil seines Vokabulars zum Einsatz bringen konnte. Komisch (und eigentlich ganz reizend), wie viel Adel und Proletariat gemein haben, wenn es um die ungeschminkten Tatsachen des Lebens geht. Ein netter Pflegevater aus der Mittelklasse wäre tiefrot angelaufen, aber Gerald brach in schallendes Gelächter aus und befasst sich seitdem recht viel mit dieser Schule. Er hat sich sogar als Schiedsrichter für ihr Sportfest am Ende des Schuljahrs angedient und ihnen für die Reitstunden ein Pony zur Verfügung gestellt.

Also, meine Liebe, ich muss jetzt Schluss machen und mich gleich einer Abordnung des Landfrauenverbands widmen, die für polnische Flüchtlinge ein Krippenspiel auf die Beine stellen will, sehr lieb von ihnen, und wie es sich so fügt, wird an Weihnachten Vollmond sein, sodass wir bestimmt ein anständiges Publikum zusammenbekommen. Ich habe zugesagt, «Anna, eine Prophetin» zu spielen – mir war völlig entfallen, dass es so jemanden gab, und jetzt muss ich sie noch schnell nachschlagen, bevor die anderen kommen. Du merkst schon: Krieg hin, Krieg her, bei uns geht das Leben weiter, «wir in unserer Gegend scheren uns um keine Verdunklung», weil hier der Lichterglanz ja nie zu Hause war (liebes bisschen, Cornelia, wie würdet ihr in New York wohl mit einer Verdunklung umgehen?). Und was Kriege angeht – dieses Land hier ist sehr alt, und wir erinnern uns noch gut an so manchen.

Dir und den deinen alles Liebe und die besten Wünsche zum Weihnachtsfest sendet dir

 

deine treue alte Freundin

Honoria Denver

Harriet, Lady Peter Wimsey, an Lord Peter Wimsey, irgendwo im Ausland. (Auszug)

Talboys, Paggleham,

bei Great Pagford, Hertfordshire

17. November 1939

 

… Ich habe versucht, einen Artikel über Ziele des Krieges und Ziele des Friedens zu schreiben, auch wenn ich keineswegs davon überzeugt bin, dass ich mit der ganzen Definiererei nicht den Ratschluss verdunkle, so nach dem Motto «Mami, vielleicht könnte ich etwas verstehen, wenn du es nicht dauernd erklären würdest». Wir sind uns alle sehr bewusst, dass unsere Werte auf dem Spiel stehen, aber wenn wir sagen wollen, welche genau, kommt dabei nur ein Packen großer Worte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Ehre, Wahrheit usw. heraus, die uns peinlich berühren, weil sie so oft missbraucht worden sind, dass sie wie Wahlkampfphrasen klingen. Und überhaupt, dieses Wort «Frieden». Peter, die ewig wiederkehrende Forderung nach «dauerhaftem Frieden und stabiler Ordnung» jagt mir Angst ein – sie erinnert mich allzu sehr an den letzten «Krieg, um allen Krieg zu enden». Können wir uns denn immer noch einreden, es ließe sich ein endgültiges Arrangement für alles finden – Grenzziehungen, Wirtschaftsordnung, politischer Apparat –, das mit einem Federstrich Stabilität in die Beziehungen der Menschen bringt? Dass das Ganze ein altmodisches Happy End vorm Traualtar findet: «Und nach der Hochzeit lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage»? Dann sollte sich wohl mal ein Ibsen mit unserem öffentlichen Leben befassen.

Lässt man die vergangenen zwanzig Jahre Revue passieren, wird deutlich, wie viele Gelegenheiten wir gehabt hätten, den heutigen Krieg zu verhindern – wäre da nicht unser starrsinniger Friedenswille gewesen. Die Formel hieß «Nie wieder», als sei «nie» ein Wort wie jedes andere. Man soll nie nie sagen. Nie wieder wollen wir in den Krieg ziehen, Abkommen sollen nur am Verhandlungstisch revidiert werden; nein, nie und nimmer wollen wir auch nur das Geringste revidieren, aus Angst, damit einen Krieg anzuzetteln; nie im Leben mischen wir uns in die Kriege anderer Völker ein, wir erhalten stets den Frieden: Wir haben den Frieden umworben wie der Hypochonder die Gesundheit – indem wir so lange darüber nachgegrübelt haben, bis es wirklich schlimm um uns stand. Kein Wunder, dass wir die Völkerbundakte nicht einhalten konnten, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Frieden zu schaffen, indem sie jedes lokale Unrecht zum Anlass für den totalen Krieg machte. Die Idee war entweder zu brutal oder zu hochfliegend, ich kann mich da nicht entscheiden. Aber auf jeden Fall falsch. Womit ich nur sagen will, dass keine Hoffnung auf Frieden besteht, solange wir nicht aufhören, davon zu sprechen. Diese Sicht der Dinge wird sich wohl kaum großer Beliebtheit erfreuen! Und nun sind wir also unter der Führung Neville Chamberlains in einen entsetzlichen Konflikt eingetreten, in der schwachen Hoffnung, dass er sich im Kriegführen besser macht als bei der Sicherung des «Friedens in unserer Zeit» – alle sagen ja, er hat sein Bestes gegeben, aber sein Bestes ist womöglich nicht annähernd gut genug.

Nun gut! Paggleham ist derweil weiter damit beschäftigt, sich an das Leben im Kriegszustand zu gewöhnen. Am Mittwoch war Feuerübung, unter dem Kommando von Mr. Puffett (seine umfassenden Erfahrungen auf dem Gebiet des Kaminbaus und Schornsteinfegens qualifizieren ihn nach einhelligem Urteil dafür, in Notfällen dieser Art die Führung zu übernehmen). Unter den strikten Auflagen, dass der kleine Paul nicht persönlich in den Ablauf einbezogen würde und sich im Hausinnern lediglich symbolische Wasserströme ergießen sollten, hatte ich meine Zustimmung gegeben, den Anschauungsunterricht hier stattfinden zu lassen. Wir hatten ein Schauspiel erster Güte inszeniert: Eine Brandbombe war vermeintlich durch die Decke deines Schlafzimmers eingeschlagen, als Begleitmusik dazu gab es in der Spülküche einige Sprengkörper, die Dienstmädchen mimten Verletzte und die Kinder und ich Brandopfer. Wir hielten es für besser, die hiesige Sirenenanlage nicht ertönen zu lassen, weil wir befürchteten, es könnte zu Missverständnissen kommen, aber der Pfarrer war so nett, das Signal für den Angriff zu geben, indem er die Kirchenglocken läuten ließ.

Alles lief wie am Schnürchen. Miss Twitterton war auch dabei, da sie zur Chorprobe aus Pagford herübergekommen war (auch im Krieg trifft sich am Mittwoch der Chor), und hat in hervorragender Weise erste Hilfe geleistet. Ich habe ihr deinen alten Blechdeckel geliehen («um Granatsplitter und herabfallendes Gemäuer abzuwehren»), und ihre Freude war unbeschreiblich. Polly und Bredon wurden durchs Schlafzimmerfenster, die beiden anderen in Decken gehüllt aus der Mansarde evakuiert, und gerade wollten wir zum Höhepunkt kommen – die Rettung meiner Wenigkeit vom Dach, unter dem einen Arm eine Säuglingsattrappe, das Familiensilber unter dem anderen –, als völlig außer Atem die Küchenhilfe des Pfarrers erschien, um zu melden, dass der Schornstein des Pfarrhauses in Flammen stehe, ob Mr. Puffett wohl bitte schnell kommen könne. Unser ritterlicher Feuerwehrhauptmann riss umgehend die Leiter fort, womit ich denn auf dem Dach festsaß, und rannte wie der Blitz das Sträßchen hinauf, die Gasmaske immer noch auf dem Kopf, ihm auf den Fersen der Luftschutzwart, der rief, dass die Verdunklung in einer halben Stunde beginne und wenn Hitler den hell erleuchteten Schornstein erspähen sollte, gebe es einen Riesenärger mit der Polizei. Ich zog mich also würdevoll durchs Dachfenster zurück, und wir verlegten die Veranstaltung zum Pfarrhaus, wo das Feuer nach der Uhr des Luftschutzwartes in neunzehneinhalb Minuten gelöscht werden konnte – anschließend begab sich der Löschtrupp zum Bier in die Krone, und ich hatte den Pfarrer und seine Frau zum Dinner da, weil ihre Küche – wie Holland – zwar nicht regelrecht überflutet war, aber doch ganz schön unter Wasser stand …

Honoria Lucasta, Herzoginwitwe von Denver, an Lady Peter Wimsey, Talboys

Witwenhaus,

Bredon Hall,

Duke’s Denver, Norfolk

15. Dezember 1939

 

Liebste Harriet,

wie lästig für dich, dass sich Polly diesen schrecklichen Grippevirus eingefangen hat! Ich kann mir nicht vorstellen, warum der Allmächtige so viele von diesen scheußlichen kleinen Viechern erschaffen musste – bei jedem anderen würde ich von fehlgeleitetem Einfallsreichtum sprechen. Andererseits habe ich neulich in einem Buch gelesen, dass die Viren von Haus aus höchstwahrscheinlich ganz gesittet waren, dann aber hätten sie schlechte Angewohnheiten angenommen und angefangen, auf anderen Lebewesen zu leben wie die Mistel. Sehr interessant, wenn es stimmen sollte, und zweifelsohne sind Adam und Eva die einzig Schuldigen. Wie dem auch sei, ich habe Mary in der Stadt getroffen und ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, sie lässt dich grüßen und findet es sehr lieb von dir, dass du daheim bleibst und dich um ihre verlorenen Sprösslinge kümmerst. Ich hoffe, alle Päckchen sind bei dir angekommen. Einen Gasmaskenbehälter, der genau zum Muster des Kleides gepasst hätte, habe ich nicht auftreiben können, aber der, den ich geschickt habe, fügt sich vom Ton her ganz gut ein, glaube ich. Die Schuhe mussten leider extra gefärbt werden – die Farbe ist, wie es scheint, nicht sehr gängig. Hoffentlich reichen dir die Weihnachtskarten. Mit den religiösen hatte ich furchtbare Umstände; anscheinend ist dieses Jahr zwischen Exponaten aus dem Britischen Museum und diesen sentimentalen, modernen Motiven mit der Muttergottes und Engeln – gertenschlank, hager und drei Meter groß – nichts zu kriegen. Wie dumm auch anzunehmen, Kinder würden Knäblein mit Flügeln oder umherschweifenden Scharen von niedlichen kleinen Jungs und Mädchen etwas abgewinnen können. Zumindest weiß ich, dass meine Kinder nur immer Geschichten von normal Großen hören und sehen wollten, ob Ritter, Edelmänner oder Piraten, und mit ihren Puppen und anderen Spielsachen war es genau das Gleiche – ich nehme an, das gab ihnen das Gefühl, erwachsen zu sein, und hat ihren Minderwertigkeitskomplexen entgegengewirkt.

Nur die Erwachsenen wollen, dass Kinder Kinder sind; die Kinder selbst wollen immer richtige Menschen sein … vergiss das bitte nie, meine Liebe. Aber ich weiß schon, das wirst du nicht, du findest ihnen gegenüber ja immer den richtigen Ton, sogar deinem eigenen Bredon gegenüber – bist ihnen sozusagen mehr Freundin denn Mutter. Dieser ganze Kult, sie so lange wie möglich klein zu halten, ist ein einziger widernatürlicher Unsinn; kein Wunder, dass die Welt immer mehr verdummt. Ach Gott! Wenn ich da an einige der elisabethanischen Wimseys denke: Der dritte Lord Christian zum Beispiel beherrschte mit elf vier Fremdsprachen, hatte mit fünfzehn Oxford abgeschlossen, heiratete mit sechzehn, und im Alter von dreißig Jahren hatte er es zu zwei Ehefrauen und zwölf Kindern gebracht (nun, zweimal Zwillinge, aber immerhin), wobei er noch einen Band Elegien und eine gelehrte Abhandlung über Leviathane herausgebracht hat. Ich nehme an, es wäre noch weit mehr von ihm zu erwarten gewesen, wäre er auf Drakes erster Fahrt nach Westindien nicht von Wilden umgebracht worden. Manchmal denke ich, unsere jungen Leute heute fangen nicht genug mit ihrem Leben an. Allerdings hat der junge Jerry, wie ich höre, letzte Woche einen deutschen Bomber abgeschossen, und das ist schon was, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass er es in Sprachen oder was Leviathane betrifft sehr weit bringen wird.

Wo wir gerade bei der Literatur sind: Neulich klagte mir die junge Frau in der Bücherei ihr Leid, dass sie sich mit manchen Lesern keinen Rat mehr wisse. Wenn die nicht bei jedem Besuch ein soeben frisch erschienenes Buch vorfänden, gebe es ein schreckliches Gemurre und es sei ausgeschlossen, dass sie sich zur Ausleihe von etwas auch nur ein paar Monate Altem bequemten, selbst wenn sie es noch gar nicht gelesen haben, was einem doch wohl recht verrückt vorkommen muss. Anscheinend verbringen sie ihre Zeit mit dem Versuch, das Übermorgen einzuholen – soll das Einsteins Einfluss sein? Die Bibliothekarin fragte mich, wann denn der nächste Krimi von Harriet Vane herauskommt. Ich antwortete ihr, dass du der Ansicht seist, die Diktatoren unternähmen schon genug in dieser Richtung, aber sie erklärte, gerade von denen suchten ihre Leser Ablenkung, wobei ich allerdings nicht verstehe, wie das ausgerechnet mit Mord und Totschlag gehen soll – da müssten sie doch eigentlich erst recht an sie denken. Vermutlich reden sich die Menschen gerne ein, dass der Tod nur in Büchern vorkommt, und wenn man es sich recht überlegt, ist das wohl auch ihre Haltung gegenüber der Religion, daher die kitschigen Weihnachtskarten. Eine Auswahl erlesener Morde werde ich dennoch den braven Männern zukommen lassen, die sich mit Sperrballons und bei ähnlichen Aufgaben so schrecklich langweilen. Wie öde muss das für die Armen sein, und niemand scheint sich sonderlich für sie zu interessieren. Romantischer freilich wäre es, ein Päckchen für die Männer in Übersee zu packen, aber da draußen fühlt man sich wohl kaum so mutterseelenallein wie auf Nachtwache unter einem Sperrballon im dunkelsten England.

Apropos dunkelstes England, was man sich an den Geschäften abends wünschen würde, wäre nicht bloß ein Schild «Geöffnet», sondern irgendein Hinweis darauf, was es drinnen gibt. Ein bisschen Beleuchtung der Ware ist erlaubt, aber im Vorüberfahren kann man unmöglich erkennen, ob es sich bei der Ansammlung verschwommener Umrisse um Zigaretten handelt oder um Schokolade oder Rosinenbrötchen oder ein Radiogerät; und «J. Blogg» oder «Pumpkin und Co.» helfen einem dann auch nicht viel weiter, sofern man nicht ohnehin weiß, was Blogg oder Pumpkin anzubieten haben.

Meine Liebe, jetzt enthält dieser Brief nichts als Einkaufsgeschichten und Unfug, aber ich habe beschlossen, dass wir uns um Peter gar keine Sorgen machen müssen, denn im letzten Krieg ist er so oft verschwunden und immer wieder mehr oder weniger wohlbehalten aufgetaucht. Sein Selbsterhaltungstrieb ist recht ausgeprägt, glaube mir. Und dumm ist er auch nicht, was ja doch tröstlich ist – mag Kingsley auch seinen Teil sagen, von wegen das Gute tun und den, der schlau sein will, brillieren lassen, auch wenn mir nicht einleuchtet, wie man durch bloße Willenskraft schlau werden soll. Peter besteht immer darauf, Kingsley habe «kann» und nicht «will» gesagt, und vielleicht ist es so. Ich hoffe nur, dass Bunter noch bei ihm ist, obwohl ich mir andererseits nicht vorstellen kann, was er mit ihm anfangen soll, wenn er an irgendwelchem obskuren Ort inkognito unterwegs ist – denn wenn jemandem ins Gesicht geschrieben steht «Kammerdiener eines englischen Gentleman», dann doch wohl Bunter. Gestern habe ich einen Brief von ihm bekommen (so zurückhaltend, als hätte er ihn von Piccadilly geschrieben), mit dem er der «Werten» (mit großem W) Familie frohe Weihnachten wünscht.

Wir freuen uns darauf, euch alle an Weihnachten hier zu haben, sofern die Viren mitmachen. Ich hoffe, unser hiesiges Gewusel zwischen Evakuierten und Horden von Kindern macht dir nichts aus – Bescherung und Zaubervorstellung im Großen Saal, nach dem Essen Scharaden und Spiele – ich fürchte, es wird recht geräuschvoll und turbulent und nicht sehr erholsam zugehen.

 

Stets deine dich liebende

Mutter

 

PS: Es tut mir Leid, dass ich mich so unklar ausdrücke. Es war Bunter, nicht Peter, der den zurückhaltenden Brief geschrieben hat, und Bunter ist bei Peter, nicht bei Kingsley – jedenfalls hoffe ich das.

Lady Peter Wimsey an Lord Peter Wimsey, irgendwo im Ausland (Auszug)

6. Februar 1940

 

… Das ist der kälteste Winter seit Menschengedenken. Der Pagg ist völlig zugefroren, und auf dem Dorfteich laufen sämtliche Kinder und die landwirtschaftlichen Helferinnen Schlittschuh – ein Bild wie von Breughel. Kohle ist weder für Geld noch gute Worte zu bekommen, aber das ist mehr dem Dauerfrost geschuldet als dem Feind. Man zieht Soldaten zum Freischaufeln der Eisenbahnschienen heran. Ich fürchte, der Weinstock im Kalthaus wird eingehen, aber mehr dagegen zu unternehmen, als die Scheiben mit Zeitungspapier zu isolieren – wie die Fenster des Hauses sind sie ja schon kunstvoll kreuz und quer mit Klebeband versehen –, fällt mir beim besten Willen nicht mehr ein. Für einen Extraofen haben wir kein Brennmaterial übrig; ohnehin sammeln wir schon in Blackden Wood Holz und verbringen den größten Teil des Tages in der Küche, wo Mrs. Trapp aufs trefflichste den Herd am Bullern hält und es immer warm ist.

In dieser großen Kälte brauchen wir ein heißes Thema, und das liefern uns die jungen Frauen vom Landdienst. Sieben von ihnen arbeiten auf dem Datchett-Hof und fünf bei Bateson. John Bateson hat sie in den Wirtschaftsgebäuden gleich hinter unserem Küchengarten einquartiert – du weißt schon, wo früher die Stallungen und das Zaumzeug untergebracht waren, bevor unser Haus vom restlichen Hof abgetrennt wurde. Auf mich machen sie alle einen ziemlich gut gelaunten Eindruck, und sie arbeiten hart. Recht hart springt auch John Bateson mit ihnen um, neulich hörte ich ihn sagen: «Ihr seid hergekommen, um wie ein Mann anzupacken, nun seht zu, wie ihr damit fertig werdet!» Für den Dienst hat man sie mit scheußlichen graubraunen Aertex-Hemden, grauen Arbeitshosen und grünen Pullovern ausstaffiert, aber nach Dienstschluss tragen sie Seidenstrümpfe und Lippenstift, und im Handumdrehen hatten sie den Ruf weg, «von der leichten Sorte» zu sein, was dazu führt, dass die jungen Männer um sie herumschwirren wie die Bienen um den Honigtopf. Es besteht überhaupt kein Mangel an jungen Männern, die fürs Schwirren infrage kämen, da es jetzt zwischen hier und Broxford zwei Flugplätze gibt und dazu irgendeine ultrageheime militärische Einrichtung im requirierten Herrenhaus des Squire, das nur so brummt vor jungen Kerlen in Zivil mit einem Faible fürs Tanzen und fürs Kino. Alles ziemlich unfassbar für die Älteren, die aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommen!

Die zweite große Neuigkeit: Die Anderson-Unterstände, Luftschutzhütten für den Garten, sind eingetroffen – endlich. Broxford und Lopsley haben schon seit Wochen welche – und natürlich ist der Boden jetzt so hart gefroren, dass niemand die erforderlichen Löcher ausheben kann, um sie aufzustellen. Mr. Gudgeon – du erinnerst dich, der Wirt zur Krone – hat sein Lager im Keller als öffentlichen Luftschutzraum zur Verfügung gestellt. Wie sich erweist, ist die Krone nämlich viel älter, als sie über Tage aussieht; darunter liegt ein Labyrinth von Krypten mit Gewölbedecken und dicken Wänden, das sehr alten Datums zu sein scheint und vor der Reformation sicher Teil einer Abtei war. Wenn auch der vordere Bereich, der hinter dem Tresen bequem über eine Treppe zu erreichen ist, von Bierfässern in Anspruch genommen wird, so liegen doch noch weitere geräumige Katakomben dahinter. In eben diese will Gudgeon die Dorfbevölkerung strömen lassen. Die Präsidentin des Frauenverbands von Paggleham war bereits damit beschäftigt, für etwas Wohnlichkeit zu sorgen – Schlafkojen, Petroleumofen, Wasserkocher, eine kleine Bibliothek aus gespendeten Büchern, Wolldecken von der Gemeinde –, als sich, man höre und staune, eine neue Schwierigkeit einstellte: Pagglehams Methodisten sind unter keinen Umständen bereit, sich in ein Wirtshaus treiben zu lassen, selbst wenn es um Leben und Tod geht. Mr. Gudgeon bot an – sehr großmütig, wie ich finde –, seine Bierfässer beiseite zu räumen, sodass jeder in den Gewölben Schutz fände, ohne auch nur vom Anblick einer Daube, eines Fassreifens oder Zapfens beleidigt zu werden, aber es half alles nichts. In Paggleham kann auch Hitler keinen Methodisten dazu bringen, sich beim Betreten eines Wirtshauses beobachten zu lassen.

Bei diesem Stand der Dinge blieb es einige Tage lang, bis irgendwem «Die Höhle» einfiel, eine Ausschachtung im Kreidefelsen des Spring Hill, die, wie es heißt, zu Zeiten der Napoleonischen Kriege als Munitionslager diente und nun sowohl tief genug für den aktuellen Zweck wie auch ausreichend geräumig für die Gemeinde der Erweckten zu sein scheint. Mrs. Ruddles junger Bert musste umgehend damit beginnen, den Ort mit behelfsmäßigen Kojen auszustatten – soll ja keiner sagen, Anglikaner oder Gottlose fänden ein sanfteres Ruhekissen als die Wesleyaner!

Ich vermute ja stark, dass sich in der Praxis jeder beeilen wird, bei Luftalarm einfach den nächstgelegenen Schutzraum zu erreichen, sodass wir schließlich in der Ökumene unsere Zuflucht finden, sei es nun am Dorfeingang oder am Dorfausgang.

Da Hitler uns bislang den Dienst einer konkreten Bedrohung schuldig geblieben ist, hat uns unser hervorragendes Luftschutzkomitee für einen Samstagabend eine Übung verordnet, wo ein vermeintlicher Luftangriff stattfinden soll. Der Samstag muss es sein, weil alle Zeit haben, und niemand will die entsetzlichen Unannehmlichkeiten simulieren, die sich im Falle eines echten Luftangriffs womöglich ergeben.

Für den nächsten Samstag ist ein Tanzvergnügen im Gemeindehaus angekündigt, und da wir die tapferen Burschen von den vielen Flugplätzen ringsum nicht verprellen wollen, ist die Übung im unmittelbaren Anschluss an den Tanzabend angesetzt, dann werden wir also sehen, ob die Methodistenhöhle auch nicht zu weit abseits liegt. Von Talboys aus liegt die Höhle natürlich näher als die Krone, aber ich habe Mrs. Goodacre versprochen, ihr während des Abends am Erfrischungsstand zu helfen, also heißt es dieses Mal für uns Gewölbe. Lieber Peter, wie trivial dir das alles doch beim Lesen erscheinen muss, wenn dieser Brief dich denn überhaupt erreicht, inmitten von etwas sehr viel Weltbewegenderem und umlauert von Gefahren, die keiner Generalprobe bedürfen. Aber mehr Neuigkeiten aus unserem Krähwinkel habe ich dir nun mal nicht zu bieten. Möge Gott uns davor bewahren, dass ich dir Interessanteres schreiben muss …

Eins

Der Zufall bestimmt, welches von den verschiedenen Individuen, aus denen sich jeder von uns zusammensetzt, deutlicher zutage tritt und welches weniger deutlich.

Henry de Montherlant, Explicit Mysterium, 1931

«Wer, Lady Peter», fragte Miss Agnes Twitterton, «ist denn beispielsweise das da?»

«Ich muss Ihnen Recht geben», sagte Mrs. Goodacre, die Pfarrersfrau. Sie stand mit den beiden anderen hinter dem Tapeziertisch an der hinteren Wand des Gemeindesaals und war dabei, Miss Twittertons Pastinakwein in das aufgereihte Sammelsurium von Sherrygläsern zu schenken. «Früher, wie man so schön sagt, vor noch gar nicht einmal so langer Zeit, da kannten wir jede Menschenseele, die uns hier über den Weg lief. Ein Fremder war tagelang in aller Munde – aber heute richten wir im Dorf ein Tanzvergnügen aus und wissen kaum von der Hälfte der Anwesenden die Namen. Wir könnten hier sonst wen unter uns haben, und wahrscheinlich ist das auch der Fall.»

Harriet sah sich um. Der schäbige kleine Saal mit seinem staubigen Podium am einen Ende beherbergte um die fünfzig Menschen. Etwa die Hälfte davon waren junge Männer in Uniform, die die in Zivil gekleideten jugendlichen Landarbeiter und Ladengehilfen ziemlich in den Schatten stellten. Die Uniform verschleierte, was sie zu Friedenszeiten gewesen sein mochten – auch nichts Besseres vermutlich als der Rest der Gesellschaft, im Gegenteil womöglich, aber Khaki und das Blau der Royal Air Force verliehen ihnen nun den Status von Helden.

It’s Tommy this, an’ Tommy that, an’

‹Chuck him out the brute›!

But it’s ‹Saviour of ’is country›

when the gun begins to shoot.

kam ihr in den Sinn. Die berüchtigten landwirtschaftlichen Helferinnen mit ihrem städtischen Händchen für Make-up und Kleider stachen ebenfalls heraus. Nein, Harriet kannte in der Tat auch nicht jeden hier, bei weitem nicht. Hätte die Veranstaltung die älteren Dorfbewohner angezogen, wäre ihr die Aufgabe vielleicht leichter gefallen: Sie hatte lange genug hier gelebt, um die meisten von ihnen zu kennen. Aber anders als die echten Dörfler rechnete sie gar nicht damit, jeden Einzelnen zu kennen; sie war die anonymen Menschenmassen Londons gewohnt.

«Man sollte von Neulingen nicht gleich das Schlimmste annehmen», sagte sie milde. «Sie wollen doch sicher nicht mit Mrs. Ruddle mithalten.» Bei der Erinnerung musste sie schmunzeln. «Als Lord Peter und ich an unserem ersten Abend als Mann und Frau hierher kamen, hat sie uns nur kurz gemustert und erklärt, man kenne unsereinen schließlich.»

«Da hatten Sie sicher diesen wundervollen Pelzmantel an», sagte Mrs. Goodacre. «Ein Pelz wird heutzutage sehr leicht mit losen Sitten in Verbindung gebracht, das macht das Kino.»

«Ja, den Mantel trug ich damals», bestätigte Harriet. «Aber jetzt freue ich mich, Ihnen einen Namen nennen zu können, Miss Twitterton. Das da drüben ist Flight Lieutenant Brink-low.»

«Nun gut», erwiderte Miss Twitterton. «Aber gerade darum geht es ja! Wir wissen seinen Namen und sonst gar nichts über ihn. Er könnte der allergrößte Verbrecher sein, das wäre doch denkbar – oder sogar ein deutscher Spion!»

«Soweit ich weiß, dürfte er eher ein Kriegsheld sein», sagte Harriet. «Er ist als Rekonvaleszent hier. Sein Jagdflugzeug wurde abgeschossen, und Aussteigen war seine einzige Rettung, wobei er sich nur leicht verletzt hat. In den aktiven Dienst kann er nicht zurückkehren, solange sein Knöchel nicht geheilt ist, drum hat er sich im Cottage von Susan Hodge eingemietet – das am Eingang zum Friedhof –, um auf dem Land einen Monat Ruhe zu haben.»

«Ein gut aussehender Mann», sagte Miss Twitterton in ungläubigem Ton, als gäbe das Äußere des Offiziers Anlass zu Zweifeln an der Geschichte. Mit ihrem Urteil lag sie richtig. Flight Lieutenant Brinklow war groß und blond, hatte braune Augen und ein entschieden männliches Auftreten. Er tanzte nicht – sein Knöchel ließ es wohl nicht zu –, sondern stand, von einer Schar hübscher junger Frauen und seinen Kameraden umringt, lässig am Rand der Tanzfläche.

«Sie sind ja sehr gut unterrichtet, Lady Peter», sagte Mrs. Goodacre. «Was den neuesten Klatsch angeht, kann man mir als der Frau des Pfarrers eigentlich so leicht nichts vormachen. Sie werden langsam eine richtige Einheimische!»

«Sie vergessen, dass ich hier geboren bin», gab Lady Peter nachsichtig zurück. «Aber an der Geschichte ist auch gar nichts Geheimnisvolles. Der Ärmste geht an Krücken, weswegen man ihm ein Bett die Treppe runtertragen und ins Esszimmer stellen musste. Und da hat Susan Hodge ein paar der Helferinnen auf Batesons Hof gefragt, ob sie mit anfassen könnten. Dann ist das Bett auf halber Strecke nach unten stecken geblieben, und sie mussten es wieder hinaufwuchten und erst auseinander nehmen. Eine der jungen Frauen hat Mrs. Ruddle alles erzählt, und was Mrs. Ruddle einmal weiß, wird schnell Gemeingut.»

«Unter diesem Fliegervolk gibt es einen», bemerkte Mrs. Lugg, «der sogar noch besser aussieht.»

«Das», sagte Harriet mit einem Anflug von Triumph, «ist Peters Neffe, Gerald Wimsey, für drei Tage auf Heimaturlaub. Er wohnt bei uns.»

«Sprechen Sie von Lord Saint-George?», fragte Miss Twitterton. «Der mal der Herzog wird?» Miss Twitterton, eine allein stehende Dame in den Vierzigern, war mit den Wimseys schon seit dem Abend ihrer Ankunft in Paggleham bekannt und interessierte sich fast ein bisschen zu sehr für die Familie, was auch diejenigen Mitglieder einschloss, von denen sie nur ein-, zweimal hatte reden hören.

«Von eben dem. Aber zurzeit ist er lieber schlicht Flying Officer Wimsey. Ich habe mir von ihm sagen lassen, dass bei der R.A.F. jeder mit zupackt, ohne auf Standesunterschiede zu achten. Der Dienstgrad zählt und sonst nichts. Also, Jerry Wimsey, schlicht und einfach.»

In diesem Moment schlug der Kapellmeister einen Akkord an, und Jerry Wimsey, schlicht und einfach, trat ans Mikrofon, während das behelfsmäßige Orchester – das den Großteil der Blechbläser der Paggforder Heilsarmee umfasste – «Dreamshine» anstimmte. Jerry sang in einem hellen, sehr melodischen Tenor und klang so sehr nach seinem Onkel, dass Harriet innerlich zusammenzuckte.

Under a shining moon

And to a tender tune …

Harriet sah den Paaren zu, wie sie sich im Foxtrott über die Tanzfläche bewegten und einander wie Liebende umschlungen hielten. Eine Wolke sehnsüchtigen Verlangens umgab sie, was wohl zu gleichen Teilen den Zeiten wie dem jeweiligen Partner geschuldet war.

… We danced the night away

And at the break of day

We found the world had changed …

Sie verzehrte sich danach, mitzutanzen – vorausgesetzt, dass Peter sie in den Armen halten würde, Peter, der irgendwo weit weg war und in Gefahr schwebte … Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie sich von einem dermaßen abgeschmackten Lied so leicht in Rührung versetzen ließ (aber Jerry sang doch so wundervoll), sodass sie sich zwang, ihre Aufmerksamkeit den Sandwiches und dem Teebehälter zuzuwenden. Das Gefühl des Verlangens zog bei den jungen Leuten offenbar einen Bärenhunger nach sich, denn die Teller leerten sich zusehends. Von den kleinen Maiskuchen, die Mrs. Trapp beigesteuert hatte, war schon nichts mehr da. Und nun ließ sich Harriet auch noch von dieser Versammlung von Erwachsenen anrühren, die wie auf einem Kindergeburtstag in ihre Kuchen bissen – wo doch die Zeitläufte dafür bürgten, dass sich das Fest mit großer Wahrscheinlichkeit als vorgezogene Totenwache für den einen oder anderen unter ihnen herausstellen würde. Insbesondere für diejenigen in Uniform, weswegen man ihnen schwerlich einen Vorwurf machen konnte, wenn sie sich nahmen, was sie konnten – Kuchen oder junge Frauen –, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatten.

«Kleiner Schwenk durch den Saal gefällig,Tante Harriet?»

Der gute Jerry hatte das Mikrofon an eine junge Frau mit beträchtlichen Reizen abgetreten und streckte nun ihr die Arme entgegen. Harriet gestattete sich eine Verschnaufpause von ihrer Pflicht, den gummiartigen Früchtekuchen in Scheiben zu schneiden, und ließ sich ins Getümmel führen. Jerry hielt sie ein kleines bisschen zu eng an sich gepresst, drückte seine Wange ein kleines bisschen zu fest an die ihre – der ganze Aufwand sinnlos, wo Peter, den dies hätte treffen sollen, doch nicht da war –, aber Jerry turnte stets gern voll Übermut am Rande des Abgrunds herum.

One more dance before we part …

Sängerin samt Kapelle übertönte mit einem Mal ein furchtbar kakophonisches Heulen, das auf unerträgliche Weise zwischen zwei Noten hin- und herpendelte. Der Luftalarm! Das Spiel der Kapelle löste sich holpernd in einzelne Töne auf und versiegte. Die Gesangsstimme kam ins Schwanken und verstummte. Der Kapellmeister übernahm das Mikrofon.

«Keine Panik, meine Herrschaften. Wie Sie vermutlich alle wissen, handelt es sich um einen angekündigten Probealarm, um festzustellen, wie lange es dauert, bis jeder unter der Erde angekommen ist. Unsere Freunde in Uniform müssen selbst entscheiden, ob sie sich der Übung der Zivilisten anschließen wollen oder zu ihrem Stützpunkt zurückkehren. Die Tanzveranstaltung hat damit aber leider ihr Ende gefunden. Wenn Sie nun enttäuscht sind, weil Sie um den letzten Walzer gebracht wurden, kommen Sie damit nicht zu mir – beschweren Sie sich beim Luftschutzwart, der nimmt’s beim ersten Mal etwas zu genau. Herrschaften, denken Sie an Ihre Gasmasken. Begeben Sie sich ganz in Ruhe entweder in den Keller der Krone oder in die Paggleham-Höhle.Wenn Sie Ihre Kinder bei der Oma gelassen haben, holen Sie sie jetzt ab, so wie Sie es auch bei einem echten Notfall machen würden. Vielen Dank und gute Nacht.»

Am Eingang kam es zu kleinen Rempeleien, als alle gleichzeitig ihre Mäntel und Gasmasken von den Haken nahmen.

«Also, mit dem Aufräumen wird es heute Abend wohl nichts mehr», sagte Mrs. Goodacre. «Das müssen wir morgen früh erledigen.»

«Geht schon in Ordnung, Verehrteste», sagte der Hausmeister.

«Ich schließ ab. Sehen Sie mal zu, dass Sie in den Keller kommen, eh dieser Mistkerl Hitler Ihnen zu nahe tritt.»

«Herrje, meinen Sie wirklich?», schaltete sich Miss Twitterton ein. «Wo es doch nur eine Übung ist, Sie wissen schon – wir könnten ja auch hier bleiben und uns um alles kümmern …»

«Kommt nicht infrage, Aggie Twitterton», widersprach der Hausmeister. «Wenn nicht alle mitmachen, ist die ganze Sache umsonst, und wir können von vorne anfangen. Sie gehen brav mit den anderen mit.»

Harriet stand auf der mondbeschienenen Straße vor dem Haus und hörte sich Miss Twittertons wiederholte Entschuldigungen und Erklärungen an, sie habe ja nur gedacht … da fand sie plötzlich Jerry an ihrer Seite.

«Ich komme mit dir mit, Tante Harriet», sagte er mit einem Lächeln im halb vom Mond erhellten, halb im Dunkel verborgenen Gesicht, «und helfe dir beim Einsammeln der Kinderschar.»

«So viele sind es ja gar nicht», entgegnete Harriet. «Gerade mal fünf. Aber manchmal hat man wirklich den Eindruck, sie sind Legion!»

Im strahlenden Schein des Vollmonds schlugen sie den Weg nach Talboys ein. All die gemütlichen, warmen Lichter, die sonst in den Fenstern der Cottages leuchteten, waren hinter der Verdunklung verschwunden und die Straßenlaternen – sieben Stück an der Zahl – gelöscht. Aber der eiskalte Glanz des Monds war hell genug, um jedes Haus und jeden Strauch, jede Brücke und jeden Briefkasten einem eventuellen Betrachter von oben, der sie ins Visier nehmen wollte, darzubieten.

«Das nenn ich einen Bombermond heute Nacht», sagte Jerry.

Als sie an der Kirche vorbeikamen, präsentierte ihnen der Mondschein deutlich den silberfarbenen Umriss von Fred Lugg, dem Leichenbestatter, der auf dem Turm Dienst als Feuerausguck tat. Harriet winkte ihm zu und kam sich im selben Moment anstößig vor. Aber er winkte zurück.

«Tante Harriet, du überlegst wohl nicht, deine Herde hoch nach Denver zu treiben, oder?», fragte Jerry.

«Zu Weihnachten waren wir da», sagte Harriet. «Wir sind praktisch gerade erst wieder zurück.»

«Ich meine, ob du daran denkst, dorthin umzuziehen, bis das hier vorbei ist?»

«Nein!», gab sie zur Antwort. «Ganz und gar nicht.»

«Da oben hättet ihr jede Menge Platz», sagte er. «Bredon Hall ist eine Riesenhütte.»

«Aber sie haben eine komplette Knabenschule einquartiert bekommen», entgegnete sie.

«Es ist trotzdem ausreichend Platz. Und Großmutter würde sich so freuen, dich dazuhaben, da bin ich sicher!»

«Ich habe meine Schwiegermutter sehr gern, Jerry», sagte Harriet, «aber Heim und Herd einfach auflösen und mit meinen Siebensachen und diesen vielen Menschen bei ihr auflaufen …»

«Ich dachte nur, ihr wärt dort vielleicht sicherer.»

«Sicher sind wir hier genauso wie irgendwo anders. Die Regierung hat doch gerade mehrere Dutzend Evakuierte im Dorf untergebracht.»

Einige Schritte lang herrschte Schweigen. «Die Gegend hier ist wie gepflastert mit Flugplätzen», sagte Jerry dann. «Völlig klar, dass das Angriffsziele sind.»

«Was aber ebenso für das Gebiet um Denver gilt», wandte Harriet ein. «Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst, Jerry.Willst du mir damit etwas sagen?»

«Ich sollte nicht», sagte er geknickt. «Kein Laut ist über meine Lippen gekommen. Ich wünschte nur, du würdest mal drüber nachdenken, Tante Harriet.»

«Über das, was dir nicht über die Lippen gekommen ist?»

«Über einen Umzug nach Denver.»

«Ach, schau mal!», rief Harriet beinahe erleichtert, «da sind ja schon Sadie und Queenie mit den Kindern.»

Die zwei Hausmädchen von Talboys kamen ihnen entgegen, das eine führte Bredon an der Hand, das andere trug Paul auf dem Arm. Charlie und Polly sprangen daneben einher. Die kleine Harriet Parker mit ihren drei Jahren schlief im Wagen.

«Wir haben die Sirene gehört, Mylady, da dachten wir, wir gehen schon mal los und warten nicht erst auf Sie», erklärte Queenie.

«Ganz richtig», sagte Harriet und nahm ihren Sohn bei der Hand. «Und Mrs. Trapp kommt noch?»

«Die doch nicht!», sagte Sadie. «Sie hat gesagt, für den Kaiser ist sie nicht aus dem Bett gekrochen, da wird sie’s für Hitler auch nicht tun, ganz egal, was der Luftschutzwart meint.»

Jerry nahm dem Mädchen seinen Cousin Paul ab, dann gingen sie alle wieder zurück in Richtung Dorfmitte.

«Welcher Schutzraum liegt denn nun näher?», fragte Jerry.

«Bitte sag, die Krone, dann kann ich meinen Kummer in einem großen Bier ersäufen.»

«Was denn für einen Kummer, Jerry?», fragte Harriet. «Ja, lasst uns zusammen mit den Sündern in die Krone gehen statt mit den gottlosen Methodisten in die Höhle.»

«Die Methodisten sind Gottlose?», wunderte sich Charlie.

«Ich dachte …»

Herrje, was rede ich da?, dachte Harriet. «Ich habe nur Spaß gemacht, Charlie», antwortete sie ernst. «Methodisten sind hundertprozentig ordentliche Christen.»

«Mami, dürfen wir jetzt den ganzen Krieg lang nachts aufstehen?», fragte Bredon. «Unter dem Mantel und dem Schal hab ich immer noch den Schlafanzug an», fügte er hinzu. «Ist ein bisschen wie ein Traum. Sadie hat ihre Gasmaske aufgesetzt, wie du gesagt hast, Mami, aber Paul ist so erschrocken, da hat sie sie wieder runtergenommen.»

Aber als sie auf die Hauptstraße des Dorfs stießen, sahen sie, dass die meisten Menschen, die in die Krone strömten, ihre Gasmasken angelegt hatten. Unversehens hatten sie sich in gruselige Gestalten mit Augenhöhlen wie in Totenschädeln, schwarzer Haut und dicken Rüsseln verwandelt. Dem kleinen Paul, der sich an der Jacke seines Cousins festhielt, schien ihr Anblick diesmal keine Angst mehr einzuflößen.

«Und was machen wir jetzt hier unten?», erkundigte sich Archie Lugg.

Auf dem schmutzigen Fußboden der Krypta stand die Versammlung ratlos herum. Eine einzelne nackte Glühbirne baumelte in jedem der vier gewaltigen Gewölbe von der Decke.

Es war nichts da, worauf man hätte sitzen können, und die Luft roch nach Staub und Kälte.

«Was würdest du denn machen, wenn du in deinem eigenen kleinen Unterschlupf wärst, Archie?», fragte George Withers.

«Frag lieber nicht.» Mrs. Ruddle kicherte boshaft.

«Ich habe in einer Zeitschrift gesehen, wie man es sich in einem Anderson-Unterstand richtig nett machen kann», sagte Mrs. Puffett. «Schlafkojen mit hübschen Vorhängen zum Zuziehen, dazu ein kleiner Cribbage-Tisch und ein Petroleumofen.»

«Mir ’s neulich in Broxford so ’n Anderson untergekommen», sagte jemand, «der war grad so hergerichtet, wie’s Ma Puffett beschreibt. Bloß stand ein Fuß hoch Wasser drin, war aus dem Garten reingesickert. Aber davon abgesehen schon nicht schlecht. Der Typ hat sich ’ne Handpumpe hingestellt, damit er das Ding wieder leer kriegt. Von dem ist keine Rede in den Zeitschriften, möcht ich wetten. Stand hoch genug, um ’ne Katze drin zu ersäufen.»

Constable Jack Baker stieg auf eine orangefarbene Kiste und klatschte in die Hände, um für Ruhe zu sorgen. «Ich müsste mal durchzählen», sagte er, «wie viele Leute jetzt hier sind. Wir haben die Türen acht Minuten nach dem Alarm zugemacht, in Zukunft muss das ein bisschen besser klappen. Bleiben Sie jetzt bitte mal alle da stehen, wo Sie sind, solange ich zähle, und dann komme ich durch, und Sie können mir sagen, ob irgendjemand Ihrer Meinung nach hier sein sollte, aber nicht aufgetaucht ist.»

«Fred Lugg ist nicht da», bot jemand an.

«Mensch, der schiebt doch Feuerwache», erwiderte Archie Lugg. «Von hier unten wird er wohl kaum ein Feuer entdecken können, oder?»

«Also, ich weiß nicht, wo er sich rumtreibt», erklärte Mrs. Hodge.

«Er ist auf dem Kirchturm», sagte Harriet. «Wir haben ihn gesehen.»

Allmählich breitete sich in der Gesellschaft eine Atmosphäre der Mutlosigkeit aus. Die Leute standen da, die Hände in den Taschen oder mit dem Rücken ans Gemäuer gelehnt. Einige wenige hatten sich Decken oder Klappstühle mitgebracht und fanden ein Plätzchen, um sich niederzulassen. Eine wurmstichige alte Truhenbank, vor langer Zeit schon aus dem Hinterzimmer der Krone hinausexpediert und in eine Ecke hier unten verfrachtet, bot drei recht alten Herren Sitzgelegenheit, und jemand anders war mit einem Klapptisch und Spielkarten gekommen. Aber ein längerer Aufenthalt würde ganz offensichtlich sehr ungemütlich und langweilig werden.

Da war es auch kein großer Trost, dachte Harriet, dass es sich nur um eine Übung handelte, denn der Ernstfall hing ja über ihnen wie ein Damoklesschwert.

«Eins sag ich euch», ließ sich George Withers plötzlich vernehmen. «Sowie das ein bisschen taut, stell ich meinen Anderson bei mir im Garten auf, dann brauch ich hier nicht mit euch allen rumhängen!»

Damit traf er die Stimmung genau, und Harriet war mit einem Mal alarmiert: Wenn eine Menschenmenge unter widrigen Umständen stundenlang zusammengepfercht war, würde das nicht gerade das Beste für die Moral sein. Doch da erschien schon, wie so oft auf dieser kleinen, dicht besiedelten Insel, im rechten Augenblick der rechte Mann, die rechte Frau auf der Bildfläche.

Die Vorsitzende des Frauenverbands von Paggleham kletterte auf Constable Bakers orangefarbene Kiste und wandte sich an die Anwesenden.

«Wie Sie sicher alle einsehen, müssen wir etwas unternehmen», erklärte sie, «selbst wenn es nur um ein paar Wochen geht. Aber ich persönlich wüsste eigentlich nicht, warum wir uns nicht auch für die ganze Zeit des Krieges hier einrichten sollten, anstatt mit den Anderson-Unterständen Zeit zu verplempern. Einigen hier ist bereits bekannt, dass ich in Grundzügen ein Konzept erarbeitet habe.Wir brauchen Schlafkojen.

Decken kann jeder selbst mitbringen. Wir brauchen ein paar Tapeziertische und einen Primuskocher, um Tee und heiße Suppe kochen zu können, und einige Petroleumöfen, um es an kalten Abenden hier drin schön mollig zu haben. Wir brauchen Haken für unsere Gasmasken, und die Schulkinder könnten ein paar Bilder malen, damit die Wände nicht mehr so trist aussehen. Und wir brauchen Freiwillige – jede Menge Freiwillige.»

«Bert Ruddle zimmert für die Methodisten Kojen», wusste George Withers.

«Ein paar Schlafkojen könnte ich auch einbauen», erbot sich Archie Lugg, «wenn wer mit anfasst. Ich habe einen ganzen Haufen Holz von den Schuppen übrig, die wir abreißen mussten, als der Flugplatz auf Datchetts Farmland gebaut wurde.»

«Ich bin dabei», sagte Mr. Puffett. «Was Bert Ruddle kann, kriegen wir bestimmt genauso gut hin.»

«Großartig. Danke Ihnen beiden.»

«Ich hätte eine Reihe Klappstühle», meldete sich jemand,

«und Kartentische dazu. In längst vergangenen Zeiten hatten wir mal einen Bridgeclub.»

«Ich kann für einen Erste-Hilfe-Koffer sorgen», bot Harriet an.

«Doktor Jellyfield berät mich sicher, was da hineingehört.

Und wie wäre es mit einem Regal mit Büchern? Da hätten wir ganz gewiss etwas beizusteuern.»

«Danke, Lady Peter.»

«Schauen Sie mal, Verehrteste», meldete sich Mrs. Hodge zu Wort, «wo wir hier doch drei Räume haben. Da könnten wir einen zum Ruheraum mit Kojen machen, einen richten wir für die, die nicht schlafen können, zum Kartenspielen her und einen für die Kleinen.»

«Ich darf uns wohl im Namen des Frauenverbands für den Notfall rüsten: Kerzen, Plätzchen und Tee …»

«Das reinste Picknick!», rief Mrs. Baker. «Da werden die lieben Kleinen ja auf Wolke sieben schweben.»

Bislang allerdings waren die lieben Kleinen nicht sonderlich begeistert. Bredon spielte, wie Harriet beruhigt feststellte, in einer Ecke still mit seinem Cousin Charlie und dem kleinen Sam Bateson. Sie hatten den schmutzigen Fußboden zum Flugplatz erklärt und ließen ihre Spielzeugflugzeuge darauf landen. Das Ganze ging ohne Surr- und Brummgeräusche vor sich.

«Es macht keinen Lärm, Mami», erklärte Bredon, «weil es einen Geheimeinsatz fliegt.»

«Gut so», antwortete Harriet, «das macht ihr großartig.» Paul war auf ihrem Arm eingeschlafen.

Von den Kindern aus dem Dorf hingegen schliefen die wenigsten. Sie waren überdreht, langsam wurde ihnen kalt, und sie fingen an zu quengeln. Es war ja auch ein bisschen viel verlangt – auf dem Fußboden einschlafen zu müssen, nichts anderes unter sich als die rasch mitgenommene Decke –, aber Kindergewimmer konnte einem leicht auf die Nerven gehen.

Und diejenigen Erwachsenen, die geradewegs aus dem Gemeindesaal hergekommen waren, hatten noch nicht einmal eine Decke. Sie mussten entweder stehen oder sich auf dem nackten Estrich niederlassen. Die Übung schien sich viel länger hinzuziehen, als man erwartet hatte.

«Alles ein bisschen voreilig, wenn ihr mich fragt», befand Roger Datchett. Sein Hof lag am anderen Ende des Dorfes, und er hatte den längsten Heimweg. «Genau wie diese ganzen Londoner Blagen überall. Wo’s doch überhaupt noch keinen Luftangriff gegeben hat.»

«Gar nicht so weit von hier haben sie letzte Woche eine Heinkel abgeschossen», sagte Constable Baker.

«Wo die herkam, da gibt’s noch allerhand», fügte der Wirt hinzu.

«Hat jemand schon Entwarnung gehört?», erkundigte sich Mr. Puffett.

Niemand bejahte seine Frage.

«Und ich hab gemeint, bei der heutigen Unternehmung geht’s nur drum, festzustellen, wie schnell wir hier runterkommen», sagte Mr. Puffett. «Und nicht dadrum, uns die ganze Nacht lang hier festzuhalten, verflixt nochmal. Ich hab meine Pfeife nicht dabei.»

«Deine Pfeife, Tom Puffett, könntest du hier eh nicht schmöken, selbst wenn du an sie gedacht hättest», meinte Mrs. Ruddle. «Die stinken schauderhaft, die Dinger, und wo Petroleumöfen sind, ist es noch dazu gefährlich.»

«Auch nicht mehr wie Kerzen, du alter Besen», gab Mr. Puffett zurück.

Wieder war es die Vorsitzende des Frauenverbands, die die Situation rettete. «Sehr treffend bemerkt», sagte sie und schenkte beiden ein strahlendes Lächeln. «Wir müssen unbedingt schauen, ob sich nicht in einem der kleinen Gewölbe eine Raucherecke einrichten lässt. Und wir müssen nach Lampen schauen, die keine offenen Flammen haben.»

«Davy-Lampen», sagte Constable Baker. «Die nimmt man unter Tage. Wegen dem Grubengas», fügte er hinzu.

«Wo könnten wir die wohl herbekommen?», murmelte die Vorsitzende, während sie sich Notizen machte.

«Gibt’s denn überhaupt keine Entwarnung mehr?», fragte eine der jungen Frauen vom Landdienst. «Ich muss so dringend pinkeln, dass mir gleich die Blase platzt …»

«Einen anderen Ton bitte, junges Fräulein», entrüstete sich Mrs. Hodge, «es sind auch anständige Leute hier.»

«Tja, was können wir denn in dieser Hinsicht organisieren?», fragte der Pfarrer. «Ein echter Alarm zieht sich womöglich so in die Länge, dass es über ein menschliches Maß hinausgeht …»

«Eimer mit Erde, Herr Pfarrer», sagte jemand an der Wand.

«Eimer mit Erde und dazu ein Spaten. So haben wir’s bei Mons an der Front gemacht. Saubere Angelegenheit, solange jeder eine Schaufel voll nachschmeißt.»

«Ich glaube, ich steck mal meine Nase raus und schau nach, was los ist», meinte Mr. Gudgeon. «Wir haben gleich Sperrstunde.»

«Ganz recht, Herr Wirt. Hol uns hier raus, damit wir noch in Ruhe einen heben können!», sagte Mr. Puffett.

Mr. Gudgeon stieg die Stufen hinauf und schlug die schweren Türflügel zum Schankraum zurück. Man hörte seine Schritte auf dem Steinfußboden, dann das Quietschen der Angeln, als die Tür zur Straße aufging. Ein Entwarnungssignal hörte man nicht. Stattdessen aber das dumpfe Mahlen von Flugzeugmotoren.

«Um Himmels willen, Baker, sind Sie sicher, dass das nur eine Übung ist?», fragte jemand.

«Die Situation gerät etwas außer Kontrolle, Simon», sagte die Pfarrersfrau leise zu ihrem Mann. «Unternimm doch etwas.»

«Was schlägst du vor, meine Liebe?»

«Ein Lied vielleicht? Die Methodisten drüben in ihrer Höhle singen bestimmt zusammen.»

«Eine hervorragende Idee. Wer könnte uns wohl ein A geben?»

«Mr. Puffett hat vielleicht sein Akkordeon dabei», schlug Mrs. Goodacre vor. «Die Kiste, die er mitgebracht hat, scheint mir für eine Gasmaske recht groß zu sein.»

Ein schmerzlicher Zug huschte über das Antlitz des Pfarrers, doch rasch fasste er sich wieder und trat an Tom Puffett heran.

Dieser hatte in der Tat seine Quetschkommode dabei. Der Pfarrer blieb bei ihm stehen, um den Takt zu schlagen. Sein bester Chorknabe war bereits angewiesen, das Lied anzustimmen.

«Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein …», hub der Junge an.

«Nein, nein, Kind!», rief Mrs. Goodacre. «Nein, Simon – etwas Heiteres!»

«Oh, ich weiß gar nicht, ob ich da eigentlich …»

«Denkt doch mal nach!», sagte Mrs. Goodacre. «Irgendwas, was ihr Jungens außerhalb der Kirche singt … irgendetwas!»

«Irgendetwas?», fragte der Junge. Ein verschwörerisches Grinsen voller Tücke erhellte sein Antlitz. Dann ließ er seinen herrlichen, fast überirdisch schönen Sopran erklingen und sang: