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Lord Peter Wimseys schwerster Fall: Morgens um drei Uhr wird Captain Cathcart tot aufgefunden. Für den Amateurdetektiv eine besonders heikle Angelegenheit, denn Cathcart hätte sein zukünftiger Schwager sein sollen. Des Mordes verdächtigt wird der Herzog von Denver, Wimseys Bruder, der zu den Vorwürfen schweigt. Indes behauptet Wimseys Schwester, ihren Verlobten umgebracht zu haben. Und die überaus diskreten Zeugen tragen mehr zur Vernebelung als zur Aufklärung der merkwürdigen Affäre bei …
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Seitenzahl: 423
Dorothy L. Sayers
Diskrete Zeugen
Ein Fall für Lord Peter Wimsey
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Otto Bayer
Ihr Verlagsname
Lord Peter Wimseys schwerster Fall: Morgens um drei Uhr wird Captain Cathcart tot aufgefunden. Für den Amateurdetektiv eine besonders heikle Angelegenheit, denn Cathcart hätte sein zukünftiger Schwager sein sollen. Des Mordes verdächtigt wird der Herzog von Denver, Wimseys Bruder, der zu den Vorwürfen schweigt. Indes behauptet Wimseys Schwester, ihren Verlobten umgebracht zu haben. Und die überaus diskreten Zeugen tragen mehr zur Vernebelung als zur Aufklärung der merkwürdigen Affäre bei …
Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, und sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des Jahrhunderts.
Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.
Die Lösung des FALLES VON RIDDLESDALEMit einem Bericht über denProzeß vor dem Oberhausgegen denHERZOG VON DENVERwegenMORDES
Seine unnachahmlichen Geschichten aus Tongking haben nie ein eigentliches Ende, und diese in seinem vollendetsten Stil geschriebene hat noch weniger ein Ende als die meisten anderen. Aber die ganze Erzählung ist durchdrungen von dem Duft der Weihrauchstäbchen und einer hochnoblen Gesinnung, und die Hauptpersonen sind beide von edler Geburt.
The Wallet of Kai-Lung
«O! Wer hat die Tat vollbracht?»
Othello
Lord Peter Wimsey rekelte sich wohlig zwischen den Laken des Hôtel Meurice. Nach den Anstrengungen bei der Lösung des Rätsels vom Battersea Park war er Sir Julian Frekes Rat gefolgt und in Urlaub gefahren. Auf einmal war er es leid gewesen, allmorgendlich mit Blick auf den Green Park zu frühstücken; er hatte eingesehen, daß die Ersteigerung von Erstausgaben eine unzureichende Betätigung für einen Mann von dreiunddreißig Jahren war; und in London war alles überzüchtet, sogar die Verbrechen. Also hatte er Wohnung und Freunde verlassen und war in die Wildnis Korsikas geflüchtet. Drei Monate lang hatte er Briefen, Zeitungen und Telegrammen entsagt. Er war durch die Berge gewandert, hatte aus vorsichtiger Entfernung die wilde Schönheit der korsischen Bäuerinnen bewundert und die Vendetta in ihrer angestammten Heimat studiert. Unter solchen Umständen erschien Mord nicht nur vernünftig, sondern geradezu liebenswert. Bunter, sein ergebener Diener und Hilfsspürhund, hatte selbstlos seine kultivierten Gepflogenheiten geopfert und es zugelassen, daß sein Herr schmutzig und sogar unrasiert herumlief; seine getreue Kamera hatte zur Abwechslung statt Fingerabdrücken nur rauhe Landschaft ablichten dürfen. Es war sehr erholsam gewesen.
Nun aber hatte der Ruf des Blutes Lord Peter eingeholt. Sie waren gestern abend spät mit einem miserablen Zug nach Paris zurückgekehrt und hatten ihr Gepäck abgeholt. Das Herbstlicht, das jetzt gedämpft durch die Vorhänge hereindrang, strich liebkosend über die Fläschchen mit den silbernen Verschlüssen auf dem Toilettentisch und umfloß die Umrisse einer elektrischen Lampe und des Telefons. Aus der Nähe verkündete das Rauschen fließenden Wassers (w&k), daß Bunter das Bad einlaufen ließ und die duftende Seife, das Badesalz, den großen Badeschwamm, für den es auf Korsika keine Verwendung gegeben hatte, und die prächtige Bürste mit dem langen Stiel zurechtlegte, die einem so schön das Rückgrat massierte. «Gegensätze», philosophierte Lord Peter schlaftrunken, «sind das Leben. Korsika – Paris – dann London … Guten Morgen, Bunter.»
«Guten Morgen, Mylord. Ein schöner Morgen, Mylord. Das Bad ist bereitet.»
«Danke», sagte Lord Peter. Er blinzelte ins Sonnenlicht.
Es war ein herrliches Bad. Während er hineinsank, verstand er plötzlich nicht mehr, wie er auf Korsika hatte existieren können. Selig planschte er im Wasser und sang ein paar Takte dazu. In einer schläfrigen Pause hörte er den Zimmerkellner Kaffee und Hörnchen bringen. Kaffee und Hörnchen! Er erhob sich triefend aus der Wanne, rubbelte sich genüßlich ab, hüllte seinen so lange kasteiten Körper in einen seidenen Morgenrock und ging ins Zimmer zurück.
Zu seinem maßlosen Erstaunen sah er, wie Mr. Bunter seelenruhig das Toilettenköfferchen wieder packte. Ein zweiter erstaunter Blick fiel auf die übrigen Koffer, die – gestern abend kaum geöffnet – bereits wieder gepackt und mit Anhängern versehen reisefertig dastanden.
«Nanu, Bunter, was soll das?» fragte Seine Lordschaft. «Wir bleiben doch vierzehn Tage hier.»
«Verzeihung, Mylord», entgegnete Mr. Bunter untertänig, «aber nachdem ich die Times gesehen hatte (die jeden Morgen per Flugzeug hierher expediert wird, Mylord, und das alles in allem sehr zügig), zweifelte ich nicht daran, daß Eure Lordschaft den Wunsch haben würde, sich sofort nach Riddlesdale zu begeben.»
«Riddlesdale!» rief Peter. «Was gibt’s denn da? Ist etwas mit meinem Bruder?»
Statt einer Antwort reichte Mr. Bunter ihm die Zeitung, aufgeschlagen bei der Überschrift:
GERICHTLICHE VORUNTERSUCHUNG IM FALL RIDDLESDALE
HERZOG VON DENVER UNTER MORDVERDACHT VERHAFTET
Lord Peter starrte wie hypnotisiert.
«Ich dachte, Eure Lordschaft würde sich nichts entgehen lassen wollen», sagte Mr. Bunter, «darum habe ich mir die Freiheit genommen –»
Lord Peter gab sich einen Ruck.
«Wann fährt der nächste Zug?» fragte er.
«Ich bitte Mylord um Verzeihung – ich dachte, Mylord würde den schnellsten Weg wählen wollen. Darum habe ich mir erlaubt, zwei Plätze in der Victoria zu buchen. Das Flugzeug startet um halb zwölf.»
Lord Peter sah auf die Uhr.
«Zehn», sagte er. «Sehr gut. Sie haben recht getan. Du meine Güte! Der gute Gerald wegen Mordes verhaftet. Muß ihm ungemein peinlich sein, dem Ärmsten. War immer so dagegen, daß ich dauernd mit der Polizei zu tun hatte. Jetzt ist er selbst dran. Lord Peter Wimsey im Zeugenstand – sehr unangenehm für die Gefühle eines Bruders. Herzog von Denver auf der Anklagebank – noch schlimmer. Mein Gott – aber frühstücken sollte man trotzdem.»
«Sehr wohl, Mylord. Im Innenteil der Zeitung ist ausführlich über die Voruntersuchung berichtet.»
«Aha. Wer bearbeitet übrigens den Fall?»
«Mr. Parker, Mylord.»
«Parker? Hervorragend! Der gute alte Parker. Wie mag er’s nur fertiggebracht haben, sich den Fall übertragen zu lassen? Wie sieht’s denn aus, Bunter?»
«Wenn ich dazu etwas sagen darf, Mylord, ich glaube, die Ermittlungen werden sich sehr interessant gestalten. Die Indizienkette enthält einige überzeugende Glieder, Mylord.»
«Kriminologisch gesehen bestimmt sehr interessant», antwortete Seine Lordschaft, indem er sich gutgelaunt seinem café au lait widmete, «aber für meinen Bruder muß es teuflisch unbequem sein, sich der Kriminologie zuwenden zu müssen, wie?»
«Gewiß, Mylord», sagte Mr. Bunter. «Aber es heißt ja, nichts geht über ein persönliches Interesse.»
«In Riddlesdale, Nord-Yorkshire, fand heute die gerichtliche Voruntersuchung des Todes von Hauptmann Denis Cathcart statt, dessen Leiche am frühen Donnerstagmorgen um drei Uhr vor der Eingangstür zum Wintergarten von Riddlesdale Lodge, dem Jagdhaus des Herzogs von Denver, gefunden worden war. Nach Zeugenaussagen war der Verstorbene am Abend zuvor mit dem Herzog von Denver in Streit geraten und später in einem kleinen Gebüsch in der Nähe des Hauses erschossen worden. In der Nähe des Tatorts wurde eine dem Herzog gehörende Pistole gefunden. Die Voruntersuchung endete mit einer Anklage gegen den Herzog von Denver wegen Mordes. Lady Mary Wimsey, die Schwester des Herzogs, die mit dem Verstorbenen verlobt gewesen war, brach nach ihrer Zeugenaussage zusammen und liegt seitdem schwerkrank in Riddlesdale Lodge. Die Herzogin von Denver ist gestern aus London herbeigeeilt und war bei der Voruntersuchung zugegen. Ausführlicher Bericht auf Seite 12.»
Armer Gerald! dachte Lord Peter, während er zur Seite 12 weiterblätterte. Und arme Mary! Ob sie den Burschen wirklich geliebt hat? Mutter hat es schon immer bestritten, aber Mary selbst sprach ja nie darüber.
Der ausführliche Bericht begann mit einer Schilderung des Dörfchens Riddlesdale, wo der Herzog von Denver sich vor kurzem ein kleines Jagdhaus für die Saison gemietet hatte. Zur Zeit des tragischen Geschehens war der Herzog mit einer Jagdgesellschaft in Riddlesdale Lodge. Lady Mary Wimsey hatte in Abwesenheit der Herzogin die Rolle der Gastgeberin übernommen. Weitere Gäste waren Oberst Marchbanks und Gattin, der Ehrenwerte Frederick Arbuthnot, Mr. und Mrs. Pettigrew-Robinson und der Verstorbene, Hauptmann Denis Cathcart.
Erster Zeuge war der Herzog von Denver, der angab, den Leichnam entdeckt zu haben. Er sagte, er habe am Donnerstag, dem 14. Oktober, morgens früh um drei Uhr durch die Tür zum Wintergarten ins Haus gehen wollen, als er mit dem Fuß an etwas gestoßen sei. Er habe seine Taschenlampe eingeschaltet und den Körper Denis Cathcarts zu seinen Füßen liegen sehen. Er habe ihn sofort umgedreht und gesehen, daß Cathcart in die Brust geschossen worden war. Er sei tot gewesen. Während der Herzog noch mit dem Toten beschäftigt gewesen sei, habe er einen Schrei im Wintergarten gehört, und als er aufsah, habe Lady Mary schreckensstarr in der Tür gestanden. Sie sei zu ihm herausgekommen und habe sofort gerufen: «Mein Gott, Gerald, du hast ihn getötet!» (Unruhe.)[*]
Untersuchungsrichter: «Hat diese Bemerkung Sie überrascht?»
Herzog von D.: «Nun, ich war von dem Ganzen sehr erschrocken und überrascht. Ich glaube, ich habe zu ihr gesagt: ‹Sieh nicht her›, und sie sagte: ‹Ach, es ist Denis! Wie kann denn das passiert sein? Ein Unglück?› Ich bin bei dem Toten geblieben und habe sie ins Haus geschickt, um die Leute zu wecken.»
Untersuchungsrichter: «Hatten Sie erwartet, Lady Mary Wimsey im Wintergarten zu sehen?»
Herzog von D.: «Wirklich, wie ich schon sagte, ich war im ganzen so erstaunt, daß ich mir darüber keine Gedanken gemacht habe.»
Untersuchungsrichter: «Erinnern Sie sich, was sie anhatte?»
Herzog von D.: «Ich glaube nicht, daß sie im Pyjama war.» (Gelächter.) «Ich glaube, sie hatte einen Mantel an.»
Untersuchungsrichter: «Habe ich richtig verstanden, daß Lady Mary Wimsey mit dem Verstorbenen verlobt war?»
Herzog von D.: «Ja.»
Untersuchungsrichter: «Kannten Sie ihn gut?»
Herzog von D.: «Er war der Sohn eines alten Freundes meines Vaters. Seine Eltern sind tot. Ich glaube, er hat vorwiegend im Ausland gelebt. Ich habe ihn während des Krieges kennengelernt, und 1919 ist er nach Denver gekommen. Anfang dieses Jahres hat er sich dann mit meiner Schwester verlobt.»
Untersuchungsrichter: «Mit Ihrem und dem Einverständnis der Familie?»
Herzog von D.: «Ja, natürlich.»
Untersuchungsrichter: «Was für ein Mensch war Hauptmann Cathcart?»
Herzog von D.: «Nun – er war ein Gentleman. Ich weiß nicht, was er getan hat, bevor er 1914 zur Armee ging. Wahrscheinlich hat er von seinem Vermögen gelebt; sein Vater war recht wohlhabend. Ausgezeichneter Schütze, guter Spieler und so weiter. Ich habe nie etwas Nachteiliges über ihn gehört – bis zu jenem Abend.»
Untersuchungsrichter: «Und was hörten Sie da?»
Herzog von D.: «Tja – das war so – es war schon verteufelt komisch. Er – wenn jemand anders mir das mitgeteilt hätte als Tommy Freeborn, hätte ich es niemals geglaubt.» (Unruhe.)
Untersuchungsrichter: «Ich muß Euer Gnaden leider fragen, was Sie dem Verstorbenen konkret vorzuwerfen hatten.»
Herzog von D.: «Nun, ich habe nicht – ich werfe ihm nicht direkt etwas vor. Ein alter Freund von mir hatte eine Andeutung gemacht. Natürlich glaubte ich an einen Irrtum, darum bin ich auch sofort zu Cathcart gegangen, aber zu meiner Verwunderung hat er es praktisch zugegeben! Darüber gerieten wir beide in Harnisch, und er sagte zu mir, ich solle mich zum Teufel scheren, dann rannte er selbst aus dem Haus.» (Neuerliche Unruhe.)
Untersuchungsrichter: «Wann hat dieser Streit stattgefunden?»
Herzog von D.: «Am Mittwochabend. Da habe ich ihn zum letztenmal gesehen.» (Unerhörte Unruhe.)
Untersuchungsrichter: «Bitte, bitte, wir können solche Störungen hier nicht dulden. Nun, Euer Gnaden, könnten Sie mir, soweit Sie sich daran erinnern, den Verlauf des Streites genau schildern?»
Herzog von D.: «Also, das war so. Wir hatten nach einem langen Tag im Moor früh zu Abend gegessen, und so gegen halb zehn war uns allen nach Zubettgehen. Meine Schwester und Mrs. Pettigrew-Robinson zogen sich nach oben zurück, und wir tranken noch einen letzten Schluck im Billardzimmer, als Fleming – das ist mein Diener – mit den Briefen kam. Die Post kommt bei uns abends zu den unmöglichsten Zeiten, denn wir sind immerhin zweieinhalb Meilen vom Dorf entfernt. Nein – ich war in diesem Moment nicht im Billardzimmer –, ich schloß gerade die Waffenkammer ab. Der Brief war von einem alten Freund von mir, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte – Tom Freeborn –, ich kannte ihn von Oxford.»
Untersuchungsrichter: «Ein Studienkollege?»
Herzog von D.: «Ja, vom Christ Church College. Er schrieb mir, er habe von der Verlobung meiner Schwester in Ägypten gelesen.»
Untersuchungsrichter: «In Ägypten?»
Herzog von D.: «Ich meine, er war in Ägypten – Tom Freeborn, verstehen Sie? –, darum hatte er nicht schon eher geschrieben. Er ist Ingenieur. Sehen Sie, er ist nach dem Krieg nach Ägypten gegangen, und dort an den Nilquellen bekommt er die Zeitungen nicht so regelmäßig. Er schrieb, ich solle es ihm nicht übelnehmen, wenn er sich in eine so delikate Angelegenheit einmische und so weiter, aber ob ich wisse, wer dieser Cathcart sei? Er habe ihn während des Krieges in Paris kennengelernt, wo er sich seinen Lebensunterhalt mit Falschspiel verdient habe – er schrieb, er könne das beschwören, er könne sich noch genau an einen Streit erinnern, den es da in Frankreich irgendwo gegeben habe. Er könne sich zwar denken, schrieb er, daß ich ihm sicher am liebsten den Schädel einschlagen würde – ihm, Freeborn, meine ich –, weil er sich da einmische, aber er habe das Foto des Mannes in der Zeitung gesehen und finde, ich solle darüber Bescheid wissen.»
Untersuchungsrichter: «Hat dieser Brief Sie überrascht?»
Herzog von D.: «Zuerst konnte ich es gar nicht glauben. Wenn der Brief nicht vom guten Tom Freeborn gewesen wäre, hätte ich ihn gleich ins Feuer geworfen, und auch so wußte ich zuerst nicht, was ich denken sollte. Ich meine, es war ja nichts, was bei uns in England vorgefallen war. Damit will ich sagen, daß die Franzosen sich ja manchmal wegen nichts und wieder nichts furchtbar erregen. Aber Freeborn ist eigentlich nicht der Mann, der solche Fehler macht.»
Untersuchungsrichter: «Was haben Sie getan?»
Herzog von D.: «Nun, sehen Sie, je länger ich mir das ansah, desto weniger gefiel es mir. Aber die Dinge einfach laufenlassen, das konnte ich auch nicht, und da habe ich gedacht, am besten gehe ich gleich zu Cathcart. Während ich noch dasaß und darüber nachdachte, gingen die andern alle hinauf, also bin ich hingegangen und habe an Cathcarts Tür geklopft. Er hat gerufen: ‹Wer ist da?› oder ‹Zum Teufel, wer ist da?› oder so was Ähnliches, und ich bin hineingegangen. ‹Hör mal›, hab ich gesagt, ‹kann ich dich einen Moment sprechen?› – ‹Na gut, aber mach’s kurz›, hat er geantwortet. Das hat mich überrascht – er war sonst nicht so unhöflich. ‹Also›, sagte ich, ‹es ist so, ich habe einen Brief bekommen, der mir nicht gefällt, und da habe ich mir gedacht, am besten komme ich gleich damit zu dir und kläre die Sache. Der Brief ist von einem Mann, einem hochanständigen Kerl – alter Studienfreund –, der sagt, daß er dich in Paris kennengelernt hat.› – ‹Paris!› sagte er, ungewöhnlich gereizt. ‹Paris! Was zum Kuckuck kommst du hierher, um mit mir über Paris zu reden?› – ‹Hör mal›, sagte ich, ‹du solltest nicht in diesem Ton reden, das könnte unter den gegebenen Umständen mißverständlich sein.› – ‹Was willst du eigentlich?› fragte Cathcart. ‹Spuck’s um Gottes willen aus, und dann geh zu Bett.› Ich sagte: ‹Bitte, das will ich ja. Der Mann heißt Freeborn, und er sagt, daß er dich in Paris kennengelernt hat und daß du dein Geld mit Falschspiel verdient hast.› Ich hatte gedacht, er würde sofort in die Luft gehen, aber er sagte nur: ‹Na und?› – ‹Na und?› sagte ich. ‹Natürlich glaube ich das nicht einfach so, ohne Beweise.› Und daraufhin sagte er etwas Komisches. Er sagte: ‹Was man glaubt, ist Nebensache – was man über einen weiß, nur das zählt.› – ‹Soll das heißen, du streitest es nicht ab?› fragte ich. ‹Was nützt es mir, das abzustreiten?› meinte er. ‹Du mußt dich schon selbst entscheiden. Widerlegen kann es sowieso keiner.› Und dann sprang er plötzlich auf, wobei er fast den Tisch umgeworfen hätte, und sagte: ‹Es ist mir egal, was du glaubst und was du tust, wenn du nur verschwindest. Laß mich um Gottes willen allein!› – ‹Sieh mal her›, sagte ich, ‹du brauchst es nicht gleich so aufzufassen. Ich sage ja nicht, daß ich es glaube – im Gegenteil›, sagte ich, ‹ich bin sogar sicher, daß es ein Irrtum ist; aber immerhin bist du mit Mary verlobt›, sagte ich, ‹und da kann ich das nicht einfach auf sich beruhen lassen, oder?› – ‹Ach so!› sagte Cathcart. ‹Also, wenn es das ist, darüber brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Das ist sowieso aus.› – ‹Was ist aus?› fragte ich. Darauf er: ‹Unsere Verlobung.› – ‹Aus?› fragte ich. ‹Aber ich habe doch gestern erst mit Mary darüber gesprochen.› – ‹Ich hab’s ihr noch nicht gesagt›, antwortete er. ‹Also›, sagte ich, ‹das finde ich denn doch stark. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, daß du herkommst und meine Schwester sitzenläßt?› Nun, ich habe dann noch so einiges gesagt. ‹Mach, daß du hinauskommst›, habe ich gesagt. ‹So einen Schweinehund wie dich kann ich hier nicht brauchen!› – ‹Ich gehe auch›, sagte er, und damit ließ er mich stehen, lief die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und schlug sie laut hinter sich zu.»
Untersuchungsrichter: «Was haben Sie daraufhin getan?»
Herzog von D.: «Ich bin in mein Zimmer gegangen, das ein Fenster über dem Wintergarten hat, und habe ihm nachgerufen, er soll sich nicht wie ein Narr aufführen. Es goß in Strömen, und scheußlich kalt war’s. Er ist aber nicht zurückgekommen, und ich habe Fleming angewiesen, die Tür zum Wintergarten offen zu lassen – falls er sich’s noch anders überlegte –, und dann bin ich zu Bett gegangen.»
Untersuchungsrichter: «Welche Erklärung können Sie für Cathcarts Verhalten geben?»
Herzog von D.: «Keine. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Aber ich glaube, er muß von dem Brief irgendwie Wind bekommen und gewußt haben, daß sein Spiel aus war.»
Untersuchungsrichter: «Haben Sie über die Angelegenheit mit irgend jemandem gesprochen?»
Herzog von D.: «Nein. Es war ja nichts Erfreuliches, und ich habe mir gedacht, ich warte lieber bis zum Morgen.»
Untersuchungsrichter: «Also haben Sie nichts weiter unternommen?»
Herzog von D.: «Nein. Hinausgehen und nach dem Kerl suchen wollte ich nicht. Dafür war ich zu wütend. Außerdem habe ich angenommen, daß er sich schon bald eines Besseren besinnen würde – es war eine scheußliche Nacht, und er hatte nur den Smoking an.»
Untersuchungsrichter: «Dann sind Sie also ruhig zu Bett gegangen und haben den Verstorbenen nicht wiedergesehen?»
Herzog von D.: «Nein. Erst als ich um drei Uhr morgens vor dem Wintergarten über ihn fiel.»
Untersuchungsrichter: «Ach ja. Können Sie uns nun sagen, wie es dazu kam, daß Sie um diese Zeit draußen waren?»
Herzog von D. (zögernd): «Ich – konnte nicht richtig schlafen. Da bin ich ein wenig spazierengegangen.»
Untersuchungsrichter: «Um drei Uhr morgens?»
Herzog von D.: «Ja.» (Und wie unter einer plötzlichen Erleuchtung:) «Sehen Sie, meine Frau ist nicht da.» (Gelächter und ein paar Bemerkungen aus dem hinteren Teil des Saals.)
Untersuchungsrichter: «Ruhe, bitte … Sie wollen also sagen, daß Sie in einer Oktobernacht um diese Stunde aufgestanden und bei strömendem Regen im Garten spazierengegangen sind?»
Herzog von D.: «Ja, es war nur ein kleiner Spaziergang.»
(Gelächter.)
Untersuchungsrichter: «Um wieviel Uhr haben Sie Ihr Schlafzimmer verlassen?»
Herzog von D.: «Tja – hm, so gegen halb drei, würde ich sagen.»
Untersuchungsrichter: «Wo sind Sie hinausgegangen?»
Herzog von D.: «Durch den Wintergarten.»
Untersuchungsrichter: «Als Sie hinausgingen, lag der Tote noch nicht da?»
Herzog von D.: «Nein, nein!»
Untersuchungsrichter: «Sonst hätten Sie ihn gesehen?»
Herzog von D.: «Mein Gott, ja! Ich hätte über ihn steigen müssen.»
Untersuchungsrichter: «Welchen Weg sind Sie genau gegangen?»
Herzog von D. (ausweichend): «Ich bin nur so in der Gegend herumgelaufen.»
Untersuchungsrichter: «Sie haben keinen Schuß gehört?»
Herzog von D.: «Nein.»
Untersuchungsrichter: «Haben Sie sich weit von der Wintergartentür und dem Gebüsch entfernt?»
Herzog von D.: «Nun ja, ich war schon ein Stückchen weg. Vielleicht habe ich deshalb nichts gehört. So muß es gewesen sein.»
Untersuchungsrichter: «Waren Sie vielleicht – sagen wir – eine viertel Meile weit weg?»
Herzog von D.: «Ich würde meinen, ja – doch, durchaus!»
Untersuchungsrichter: «Oder mehr als eine viertel Meile?»
Herzog von D.: «Möglich. Ich bin kräftig ausgeschritten, weil es so kalt war.»
Untersuchungsrichter: «In welche Richtung?»
Herzog von D. (mit sichtlichem Zögern): «Hinten ums Haus herum, Richtung Bowls-Platz.»
Untersuchungsrichter: «Bowls-Platz?»
Herzog von D. (entschiedener): «Ja».
Untersuchungsrichter: «Aber wenn Sie mehr als eine viertel Meile weit weg waren, müssen Sie das Gelände verlassen haben.»
Herzog von D.: «Ich – o ja – ich glaube schon. Doch, ich bin nämlich noch ein wenig im Moor herumgelaufen.»
Untersuchungsrichter: «Können Sie uns den Brief zeigen, den Sie von Mr. Freeborn erhalten haben?»
Herzog von D.: «Gewiß – wenn ich ihn finden kann. Ich dachte, ich hätte ihn in die Tasche gesteckt, aber ich konnte ihn schon nicht finden, als der Mann von Scotland Yard danach fragte.»
Untersuchungsrichter: «Könnten Sie ihn versehentlich vernichtet haben?»
Herzog von D.: «Nein – ich erinnere mich ganz gewiß, ihn in die … Oh!» Hier hielt der Zeuge in offensichtlicher Verwirrung inne und wurde rot. «Jetzt fällt es mir ein. Ich habe ihn doch vernichtet.»
Untersuchungsrichter: «Sehr bedauerlich. Wie kamen Sie dazu?»
Herzog von D.: «Ich hatte es ganz vergessen; jetzt ist es mir wieder eingefallen. Ich fürchte, der Brief ist unwiederbringlich verloren.»
Untersuchungsrichter: «Vielleicht haben Sie wenigstens den Umschlag aufbewahrt?»
Der Zeuge schüttelte den Kopf.
Untersuchungsrichter: «Dann können Sie der Jury keinen Beweis für seinen Erhalt vorlegen?»
Herzog von D.: «Höchstens, wenn Fleming sich daran erinnert.»
Untersuchungsrichter: «Ach so, ja. Das können wir auf diese Weise feststellen. Ich danke Ihnen, Euer Gnaden. Aufgerufen wird Lady Mary Wimsey.»
Die wohlgeborene Dame, die bis zu dem tragischen Morgen des 14. Oktober die Verlobte des Verstorbenen gewesen war, erregte bei ihrem Erscheinen ein Raunen der Sympathie. Blond und schlank, die sonst rosigen Wangen aschfahl, schien sie vom Gram überwältigt. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und machte ihre Aussage mit leiser, zeitweise kaum hörbarer Stimme.[*]
Nachdem der Untersuchungsrichter ihr sein Beileid ausgesprochen hatte, fragte er: «Wie lange waren Sie mit dem Verstorbenen verlobt?»
Zeugin: «Etwa acht Monate.»
Untersuchungsrichter: «Wo haben Sie ihn kennengelernt?»
Zeugin: «Im Haus meiner Schwägerin in London.»
Untersuchungsrichter: «Wann war das?»
Zeugin: «Ich glaube, im Juni vorigen Jahres.»
Untersuchungsrichter: «Waren Sie glücklich in Ihrer Verlobungszeit?»
Zeugin: «Durchaus.»
Untersuchungsrichter: «Sie haben Hauptmann Cathcart natürlich häufig gesehen. Hat er Ihnen viel aus seinem Vorleben erzählt?»
Zeugin: «Nicht sehr viel. Wir hielten beide nichts von Geständnissen. Gewöhnlich haben wir uns über Themen von allgemeinem Interesse unterhalten.»
Untersuchungsrichter: «Hatten Sie viele solcher Themen?»
Zeugin: «O ja.»
Untersuchungsrichter: «Hatten Sie nie den Eindruck, daß Hauptmann Cathcart etwas bedrückte?»
Zeugin: «Nicht direkt. In den letzten Tagen kam er mir ein wenig bekümmert vor.»
Untersuchungsrichter: «Hat er Ihnen von seinem Leben in Paris erzählt?»
Zeugin: «Ja, vom Theater und sonstigen Zerstreuungen. Er kannte Paris sehr gut. Ich habe letzten Februar in Paris bei Freunden gewohnt, als er dort war, und er hat uns viel herumgeführt. Das war kurz nach unserer Verlobung.»
Untersuchungsrichter: «Hat er je vom Kartenspiel in Paris gesprochen?»
Zeugin: «Ich kann mich nicht erinnern.»
Untersuchungsrichter: «Was Ihre Heirat angeht – war da schon über die finanzielle Seite gesprochen worden?»
Zeugin: «Ich glaube nicht. Das Hochzeitsdatum stand überhaupt noch nicht fest.»
Untersuchungsrichter: «Machte er den Eindruck, als ob er immer genug Geld hätte?»
Zeugin: «Ich nehme es an. Darüber habe ich nie nachgedacht.»
Untersuchungsrichter: «Sie haben ihn nie über Geldverlegenheiten klagen hören?»
Zeugin: «Darüber klagt doch jeder.»
Untersuchungsrichter: «War er von Natur aus ein fröhlicher Mensch?»
Zeugin: «Er war sehr launisch; bei ihm wechselte die Stimmung fast täglich.»
Untersuchungsrichter: «Sie haben Ihren Bruder gehört, der gesagt hat, daß der Verstorbene Ihre Verlobung habe auflösen wollen. Wußten Sie davon?»
Zeugin: «Nicht im mindesten.»
Untersuchungsrichter: «Können Sie es sich jetzt irgendwie erklären?»
Zeugin: «Absolut nicht.»
Untersuchungsrichter: «Einen Streit hatte es also nicht gegeben?»
Zeugin: «Nein.»
Untersuchungsrichter: «Sie waren demnach Ihres Wissens am Mittwochabend noch immer mit dem Verstorbenen verlobt und gedachten sich in Kürze mit ihm zu verheiraten?»
Zeugin: «J-a. Ja, gewiß. Natürlich.»
Untersuchungsrichter: «Er war nicht – verzeihen Sie mir die schmerzliche Frage – er war nicht der Mann, dem man hätte zutrauen können, daß er Hand an sich selbst legte?»
Zeugin: «Also, daran habe ich nie – nun ja, ich weiß nicht – denkbar wäre es schon. Das würde ja alles erklären, nicht?»
Untersuchungsrichter: «Nun, Lady Mary – bitte quälen Sie sich nicht, lassen Sie sich ruhig Zeit –, aber könnten Sie uns einmal genau schildern, was Sie am Mittwochabend und Donnerstagmorgen gehört und gesehen haben?»
Zeugin: «Ich bin gegen halb zehn zusammen mit Mrs. Marchbanks und Mrs. Pettigrew-Robinson zum Schlafen hinaufgegangen; die Männer blieben alle noch unten. Ich habe Denis, der auf mich nicht anders wirkte als sonst, gute Nacht gesagt. Als die Post kam, war ich nicht mehr unten. Ich bin sofort in mein Zimmer gegangen. Mein Zimmer liegt auf der Rückseite des Hauses. Gegen zehn hörte ich Mr. Pettigrew-Robinson heraufkommen. Die Pettigrew-Robinsons schlafen im Zimmer neben meinem. Mit ihm kamen noch ein paar Männer die Treppe herauf. Meinen Bruder habe ich nicht heraufkommen hören. Etwa um Viertel nach zehn hörte ich dann zwei Männer laut auf dem Korridor reden, und dann lief einer von ihnen die Treppe hinunter und schlug laut die Haustür zu. Danach hörte ich schnelle Schritte auf dem Flur, und schließlich hörte ich meinen Bruder die Tür zu seinem Zimmer schließen. Dann bin ich zu Bett gegangen.»
Untersuchungsrichter: «Haben Sie sich nicht nach der Ursache der Störung erkundigt?»
Zeugin (gleichgültig): «Ich dachte, es sei irgend etwas wegen der Hunde.»
Untersuchungsrichter: «Was geschah dann?»
Zeugin: «Ich bin um drei aufgewacht.»
Untersuchungsrichter: «Wodurch?»
Zeugin: «Ich habe einen Schuß gehört.»
Untersuchungsrichter: «Sie waren also nicht wach, bevor Sie ihn hörten?»
Zeugin: «Ich war vielleicht halbwach. Jedenfalls habe ich ihn sehr deutlich gehört. Ich war sicher, daß es ein Schuß war. Ich habe ein paar Minuten gelauscht, dann bin ich hinuntergegangen, um zu sehen, ob irgend etwas los war.»
Untersuchungsrichter: «Warum haben Sie nicht Ihren Bruder oder einen von den anderen Herren gerufen?»
Zeugin (verächtlich): «Wozu denn? Ich dachte, es wären vielleicht nur Wilddiebe, und da wollte ich doch zu so unmenschlicher Zeit kein unnötiges Aufsehen machen.»
Untersuchungsrichter: «Hörte es sich an, als ob der Schuß nah beim Haus gefallen wäre?»
Zeugin: «Ziemlich nah, glaube ich – schwer zu sagen, wenn man von einem Geräusch geweckt wird – da klingt es immer besonders laut.»
Untersuchungsrichter: «Klang der Schuß nicht so, als ob er im Haus oder im Wintergarten gefallen wäre?»
Zeugin: «Nein, es war draußen.»
Untersuchungsrichter: «Sie sind dann also ganz allein nach unten gegangen. Das war sehr beherzt von Ihnen, Lady Mary. Sind Sie sofort gegangen?»
Zeugin: «Nicht unmittelbar. Ich habe zuerst noch ein paar Minuten überlegt. Dann habe ich ein Paar Straßenschuhe über die bloßen Füße gezogen, mir einen dicken Mantel umgehängt und eine Wollmütze aufgesetzt. Als ich mein Zimmer verließ, waren seit dem Schuß vielleicht fünf Minuten vergangen. Ich bin die Treppe hinunter und durchs Billardzimmer in den Wintergarten gegangen.»
Untersuchungsrichter: «Warum sind Sie auf diesem Weg hinausgegangen?»
Zeugin: «Weil es so schneller ging, als wenn ich zuerst die Vorderoder die Hintertür hätte aufschließen müssen.»
An dieser Stelle wurde den Geschworenen ein Grundriß des Jagdhauses übergeben. Es handelt sich um ein geräumiges, zweigeschossiges Haus in einfacher Bauweise, das vom derzeitigen Besitzer, Mr. Walter Montague, für die Dauer der Jagdsaison an den Herzog von Denver vermietet wurde, denn Mr. Montague selbst hält sich in den Vereinigten Staaten auf.
Zeugin (fortfahrend): «Als ich an die Tür des Wintergartens kam, sah ich draußen einen Mann stehen, der sich über etwas am Boden beugte. Als er sich aufrichtete, sah ich zu meiner Verwunderung, daß es mein Bruder war.»
Untersuchungsrichter: «Wen hatten Sie denn zunächst vermutet, bevor Sie sahen, wer er war?»
Zeugin: «Das kann ich eigentlich nicht sagen – es ging alles so schnell. Ich glaube, ich habe an Einbrecher gedacht.»
Untersuchungsrichter: «Seine Gnaden hat uns berichtet, Sie hätten bei seinem Anblick gerufen: ‹Mein Gott! Du hast ihn getötet!› Können Sie uns sagen, warum?»
Zeugin (sehr blaß): «Ich dachte, mein Bruder sei wohl einem Einbrecher begegnet und habe in Notwehr auf ihn geschossen – das heißt, soweit ich überhaupt denken konnte.»
Untersuchungsrichter: «Ganz recht. Sie wußten, daß der Herzog einen Revolver besaß?»
Zeugin: «Ja – doch, ich glaube ja.»
Untersuchungsrichter: «Was haben Sie dann getan?»
Zeugin: «Mein Bruder hat mich ins Haus geschickt, um Hilfe zu holen. Ich habe Mr. Arbuthnot und Mr. und Mrs. Pettigrew-Robinson aufgeweckt. Dann war mir plötzlich ganz elend, und ich bin in mein Zimmer gegangen und habe etwas Hirschhornsalz genommen.»
Untersuchungsrichter: «Allein?»
Zeugin: «Ja, alles lief ja herum und rief durcheinander. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, ich –»
Hier brach die Zeugin, die bis zu diesem Augenblick sehr gefaßt, wenn auch leise, ihre Aussage gemacht hatte, plötzlich zusammen und mußte aus dem Saal geleitet werden.
Als nächster Zeuge wurde James Fleming, der Diener, aufgerufen. Er erinnerte sich, am Mittwochabend um Viertel vor zehn die Post aus Riddlesdale gebracht zu haben. Er habe dem Herzog vier Briefe in die Waffenkammer gebracht. Er könne sich nicht entsinnen, ob einer davon eine ägyptische Briefmarke gehabt habe, er sei kein Briefmarkensammler. Er sammle Autogramme.
Dann sagte der Ehrenwerte Frederick Arbuthnot aus. Er sei mit den andern kurz vor zehn zu Bett gegangen. Etwas später – wieviel später, könne er nicht sagen – habe er Denver allein heraufkommen hören – er habe sich gerade die Zähne geputzt. (Gelächter.) Gewiß, die lauten Stimmen und den Krach im Zimmer nebenan und auf dem Gang habe er gehört. Jemand sei wie der Teufel die Treppe hinuntergerannt. Er habe den Kopf zur Tür hinausgestreckt und Denver auf dem Korridor gesehen. Er habe gesagt: «Hallo, Denver, was soll der Lärm?» Die Antwort des Herzogs sei nicht zu verstehen gewesen. Denver sei in sein Zimmer gerannt und habe zum Fenster hinausgeschrien: «Mann, spiel nicht den Idioten!» Der Herzog sei schon sehr wütend gewesen, aber dem habe der Ehrenwerte Freddy keine Bedeutung beigemessen. Mit Denver kriege man dauernd Krach, aber es sei nie ernst. In seinen Augen mehr Schaum als Wasser. Er kenne Cathcart noch nicht lange – habe ihn immer ganz in Ordnung gefunden – nein, besonders sympathisch sei er ihm nicht gewesen, aber eben soweit in Ordnung, er könne nichts Nachteiliges über ihn sagen. Himmel, nein, von Falschspiel habe er nie etwas gehört! Natürlich, nein, er renne auch nicht herum und suche nach Leuten, die beim Kartenspiel mogelten – damit rechne man ja eigentlich nicht. Er sei einmal in Monte Carlo auf diese Weise reingelegt worden – mit der Entdeckung habe er nichts zu tun gehabt – er habe gar nichts gemerkt, bis der Tanz losgegangen sei. In Cathcarts Verhalten gegenüber Lady Mary habe er nichts Besonderes bemerkt, oder in ihrem zu ihm. Er merke anscheinend nie etwas; er betrachte sich nicht als besonders scharfen Beobachter. Er sei von Natur aus nicht neugierig; er habe geglaubt, der Krach vom Mittwoch abend gehe ihn nichts an. Er sei zu Bett gegangen und eingeschlafen.
Untersuchungsrichter: «Haben Sie in dieser Nacht sonst noch etwas gehört?»
Ehrenw. Frederick: «Erst als die arme Mary mich aufgeweckt hat. Da hab ich mich runtergetrollt, und unten im Wintergarten war Denver und wusch Cathcart das Gesicht. Wir dachten, wir sollten mal lieber den ganzen Dreck abwaschen, nicht?»
Untersuchungsrichter: «Haben Sie keinen Schuß gehört?»
Ehrenw. Frederick: «Keinen Ton. Aber ich habe einen ziemlich festen Schlaf.»
Oberst Marchbanks und seine Frau schliefen in einem Zimmer über dem sogenannten Arbeitszimmer – in Wirklichkeit war das eine Art Rauchsalon. Sie berichteten beide gleichlautend über eine Unterhaltung, die sie gegen halb zwölf geführt hatten. Mrs. Marchbanks sei noch aufgewesen und habe ein paar Briefe geschrieben, als der Oberst schon im Bett gewesen sei. Sie hätten Stimmen gehört, und jemand sei herumgerannt, aber sie hätten es nicht weiter beachtet. Es sei nicht ungewöhnlich, daß einzelne Mitglieder der Jagdgesellschaft herumliefen und Krach schlügen. Schließlich habe der Oberst gesagt: «Komm jetzt zu Bett. Es ist schon halb zwölf vorbei, und wir wollen morgen früh raus. Du bist sonst nicht in Form.» Das habe er gesagt, weil Mrs. Marchbanks eine begeisterte Jägerin sei und ihr Gewehr trage wie alle andern. Sie habe geantwortet: «Ich komme ja gleich.» Der Oberst: «Du bist die einzige Sünderin, die das mitternächtliche Öl verbrennt – alle anderen sind längst im Bett.» Mrs. Marchbanks habe darauf geantwortet: «Nein, der Herzog ist auch noch auf; ich höre ihn im Arbeitszimmer herumgehen.» Da habe Oberst Marchbanks gehorcht und es auch gehört. Beide hätten sie den Herzog nicht wieder heraufkommen hören. Während der Nacht hätten sie keinerlei Geräusche vernommen.
Mr. Pettigrew-Robinson schien seine Aussage nur sehr widerwillig zu machen. Er und seine Frau seien um zehn zu Bett gegangen. Sie hätten den Streit mit Cathcart gehört. Mr. Pettigrew-Robinson habe gefürchtet, daß etwas passieren würde, und als er an die Tür gegangen sei, habe er den Herzog gerade noch sagen hören: «Wenn du es noch einmal wagst, mit meiner Schwester zu sprechen, breche ich dir sämtliche Knochen im Leib», oder jedenfalls Worte dieses Inhalts. Cathcart sei die Treppe hinuntergerannt. Der Herzog sei purpurrot im Gesicht gewesen. Er habe Mr. Pettigrew-Robinson nicht gesehen, wohl aber etwas zu Mr. Arbuthnot gesagt und sei dann in sein Zimmer gestürzt. Mr. Pettigrew-Robinson sei hinausgegangen und habe zu Mr. Arbuthnot gesagt: «Hören Sie mal, Arbuthnot», und Mr. Arbuthnot habe ihm sehr ungezogen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er sei dann zum Zimmer des Herzogs gegangen und habe gesagt: «Hören Sie mal, Denver.» Der Herzog sei herausgekommen und an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu beachten, und an der Treppe habe er Fleming angewiesen, die Tür zum Wintergarten offen zu lassen, da Mr. Cathcart noch draußen sei. Dann sei der Herzog wieder zurückgekommen. Mr. Pettigrew-Robinson habe versucht, ihn abzufangen, als er vorbeikam, und wieder gesagt: «Hören Sie mal, Denver, was ist denn da los?» Der Herzog habe nicht geantwortet, sondern nur sehr entschieden seine Tür zugemacht. Später aber, genauer gesagt um halb zwölf, habe Mr. Pettigrew-Robinson die Tür zum Zimmer des Herzogs aufgehen und leise Schritte über den Korridor gehen hören. Ob sie nach unten gegangen seien, habe er nicht gehört. Bad und Toilette befänden sich an seinem Ende des Ganges, und wenn dort einer hingegangen wäre, hätte er es wohl gehört. Er habe die Schritte auch nicht zurückkommen hören. Ehe er eingeschlafen sei, habe er seinen Reisewecker noch zwölf schlagen hören. Eine Verwechslung der Zimmertür des Herzogs sei ausgeschlossen, denn sie knarre auf ganz bestimmte Weise.
Mrs. Pettigrew-Robinson bestätigte die Aussage ihres Mannes. Sie sei vor Mitternacht eingeschlafen und habe dann fest geschlafen. Sie schlafe immer sehr fest in den ersten Nachtstunden, dafür aber gegen Morgen sehr leicht. Sie habe sich über die ganze Unruhe im Haus an diesem Abend geärgert, weil sie deswegen nicht habe einschlafen können. Tatsächlich sei sie schon gegen halb elf zum erstenmal eingeschlafen, und Mr. Pettigrew-Robinson habe sie eine Stunde später wecken müssen, um ihr von den Schritten auf dem Flur zu erzählen. Alles in allem habe sie auf diese Weise nur ein paar Stunden gut geschlafen. Gegen zwei Uhr sei sie wieder aufgewacht und dann hellwach geblieben, bis Lady Mary Alarm geschlagen habe. Sie könne mit Sicherheit beschwören, daß sie in dieser Nacht keinen Schuß gehört habe. Ihr Zimmer liege neben dem von Lady Mary, auf der dem Wintergarten abgewandten Seite. Sie sei es von Kindesbeinen an gewöhnt, bei offenem Fenster zu schlafen. Auf eine Frage des Untersuchungsrichters antwortete Mrs. Pettigrew-Robinson, sie habe nie das Gefühl gehabt, daß zwischen Lady Mary und dem Verstorbenen eine echte, wahre Zuneigung bestanden habe. Sie seien sehr frei miteinander umgegangen, aber das sei ja heutzutage modern. Von Meinungsverschiedenheiten habe sie nie etwas gehört.
Miss Lydia Cathcart, die man eilig aus London herbeigeholt hatte, sagte dann über den Verstorbenen aus. Sie erklärte dem Untersuchungsrichter, sie sei die Tante des Hauptmanns und seine einzige noch lebende Verwandte. Sie habe wenig von ihm gesehen, seit er in den Besitz des väterlichen Geldes gekommen sei. Er habe immer bei seinen Freunden in Paris gewohnt, einer Sorte Menschen, von der sie nichts halten könne.
«Mein Bruder und ich hatten uns nie besonders gut verstanden», sagte Miss Cathcart. «Er hat seinen Sohn im Ausland erziehen lassen, bis er achtzehn war, und ich fürchte, Denis’ Ansichten waren immer sehr französisch. Nach dem Tod meines Bruders ist Denis nach Cambridge gegangen, weil sein Vater es so gewünscht hatte. Ich war zur Testamentsvollstreckerin und zu Denis’ Vormund bis zu seiner Volljährigkeit ernannt worden. Ich weiß auch nicht, warum mein Bruder, nachdem er sich sein ganzes Leben lang nicht um mich gekümmert hatte, mir bei seinem Tod eine solche Verantwortung aufbürden mußte, aber ablehnen wollte ich auch nicht. Mein Haus stand für Denis während der Semesterferien immer offen, aber er zog es in der Regel vor, zu seinen reichen Freunden zu gehen. Ihre Namen fallen mir jetzt nicht mehr ein. Als Denis einundzwanzig wurde, bekam er zehntausend Pfund jährlich. Ich glaube, es handelte sich um irgendwelche ausländischen Wertpapiere. Als Testamentsvollstreckerin war auch ich mit einer gewissen Zuwendung bedacht worden, aber ich habe sie sofort in gute, gesunde britische Sicherheiten angelegt. Was Denis mit seinem Teil gemacht hat, weiß ich nicht. Es würde mich nicht überraschen, zu hören, daß er beim Kartenspiel betrogen hat. Denn soviel ich gehört habe, waren die Kreise, in denen er in Paris verkehrte, recht zweifelhaft. Kennengelernt habe ich niemand von diesen Leuten. Ich war niemals in Frankreich.»
Als nächster wurde John Hardraw, der Wildhüter, aufgerufen. Er und seine Frau bewohnen ein kleines Haus gleich am Eingangstor zum Anwesen von Riddlesdale Lodge. Das Anwesen, das rund acht Hektar umfaßt, ist auf dieser Seite mit einem kräftigen Zaun eingefaßt; das Tor wird nachts verschlossen. Hardraw sagte aus, daß er am Mittwochabend ungefähr um zehn vor zwölf einen Schuß gehört habe – nah bei seinem Häuschen, wie es ihm vorkam. Hinter dem Haus beginnt eine Schonung von vier Hektar Ausdehnung. Er habe angenommen, daß da Wilddiebe am Werk gewesen seien; sie wagten sich manchmal bei der Hasenjagd bis in die Schonung vor. Er sei mit seinem Gewehr ein Stück in diese Richtung gegangen, habe aber niemanden gesehen. Nach seiner Uhr sei er um eins nach Hause zurückgekehrt.
Untersuchungsrichter: «Haben Sie selbst irgendwann mit Ihrem Gewehr geschossen?»
Zeuge: «Nein.»
Untersuchungsrichter: «Sind Sie noch einmal hinausgegangen?»
Zeuge: «Auch das nicht.»
Untersuchungsrichter: «Oder haben Sie noch andere Schüsse gehört?»
Zeuge: «Nur den einen; aber ich bin nach meiner Rückkehr wieder eingeschlafen und wurde dann vom Chauffeur geweckt, der den Arzt holen wollte. Das muß ungefähr um Viertel nach drei gewesen sein.»
Untersuchungsrichter: «Ist es nicht ungewöhnlich, daß Wilderer so nah bei Ihrem Haus schießen?»
Zeuge: «Doch, ziemlich. Wenn Wilddiebe sich so nah heranwagen, kommen sie meist von der anderen Seite der Schonung, wo das Moor ist.»
Dr. Thorpe sagte aus, daß man ihn gerufen habe, um den Toten anzusehen. Er wohne in Stapley, fast vierzehn Meilen von Riddlesdale. In Riddlesdale selbst gebe es keinen Arzt. Der Chauffeur habe ihn morgens um Viertel vor vier aus dem Bett geholt, und er habe sich schnell angezogen und sei sofort mit ihm hinausgefahren. Um halb fünf seien sie beim Jagdhaus angekommen. Als er den Toten gesehen habe, sei dieser allem Anschein nach schon drei bis vier Stunden tot gewesen. Die Lunge sei von einem Geschoß durchbohrt gewesen und der Tod durch Blutverlust und Ersticken herbeigeführt worden. Der Tod sei aber nicht sofort eingetreten – der Verstorbene habe wahrscheinlich noch einige Zeit gelebt. Er habe eine Autopsie vorgenommen und festgestellt, daß die Kugel von einer Rippe abgelenkt worden sei. Ob das Opfer sich die Wunde selbst beigebracht oder ob jemand anders den Schuß aus nächster Nähe abgegeben habe, lasse sich nicht erkennen. Kampfspuren seien jedenfalls nicht feststellbar gewesen.
Inspektor Craikes aus Stapley war mit Dr. Thorpe im selben Wagen gekommen. Er hatte den Leichnam gesehen. Dieser habe zwischen der Tür des Wintergartens und dem zugedeckten Brunnen davor auf dem Rücken gelegen. Sobald es hell geworden sei, habe Inspektor Craikes Haus und Gelände abgesucht. Er habe Blutspuren auf dem ganzen Weg zum Wintergarten gefunden, außerdem Spuren, die zeigten, daß der Tote dort entlanggeschleift worden sei. Der Pfad münde in den Hauptweg zwischen Tor und Vordereingang des Hauses. (Ein Plan wurde vorgelegt.) Wo die beiden Wege sich träfen, beginne ein Gebüsch, das sich beiderseits bis zum Tor und dem Haus des Wildhüters hinziehe. Die Blutspur habe zu einer kleinen Lichtung in diesem Gebüsch geführt, etwa auf halbem Wege zwischen Haus und Tor. Dort habe der Inspektor eine große Blutlache, ein blutgetränktes Taschentuch und einen Revolver gefunden. Das Taschentuch habe die Initialen D.C. getragen, und der Revolver sei eine kleine Waffe amerikanischen Typs ohne Kennzeichnung gewesen. Die Wintergartentür habe beim Eintreffen des Inspektors offen gestanden und der Schlüssel darin gesteckt.
Der Tote habe, als er ihn sah, einen Smoking und leichte Halbschuhe angehabt, aber weder Mantel noch Hut. Er sei völlig durchnäßt gewesen, und seine Kleider seien nicht nur über und über blutbeschmiert, sondern auch voller Lehm und vom Schleifen des Körpers vollkommen in Unordnung gewesen. In den Taschen habe er ein Zigarrenetui und ein kleines, flaches Taschenmesser gefunden. Das Schlafzimmer des Toten sei nach Papieren und dergleichen durchsucht worden, dabei habe sich jedoch bisher nichts gefunden, was ein wenig Licht auf seine persönlichen Umstände werfen könne.
Daraufhin wurde der Herzog von Denver wieder aufgerufen.
Untersuchungsrichter: «Ich möchte Euer Gnaden fragen, ob Sie den Verstorbenen je im Besitz eines Revolvers gesehen haben.»
Herzog von D.: «Seit dem Krieg nicht.»
Untersuchungsrichter: «Sie wissen nicht, ob er einen bei sich zu tragen pflegte?»
Herzog von D.: «Keine Ahnung.»
Untersuchungsrichter: «Sie haben, wie ich annehme, auch keine Vermutung, wem dieser Revolver gehören könnte?»
Herzog von D. (maßlos überrascht): «Das ist mein Revolver – aus der Schreibtischschublade im Arbeitszimmer. Wie kommen Sie daran?» (Unruhe.)
Untersuchungsrichter: «Sind Sie sicher?»
Herzog von D.: «Vollkommen. Ich habe ihn erst neulich dort gesehen, als ich für Cathcart ein paar Fotos von Mary suchen wollte, und ich weiß noch, daß ich damals gesagt habe, er werde vom Herumliegen noch rostig. Da ist der Rostfleck.»
Untersuchungsrichter: «War der Revolver immer geladen?»
Herzog von D.: «Um Gottes willen, nein! Ich weiß im Grunde gar nicht, wozu er da war. Wahrscheinlich habe ich ihn einmal zusammen mit ein paar alten Militärsachen weggepackt und später zwischen meinem Schießzeug wiedergefunden, als ich im August in Riddlesdale war. Ich glaube, die Patronen lagen auch dabei.»
Untersuchungsrichter: «War die Schublade verschlossen?»
Herzog von D.: «Ja, aber der Schlüssel steckte. Meine Frau sagt immer, ich sei leichtsinnig.»
Untersuchungsrichter: «Wußte sonst jemand, daß der Revolver dort war?»
Herzog von D.: «Fleming, glaube ich. Sonst wüßte ich niemand.»
Kriminalinspektor Parker von Scotland Yard war erst am Freitag gekommen und hatte noch keine sehr eingehenden Ermittlungen anstellen können. Gewisse Indizien ließen ihn vermuten, daß außer den an der Entdeckung der Tragödie beteiligten Personen noch einer oder mehrere am Ort des Geschehens gewesen waren. Er wollte allerdings im Augenblick noch nicht mehr dazu sagen.
Der Untersuchungsrichter rekonstruierte nun an Hand der Aussagen den Vorgang in seiner zeitlichen Abfolge. Um zehn Uhr oder kurz danach habe zwischen dem Verstorbenen und dem Herzog von Denver ein Streit stattgefunden, woraufhin der Verstorbene das Haus verlassen habe und nicht mehr lebend gesehen worden sei. Laut Mr. Pettigrew-Robinsons Aussage sei der Herzog um halb zwölf die Treppe hinuntergegangen, und laut Oberst Marchbanks habe man ihn kurz danach im Arbeitszimmer umhergehen hören, dem Zimmer, in dem der dem Gericht als Beweisstück vorliegende Revolver gewöhnlich aufbewahrt werde. Dagegen stehe die beeidete Aussage des Herzogs selbst, daß er sein Zimmer nicht vor halb drei morgens verlassen habe. Die Geschworenen müßten nun entscheiden, welcher der einander widersprechenden Aussagen mehr Gewicht beizumessen sei. Dann zu den in der Nacht gehörten Schüssen: Der Wildhüter wolle einen Schuß um zehn vor zwölf gehört haben, aber er habe angenommen, daß es Wilddiebe seien. Es sei durchaus möglich, daß Wilderer am Werk gewesen seien. Andererseits passe Lady Marys Aussage, sie habe einen Schuß um drei Uhr morgens gehört, nicht gut zur Feststellung des Arztes, daß der Verstorbene um halb fünf bei seiner Ankunft in Riddlesdale bereits drei bis vier Stunden tot gewesen sei. Die Geschworenen müßten auch berücksichtigen, daß nach Ansicht des Arztes der Tod nicht unmittelbar nach dem Schuß eingetreten sei. Wenn sie dieser Aussage glaubten, müßten sie den Zeitpunkt des Schusses irgendwo zwischen elf Uhr und Mitternacht ansetzen, und das könne sehr wohl der Schuß gewesen sein, den der Wildhüter gehört habe. In diesem Falle müßten sie sich allerdings fragen, was für ein Schuß dann später Lady Mary Wimsey aufgeweckt habe. Wenn sie diesen Schuß Wilderern zuschreiben wollten, stehe dieser Annahme nichts entgegen.
Als nächstes kam der Untersuchungsrichter auf den Leichnam zu sprechen, den der Herzog von Denver morgens um drei vor der Tür des kleinen Wintergartens in der Nähe des Brunnens gefunden hatte. Es sei kaum zu bezweifeln, daß der Schuß, der Cathcart getötet habe, in dem Gebüsch abgegeben worden sei, das etwa sieben Minuten vom Haus entfernt liege, und daß der Leichnam von dort zum Haus geschleift worden sei. Den Tod habe zweifellos der Lungendurchschuß verursacht. Die Geschworenen müßten entscheiden, ob dieser Schuß von Cathcart selbst oder von jemand anderem abgegeben worden sei; im letzteren Falle müßten sie ebenfalls entscheiden, ob dies versehentlich, in Notwehr oder vorsätzlich und in Tötungsabsicht geschehen sei. Bei der Frage des Selbstmordes müßten sie alles in Betracht ziehen, was ihnen über den Charakter und die Lebensumstände des Verstorbenen bekannt sei. Der Verstorbene sei ein Mann in der Blüte seiner Jahre und offenbar sehr vermögend gewesen. Er habe eine verdienstvolle militärische Laufbahn hinter sich und sei bei seinen Freunden beliebt gewesen. Der Herzog von Denver habe immerhin eine so hohe Meinung von ihm gehabt, daß er der Verlobung seiner Schwester mit dem Verstorbenen zugestimmt habe. Es spreche alles dafür, daß die Verlobten, wenngleich sie dies vielleicht nicht deutlich nach außen gezeigt hätten, sehr gut miteinander ausgekommen seien. Der Herzog behaupte, daß der Verstorbene ihn am Mittwochabend von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt habe, die Verlobung zu lösen. Ob die Geschworenen glaubten, daß der Verstorbene daraufhin, ohne mit der Dame gesprochen oder ihr ein Wort der Erklärung oder des Abschieds geschrieben zu haben, sofort hingegangen sei und sich erschossen habe? Andererseits müßten die Geschworenen bedenken, welche Beschuldigung der Herzog von Denver laut eigener Aussage gegenüber dem Verstorbenen erhoben habe. Er habe ihm vorgeworfen, ein Falschspieler zu sein. In den Gesellschaftskreisen, denen die hier Beteiligten angehörten, sei ein Delikt wie Falschspiel weitaus schändlicher als Sünden wie Mord oder Ehebruch. Möglicherweise könne schon die Andeutung eines solchen Vorwurfs, ob begründet oder nicht, einen besonders ehrempfindlichen Menschen dazu treiben, Hand an sich zu legen. Ob aber der Verstorbene in diesem Sinne ein Mann von Ehre gewesen sei? Er sei in Frankreich erzogen worden, und die französischen Ehrbegriffe unterschieden sich sehr von den britischen. Der Untersuchungsrichter selbst unterhalte in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt geschäftliche Beziehungen zu Franzosen und könne denjenigen Geschworenen, die noch nie in Frankreich gewesen seien, nur nahelegen, diese unterschiedlichen Ehrbegriffe zu berücksichtigen. Unglücklicherweise habe ihnen der Brief mit den angeblichen Beschuldigungen nicht vorgelegt werden können. Außerdem könne man fragen, ob ein Selbstmörder sich nicht eher in den Kopf schießen werde. Man müsse sich fragen, wie der Verstorbene an den Revolver gekommen sei. Und schließlich müsse man sich in diesem Falle auch fragen, wer den Leichnam zum Haus geschleift habe und warum der oder die Betreffende dies unter so großer Anstrengung getan und dabei die Gefahr in Kauf genommen habe, den letzten vielleicht noch glimmenden Lebensfunken auszulöschen[*], statt das Haus zu wecken und Hilfe herbeizurufen.
Wenn sie Selbstmord für ausgeschlossen hielten, blieben als weitere Möglichkeiten noch Unfall, Totschlag oder Mord. Zum ersteren: Wenn sie glaubten, daß der Verstorbene oder eine andere Person an diesem Abend aus irgendeinem Grunde den Revolver des Herzogs von Denver genommen und beim Betrachten, Säubern, Schießen oder sonstigen Hantieren mit der Waffe versehentlich einen Schuß ausgelöst und den Verstorbenen getötet habe, so müßten sie auf Tod durch Unfall erkennen. Wie aber wollten sie in diesem Falle das Verhalten derjenigen Person erklären, die den Leichnam zur Tür geschleift habe, wer auch immer das sei?
Der Untersuchungsrichter setzte sich dann mit dem juristischen Begriff des Totschlags auseinander. Er hielt den Geschworenen vor, daß bloße Worte, und seien sie noch so beleidigend oder drohend, keinesfalls die Tötung eines Menschen rechtfertigten; außerdem müsse der Streit plötzlich und ungeplant ausbrechen. Wenn sie zum Beispiel glaubten, der Herzog sei vielleicht hinausgegangen, um seinen Gast zu bitten, ins Haus zurückzukehren und zu Bett zu gehen, dieser aber habe darauf mit Schlägen oder Gewaltandrohung geantwortet, woraufhin der Herzog, da er bewaffnet gewesen sei, ihn in Notwehr erschossen habe, so sei dies nur Totschlag. In diesem Falle aber sei zu fragen, aus welchem Grunde der Herzog mit einer tödlichen Waffe in der Hand zu dem Verstorbenen hinausgegangen sei. Außerdem stehe diese Annahme in direktem Widerspruch zur Aussage des Herzogs selbst.
Schließlich und endlich müßten sie entscheiden, ob es hinreichende Anzeichen für Vorsatz gebe, um eine Anklage wegen Mordes zu rechtfertigen. Sie müßten sich fragen, ob jemand ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit gehabt habe, Cathcart zu töten; und ob sie für das Verhalten dieser Person eine andere plausible Erklärung geben könnten. Und wenn sie glaubten, daß es eine solche Person gebe und daß diese Person sich in irgendeiner Weise verdächtig oder zweifelhaft verhalten oder willentlich Beweise unterdrückt habe, die für den Fall von Bedeutung seien, oder (und hier sprach der Untersuchungsrichter mit besonderem Nachdruck, wobei er starr über des Herzogs Haupt hinwegsah) daß diese Person in täuschender Absicht andere Beweise konstruiert habe – dann müsse das alles zusammen eine Schuldvermutung gegen den einen oder anderen ergeben, in welchem Falle sie gehalten seien, gegen den Betreffenden Anklage wegen vorsätzlichen Mordes zu erheben. Und, fügte der Untersuchungsrichter hinzu, bei der Würdigung dieses Aspektes müßten sie sich auch eine Meinung darüber bilden, ob die Person, die den Leichnam zur Tür des Wintergartens geschleift habe, dies in der Absicht getan habe zu helfen oder etwa, um die Leiche in den Gartenbrunnen zu werfen, der sich, wie sie von Inspektor Craikes gehört hätten, unmittelbar bei der Fundstelle der Leiche befinde. Wenn die Geschworenen überzeugt seien, daß Cathcart ermordet worden sei, sich aber nicht imstande sähen, diesen Mord auf Grund der Beweislage einer bestimmten Person zur Last zu legen, könnten sie auf Mord durch Unbekannt erkennen; wenn sie sich hingegen in der Lage sähen, eine bestimmte Person dieses Verbrechens zu bezichtigen, so dürften sie sich durch ihren Respekt vor dieser Person oder diesen Personen nicht davon abhalten lassen, ihre Pflicht zu tun.
Angeleitet von diesen unübersehbaren Winken erhoben die Geschworenen, ohne besonders lange zu beraten, Anklage wegen vorsätzlichen Mordes gegen Gerald Herzog von Denver.
«Und ein Schluck für den Hund mit der Nase am Grund –»
Drink, Puppy, drink
Es gibt Leute, für die das Frühstück die beste Mahlzeit des Tages ist. Andere, weniger robuste, halten es für die schlechteste, und das schlechteste von allen Frühstücken der Woche ist für sie das Sonntagmorgenfrühstück.