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«Ein Klassiker von zeitloser Eleganz, der immer wieder großen Spaß bereitet.» Kulturnews «Der Glocken Schlag gilt allgemein als eines der besten Werke von Sayers.» The Atlantic Ein Winterabend an der Küste Ost-Englands. Auf schneeverwehten Straßen gerät Lord Peter vom Wege ab, in dem gastfreundlichen Pfarrhaus findet er ein Obdach - und eine Aufgabe. Das ruhmreiche Wechselläuten, gemäß alt-englischem Brauch für diese Silvesternacht geplant, droht zu scheitern. Acht Glocken brauchen acht Männer, doch einer ist plötzlich erkrankt. Lord Peter springt ein. Wenig später herrscht im Dorf plötzlich helle Aufregung: Auf dem Friedhof wurde die Leiche eines Unbekannten gefunden – eine Leiche, die dort nicht hingehört! Wer kennt den Toten? Wer hat ihn so zugerichtet? Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey wird vom liebenswerten Ortspfarrer um Hilfe bei der Aufklärung des seltsamen Falles gebeten. Tatsächlich benehmen sich einige Dorfbewohner auffallend merkwürdig. Als Wimsey die Zusammenhänge endlich erkennt, verdankt er die Lösung des Falles nicht zuletzt dem großartigen Glockenschlag der kleinen Pfarrkirche.
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Seitenzahl: 543
Dorothy L. Sayers
Der Glocken Schlag
Ein Fall für Lord Peter Wimsey
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Otto Bayer
Ihr Verlagsname
Helle Aufregung in einem abgeschiedenen Dorf: Auf dem Friedhof wurde die Leiche eines Unbekannten gefunden – eine Leiche, die dort nicht hingehört. Wer kennt den Toten? Wer hat ihn so zugerichtet? Warum musste er sterben? Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey, der auf schneeverwehten Straßen vom Wege abkommt und in dem gastfreundlichen Pfarrhaus Obdach findet, wird vom liebenswerten Ortspfarrer um Hilfe bei der Aufklärung des seltsamen Falles gebeten. Tatsächlich benehmen sich einige Dorfbewohner auffallend merkwürdig. Als Wimsey die Zusammenhänge endlich erkennt, verdankt er die Lösung des Falles nicht zuletzt dem großartigen Glockenschlag der kleinen Pfarrkirche.
Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, und sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des Jahrhunderts.
Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.
Hin und wieder beschweren sich Leute über das Läuten der Kirchenglocken. Es mutet seltsam an, daß eine Generation, die das Gebrüll von Verbrennungsmotoren und das Geheul der Jazzbands klaglos hinnimmt, derart empfindlich sein soll gegenüber dem einzigen lauten Geräusch, das zur Ehre Gottes erzeugt wird. England hat als einziges Land der Erde die Kunst des Wechselläutens und das wahre Läuten mit Seil und Rad zur Vollkommenheit entwickelt und wird dieses sein einmaliges Erbe nicht ohne weiteres preisgeben.
Ich bitte alle Glöckner um Nachsicht, wenn mir in meinen Ausführungen über ihre altehrwürdige Kunst Irrtümer unterlaufen sind. Die in diesem Buch verwendeten Familiennamen habe ich alle selbst in Ostanglien gehört, aber alle beschriebenen Orte und Personen sind erfunden, ebenso alle Sünden und Versäumnisse solch imaginärer Behörden wie der «Wale-Flußaufsicht» oder des «Moorentwässerungsamtes» oder der «Wasserstraßenkommission Ost».
Mein tiefempfundener Dank gilt Mr. W.J. Redhead, der so freundlich war, für mich die edle Pfarrkirche von Fenchurch St. Paul zu entwerfen und mit Cherubim zu versehen.
Dorothy L. Sayers
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Bei Beendigung der Durchgänge
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die 8 in Observation.
Ruf sie in die Mitte mit einem Doppel, vor, fehl und heim.
Einmal zu wiederholen.
(Troyte)
Einen Schlüssel zu dieser Geheimschrift findet der interessierte Leser in der «Kleinen Campanologie für Uneingeweihte» auf Seite 291f.
Die Seilschlaufe, die es vor und während des Läutens einer Glocke in der Hand zu halten gilt, gibt dem Lernenden stets neue Rätsel auf; sie schlägt ihm ins Gesicht oder schlingt sich um seinen Hals (in welchem Falle er sich gar daran erhängen kann!).
Troyte: On Change-Ringing
«Jetzt haben wir den Salat!» sagte Lord Peter Wimsey.
Da lag das Auto, hilflos und albern, die Nase tief im Graben, die Hinterräder komisch schief überm Bankett, als ob es mit aller Macht im Erdboden verschwinden wollte und sich dazu eine Höhle im aufgewehten Schnee graben müßte. Wimsey spähte durch das Schneetreiben um sich und sah dann auch, wie es zu dem Unfall gekommen war. Die schmale, bucklige Brücke, blind wie ein augenloser Bettler, spannte sich im rechten Winkel über den Kanal und fiel dann steil auf die schmale Straße ab, die den Deich krönte. Er war ein wenig zu schnell über die Brücke gefahren und, geblendet von dem starken Schneesturm aus Osten, über die Straße hinausgeraten und die Deichböschung hinab in den tiefen Graben dahinter gestürzt, von wo ihn jetzt eine Dornenhecke im gleißenden Licht der Scheinwerfer stier und feindselig anstarrte.
Nach rechts und links, vorn und hinten lag das Moor unter einem Leichentuch. Es war Silvester, kurz nach vier Uhr, und der Schnee, der den ganzen Tag gefallen war, warf einen Schimmer von Grau zurück an den bleiernen Himmel.
«Pech», meinte Wimsey. «Was glauben Sie, wo wir hier gelandet sind, Bunter?»
Der Diener zog im Schein einer elektrischen Taschenlampe die Landkarte zu Rate. «Ich glaube, Mylord, daß wir die richtige Straße bei Leamholt verlassen haben. Wenn mich nicht alles täuscht, befinden wir uns jetzt in der Nähe von Fenchurch St. Paul.»
Noch während er sprach, trug der Wind den durch den Schnee gedämpften Schlag einer Kirchturmuhr an ihre Ohren. Sie schlug die erste Viertelstunde.
«Gott sei Dank», sagte Wimsey. «Wo eine Kirche ist, da ist Zivilisation. Ein Fußmarsch wird uns nicht erspart bleiben. Lassen Sie die Koffer hier; wir werden jemand danach schicken. Brrr – ist das kalt! Als Kingsley vom wilden Nordost schwärmte, hat er garantiert irgendwo drinnen beim gemütlichen Feuer gesessen und sich seinen Tee mit Butterküchlein schmecken lassen. Ein heißes Butterküchlein könnte ich jetzt selbst vertragen. Wenn ich mich nächstes Mal in diese Gegend einladen lasse, warte ich den Hochsommer ab oder fahre mit der Eisenbahn. Die Kirche muß da stehen, wo der Wind herkommt – klar.»
Sie zogen ihre Mäntel fester um sich und wandten ihre Nasen gegen Wind und Schnee. Links von ihnen verlief schwarz und mürrisch der Kanal, gerade wie mit der Schnur gezogen, die träge dahinfließenden, unheildrohenden Wasser eingefaßt von steilen Uferböschungen. Rechts zog sich als unregelmäßiger schwarzer Strich die halbversenkte Hecke dahin, zwischendrin ein paar Pappeln und Weiden. Schweigend stapften sie los, die Augenlider schwer vom Schnee. Nach einer einsamen Meile tauchte am anderen Kanalufer der Schattenriß einer Windmühle auf, doch keine Brücke führte hinüber, kein Licht wies den Weg.
Nach einer weiteren halben Meile stießen sie auf einen Wegweiser und eine Nebenstraße, die nach rechts abzweigte. Bunter richtete den Strahl der Taschenlampe auf den einzigen Arm des Wegweisers und las:
«Fenchurch St. Paul.»
Eine andere Richtung gab es nicht. Geradeaus marschierten Straße und Kanal Seite an Seite weiter in die winterliche Ewigkeit.
«Auf nach Fenchurch St. Paul», sagte Wimsey und schlug, gefolgt von seinem Diener, die neue Richtung ein. Im selben Moment hörten sie wieder die Kirchturmuhr, diesmal näher; sie schlug das dritte Viertel.
Nach ein paar hundert Schritten Einsamkeit stießen sie auf die ersten Lebenszeichen in dieser froststarren Einöde: links von ihnen, etwas abgesetzt vom Weg, die Dächer eines Bauerngehöfts, rechts ein kleines, viereckiges Gebäude, wie ein Bauklötzchenhaus. Gasthaus Zur Weizengarbe stand auf dem Schild, das quietschend über der Tür schaukelte. Davor stand ein unansehnliches kleines Auto, und aus den Fenstern unten und oben drang Licht durch rote Vorhänge.
Wimsey ging hin und probierte die Tür. Sie war zu, aber nicht verschlossen. «Ist da jemand?» rief er laut.
Aus einem der hinteren Räume erschien eine Frau mittleren Alters. «Wir haben noch nicht auf!» rief sie barsch.
«Ich bitte um Verzeihung», sagte Wimsey, «aber unser Auto ist zu Schaden gekommen. Könnten Sie uns den Weg –?»
«Oh, entschuldigen Sie, Sir. Ich hab gedacht, das sind schon welche von unsern Mannskerlen. Ihr Auto ist kaputt? Das ist schlimm. Treten Sie ein. Hier ist nur leider noch alles sehr unordentlich –»
«Was gibt’s denn, Mrs. Tebbutt?» Die Stimme klang freundlich und gebildet, und als Wimsey der Frau in einen kleinen Salon folgte, erkannte er den Sprecher als einen ältlichen Pfarrer.
«Die Herren hatten einen Autounfall.»
«Ach!» rief der Gottesmann. «Und das an so einem fürchterlichen Tag! Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?»
Wimsey erklärte ihm, daß sein Wagen im Graben liege und sicher nur mit Seil und Pferdegespann wieder auf die Straße zu bringen sei.
«Nein, so was», meinte der Pfarrer. «Da sind Sie gewiß über die Froschbrücke gekommen. Eine sehr gefährliche Stelle, vor allem bei Dunkelheit. Wir müssen da mal etwas unternehmen. Kann ich Sie ins Dorf mitnehmen?»
«Das wäre sehr liebenswürdig, Sir.»
«Aber nicht doch, nicht doch. Ich fahre nur nach Hause zum Tee. Und Sie können bestimmt auch etwas zum Aufwärmen vertragen. Sie haben es hoffentlich nicht eilig, an Ihr Reiseziel zu kommen? Wir würden uns außerordentlich freuen, Ihnen ein Nachtlager bieten zu dürfen.»
Wimsey dankte ihm herzlich, meinte aber, er wolle die Gastfreundschaft des frommen Mannes nicht ungebührlich strapazieren.
«Es wäre mir ein besonderes Vergnügen», entgegnete der Pfarrer höflich. «Wir haben hier so wenig Abwechslung, daß ich Ihnen versichern kann, Sie würden meiner Frau und mir eine große Freude machen.»
«Wenn das so ist –» gab Wimsey nach.
«Ausgezeichnet, ausgezeichnet!»
«Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, denn selbst wenn wir den Wagen heute noch freibekämen – ich fürchte, die Achse ist verbogen und erfordert die Künste eines Schmieds. Aber könnten wir nicht in einer Herberge übernachten? Es wäre mir wirklich peinlich –»
«Aber machen Sie sich doch deswegen keine Gedanken. Natürlich würde unsere Mrs. Tebbutt Sie nur allzugern bei sich aufnehmen, das weiß ich, und sehr gemütlich würde sie es Ihnen machen, wirklich sehr gemütlich, aber nun liegt doch ihr lieber Mann mit dieser scheußlichen Grippe da – wir haben hier gerade eine richtige Epidemie, Gott seis geklagt –, und da fürchte ich doch, es käme ihr jetzt nicht sehr gelegen, nicht wahr, Mrs. Tebbutt?»
«Na ja, ich wüßte wirklich nicht, Sir, wie wir das unter diesen Umständen machen sollten, Sir, und in der Roten Kuh haben sie nur ein Zimmer –»
«O nein», rief der Pfarrer schnell dazwischen, «nicht in der Roten Kuh; Mrs. Donnington hat doch schon Gäste. Überhaupt will ich gar kein Nein hören. Sie müssen mit mir ins Pfarrhaus kommen. Da haben wir reichlich Platz – viel zuviel sogar, viel zuviel. Übrigens, mein Name ist Venables – ich hätte mich schon eher vorstellen sollen. Wie Sie wohl bereits erraten haben – ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.»
«Sie sind überaus freundlich, Mr. Venables. Wenn wir Ihnen wirklich keine Last sind, nehmen wir die Einladung mit Freuden an. Ich heiße Wimsey – hier ist meine Karte. Und das ist mein Diener Bunter.»
Der Pfarrer kramte seine Brille hervor und setzte sie, nachdem er umständlich das Band auseinandergeklaubt hatte, ziemlich schief auf seine lange Nase, um Wimseys Karte in Augenschein zu nehmen.
«Lord Peter Wimsey – so so. Herrjeh! Der Name kommt mir bekannt vor. Hab ich ihn nicht schon einmal in Zusammenhang mit – ha! Jetzt hab ich’s! Bemerkungen über das Sammeln von Inkunabeln. Eine sehr kundige kleine Arbeit, wenn ich das sagen darf. Ach ja! Wie zauberhaft, einmal mit einem anderen Büchersammler plaudern zu können. Meine eigene Bibliothek ist leider etwas beschränkt, aber ich besitze eine Ausgabe vom Evangelium des Nikodemus, die Sie gewiß interessieren wird. Nein, so etwas! Wie entzückend, auf diese Weise Ihre Bekanntschaft zu machen! O mein Gott, jetzt schlägt es schon fünf. Wir müssen uns auf den Weg machen, sonst bekomme ich von meiner Frau etwas zu hören. Auf Wiedersehen, Mrs. Tebbutt. Ich hoffe, es wird Ihrem lieben Mann morgen schon wieder viel besser gehen; er sieht sogar heute schon etwas besser aus, finde ich.»
«Vielen Dank, Sir. Tom freut sich immer so, wenn Sie zu Besuch kommen. Sie haben bestimmt einen guten Einfluß auf ihn.»
«Sagen Sie ihm, er soll nur den Kopf hochhalten. So eine häßliche, bedrückende Krankheit! Aber jetzt ist er über das Schlimmste hinweg. Ich werde ihm ein Fläschchen Portwein schicken, sobald er ihn trinken darf. Tuke Holdsworth 08», fügte er so leise hinzu, daß nur Wimsey es hören konnte. «Könnte keiner Fliege schaden. Ach ja! Nun denn. Aber jetzt müssen wir wirklich los. Ich fürchte, mein Auto ist nicht eben eine Staatskarosse, aber es hat drinnen mehr Platz, als man meinen sollte. Da haben wir schon manche Taufgesellschaft hineingequetscht, nicht wahr, Mrs. Tebbutt? Möchten Sie bitte neben mir Platz nehmen, Lord Peter? Ihr Diener und das – o je! Haben Sie gar kein Gepäck? … Ah – ja, an der Froschbrücke. Ich schicke gleich meinen Gärtner danach. Es ist ganz gut dort aufgehoben, wo es ist; wir sind hier lauter ehrliche Menschen, nicht wahr, Mrs. Tebbutt? So ist’s recht. Aber Sie müssen sich diese Decke um die Beine legen – doch, ich bestehe darauf. Nein, nein, danke. Ich bringe den Motor ganz gut selbst zum Laufen. Ich bin es so gewöhnt. Da, sehen Sie? Ein paar kräftige Drehungen, schon läuft er munter wie ein Glöckchen. Hinten alles in Ordnung, guter Mann? Schön. Hervorragend! Nochmals auf Wiedersehen, Mrs. Tebbutt.»
Der altertümliche Wagen setzte sich, rüttelnd bis ins Mark, auf der schmalen, geraden Straße in Bewegung. Sie kamen an einer Kate vorbei, und mit einemmal tauchte rechts von ihnen aus dem Schneegestöber eine riesenhafte graue Masse auf.
«Mein Gott!» rief Wimsey. «Ist das Ihre Kirche?»
«Jawohl», antwortete der Pfarrer voll Stolz. «Da sind Sie beeindruckt, wie?»
«Beeindruckt!» sagte Wimsey. «Hören Sie, das ist ja schon eine junge Kathedrale! Das hätte ich nie gedacht. Wie groß ist denn Ihre Gemeinde?»
«Sie werden sich wundern, wenn ich es Ihnen sage», meinte der Pfarrer leise lachend. «Dreihundertvierzig Seelen, keine mehr. Erstaunlich, wie? Aber das finden Sie überall hier in den Fenmooren. Ostanglien ist berühmt für die Größe und Pracht seiner Pfarrkirchen. Und dennoch schmeicheln wir uns, einmalig zu sein, selbst in diesem Teil der Welt. Ursprünglich war das Ganze einmal eine Abtei, und früher muß Fenchurch St. Paul ein recht bedeutender Ort gewesen sein. Wie hoch würden Sie unseren Turm schätzen?»
Wimsey sah zu der großen, steinernen Masse empor.
«Schwer zu sagen im Dunkeln. Aber viel weniger als vierzig Meter sind’s nicht.»
«Nicht schlecht geraten. Es sind genau neununddreißig Meter bis zu den vier kleinen Turmspitzen. Aber es sieht höher aus, weil das Dach des Mittelschiffs verhältnismäßig niedrig ist. Nicht viele können uns da überbieten. St. Peter Mancroft natürlich – aber das ist ja eine Stadtkirche. Und St. Michael in Coventry ist schon ohne Türmchen vierzig Meter hoch. Aber an Schönheit der Proportionen kann es Fenchurch St. Paul, glaube ich, mit allen anderen aufnehmen. Das werden Sie gleich noch besser sehen, wenn wir um die Ecke biegen. So, da wären wir. Hier hupe ich immer; es ist eine gefährliche Ecke wegen der Mauer und der Bäume. Manchmal meine ich, wir sollten die Friedhofsmauer im öffentlichen Interesse ein Stückchen zurücksetzen. Ah – jetzt bekommen Sie eine kleine Vorstellung davon! Ist das nicht wunderschön, dieses harmonische Verhältnis von Seiten- und Mittelschiff? Das werden Sie bei Tag noch besser erkennen. Hier ist das Pfarrhaus – gerade der Kirche gegenüber. Ich hupe immer hier am Tor – es könnte jemand dort herumlaufen. Die Büsche machen es hier so dunkel. Ah, gutgegangen! Sie werden bestimmt froh sein, ins Warme zu kommen und ein Täßchen Tee zu trinken – oder darf es vielleicht etwas Stärkeres sein? Ich hupe immer hier an der Tür, damit meine Frau weiß, daß ich da bin. Sie wird so unruhig, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen bin. Die Deiche und Kanäle machen unsere Straßen richtig gefährlich, und ich bin ja auch nicht mehr so jung wie früher. Ich fürchte, heute bin ich schon etwas verspätet. Ah, da ist ja meine Frau! Agnes, meine Liebe, du mußt entschuldigen, daß ich ein wenig über die Zeit bin, aber ich habe einen Gast mitgebracht. Er hatte einen Autounfall und wird über Nacht bei uns bleiben. Die Decke! Sie gestatten? Dieser Sitz ist leider – ich würde sagen eine res angusta. Vorsicht bitte mit dem Kopf! Ah, noch einmal gutgegangen. Meine Liebe, das ist Lord Peter Wimsey.»
Mrs. Venables, eine rundliche, freundliche Erscheinung, umrahmt vom Licht, das durch die offene Tür fiel, nahm den Überfall mit der Gelassenheit der tüchtigen Hausfrau hin.
«Welch ein Glück, daß mein Mann Ihnen begegnet ist! Einen Unfall hatten Sie? Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt! Ich sage immer, diese Straßen sind die reinsten Todesfallen.»
«Vielen Dank», sagte Wimsey. «Nein, es ist nichts Schlimmes passiert. Wir sind nur dummerweise von der Straße abgekommen. An der Froschbrücke, wie ich mir habe sagen lassen.»
«Eine häßliche Stelle – ein richtiges Glück, daß Sie nicht im Dreißigfußkanal gelandet sind. Kommen Sie herein, nehmen Sie Platz und wärmen Sie sich auf. Ihr Diener? Ach ja, natürlich, Emily! Führe den Diener dieses Herrn in die Küche und kümmere dich um ihn.»
«Und», rief der Pfarrer ihr nach, «sag Hinkins, er soll den Wagen nehmen und zur Froschbrücke fahren, um das Gepäck zu holen. Er wird dort Lord Peters Auto finden. Aber er soll gleich fahren, bevor das Wetter schlechter wird. Und, Emily! – sag ihm, er soll zu Wilderspin schicken und veranlassen, daß der Wagen aus dem Graben gezogen wird.»
«Das reicht auch noch morgen früh», sagte Wimsey.
«Gewiß. Morgen früh aber gleich als erstes. Wilderspin ist unser Schmied – ein hervorragender Mann. Er wird die Sache fachmännisch in die Hand nehmen. O ja, gewiß! So, und nun treten Sie ein, bitte, treten Sie ein! Wir möchten unseren Tee trinken. Agnes, meine Liebe, hast du Emily schon erklärt, daß Lord Peter bei uns über Nacht bleiben wird?»
«Das ist bereits geregelt», beruhigte Mrs. Venables ihn. «Ich hoffe nur, du hast dich nicht erkältet, Theodore.»
«Nein, nein, meine Liebe. Ich war gut eingepackt. O ja! Ha! Was sehe ich denn da? Butterküchlein?»
«Butterküchlein habe ich mir vorhin erst gewünscht», sagte Wimsey.
«Dann setzen Sie sich, setzen Sie sich, und greifen Sie tüchtig zu. Sie müssen ja richtig ausgehungert sein. So eine Kälte habe ich selten erlebt. Möchten Sie vielleicht lieber einen Whisky mit Soda?»
«Nein, bitte Tee», sagte Wimsey. «Wie hübsch das alles aussieht! Wirklich, Mrs. Venables, es ist ungeheuer gütig von Ihnen, sich unser zu erbarmen.»
«Ich bin doch nur froh, wenn ich helfen kann», antwortete die Pfarrersfrau mit heiterem Lächeln. «Wirklich, so etwas Trostloses wie unsere Fenmoor-Straßen im Winter gibt es nicht noch einmal, glaube ich. Ein Glück, daß Ihnen der Unfall so nah beim Dorf passiert ist.»
«Das kann man wohl sagen.» Wimsey sah sich dankbar in dem behaglichen Wohnzimmer um. Die kleinen Tischlein waren mit Zierat überladen, im Kamin prasselte hinter einem züchtigen samtenen Wandschirm ein wärmendes Feuer, und auf dem polierten Tablett blinkte die silberne Teekanne. «Ich fühle mich wie Odysseus, der nach manchem Sturm und Abenteuer endlich einen Hafen gefunden hat.»
Er biß dankbar in ein großes, heißes Butterküchlein.
«Tom Tebbutt scheint es heute schon viel besser zu gehen», bemerkte der Pfarrer. «Sehr unangenehm, daß er ausgerechnet jetzt krank daliegen muß, aber wir sollten dankbar sein, daß es nichts Schlimmeres ist. Hoffentlich wird jetzt nicht noch einer krank. Der junge Pratt macht sich ganz gut, glaube ich; heute morgen hat er zwei lange Sätze ohne einen einzigen Fehler durchgehalten, und er ist sehr eifrig bei der Sache. Übrigens, wir sollten unseren Gast vielleicht warnen –»
«Das sollten wir wirklich», fand Mrs. Venables. «Mein Mann hat Sie zwar eingeladen, hier über Nacht zu bleiben, Lord Peter, aber er hätte erwähnen sollen, daß Sie so nah bei der Kirche wohl nicht viel Schlaf finden werden. Oder vielleicht stören Kirchenglocken Sie nicht.»
«Nicht im mindesten», versicherte Wimsey.
«Das Wechselläuten ist nämlich die große Leidenschaft meines Mannes», fuhr Mrs. Venables fort. «Und da heute Silvester ist –»
Der Pfarrer, der andere selten einen Satz zu Ende reden ließ, sprach ungeduldig dazwischen.
«Wir wollen nämlich heute nacht eine wahre Großtat vollbringen», sagte er. «Oder morgen früh, besser gesagt. Wir wollen das neue Jahr mit – ach so, Sie wissen vielleicht noch gar nicht, daß wir hier eines der schönsten Geläute im ganzen Land besitzen?»
«Wahrhaftig?» meinte Wimsey. «Doch, ich glaube, ich habe schon von den Fenchurch-Glocken gehört.»
«Es mag ja ein paar größere Geläute geben», räumte der Pfarrer ein, «aber ich wüßte nicht, wer es an Fülle und Klangschönheit mit uns aufnehmen sollte. Vor allem unsere Nummer sieben ist eine sehr edle alte Glocke, aber auch die Baßglocke, und John und Jericho sind ebenfalls bemerkenswert gut – überhaupt sind sie alle ‹von reinem Klang und vollem Laut›, wie das alte Motto heißt.»
«Also haben Sie ein komplettes Achtergeläute?»
«O ja. Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen gern ein bezauberndes kleines Büchlein, in dem mein Amtsvorgänger die Geschichte unserer Glocken festgehalten hat. Unsere Baßglocke, die Tailor Paul, ist im Jahre 1614 auf einem Acker neben der Kirche gegossen worden. Man sieht noch die Vertiefung im Boden, wo die Form gemacht wurde, und der Acker selbst heißt heute noch Glockenacker.»
«Haben Sie denn auch eine gute Glöcknermannschaft?» erkundigte Wimsey sich höflich.
«O ja, eine sehr gute. Großartige Burschen, und so eifrig dabei. Da fällt mir ein, ich wollte eben sagen, daß wir in dieser Nacht das neue Jahr mit –» hier hob der Pfarrer bedeutungsvoll die Stimme – «nicht weniger als fünfzehntausend und achthundertvierzig Wechseln Kent Treble Bob Major einzuläuten gedenken. Was sagen Sie dazu? Nicht schlecht, wie?»
«Allmächtiger!» rief Wimsey. «Fünfzehntausend –»
«– und achthundertvierzig», vollendete der Pfarrer.
Wimsey rechnete schnell nach.
«Das gibt etliche Stunden Arbeit.»
«Neun», belehrte ihn der Pfarrer stolz.
«Alle Achtung», sagte Wimsey. «Das ist ja der große Rekord der College-Jugend von achtzehnhundertsoundso.»
«1868», ergänzte der Pfarrer. «Jawohl, den wollen wir nämlich einstellen. Und was noch mehr ist, wir müssen es der College-Jugend sogar insofern gleichtun, als wir, abgesehen von der bescheidenen Hilfe, die ich geben kann, den ganzen Zyklus mit nur acht Mann läuten müssen. Wir hatten mit zwölf gerechnet, aber nun liegen leider vier von unseren besten Leuten mit dieser fürchterlichen Grippe im Bett, und von Fenchurch St. Stephan, das ja auch ein Geläut hat, wenn auch mit dem unseren nicht annähernd vergleichbar, können wir keine Hilfe bekommen, weil sie dort immer nur Grandsire Triples läuten und somit keinen haben, der einen Kent Treble Bob Major läuten kann.»
Wimsey schüttelte den Kopf und angelte sich sein viertes Butterküchlein.
«Grandsire Triples sind auch ein sehr ehrwürdiges System», sagte er feierlich, «aber sie bringen nie dieselbe Musik –»
«Das sag ich ja auch immer», krähte der Pfarrer. «Es wird nie dieselbe Musik, wenn der Baß hinten nachhängt – nicht einmal beim Stedman, obwohl wir hier sehr große Stücke auf Stedman halten und ihn recht anständig läuten, wie ich sagen darf. Aber interessanter und reicher und schöner ist doch jederzeit ein Kent Treble Bob Major.»
«Sehr richtig», fand Wimsey.
«Etwas Schöneres gibt es einfach nicht.» Mr. Venables entschwebte selig in die Höhen des Glockenturms, wobei er mit seinem Küchlein in der Luft herumfuchtelte, daß ihm die Butter in die Ärmel lief. «Sogar Grandsire Major – ich kann mir nicht helfen, aber für mich fehlt da einfach etwas, wenn der Baß so monoton hinter jedem Wechsel ertönt – besonders hinter den Einzeln, und dann müssen sich die erste und zweite Glocke auch noch die ganze Zeit auf einfaches Jagen beschränken –»
Die weiteren Bemerkungen des Pfarrers zum Grandsire-System des Wechselläutens gingen leider unter, denn soeben erschien Emily an der Tür mit den unheilverkündenden Worten:
«Herr Pfarrer, kann James Thoday Sie kurz sprechen?»
«James Thoday?» fragte der Pfarrer. «Nun, gewiß, natürlich. Bring ihn in mein Studierzimmer, Emily, und sag ihm, daß ich gleich komme.»
Der Pfarrer blieb nicht lange fort, und als er wiederkam, machte er ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Mit einer Geste äußerster Mutlosigkeit ließ er sich in seinen Sessel fallen.
«Dies», rief er dramatisch, «ist zuviel des Unglücks!»
«Du meine Güte, Theodore! Was ist denn um Himmels willen passiert?»
«William Thoday! Von allen Tagen im Jahr ausgerechnet heute! Der Ärmste, ich sollte wirklich nicht an mich denken, aber es ist so eine bittere Enttäuschung – so bitter!»
«Aber was ist denn nun mit Thoday?»
«Hingestreckt», tönte der Pfarrer, «hingestreckt von dieser schrecklichen Geißel, dieser Grippe. Völlig hilflos. Im Delirium. Sie haben schon nach Dr. Baines geschickt.»
«Ts, ts, ts», machte Mrs. Venables.
«Anscheinend», fuhr der Pfarrer fort, «hat er sich schon heute früh nicht ganz wohl gefühlt, aber er bestand darauf – wie unklug, der Ärmste –, in irgendwelchen Geschäften nach Walbeach zu fahren. Wie töricht! Ich habe gestern schon bei mir gedacht, Will Thoday sieht ein bißchen elend aus, als er abends zu mir kam. Zum Glück ist er in der Stadt dann George Ashton begegnet, und der hat gesehen, wie es um ihn stand, und es sich nicht nehmen lassen, ihn nach Hause zu begleiten. Der arme Thoday muß sich bei dieser Eiseskälte schwer erkältet haben. Er war so entkräftet, als er zu Hause ankam, daß sie ihn gleich ins Bett geschickt haben, und nun liegt er mit hohem Fieber da und ist die ganze Zeit todunglücklich, weil er heute abend nicht in die Kirche kommen kann. Ich habe zu seinem Bruder gesagt, er soll ihn um jeden Preis beruhigen, aber ich fürchte, das wird schwer sein. Er ist mit solcher Hingabe dabei, und die Vorstellung, daß er jetzt nicht mitmachen kann, drückt ihm schwer aufs Gemüt.»
«Ach ja», meinte Mrs. Venables. «Aber Dr. Baines wird ihm doch sicher etwas zur Beruhigung geben.»
«Das will ich aufrichtig hoffen. Natürlich, es ist eine Katastrophe, aber es ist auch schlimm, daß er es sich so zu Herzen nimmt. Ja nun, was man nicht ändern kann, muß man ertragen. Damit ist unsere letzte Hoffnung dahin. Wir werden uns mit Treble Bob Major zufriedengeben müssen.»
«Ist der Mann denn einer von Ihren Glöcknern?»
«Leider, leider, und nun ist keiner mehr da, der seinen Platz einnehmen könnte. Wir werden unser großes Vorhaben fallenlassen müssen. Selbst wenn ich persönlich eine Glocke nähme, könnte ich doch unmöglich neun Stunden an einem Stück läuten. Man wird ja nicht jünger, und außerdem muß ich um acht Uhr den Frühgottesdienst halten, abgesehen davon, daß mich der Neujahrsgottesdienst ohnehin bis nach Mitternacht beanspruchen wird. Ach ja! Der Mensch denkt, und Gott lenkt – es sei denn –» der Pfarrer drehte sich plötzlich um und musterte seinen Gast – «Sie haben vorhin so gefühlvoll vom Treble Bob gesprochen – sollten Sie etwa selbst ein Glöckner sein?»
«Nun», meinte Wimsey, «früher hab ich mal ein flottes Seil gezogen. Aber ob ich jetzt um diese Tageszeit noch –»
«Treble Bob?» erkundigte der Pfarrer sich hoffnungsvoll.
«Treble Bob, gewiß ja, aber es ist doch ziemlich lange her, seit –»
«Das kommt wieder!» rief der Pfarrer fiebernd. «Das kommt bestimmt wieder. Eine halbe Stunde mit den Handglocken –»
«Aber nun hör mal!» sagte Mrs. Venables.
«Ist das nicht wunderbar?» rief der Geistliche. «Ist das nicht Vorsehung? Daß uns gerade in diesem Augenblick ein Gast ins Haus geschickt wird, der wahrhaftig ein Glöckner ist und sich auf Kent Treble Bob Major versteht?» Er läutete nach dem Mädchen. «Hinkins soll sofort die Runde machen und die Jungs zu einer Übungsstunde mit den Handglocken zusammenrufen. Meine Liebe, ich fürchte, wir werden das Eßzimmer in Anspruch nehmen müssen, wenn es dir recht ist. Emily, sag Hinkins, daß ich hier einen Herrn habe, der den Zyklus mit uns läuten kann, und er soll sofort überall herumgehen und –»
«Einen Augenblick, Emily! Theodore, ist es eigentlich recht, von Lord Peter Wimsey, der einen Autounfall hatte und einen schweren Tag hinter sich hat, zu erwarten, daß er aufbleibt und von Mitternacht bis neun Uhr früh Glocken läutet? Ein paar kurze Durchgänge vielleicht, wenn es ihm wirklich nichts ausmacht, aber selbst das hieße seine Freundlichkeit schamlos ausnutzen.»
Der Pfarrer ließ die Mundwinkel heruntersinken wie ein gekränktes Kind, und Wimsey kam ihm rasch zu Hilfe.
«Aber nicht im mindesten, Mrs. Venables. Ich wüßte mir kein größeres Vergnügen, als den ganzen Tag und die ganze Nacht Glocken zu läuten. Ich bin überhaupt nicht müde. Ruhe brauche ich wirklich nicht. Ich möchte viel lieber läuten. Ich frage mich lediglich, ob ich den ganzen Zyklus durchhalten werde, ohne die dümmsten Fehler zu machen.»
«Natürlich werden Sie das, natürlich», beeilte sich der Pfarrer zu versichern. «Aber wie meine Frau sagt – ich glaube, es war wirklich sehr gedankenlos von mir. Neun Stunden sind zuviel. Wir sollten uns auf fünftausend Wechsel beschränken –»
«Um keinen Preis», sagte Wimsey. «Neun Stunden oder nichts. Ich bestehe darauf. Nur wird wahrscheinlich gar nichts daraus, wenn Sie mich erst gehört haben.»
«Pah, so ein Unsinn!» rief der Pfarrer. «Emily, sag zu Hinkins, er soll die Männer für – sagen wir halb sechs? – hierher zusammenrufen. Ich glaube, bis dahin können sie alle hier sein, außer Pratt vielleicht, der am Tuppers End wohnt, aber ich kann den achten selbst machen. Ach, ist das schön! Wirklich, ich kann es nicht fassen, welch glückliche Fügung Ihr Kommen ist. Da sieht man, wie wunderbar der Himmel selbst für unsere Freuden sorgt, so sie nur unschuldig sind. Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, Lord Peter, wenn ich heute abend in meiner Predigt kurz darauf eingehe? Eine richtige Predigt wird es ja eigentlich kaum – nur ein paar passende Gedanken zum Jahreswechsel und den Möglichkeiten, die das neue Jahr eröffnet. Darf ich fragen, wo Sie sonst zu läuten pflegen?»
«Heute gar nicht mehr; aber als Junge habe ich in Duke’s Denver geläutet, und wenn ich zu Weihnachten oder anderen Festen nach Hause komme, nehme ich gelegentlich noch mal ein Seil in die Hand.»
«Duke’s Denver? Natürlich – St. John ad Portam Latinam – eine hübsche kleine Kirche; ich kenn sie recht gut. Aber Sie werden zugeben, daß unsere Glocken besser sind! Nun denn, jetzt müssen Sie mich entschuldigen, damit ich rasch das Eßzimmer vorbereiten kann, für unsere Übungsstunde.»
Er eilte geschäftig hinaus.
«Es ist sehr lieb von Ihnen», sagte Mrs. Venables, «daß Sie sich für das Hobby meines Mannes opfern wollen. Er hat sich so sehr auf dieses Läuten heute nacht gefreut, und nun die vielen Enttäuschungen! Aber ich finde es schrecklich, Ihnen zuerst unsere Gastfreundschaft anzubieten und Sie dann die ganze Nacht schwer dafür arbeiten zu lassen.»
Das Vergnügen, versicherte Wimsey ihr erneut, sei ganz auf seiner Seite.
«Aber ich bestehe darauf, daß Sie vorher wenigstens ein paar Stunden Ruhe haben», war alles, was Mrs. Venables erwidern konnte. «Wenn Sie jetzt mitkommen und Ihr Zimmer ansehen möchten? Sie werden sich auf jeden Fall waschen und ein wenig frisch machen wollen. Um halb acht essen wir zu Abend, wenn es uns gelingt, Sie bis dahin meinem Mann zu entreißen, und dann müssen Sie sich wirklich etwas hinlegen. Hier habe ich Sie untergebracht – wie ich sehe, hat ja Ihr Diener schon alles für Sie vorbereitet.»
«Nun, Bunter», sagte Wimsey, nachdem Mrs. Venables sie alleingelassen hatte, damit er sich im unzureichenden Licht eines Öllämpchens und einer Kerze präsentabel machen konnte, «das scheint ein schönes Bett zu sein – aber es ist mir nicht vergönnt, darin zu schlafen.»
«Das habe ich bereits von dem Mädchen gehört, Mylord.»
«Wirklich schade, daß Sie mich nicht am Seil ablösen können, Bunter.»
«Ich versichere Euer Lordschaft, daß ich es zum erstenmal in meinem Dasein bereue, mich niemals praktisch mit der Campanologie befaßt zu haben.»
«Und mich freut es immer wieder, wenn ich etwas entdecke, was Sie nicht können. Haben Sie es je versucht?»
«Nur einmal, Mylord, und bei dieser Gelegenheit hätte es um Haaresbreite ein Unglück gegeben. Dank meiner beklagenswerten manuellen Ungeschicklichkeit hätte ich mich beinahe selbst am Seil erhängt, Mylord.»
«Bitte, reden wir nicht vom Erhängen», sagte Wimsey unglücklich. «Da wir zur Zeit nicht Detektiv spielen, mag ich auch nichts vom Geschäft hören.»
«Gewiß, Mylord. Wünschen Mylord rasiert zu werden?»
«Ja – wir wollen das neue Jahr mit sauberem Gesicht beginnen.»
«Sehr wohl, Mylord.»
Als Wimsey frisch gewaschen und rasiert ins Eßzimmer hinunterkam, war der Tisch fortgerückt, und acht Stühle standen im Kreis herum. Auf sieben von ihnen saßen Männer aller Altersstufen, vom verschrumpelten Greis mit langem Bart bis zum schüchternen Jüngling mit angeklebter Schmachtlocke; in der Mitte stand, unentwegt redend wie ein freundlicher Magier, der Pfarrer.
«Ah, da sind Sie ja! Wunderbar, ausgezeichnet! Also, Jungens, das ist Lord Peter Wimsey, den uns die Vorsehung geschickt hat, damit er uns aus der Not hilft. Wie er mir sagte, ist er aus der Übung, weshalb ihr sicher gern ein Stündchen opfern werdet, damit er wieder hineinfindet. Jetzt werde ich euch alle der Reihe nach vorstellen. Lord Peter, das ist Hezekiah Lavender, der für uns seit sechzig Jahren die Baßglocke läutet und sie noch zwanzig Jahre zu läuten gedenkt – nicht wahr, Hezekiah?»
Der kleine, knorrige Mann grinste mit zahnlosem Mund und streckte eine gichtige Hand aus.
«Sehr geehrt, Mylord. Jawohl, ist ’n schöner Batzen Jahre, daß ich die gute alte Tailor Paul läute. Wir kennen uns gut, sie und ich, und ich werd sie so lange läuten, bis sie irgendwann die neun Tailors für mich schlägt, jawohl.» (Glocken sind, so sei hier angemerkt, wie Schiffe stets weiblichen Geschlechts, auch wenn sie männliche Namen tragen.)
«Sie werden uns hoffentlich noch recht lange erhalten bleiben, Mr. Lavender.»
«Ezra Wilderspin», fuhr der Pfarrer fort. «Er ist der größte und stärkste von uns und läutet die kleinste Glocke. So geht es oft im Leben, nicht? Er ist übrigens unser Schmied und hat versprochen, gleich morgen früh Ihren Wagen zu holen.»
Der Schmied lachte verlegen. Er klappte eine Riesenhand um Wimseys Finger und zog sich verwirrt zu seinem Stuhl zurück.
«Jack Godfrey», machte der Pfarrer weiter in der Runde. «Er läutet die Nummer sieben. Wie läuft denn Batty Thomas jetzt, Jack?»
«Jetzt läuft sie gut, danke, Sir, seit wir die neuen Zapfen drin haben.»
«Jack hat die Ehre, die älteste Glocke zu läuten, die wir besitzen», erklärte der Pfarrer. «Batty Thomas wurde 1338 von Thomas Belleyetere aus Lynn gegossen, aber ihren Namen hat sie von Abt Thomas, der sie 1380 hat neu gießen lassen – stimmt’s Jack?»
«So ist es», pflichtete Mr. Godfrey bei.
«Mr. Donnington, Wirt zur Roten Kuh und unser Kirchenvorstand», fuhr der Pfarrer fort, indem er einen langen, dünnen Mann mit Silberblick nach vorn schob. «Ich hätte ihn in Anbetracht der Würde seines Amtes zuerst nennen sollen, aber seine Glocke ist nun einmal nicht so altehrwürdig wie Tailor Paul und Batty Thomas. Er läutet die Nummer sechs – Dimity –, eine ziemlich neue Glocke in ihrer jetzigen Gestalt, obschon aus altem Metall.»
«Und die wohlklingendste im ganzen Geläute», erklärte Mr. Donnington im Brustton der Überzeugung. «Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mylord.»
«Joe Hinkins, mein Gärtner. Ich glaube, Sie haben sich schon begrüßt. Er läutet die Nummer fünf. Harry Gotobed, Nummer vier; unser Totengräber, und welcher Name wäre schöner für einen Totengräber? Und Walter Pratt, unser Benjamin, der die Nummer drei läuten soll und seine Sache bestimmt recht gut machen wird. Ich bin ja so froh, daß wir dich beizeiten herbekommen haben, Walter. Tja, das wären wir alle, Mylord. Sie selbst, Lord Peter, werden den Platz des armen Wiliam Thoday an der Nummer zwei einnehmen. Sabaoth heißt sie; sie und die Nummer fünf wurden im selben Jahr wie Dimity neu gegossen – das war im Jubiläumsjahr der alten Königin. So, und nun an die Arbeit. Hier ist Ihre Handglocke, kommen Sie, setzen Sie sich neben Walter Pratt. Unser guter alter Freund Hezekiah wird die Leitung übernehmen, und Sie werden sehen, er singt seine Kommandos so laut und klar wie die Glocken, obwohl er die fünfundsiebzig schon überschritten hat. Hab ich recht, Alter?»
«Und wie», krächzte der alte Herr gutgelaunt. «Also, Männer, wenn ihr soweit seid, läuten wir einen kurzen Sechsundneunziger, nur damit dieser Herr wieder reinkommt, sozusagen. Sie wissen sicher noch, Mylord, daß Sie zuerst immer mit der Nummer eins der Führung wechseln und dann in die langsame Jagd gehen, bis sie wieder vorkommt und mit Ihnen tauscht.»
«Stimmt», meinte Wimsey. «Und dann gehe ich auf Platz drei und vier.»
«Ganz recht, Mylord. Und dann immer drei Schritte vor und einen zurück, bis Sie ganz am Schluß angelangt sind.»
«Nur zu, Chef.»
Der Alte nickte und fuhr fort: «Und du, Wally Pratt, paßt gefälligst auf, was du machst. Und daß du mir mit deiner Glocke nicht über Platz drei gehst! Das hab ich dir schon tausendmal gesagt. Also, Männer, wenn ihr fertig seid – los!»
Die Kunst des Wechsel- oder Variationsläutens ist eine englische Besonderheit und, wie alle englischen Besonderheiten, der übrigen Welt unbegreiflich. Für den musikalischen Belgier zum Beispiel ist ein wohlabgestimmtes Geläute dazu da, Melodien zu spielen. Der englische Campanologe dagegen sieht im Läuten von Melodien ein kindisches Spiel, das man getrost den Ausländern überläßt; zum rechten Gebrauch der Glocken gehört für ihn das Austüfteln mathematischer Permutationen und Kombinationen. Wenn er von der Musik seiner Glocken spricht, meint er nicht etwa Musik im Sinne der Musiker – noch weniger das, was der gewöhnliche Sterbliche unter Musik versteht. Für den gewöhnlichen Sterblichen indessen ist das Wechselläuten nur Lärm und eine Belästigung obendrein, erträglich höchstens bei großer Entfernung oder im milden Glanz sentimentaler Erinnerung. Der erfahrene Glöckner dagegen erkennt zwischen den verschiedenen Variationsmethoden tatsächlich musikalische Unterschiede; er schwört, daß es schöner klingt, wenn die hinteren Glocken etwa 7, 5, 6 oder 5, 6, 7 oder 5, 7, 6 laufen, und er kann die aufeinanderfolgenden Fünfer des Tittums-Systems oder die kaskadierenden Dreier des Queen’s-Wechsels, wenn sie kommen, heraushören und genießen. In Wahrheit aber will er mit alldem nur sagen, daß die englische Methode des Läutens mit Rad und Seil erst jeder einzelnen Glocke ihren vollsten und edelsten Klang verleiht. Seine Passion – und eine solche ist es – findet ihre Befriedigung in der mathematischen Vollendung und mechanischen Vollkommenheit, und wenn seine Glocke sich in eleganten, rhythmischen Bögen von der ersten an die letzte Stelle und wieder nach vorn begibt, erfaßt ihn eine heilige Begeisterung, wie sie nur aus der fehlerfreien Durchführung eines äußerst schwierigen Rituals erwächst. Ein unkundiger Augenzeuge dieser abendlichen Läuteprobe hätte die acht entrückten Gesichter, die acht angespannten Körper, die da reglos im verzauberten Kreis auf den Vorderkanten der acht Eßzimmerstühle saßen und in hocherhobenen rechten Händen zierlich ihre Handglocken auf- und abwärts bewegten, wahrscheinlich etwas komisch gefunden; die Akteure aber nahmen alles so ernst und wichtig wie ein Cricketturnier gegen Australien.
Nachdem Mr. Hezekiah Lavender drei Durchgänge hintereinander aufgerufen hatte, fanden die Glocken fehlerlos wieder in ihre natürliche Reihenfolge zurück.
«Ausgezeichnet», sagte der Pfarrer. «Das ging ja einwandfrei.»
«Bisher», meinte Wimsey.
«Seine Lordschaft wird’s schon machen», fand auch Mr. Lavender. «So, Männer, noch einmal. Was probieren wir jetzt, Sir?»
«Siebenhundertvier», antwortete der Pfarrer mit einem Blick auf die Uhr. «Mit einem Doppel in der Mitte, vor, fehl und heim, dann Wiederholung.»
«Sehr richtig. Sir. Und du, Wally Pratt, sperr die Ohren auf und hör auf die Nummer eins und laß deine Führungsglocke nicht aus den Augen. Wenn du so in der Gegend herumglotzt, schmeißt du uns alle raus.»
Der unglückliche Pratt trocknete sich die Stirn ab, hakte die Stiefelspitzen um die Stuhlbeine und nahm seine Glocke fest in die Hand. Ob aus Nervosität oder anderen Gründen, jedenfalls kam er zu Beginn der siebten Führung in Bedrängnis und «schmiß» erfolgreich alle raus, worauf ihm sofort wieder der Schweiß aus allen Poren brach.
«Halt!» grollte Mr. Lavender in angewidertem Ton. «Wenn du jetzt schon so anfängst, Wally Pratt, können wir das Läuten heute nacht gleich aufgeben. Du wirst doch langsam wissen, was du beim Scherschritt zu tun hast, oder?»
«Ruhig Blut, ruhig Blut», vermittelte der Pfarrer. «Laß dich nicht entmutigen, Wally. Du hast gewiß nur vergessen, auf sieben und acht die Doppelschläge einzulegen, nicht?»
«Ja, Sir.»
«Vergessen!» rief Mr. Lavender so erregt, daß sein Bart wackelte. «Jetzt nimm dir aber mal ein Beispiel an Seiner Lordschaft hier. Er hat nichts vergessen, und wo er so lange aus der Übung ist.»
«Na, nun ist’s gut, Hezekiah!» rief der Pfarrer wieder. «Sie dürfen gegen Wally nicht so hart sein. Schließlich hat nicht jeder sechzig Jahre Erfahrung.»
Mr. Lavender brummelte noch etwas vor sich hin und begann den ganzen Durchgang wieder von vorn. Diesmal behielt Mr. Pratt die Übersicht, und der Satz wurde bis zum Ausklang durchgeläutet.
«Gut gemacht, alle!» rief der Pfarrer. «Unsere Neuerwerbung wird uns Ehre machen, meinen Sie nicht, Hezekiah?»
«Aber bei der zweiten Führung wäre ich beinahe rausgekommen», antwortete Wimsey lachend. «Um ein Haar hätte ich vergessen, beim Scherschritt die vier Schläge auf Platz vier zu machen. Aber es ist noch mal gutgegangen.»
«Sie werden Ihre Sache schon richtig machen, Mylord», versicherte ihm Mr. Lavender. «Aber du, Wally Pratt –»
«Ich glaube», fiel der Pfarrer ihm schnell ins Wort, «wir sollten jetzt mal rasch in die Kirche gehen, damit Lord Peter sich mit seiner Glocke vertraut machen kann. Ihr könnt gleich alle mit rüberkommen und die Glocken schon für den Gottesdienst aufschwingen. Und Sie, Jack, sorgen dafür, daß Lord Peters Seil die richtige Länge bekommt. Jack Godfrey ist nämlich für die Glocken und die Seile zuständig», fügte er erklärend hinzu. «und hält sie für uns tipptopp in Ordnung.»
Mr. Godfrey lächelte.
«Da müssen wir aber die Schlaufen ein gutes Stück runterlassen für Seine Lordschaft», meinte er, indem er Wimsey mit den Augen maß. «So groß wie Will Thoday ist er nicht, da fehlt noch ’n ganzes Ende.»
«Daß Sie sich nur nicht täuschen», sagte Wimsey. «Um es mit der alten Glockeninschrift zu sagen: Ob ich auch klein, bin ich doch fein.»
«Natürlich», sagte der Pfarrer. «Jack hat auch gar nichts anderes sagen wollen. Aber Will Thoday ist wirklich ausgesprochen groß. So, wo habe ich eigentlich meinen Hut hingelegt? Agnes, Liebe! Agnes! Ich finde meinen Hut nicht. Ah, das ist er ja, natürlich. Und mein Schal. Was tät ich nur ohne dich! So, und jetzt hole ich nur noch den Schlüssel zum Turm – ach du meine Güte! Wann hatte ich denn zuletzt den Schlüssel?»
«Macht nichts, Sir», tröstete Mr. Godfrey. «Ich habe sämtliche Schlüssel bei mir, Sir.»
«Auch den Kirchenschlüssel?»
«Ja, Sir, und den für die Glockenstube.»
«Gut, gut – hervorragend. Lord Peter wird sicher gern einen Blick in die Glockenstube werfen wollen. Für mich, Lord Peter, ist der Anblick eines wirklich guten Geläutes – entschuldige, Liebe, was ist?»
«Ich sagte nur, vergiß das Abendessen nicht, und halte Lord Peter nicht zu lange auf.»
«Gewiß nicht, gewiß nicht, meine Liebe. Aber er möchte sicher gern die Glocken sehen. Und die Kirche selbst ist auch sehenswert, Lord Peter. Wir haben ein sehr interessantes Taufbecken aus dem 12. Jahrhundert, und das Dach gilt als eines der schönsten seiner Art – ja doch, ja, liebe Agnes, wir gehen ja schon.»
Die Haustür öffnete sich in eine glitzernde Welt. Es schneite noch immer stark; selbst die von den Glöcknern vor einer knappen Stunde getretenen Fußstapfen waren fast wieder zu. Sie schlenderten die Zufahrt hinunter und überquerten die Straße. Vor ihnen erhob sich schwarz und riesig die Kirche. Mr. Godfrey, der ihnen allen mit einer altmodischen Laterne voranging, führte sie durchs Friedhofstor und über einen von Grabsteinen gesäumten Weg zum Südportal der Kirche, dessen schweres Schloß beim Aufsperren ächzte. Ein schwerer ekklesiastischer Duft von altem Holz, Firnis, Trockenfäule, Gebetskissen, Gesangbüchern, Paraffinlampen, Blumen und Kerzen, die alle in der Wärme der Dauerbrandöfen friedlich vor sich hin backten, schlug ihnen aus dem Innern entgegen. Der spärliche Schein der Laterne streifte hier die Mohnkapsel einer Kirchenbank, da die Kehlung einer steinernen Säule, dort den schimmernden Messingrahmen einer Wandtafel. Die Schritte der Männer hallten unheimlich vom Gewölbe des Mittelschiffs wider.
«Alles Übergangsstil hier», flüsterte der Pfarrer, «bis auf das spätgotische Fenster am Ende des nördlichen Seitenschiffs, das Sie jetzt natürlich nicht sehen können. Von dem ursprünglichen normannischen Fundament ist nichts mehr übrig, nur noch ein paar Trommeln unter den Säulenschäften des Altarraums, aber wenn man danach sucht, kann man die Überreste der normannischen Apsis noch unter dem frühenglischen Sanktuarium finden. Wenn es erst heller ist, werden Sie bemerken – ach ja, Jack, unter allen Umständen! Jack Godfrey hat völlig recht, Lord Peter – wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich lasse mich immer so leicht von meiner Begeisterung fortreißen.»
Er führte seinen Gast unter den Glockenturm am Westende und von dort, immer dem schwachen Schein aus Jack Godfreys Laterne nach, eine steile, gewundene Treppe hinauf, deren steinerne Stufen von den Füßen unzähliger, längst verblichener Glöckner ausgetreten waren. Nach ungefähr einer Runde hielt die Prozession an; Schlüssel klirrten, und der Laternenschein wanderte nach rechts ab durch eine schmale Tür. Wimsey folgte ihm und fand sich in der Läutestube des Glockenturms wieder.
Sie war in keiner Weise bemerkenswert, nur vielleicht etwas höher als normal, was von der ungewöhnlichen Höhe des Turms kam. Am Tag mußte es hier schön hell sein, denn die drei Außenwände hatten je ein großes Fenster, während man durch ein paar unverglaste, aber mit Eisenstäben gegen Unfälle gesicherte Öffnungen im unteren Teil der Ostwand, etwas oberhalb der Obergadenfenster, ins Kircheninnere blicken konnte. Als Jack Godfrey seine Laterne abstellte und eine an der Wand hängende Paraffinlampe anzündete, sah Wimsey die acht Glockenseile, deren dicke Filze in ordentlichen Schlaufen an der Wand hingen, während die oberen Enden geheimnisvoll im Schatten verschwanden. Dann flammte das Licht auf, und die Wände bekamen Gestalt und Farbe. Sie waren roh verputzt und mit einem unter den Fenstern rundumlaufenden Spruch in gotischen Lettern verziert: «Sie haben nicht Sprache noch Zunge, doch ihre Stimmen werden unter ihnen vernommen, und ihr Klang schallet hinaus in alle Lande.» Darüber hingen verschiedenerlei Tafeln aus Holz, Messing, sogar aus Stein, zum Gedenken an glöcknerische Großtaten der Vergangenheit.
«Nach dieser Nacht hoffen wir eine weitere anbringen zu können», flüsterte der Pfarrer in Wimseys Ohr.
«Hoffentlich scheitert es nur nicht an mir», meinte Wimsey. «Wie ich sehe, gelten hier noch die alten Regeln der Glöcknergilde. Ha! ‹Halt brav den Takt, laß keinen aus, sonst kommst du ohne Zweifel raus. Für jeden Schmiß ein Hummpen Bier.› Da steht zwar nicht, wie groß der Humpen sein soll, aber die zwei M lassen Böses ahnen. ‹Wer seine Glocke überschlägt, zahlt einen Sechser, eh er geht.› Das ist billig, wenn man bedenkt, was dabei alles kaputtgehen kann. Dagegen finde ich einen Sechser für jeden Fluch ein bißchen teuer, meinen Sie nicht? Wo hängt denn nun meine Glocke?»
«Hier, Mylord.» Jack Godfrey hatte bereits das Seil der zweiten Glocke von der Wand genommen und die Schlaufen unter dem Filz gelöst, so daß es voll bis unten hing.
«Wenn Sie die Glocke aufgeschwungen haben», sagte er, «bringen wir die Schlaufen in der richtigen Höhe für Sie an. Oder soll ich sie für Sie aufschwingen?»
«Im Leben nicht», antwortete Wimsey. «Ein armseliger Glöckner, der seine Glocke nicht selbst aufschwingen kann.» Er faßte das Seil, und indem er es sanft nach unten zog, raffte er das lose Ende in der linken Hand auf. Leise und tremulierend erhob Sabaoth hoch oben im Turm ihre Stimme, gefolgt von ihren Geschwistern, als auch die anderen Glöckner der Reihe nach an ihre Seile traten. «Tin-tin-tin», rief Gaude in ihrem silberhellen Diskant; «Tan-tan», antwortete Sabaoth; «Din-din-din» und «Dan-dan-dan», machten John und Jericho, indem sie sich immer höher hinaufschwangen; «Bim-bam, bim-bam», folgten Jubilee und Dimity; «Bom», machte Batty Thomas; und schließlich kam Tailor Paul, majestätisch den großen Bronzemund öffnend mit ihrem tiefen «Dong».
Wimsey schwang seine Glocke gekonnt auf und brachte sie in Rückzugstellung; die Schlaufen wurden seiner Körpergröße angepaßt, und dann wurden auf Vorschlag des Pfarrers ein paar Proberunden geläutet, damit er sich «mit seiner Glocke vertraut machen» konnte.
«Ihr könnt eure Glocken aufgeschwungen lassen», sagte Mr. Hezekiah Lavender gnädig, nachdem diese letzte Probe zum Abschluß gebracht war, «aber bilde du dir ja nicht ein, Wally Pratt, das wär hier so üblich. Und jetzt hört mal zu, alle miteinander, damit ihr’s richtig mitkriegt. Ihr seid um Punkt Viertel vor elf hier und läutet zum Gottesdienst, wie immer, und wenn der Herr Pfarrer mit der Predigt fertig ist, kommt ihr still und wie sich’s gehört wieder hier rauf und nehmt eure Plätze ein. Und während unten gesungen wird, läute ich die neun Tailors und die Halbminutenschläge für das scheidende Jahr, verstanden? Dann nehmt ihr eure Seile in die Hand und wartet, bis die Uhr schlägt, und wenn die fertig ist, sag ich: ‹Los!›, und ihr seht mir ja zu, daß ihr bereit seid und loslegen könnt. Und wenn der Herr Pfarrer unten fertig ist, hat er versprochen, daß er raufkommt und auch mal ein Seil in die Hand nimmt, falls einer mal ’ne Pause nötig hat, und das ist ja nun wirklich sehr freundlich von ihm. Und du, Alf Donnington, wirst mir ja das Übliche nicht vergessen!»
«Ich doch nicht», antwortete Mr. Donnington. «Also, bis nachher, Jungs.»
Die Laterne verließ als erste die Läutestube, gefolgt von lautem Füßegetrappel.
«Und nun», sagte der Pfarrer, «und nun, Lord Peter, möchten Sie sicher mitkommen und sich – gütiger Himmel!» entfuhr es ihm, als sie plötzlich auf der Wendeltreppe im Dunkeln herumtappten. «Wo in aller Welt ist denn nur Jack Godfrey? Jack! Er ist schon mit den andern hinuntergegangen. Ach ja, der arme Kerl, wahrscheinlich will er endlich nach Hause zum Abendessen. Wir dürfen nicht so selbstsüchtig sein. Dummerweise hat er den Schlüssel zur Glockenstube, und ohne den können wir unsere Forschungen nicht betreiben. Nun ja, morgen sehen Sie ohnehin viel besser. Ja, Joe, ja, wir kommen! Vorsicht auf der Treppe, Mylord – die Stufen sind sehr ausgetreten, vor allem in der Mitte. So, da sind wir, sicher und wohlbehalten. Ausgezeichnet! Und nun, bevor wir gehen, Lord Peter, möchte ich Ihnen noch so gern –»
Die Uhr im Turm schlug drei Viertel.
«Du meine Güte!» rief der Pfarrer schuldbewußt. «Und um halb sollte doch gegessen werden! Meine Frau – wir müssen bis heute nacht warten. Sie werden eine allgemeine Vorstellung von der Majestät und Größe unserer Kirche bekommen, wenn Sie dem Gottesdienst beiwohnen, obschon es viele hochinteressante Einzelheiten zu sehen gibt, die der Besucher nur zu leicht übersieht, wenn er nicht eigens darauf hingewiesen wird. Das Taufbecken zum Beispiel – Jack! Kommen Sie doch mal einen Augenblick mit der Laterne hierher – eines an unserem Taufbecken ist nämlich höchst ungewöhnlich, das möchte ich Ihnen gern zeigen. Jack!»
Aber Jack, aus unerfindlichen Gründen stocktaub, stand schon bei der Tür und klimperte mit den Kirchenschlüsseln, und der Pfarrer schickte sich leise seufzend in seine Niederlage.
«Ich fürchte, es ist wahr», sagte er, als sie den Weg hinuntergingen, «daß ich nur zu gern die Zeit vergesse.»
«Vielleicht», entgegnete Wimsey höflich, «liegt es daran, daß Sie immer in und bei der Kirche sind; das bringt einen der Ewigkeit so nah.»
«Sehr wahr», sagte der Pfarrer, «sehr wahr – obwohl doch der Mahnmale genug sind für das Verrinnen der Zeit. Erinnern Sie mich daran, daß ich Ihnen morgen das Grab von Nathaniel Perkins zeige – das war einer der Großen dieses Ortes und ein bekannter Sportler. Einmal war er Ringrichter für den großen Tom Sayers – ein bekannter Mann in allen Ringen des Umkreises, und als er starb … wir sind zu Hause. Ich erzähle Ihnen später weiter von Nathaniel Perkins. So, meine Liebe, wir sind wieder da! So spät nun auch wieder nicht. Kommen Sie, kommen Sie, Lord Peter, Sie müssen kräftig zu Abend essen, um sich für die bevorstehenden Strapazen zu stärken. Was haben wir denn hier? Ochsenschwanz? Ausgezeichnet! Das hält vor! Hoffentlich mögen Sie Ochsenschwanz, Lord Peter. Herr segne diese …»
Zu Fest und Freude singen wir mit frohem Klang. Der armen Seele läuten wir den Grabgesang.
Glöcknerregel in Southill, Bedfordshire
Nach dem Essen machte Mrs. Venables energisch ihre Autorität geltend. Des Pfarrers ungeachtet, der hilflos ein unaufgeräumtes Bücherregal nach Christopher Woollcotts Geschichte der Glocken von Fenchurch St. Paul durchstöberte, schickte sie Lord Peter auf sein Zimmer.
«Ich kann mir nicht denken, wo es nur geblieben sein könnte», sagte der Pfarrer. «Ich bin leider so schrecklich unordentlich. Aber vielleicht möchten Sie sich das hier einmal ansehen – ein kleiner Beitrag von mir selbst zur hohen Kunst des Glockenläutens. Ich weiß, meine Liebe, ich weiß – ich darf Lord Peter nicht länger aufhalten – wie rücksichtslos von mir.»
«Du brauchst auch selbst etwas Ruhe, Theodore.»
«Ja, ja, meine Liebe. Gleich, gleich. Ich will nur noch –»
Wimsey sah, daß der Pfarrer nur zum Schweigen zu bringen war, wenn er ihn schnöde stehenließ. Also zog er sich ins obere Stockwerk zurück, wo ihn Bunter in Empfang nahm, der ihn mitsamt einer Wärmflasche unters Federbett steckte und dann die Tür schloß.
Im Kamin prasselte ein Feuer. Wimsey zog die Lampe näher an sein Bett, klappte das Büchlein auf, das ihm der Pfarrer in die Hand gedrückt hatte, und studierte die Titelseite:
Eine Untersuchung
der mathematischen Theorie
des Wechselläutens
Mit Anweisungen für
die Beendigung der Durchgänge
aus allen Phasen
nach allen anerkannten Methoden
Auf einer neuen, wissenschaftlichen
Grundlage
von
Theodore Venables, M. A.
Pfarrer von Fenchurch St. Paul
vormals Scholar des Caius Coll., Cambr.
Verfasser der Schriften:
«Wechselläuten für ländliche Kirchen»,
«Fünfzig kurze Durchgänge Grandsire Triples» etc.
«Gott ist emporgefahren mit fröhlichem Klang.»
MCMII
Die Schrift war so schlaffördernd wie der geschmorte Ochsenschwanz; im Zimmer war es warm; der Tag war anstrengend gewesen; vor Lord Peters Augen begannen die Zeilen zu schwimmen. Er nickte mit dem Kopf. Eine Kohle kullerte vom Rost. Wimsey schrak hoch und las: « … Wenn die 5 dem Lauf der 7 folgt (sagt Shipway), und die 7 der 6, so sind sie recht, sofern die kleinen Glocken 2, 3 und 4 in den vorhergehenden Läufen anweisungsgemäß geläutet wurden; wenn aber die 6 und die 7 ohne die 5 beieinander sind, so ist die 5 in die Jagd zu rufen …»
Lord Peter nickte hinüber ins Reich der Träume.
Glockengeläute riß ihn aus dem Schlaf.
Im ersten Augenblick wußte er nicht, was los war – dann stieß er das Federbett zurück, setzte sich verschlafen und vorwurfsvoll auf und begegnete Bunters ruhig-gelassenem Blick.
«Großer Gott! Ich war eingeschlafen! Warum haben Sie mich nicht geweckt? Jetzt haben sie ohne mich angefangen.»
«Mrs. Venables hat angeordnet, Mylord, Sie frühestens um halb zwölf zu wecken, und der Herr Pfarrer läßt Ihnen ausrichten, sie würden sich zum Einläuten des Gottesdienstes mit sechs Glocken begnügen.»
«Wieviel Uhr haben wir jetzt?»
«Gleich fünf Minuten vor elf, Mylord.»
Noch während er sprach, verstummte das Geläute, und Jubilee begann mit ihrem Fünfminutenläuten.
«Hol’s der Kuckuck!» rief Wimsey. «So geht das doch nicht. Ich muß hin und den alten Knaben predigen hören. Meine Haarbürste! Schneit es noch?»
«Immer stärker, Mylord.»
Wimsey machte hastig Toilette und stürzte nach unten. Bunter folgte ihm gemessenen Schrittes. Sie traten zur Tür hinaus und gingen, Bunters Taschenlampe folgend, zwischen den Gebüschen hindurch zur Straße, überquerten diese und traten zugleich mit dem dröhnenden Schlußakkord der Orgel in die Kirche. Chor und Pfarrer waren schon an ihren Plätzen. Wimsey, der im gelben Licht der Kandelaber um sich blinzelte, entdeckte schließlich auf einer Stuhlreihe unterhalb des Turms seine Glöcknerkollegen. Während er möglichst unauffällig über den Kokosläufer in ihre Nähe strebte, ging Bunter, der sich alle notwendigen Informationen schon vorher besorgt zu haben schien, selbstsicher auf eine der Bänke im nördlichen Seitenschiff zu und nahm neben Emily aus dem Pfarrhaus Platz. Der alte Hezekiah Lavender begrüßte Wimsey mit einem erfreuten Glucksen und hielt ihm ein Gesangbuch unter die Nase, als er sich zum Gebet hinkniete.
«Geliebte Brüder –»
Wimsey stand eilfertig auf und sah sich um.
Auf den ersten Blick fühlte er sich förmlich erschlagen von den edlen Maßen der Kirche, in deren geräumiger Weite sich die versammelte Gemeinde – obschon ganz beachtlich für so einen kleinen Ort und mitten in der Winternacht – nahezu verlor. Das große Mittelschiff und die dämmrigen Seitenschiffe, die erhabene Höhe des Altarraums – abgetrennt, aber nicht verdeckt durch eine kunstvoll gearbeitete Chorschranke –, die intime Schönheit des Chorgestühls mit den zierlichen Säulen, elegant gerippten Gewölben und fünf schmalen Spitzbögen an der Ostseite, das alles nahm seine Aufmerksamkeit gefangen und lenkte sie weiter auf das indirekt beleuchtete Allerheiligste. Von dort wanderte sein Blick dann wieder zurück ins Mittelschiff mit seinen kräftigen, doch schlanken Säulen, die wie Springbrunnen aus dem Boden schossen und sich nach oben gleich Blütenblättern zu eleganten Gewölberippen entfalteten, die das Dachgebälk trugen. Und dort, unter dem spitz zulaufenden Dach, verharrte sein Blick in staunendem Entzücken. Da schwebten in unvorstellbarer Höhe, mit schimmerndem Haar und vergoldeten Flügeln, die sanft das dämmrige Licht widerspiegelten, Engel über Engel, Cherubim und Seraphim in himmlischen Chören, an allen Längs- und Querbalken, die erhobenen Gesichter einander zugewandt.
«Mein Gott», flüsterte Wimsey nicht ohne Ehrfurcht, und leise deklamierte er vor sich hin: «Er fuhr auf dem Cherub und flog daher; er schwebte auf den Fittichen des Windes.»
Mr. Hezekiah Lavender verpaßte dem neuen Kollegen einen saftigen Rippenstoß, und Wimsey sah, daß die Gemeinde sich zum Sündenbekenntnis niedergelassen hatte und nur er allein noch stand und mit offenem Mund in die Gegend gaffte. Hastig blätterte er die Seiten seines Gesangbuchs um und richtete sich darauf ein, die richtigen Antworten zu geben. Mr. Lavender, offenbar überzeugt, es entweder mit einem Schwachsinnigen oder mit einem Heiden zu tun zu haben, unterstützte ihn, indem er für ihn die Psalmen heraussuchte und ihm jeden Vers laut ins Ohr brüllte.
«… Lobet ihn mit Pauken und Reigen; lobet ihn mit Saiten und Pfeifen.»
Die schrillen Stimmen des gewandeten Chors stiegen zum Dach empor und schienen ihr Echo zu finden in den goldenen Mündern der Engel.
«Lobet ihn mit hellen Cymbeln, lobet ihn mit wohlklingenden Cymbeln!»
«Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!»
Es ging auf Mitternacht zu. Der Pfarrer trat an die Stufen des Chorraums und hielt mit seiner sanften, gelehrten Stimme eine schlichte und bewegende kleine Ansprache, in der von Gottes Lob die Rede war, doch nicht nur mit Saiten und Pfeifen, sondern auch mit den schönen Glocken ihrer geliebten Kirche, und dann sprach er auf seine fromme Weise von der Anwesenheit des durchreisenden Fremden – «Bitte, dreht euch nicht um, starrt ihn nicht an, das wäre weder höflich noch andächtig» –, den «der Zufall, wie die Menschen es nennen», hierhergeführt habe, damit er bei diesem gottesfürchtigen Werk helfe. Lord Peter errötete, der Pfarrer sprach seinen Segen, die Orgel ließ die Eröffnungstakte eines Chorals erschallen, und Hezekiah Lavender rief volltönend: «Los, Männer!» Die Glöckner erhoben sich unter viel gedämpftem Füßescharren von ihren Stühlen und wendelten sich die Turmtreppe hinauf. Jacken wurden ausgezogen und an Nägel gehängt, und Wimsey, der in der Läutestube auf einer Bank nahe der Tür eine riesige braune Kanne und neun Krüge entdeckte, nahm mit Vergnügen zur Kenntnis, daß der Wirt der Roten Kuh wahrhaftig das «Übliche» zur Labsal der Glöckner besorgt hatte.
Die acht Männer begaben sich an ihre Plätze, und Hezekiah zog seine Uhr zu Rate.
«Zeit!» rief er.
Damit spuckte er in die Hände, packte den Filz der Tailor Paul und brachte die aufgeschwungene Glocke mit sanftem Zug aus dem Gleichgewicht.
Dong-dong-dong; Pause; dong-dong-dong; Pause; dong-dong-dong; die neun Tailors, die Zählerschläge, die das Dahinscheiden eines Mannes verkünden. Das Jahr ist tot, zwölf weitere Schläge läuten es aus, einer für jeden Monat. Stille. Und dann die dünnen, lieblichen Schläge der Turmuhr über ihnen, erst die vier Viertel und dann die zwölf Schläge der Mitternacht. Die Glöckner ergriffen ihre Seile.
«Los!»
Die Glocken gaben Laut: Gaude, Sabaoth, John, Jericho, Jubilee, Dimity, Batty Thomas und Tailor Paul lärmten und jubelten hoch droben im finsteren Turm, ihre großen Münder hoben und senkten sich, eherne Zungen schmetterten, große Räder drehten sich zum Tanz der auf- und niedergehenden Seile. Tin-tan-din-dan-bim-bam-bom-dong – Tan-tin-din-dan-bam-bim-dong-bom – Tin-tan-dan-din-bim-bam-bom-dong – Tan-tin-dan-din-bam-bim-dong-bom – jede Glocke an ihrem Platz mit melodischem Klang, jagten vor und zurück, verweilten, wechselten die Plätze, fielen ans Ende ab, legten ihre Dreier und Vierer ein und schoben sich wieder nach vorn, um den Tanz von neuem anzuführen. Über die flachen weißen Wüsten des Moorlandes, die schnurgeraden stahlschwarzen Gräben und Deiche, die windgebeugten, ächzenden Pappeln hinweg wehte die Musik der Glocken aus den schneegedämpften Schallöchern der Glockenstube, wirbelte in lärmenden Böen südwärts und westwärts über das schlafende Land dahin – die kleine Gaude, die silberne Sabaoth, die kraftvollen John und Jericho, die freudige Jubilee, die süße Dimity und die alte Batty Thomas, dazwischen mächtig und grollend wie ein Riese die große Tailor Paul. Auf und ab gingen die Schatten der Glöckner an den Wänden, auf und ab wanderten die roten Filze an den Seilen, stiegen hoch hinauf zum Dach, senkten sich tief zum Boden hinunter, und auf und ab und auf und ab in ihren Läufen schwangen die Glocken von Fenchurch St. Paul.