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Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

Dorothy L. Sayers' scharfsichtiger Gentleman-Detektiv Lord Peter Wimsey gibt sein Debüt. Mr. Thipps staunt nicht schlecht, als er am Morgen sein Badezimmer betritt und in der Wanne den Körper eines toten Mannes vorfindet. Von einem kleinen Zwicker auf der Nase abgesehen, ist der splitterfasernackt. Wie ist er dorthin gekommen? Panisch alarmiert Thipps die Polizei, bei der er sich gleich selbst zum Hauptverdächtigen macht. Inspector Sugg von Scotland Yard ist das nur allzu recht, ähnelt die nackte Leiche doch in vielerlei Dingen dem bekannten und verschwundenen jüdischen Börsenmakler Reuben Levy. Er hat allerdings nicht mit der Herzoginwitwe von Denver gerechnet: Die alte Freundin von Mr. Thipps setzt ihren zweiten Sohn, Lord Peter Wimsey, von dem Fall in Kenntnis. Dieser freut sich über die erfrischende Abwechslung und macht sich daran, den wahren Täter zu stellen.

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Dorothy L. Sayers

Ein Toter zu wenig

Ein Fall für Lord Peter Wimsey

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dorothy L. Sayers’ scharfsichtiger Gentleman-Detektiv Lord Peter Wimsey gibt sein Debüt.

 

Mr. Thipps staunt nicht schlecht, als er am Morgen sein Badezimmer betritt und in der Wanne den Körper eines toten Mannes vorfindet. Von einem kleinen Zwicker auf der Nase abgesehen, ist der splitterfasernackt. Wie ist er dorthin gekommen? Panisch alarmiert Thipps die Polizei, bei der er sich gleich selbst zum Hauptverdächtigen macht. Inspector Sugg von Scotland Yard ist das nur allzu recht, ähnelt die nackte Leiche doch in vielerlei Dingen dem bekannten und verschwundenen jüdischen Börsenmakler Reuben Levy. Er hat allerdings nicht mit der Herzoginwitwe von Denver gerechnet: Die alte Freundin von Mr. Thipps setzt ihren zweiten Sohn, Lord Peter Wimsey, von dem Fall in Kenntnis. Dieser freut sich über die erfrischende Abwechslung und macht sich daran, den wahren Täter zu stellen.

Über Dorothy L. Sayers

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, und sie gehört neben Agatha Christie und P. D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Mit diesem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Der äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des 20. Jahrhunderts.

Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.

Inhaltsübersicht

MottoBiographische Notiz1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel

An M.J.

 

Lieber Jim,

an diesem Buch sind nur Sie schuld. Ohne Ihr unbarmherziges Drängen hätte Lord Peter nie und nimmer bis zum Ende dieses Falles durchgehalten. Nehmen Sie bitte seinen mit gewohnter Artigkeit formulierten Dank entgegen.

 

Ihre

D.L.S.

Biographische Notiz

Mitgeteilt von Paul Austin Delagardie

Wimsey, Peter Death Bredon, Kriegsverdienstorden D.S.O.; geboren 1890 als zweiter Sohn des Mortimer Gerald Bredon Wimsey, 15. Herzog von Denver, und seiner Ehefrau Honoria Lucasta geb. Delagardie, Tochter des Francis Delagardie von Bellingham Manor, Hampshire.

Schulen: Eton College und Balliol College, Oxford (Fakultät für neuere Geschichte, Abschluß 1912 summa cum laude); Militärdienst im Königlichen Heer 1914–18 (Major, Schützenbrigade). Autor von: Bemerkungen über das Sammeln von Inkunabeln; Das Mörder-Vademecum u.a.; Hobbies: Kriminologie, Bibliophilie, Musik, Cricket.

Clubs: Marlborough, Egotist. Wohnsitze: 110 A Piccadilly, London; Bredon Hall, Duke’s Denver, Norfolk.

Wappen: Drei Mäuse, laufend, Silber auf schwarzem Schild; Krone: eine zum Sprung geduckte Hauskatze in natürlichen Farben; Wahlspruch: As my Whimsy takes me (Wie mich die Laune lenkt).

 

Miss Sayers hat mich gebeten, einige Lücken in dem von ihr beschriebenen Lebenslauf meines Neffen Peter zu füllen und ein paar kleine Irrtümer zu berichtigen. Ich tue dies mit Vergnügen. Einmal gedruckt zu werden ist jedermanns Ehrgeiz, und indem ich zu meines Neffen Triumph diesen Kärrnerdienst leiste, stelle ich nur die meinem fortgeschrittenen Alter zukommende Bescheidenheit unter Beweis.

Die Wimseys sind eine alte Familie – zu alt, wenn Sie mich fragen. Das einzig Vernünftige, das Peters Vater je getan hat, war die Liierung seines ausgelaugten Stammbaums mit dem lebensvollen französisch-englischen Zweig der Delagardies. Dessenungeachtet ist mein Neffe Gerald, der jetzige Herzog von Denver, doch nichts als ein engstirniger englischer Landjunker, und meine Nichte Mary war, bevor sie diesen Polizisten heiratete und häuslich wurde, die Flatterhaftigkeit und Albernheit in Person. Peter aber schlägt, wie ich mit Genugtuung sagen darf, mehr nach seiner Mutter und mir. Gewiß, er besteht vorwiegend aus Nerven und Nase – aber das ist immer noch besser als Muskeln ohne Hirn, wie sein Vater und Bruder, oder ein Gefühlsbündel wie Geralds Sohn Saint George. Er hat wenigstens den Verstand der Delagardies geerbt, sozusagen als Schutzvorrichtung gegen das unglückselige Wimsey-Temperament.

Peter kam 1890 zur Welt. Seiner Mutter bereitete damals das Betragen ihres Gatten großen Kummer (Denver war schon immer ziemlich unausstehlich gewesen; zu dem großen Skandal kam es jedoch erst im Jubiläumsjahr der Königin), und ihre Sorgen mögen sich auf den Jungen übertragen haben. Er war ein farbloser kleiner Wicht, sehr unruhig und boshaft und stets viel zu schlau für sein Alter. Von Geralds robuster körperlicher Schönheit besaß er nichts, aber das glich er durch etwas aus, was ich am besten als physische Schläue bezeichne – mehr Geschicklichkeit als Kraft. Er hatte ein flinkes Auge für den Ball und eine glückliche Hand mit Pferden. Und er besaß des Teufels eigenen Schneid: diesen intelligenten Schneid, der das Risiko sieht, bevor er es eingeht. Als Kind hatte er sehr unter Alpträumen zu leiden. Und sehr zum Leidwesen seines Vaters entwickelte er eine leidenschaftliche Liebe zu Büchern und Musik.

Seine Schulzeit war anfangs gar nicht glücklich. Er war ein verwöhntes Kind, und es konnte wohl nicht ausbleiben, daß seine Mitschüler ihn bald nur noch «Flimsy» – Zimperliese – nannten und mehr eine Witzfigur in ihm sahen. Vielleicht hätte er aus reinem Selbstschutz diese Rolle auch angenommen und wäre zum Hofnarren verkommen, hätte ein Sportlehrer am Eton College nicht seine Naturbegabung für das Cricketspiel entdeckt. Von da an galten alle seine Verschrobenheiten natürlich als geistreich, und es war ein heilsamer Schock für Gerald, mit ansehen zu müssen, wie sein verachteter jüngerer Bruder ihn im Ansehen weit überflügelte. Mit Erreichen der sechsten Klasse war Peter dann endlich alles das, was von ihm erwartet wurde – Sportler, Musterschüler, arbiter elegantiarum – nec pluribus impar. Cricket spielte dabei sicher eine große Rolle – viele ehemalige Eton-Schüler werden sich noch an den «Großen Flim» und sein Spiel gegen Harrow erinnern –, aber ich schmeichle mir, daß ich es war, der ihn zu einem guten Schneider brachte, ihn in die Gesellschaft einführte und ihn lehrte, zwischen gutem und schlechtem Wein zu unterscheiden. Denver kümmerte sich herzlich wenig um ihn – er war zu sehr mit seinen eigenen Affären und mit Gerald beschäftigt, der sich um diese Zeit gerade in Oxford nach Kräften blamierte. Peter hat sich mit seinem Vater überhaupt nie verstanden; er war ein erbarmungsloser Kritiker der väterlichen Eskapaden, und sein Mitgefühl für seine Mutter wirkte sich auf seinen Humor verheerend aus.

Es versteht sich von selbst, daß Denver der Letzte gewesen wäre, der die eigenen Fehler bei seinen Sprößlingen geduldet hätte. Es kostete ihn ein hübsches Sümmchen, Gerald aus der Oxford-Affäre herauszupauken, und er war nur zu gern bereit, seinen zweiten Sohn mir anzuvertrauen. Mit siebzehn Jahren kam Peter sogar aus eigenem Antrieb zu mir. Ich habe ihn in vertrauenswürdige Hände in Paris gegeben und ihn angewiesen, seine Affären stets auf eine gesunde, geschäftliche Grundlage zu stellen und immer dafür zu sorgen, daß sie in gutem, gegenseitigem Einvernehmen und mit Großzügigkeit seinerseits endeten. Er hat mein Vertrauen voll gerechtfertigt. Ich glaube, daß nie eine Frau Anlaß hatte, sich über Peters Verhalten ihr gegenüber zu beklagen; mindestens zwei von ihnen haben später irgendwelche königlichen Hoheiten geheiratet (obskure Hoheiten, zugegeben, aber immerhin Hoheiten). Und auch hier nehme ich wieder einen Teil des Verdienstes für mich in Anspruch; mag das Material, mit dem man zu arbeiten hat, noch so gut sein, so wäre es doch lächerlich, die gesellschaftliche Erziehung eines jungen Mannes dem Zufall zu überlassen.

Der Peter aus dieser Zeit war wirklich bezaubernd: von offenem Wesen, bescheiden, wohlerzogen und auf angenehme Art geistreich. 1909 nahm er am Balliol College das Studium der Geschichte auf, und hier wurde er nun eingestandenermaßen recht unausstehlich. Die Welt lag ihm zu Füßen, und das stieg ihm in den Kopf. Er entwickelte Allüren, legte sich ein übertriebenes Oxford-Gehabe und ein Monokel zu und posaunte seine Ansichten in die Welt hinaus, und das nicht nur im Debattierclub, aber ich muß zu seiner Ehre sagen, daß er nie versuchte, seine Mutter oder mich von oben herab zu behandeln. Er studierte im zweiten Jahr, als Denver sich bei der Jagd das Genick brach und der Herzogstitel auf Gerald überging. Gerald zeigte bei der Verwaltung seiner Güter mehr Verantwortungsgefühl, als ich ihm je zugetraut hätte; sein ärgster Fehler war die Heirat mit seiner Kusine Helen, einer knochigen, überzüchteten Puritanerin, Gräfin vom Scheitel bis zu den Zehen. Sie und Peter waren einander in herzlicher Abneigung verbunden, aber er konnte ja jederzeit bei seiner Mutter Zuflucht suchen.

Doch dann, im letzten Oxford-Jahr, verliebte Peter sich in ein siebzehnjähriges Gänschen und vergaß schlagartig alles, was er je gelernt hatte. Er behandelte das Mädchen, als ob es zerbrechlich wäre, und in mir sah er ein gefühlloses Ungeheuer an Verderbtheit, das ihn ihrer zarten Reinheit unwürdig gemacht hatte. Ich leugne nicht, daß die beiden ein wunderschönes Paar waren, zwei Königskinder – Mondprinz und Mondprinzessin, wie die Leute sagten; Mondkälber wäre allerdings treffender gewesen. Was Peter in zwanzig Jahren noch mit einer Frau anfangen sollte, die weder Verstand noch Charakter besaß, das zu fragen schien niemandem außer seiner Mutter und mir der Mühe wert zu sein, und er selbst war natürlich hoffnungslos vernarrt. Zum Glück fanden Barbaras Eltern, sie sei noch zu jung zum Heiraten, und Peter nahm sein Examen in Angriff wie Sir Eglamore seinen ersten Drachen, legte der Dame sein summa cum laude zu Füßen wie ein Drachenhaupt und richtete sich auf eine tugendhafte Probezeit ein.

Dann kam der Krieg. Natürlich wollte der junge Tölpel unbedingt heiraten, bevor er einrückte, aber seine eigene Ehrpusseligkeit machte ihn zu Wachs in anderer Leute Händen. Man machte ihm klar, daß es unfair gegenüber dem Mädchen wäre, wenn er womöglich als Krüppel zurückkäme. Daran hatte er nicht gedacht, und so beeilte er sich nun in einem Rausch der Selbstverleugnung, sie von ihrem Treueversprechen zu entbinden. Ich hatte damit allerdings nichts zu tun; so sehr mich das Ergebnis freute, so wenig gefielen mir die Mittel.

In Frankreich machte er sich ganz ordentlich; er wurde ein guter Offizier, den seine Leute liebten. Und als er 1916 als frischgebackener Hauptmann in Urlaub kam, bitte sehr, da war das Mädchen verheiratet – mit irgendeinem Wüstling von einem Major, den sie im Lazarett gepflegt hatte und der im Umgang mit Frauen dem Motto huldigte: entschlossen zupacken und schlecht behandeln. Es war eine Roßkur für Peter, denn sie hatte nicht einmal den Mut gehabt, ihm vorher etwas mitzuteilen. Sie hatten in aller Eile geheiratet, als sie hörten, daß er nach Hause kommen sollte, und bei der Landung erwartete ihn nur ein Brief, der ihn vor die vollendete Tatsache stellte und darauf verwies, daß er sie ja selbst freigegeben habe.

Ich will zu Peters Ehre sagen, daß er schnurstracks zu mir kam und zugab, ein Trottel gewesen zu sein. «Na schön», sagte ich, «du hast deine Lektion bekommen, und nun geh nicht hin und mach dich auf anderen Gebieten zum Narren.» Er kehrte also zur Truppe zurück, und ich bin überzeugt, daß er fest entschlossen war, den Heldentod zu sterben. Statt dessen wurde er zum Major befördert und erhielt den Kriegsverdienstorden für irgendein waghalsiges Geheimdienstunternehmen hinter den deutschen Linien. 1918 wurde er bei Caudry in einem Bombentrichter verschüttet, was einen bösen Nervenzusammenbruch zur Folge hatte, der ihm zwei Jahre lang immer wieder zu schaffen machte. Danach nahm er sich eine Wohnung am Piccadilly und machte sich mit Hilfe seines Dieners Bunter, der als Sergeant unter ihm gedient hatte und ihm sehr zugetan ist, an seine allmähliche Wiederherstellung.

Ich will gern zugeben, daß ich auf nahezu alles gefaßt war. Seine ganze schöne Offenheit war dahin, und er ließ niemanden in sein Vertrauen ein, nicht einmal seine Mutter und mich; er legte sich eine undurchdringliche Frivolität und eine dilettantische Pose zu und wurde zum vollendeten Clown. Da er reich war, konnte er tun und lassen, was er wollte, und es bereitete mir ein boshaftes Vergnügen, zu beobachten, welche Anstrengungen die Nachkriegs-Londoner Damenwelt unternahm, um ihn einzufangen. «Es kann doch», sagte eine selbstlos besorgte Matrone einmal, «sicher nicht gut für den armen Peter sein, wenn er wie ein Eremit lebt.» – «Madam», antwortete ich, «wenn er das täte, wäre es wirklich nicht gut.» Nein, in dieser Hinsicht brauchte ich mich nicht um ihn zu sorgen. Aber ich mußte es wohl oder übel als gefährlich ansehen, daß ein Mann von seinen Gaben nichts zu tun hatte, was seinen Geist beschäftigte, und das habe ich ihm auch gesagt.

Dann passierte 1921 die Geschichte mit den Attenbury-Smaragden. Über diesen Vorfall wurde nie geschrieben, aber er sorgte für beträchtlichen Lärm, selbst in dieser lärmendsten aller Zeiten. Der Prozeß gegen den Dieb war eine Kette heißester Sensationen, und die größte Sensation war Lord Peter Wimseys Auftritt vor Gericht als Hauptzeuge der Anklage.

Das Aufsehen war ungeheuer. Im Grunde glaube ich, daß die Aufklärung des Falles für einen erfahrenen Geheimdienstoffizier nichts Besonderes war, aber ein adliger Detektiv war eben etwas Neues. Denver raste vor Wut; mir persönlich war es gleich, was Peter tat, Hauptsache, er tat überhaupt etwas. Ich fand, daß diese Arbeit ihn glücklicher machte, und der Kriminalinspektor von Scotland Yard, den er dabei kennenlernte, gefiel mir. Charles Parker ist ein stiller, vernünftiger und gesitteter junger Mann und war Peter stets ein guter Freund und Schwager. Er hat die angenehme Eigenschaft, jemanden gern haben zu können, ohne ihn umkrempeln zu wollen.

Das einzige, was an Peters neuem Steckenpferd störte, war, daß es mehr als ein Steckenpferd sein müßte, um als Steckenpferd für einen Gentleman zu genügen. Man kann Mörder nicht zu seinem Privatvergnügen an den Galgen bringen. Peters Intellekt zog ihn in die eine Richtung, seine Nerven in die andere, bis ich allmählich fürchtete, sie würden ihn noch in Stücke reißen. Nach Abschluß eines jeden Falles fingen die Alpträume und diese Schützengrabenneurose wieder von vorn an. Und dann mußte Denver – ausgerechnet Denver, dieser Obertölpel, der stets am lautesten gegen Peters entehrende Detektivspielerei gewettert hatte – sich eine Anklage wegen Mordes einhandeln und sich in einem Prozeß vor dem Oberhaus rechtfertigen, und gegen den öffentlichen Feuerzauber, den das gab, waren Peters sämtliche bisherigen Bemühungen in dieser Richtung nur nasse Knallfrösche.

Peter paukte seinen Bruder aus dieser Bedrängnis heraus und war zu meiner großen Erleichterung menschlich genug, sich danach einen anzutrinken. Inzwischen räumt er ein, daß sein «Steckenpferd» ein legitimer Dienst an der Allgemeinheit ist, und er zeigt immerhin wieder so viel Interesse am öffentlichen Wohl, daß er dann und wann für das Außenministerium kleine diplomatische Missionen unternimmt. In jüngster Zeit ist er auch eher bereit, Gefühle zu zeigen, und scheint nicht mehr solche Angst davor zu haben, welche zeigen zu müssen.

Zuletzt hatte er den exzentrischen Einfall, sich in diese Frau zu verlieben, die er von dem Verdacht befreite, ihren Geliebten vergiftet zu haben. Sie hat als Frau von Charakter seinen Heiratsantrag abgelehnt. Dankbarkeit und ein demütigender Minderwertigkeitskomplex sind kein Fundament für eine Ehe; die Ausgangslage war von vornherein falsch. Diesmal hatte Peter aber soviel Verstand, meinen Rat anzunehmen. «Mein Junge», habe ich zu ihm gesagt, «was vor zwanzig Jahren falsch von dir war, ist heute genau richtig. Nicht die unschuldigen jungen Dinger muß man behutsam anfassen – wohl aber die, denen angst gemacht und weh getan wurde. Fang doch einmal ganz von vorn an – aber laß dir sagen, daß du dazu alle Selbstdisziplin brauchen wirst, die du je gelernt hast.»

Nun, er hat es versucht. Ich glaube, ich habe noch nie so etwas von Geduld erlebt. Die Frau hat Verstand und Charakter und ist aufrichtig; aber er muß sie lehren, zu Nehmen, was ungleich schwerer zu lernen ist als Geben. Ich glaube, eines Tages werden sie zueinander finden, wenn sie es vermeiden können, daß ihre Gefühle ihrem Wollen davonlaufen. Ich weiß, er hat verstanden, daß ein Ja hier nur aus freiem Willen kommen darf oder gar nicht.

Peter ist jetzt 45 Jahre alt und sollte langsam seßhaft werden. Wie Sie sehen, war ich einer der wichtigen formenden Einflüsse für seinen Werdegang, und alles in allem finde ich, daß ich stolz auf ihn sein kann. Er ist ein echter Delagardie und hat kaum etwas von den Wimseys an sich, außer (um gerecht zu sein) diesem tief wurzelnden Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit, das dem englischen Landadel als einziges noch eine gewisse Daseinsberechtigung gibt (bildlich gesprochen). Detektiv oder nicht, Peter ist jedenfalls ein Gentleman und Gelehrter, und ich werde amüsiert zusehen, wie er seine Rolle als Ehemann und Vater spielt. Ich bin ein alter Mann und habe keinen eigenen Sohn (soviel ich weiß); ich würde mich freuen, Peter glücklich zu sehen. Aber wie seine Mutter sagt: «Peter hatte immer alles, nur nicht das, was er wirklich wollte.» Und ich glaube, er ist besser daran als die meisten.

1. Kapitel

«O verflixt!» rief Lord Peter Wimsey am Piccadilly Circus. «He, Fahrer!»

Der Taxifahrer, der sich bei dem schwierigen Manöver, zum Abbiegen in die Lower Regent Street die Wege eines Omnibusses der Linie 19, einer Straßenbahn der Linie 38 B und eines Fahrrads zu kreuzen, durch diesen Anruf irritiert fühlte, lieh ein unwilliges Ohr.

«Ich habe meinen Katalog vergessen», sagte Lord Peter abbittend. «So etwas Liederliches! Könnten Sie wohl noch einmal umkehren?»

«Zum Savile Club, Sir?»

«Nein – 110 A Piccadilly – gleich dahinter – danke.»

«Ich dachte, Sie hätten’s eilig», antwortete der Fahrer leicht gekränkt.

«Ein bißchen schwierig zum Wenden hier», entschuldigte sich Lord Peter, mehr auf die Gedanken des Fahrers als auf seine Worte eingehend. Sein langes, liebenswürdiges Gesicht wirkte wie von selbst aus dem Zylinder gewachsen, gleich den weißen Maden im Gorgonzola.

Das Taxi wendete mit langsamen, ruckartigen Bewegungen, und es klang, als knirschte es mit den Zähnen.

Der große Neubau, in dem Lord Peter im zweiten Stock eine der vollkommenen, teuren Wohnungen innehatte, stand unmittelbar gegenüber dem Green Park an der Stelle, wo sich jahrelang das Gerippe eines bankrotten Unternehmens befunden hatte. Als Lord Peter die Wohnungstür aufschloß, hörte er in der Bibliothek seinen Diener in jenem gedämpft durchdringenden Ton reden, der gut geschulten Menschen beim Telefonieren eigen ist.

«Ich glaube, da kommt Seine Lordschaft soeben zurück – wenn Euer Gnaden freundlicherweise einen Augenblick am Apparat bleiben wollen.»

«Was gibt’s, Bunter?»

«Ihre Gnaden ruft gerade aus Denver an, Mylord. Ich sagte ihr schon, daß Eure Lordschaft zur Auktion gegangen seien, da hörte ich Eurer Lordschaft Schlüssel im Schloß.»

«Danke», sagte Lord Peter. «Sie könnten mir derweil meinen Katalog suchen. Ich muß ihn im Schlafzimmer oder auf dem Schreibtisch liegengelassen haben.»

Er setzte sich mit einer Miene lässiger Höflichkeit ans Telefon, als ob ein Bekannter auf ein Schwätzchen zu ihm gekommen wäre.

«Hallo, Mutter – bist du’s?»

«Ah, da bist du ja, mein Junge», antwortete die Stimme der Herzoginwitwe. «Ich dachte schon, ich hätte dich um ein Haar verpaßt.»

«Nun, das hattest du eigentlich auch. Ich war gerade auf dem Weg zur Brocklebury-Auktion, um das eine oder andere Buch zu ergattern, aber dann mußte ich noch einmal zurückkommen, um den Katalog zu holen. Was gibt’s denn?»

«Eine recht merkwürdige Geschichte», sagte die Herzogin. «Die wollte ich dir lieber mal erzählen. Du kennst doch den kleinen Mr. Thipps?»

«Thipps?» fragte Lord Peter. «Thipps? Ach ja, der kleine Architekt, der unser Kirchendach macht. Ja. Was ist mit ihm?»

«Mrs. Throgmorton war gerade hier, ganz außer sich.»

«Entschuldige, Mutter, ich höre dich schlecht. Mrs. Wer?»

«Throgmorton – Throgmorton – die Frau des Vikars.»

«Ah, Throgmorton! Ja?»

«Mr. Thipps hat sie heute morgen angerufen. Er sollte nämlich heute kommen.»

«Ja?»

«Er rief an, um zu sagen, daß er nicht kann. Er war so aufgeregt, der Arme. Er hatte nämlich in seinem Bad eine Leiche gefunden.»

«Entschuldige, Mutter, ich habe nicht richtig gehört; was hat er gefunden? Und wo?»

«Eine Leiche, Peter. Im Bad.»

«Was? – Nein, nein, wir sind noch nicht fertig. Bitte nicht trennen. Hallo! Hallo! Bist du noch da, Mutter? Hallo! Mutter! – Ach ja – entschuldige, die Vermittlung wollte uns trennen. Was für eine Leiche?»

«Die Leiche eines Mannes, und nur mit einem Kneifer bekleidet. Mrs. Throgmorton wurde richtig rot, als sie es mir erzählte. Ich fürchte, in diesen ländlichen Pfarreien werden die Leute ein bißchen engstirnig.»

«Na ja, es klingt auch etwas ungewöhnlich. War es jemand, den er kannte?»

«Nein, ich glaube nicht, Peter, aber er konnte ihr natürlich auch nicht alle Einzelheiten erzählen. Sie sagt, seine Stimme klang sehr verstört. Er ist doch so ein wohlanständiger kleiner Mann – und daß er nun die Polizei im Haus hat und so weiter, das setzt ihm arg zu.»

«Armer Thipps! Muß ihm ausgesprochen peinlich sein. Mal sehen – er wohnt in Battersea, nicht?»

«Ja, mein Lieber: Queen Caroline Mansions 59; gleich gegenüber dem Park. Dieser große Häuserblock, vom Krankenhaus gleich um die Ecke. Ich dachte, du könntest vielleicht mal hinfahren und sehen, ob wir etwas für ihn tun können. Ich fand ihn immer so nett.»

«O ja, gewiß», sagte Lord Peter und grinste das Telefon an. Die Herzogin unterstützte sein kriminalistisches Hobby immer so schön, obwohl sie es nie mit einem Wort erwähnte und höflicherweise stets so tat, als gäbe es das gar nicht.

«Wann ist es passiert, Mutter?»

«Ich glaube, er hat die Leiche am frühen Morgen gefunden, aber zuerst hat er natürlich gar nicht daran gedacht, den Throgmortons das zu sagen. Sie kam kurz vor dem Mittagessen damit zu mir – so lästig, denn nun mußte ich sie bitten, zu bleiben. Zum Glück war ich allein. Mir persönlich macht es ja nichts aus, mich langweilen zu lassen, aber ich lasse ungern meine Gäste langweilen.»

«Du Ärmste! Na ja, schönen Dank jedenfalls, daß du mir das gesagt hast. Ich glaube, ich schicke Bunter zur Auktion und wackle selbst mal gleich zum Battersea Park, um das arme Kerlchen zu trösten. Mach’s gut.»

«Auf Wiedersehen, mein Junge.»

«Bunter!»

«Ja, Mylord?»

«Ihre Gnaden erzählt mir soeben, daß ein angesehener Architekt aus Battersea eine Leiche in seinem Bad gefunden hat.»

«Wahrhaftig, Mylord? Wie überaus erfreulich.»

«Überaus, Bunter! Ihre Wortwahl ist unfehlbar. Hätten Eton und Balliol mir das doch auch beigebracht! Haben Sie den Katalog gefunden?»

«Hier ist er, Mylord.»

«Danke. Ich begebe mich sofort nach Battersea. Gehen Sie für mich zur Auktion. Und verlieren Sie keine Zeit – ich möchte nicht, daß mir der Folio-Dante[*] entgeht, oder der de Voragine – hier stehen sie – ja? Golden Legend – Wynkyn de Worde, 1493 – haben Sie das? Und nun passen Sie auf, bemühen Sie sich ganz besonders um das Caxton-Folio von den Four Sons of Aymon – das ist der Folioband von 1489, der existiert nur einmal. Sehen Sie! Ich habe alles angestrichen, was ich haben will, und gehen Sie jedesmal bis zu meinem Höchstgebot. Tun Sie, was Sie können. Ich bin zum Abendessen wieder da.»

«Sehr wohl, Mylord.»

«Nehmen Sie mein Taxi und sagen Sie dem Mann, er soll sich beeilen. Für Sie tut er’s vielleicht, mich kann er nicht besonders leiden.» Ob ich, dachte Lord Peter bei sich, indem er sich in dem Spiegel aus dem 18. Jahrhundert, der über dem Kamin hing, betrachtete, ob ich wohl so herzlos sein und den verdatterten Thipps noch mehr in Verlegenheit bringen kann – das ist in der Eile sehr schwer zu sagen –, indem ich in Frack und Zylinder erscheine? Ich glaube nicht. Möchte zehn gegen eins wetten, daß er meine Hose übersieht und mich für den Bestattungsunternehmer hält. Ein ordentlicher und unauffälliger grauer Anzug mit passendem Hut ist meinem anderen Ich wahrscheinlich besser angemessen. Büchernarr geht ab; neues Grundmotiv, eingeführt von Fagottsolo; Auftritt Sherlock Holmes, als Spaziergänger verkleidet. Da geht Bunter. Unbezahlbar, der Mann – beruft sich nie auf seine Arbeit, wenn man ihm etwas anderes zu tun gibt. Hoffentlich läßt er sich die Four Sons of Aymon nicht entgehen. Und es gibt doch noch eine andere Ausgabe davon – im Vatikan.[*] Vielleicht ist sie eines Tages zu haben, wer weiß – wenn die römische Kirche bankrott geht oder die Schweiz nach Italien einmarschiert – dagegen findet man höchstens einmal im Leben in einem Londoner Vorort eine fremde Leiche im Badezimmer – glaube ich zumindest – aber daß sie auch noch einen Kneifer auf der Nase hat, dies kann man bestimmt an den Fingern einer Hand abzählen. Meine Güte, ich glaube, es ist doch ein Fehler, zwei Steckenpferde auf einmal zu haben!

Er war über den Flur in sein Schlafzimmer gehuscht und zog sich mit einer Behendigkeit um, die man einem Mann von seinem gekünstelten Auftreten gar nicht zugetraut hätte. Er wählte eine dunkelgrüne Krawatte passend zu den Socken aus und knotete sie akkurat, ohne eine Sekunde zu zögern oder auch nur die Lippen zusammenzupressen; die schwarzen Schuhe tauschte er gegen ein Paar braune, dann steckte er sich ein Monokel in die Brusttasche und nahm seinen schönen Malakka mit schwerem Silberknauf zur Hand.

«Das wär’s, glaube ich», sagte er leise bei sich. «Halt – dich kann ich auch noch mitnehmen, vielleicht brauche ich dich – man kann nie wissen.» Er vervollständigte seine Ausstattung mit einem flachen silbernen Streichholzdöschen, und als er sah, daß es schon Viertel vor drei war, eilte er rasch nach unten, winkte ein Taxi herbei und ließ sich zum Battersea Park bringen.

 

Mr. Alfred Thipps war ein kleiner, nervöser Mann, dessen flachsblondes Haar den ungleichen Kampf mit dem Lauf der Zeit aufzugeben begonnen hatte. Man könnte sagen, daß der einzige bemerkenswerte Zug an ihm eine dicke Beule über der linken Augenbraue war, die ihm ein etwas liederliches, zu seiner übrigen Erscheinung wenig passendes Aussehen gab. Fast in einem Atemzug mit der Begrüßung entschuldigte er sich verlegen dafür und murmelte etwas davon, daß er im Dunkeln gegen die Eßzimmertür gelaufen sei. Er war ob Lord Peters Aufmerksamkeit und der Herablassung, die er durch seinen Besuch bewies, fast zu Tränen gerührt.

«Es ist ja so liebenswürdig von Eurer Lordschaft», wiederholte er zum dutzendstenmal, wobei er nervös mit den unscheinbaren Lidern zwinkerte. «Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen, wirklich sehr, und meine Mutter würde es ebenso zu würdigen wissen, aber sie ist so schwerhörig, daß ich Ihnen nicht zumuten möchte, sich ihr verständlich zu machen. Es war ein sehr schlimmer Tag», fügte er hinzu, «mit der Polizei im Haus und all der Aufregung. So etwas sind meine Mutter und ich nicht gewöhnt, wo wir immer so zurückgezogen leben; es ist wirklich sehr bedrückend für einen Menschen, der ein geregeltes Leben führt, Mylord, und ich bin fast dankbar dafür, daß meine Mutter nichts hört, denn es würde sie bestimmt furchtbar aufregen, wenn sie etwas davon wüßte. Sie war zuerst sehr aufgebracht, aber inzwischen hat sie sich eine eigene Erklärung zurechtgelegt, und das ist gewiß am besten so.»

Die alte Dame, die strickend beim Feuer saß, erwiderte den Blick ihres Sohnes mit einem kurzen, grimmigen Nicken.

«Ich hab dir ja schon immer gesagt, du sollst dich mal wegen des Badezimmers beschweren, Alfred», sagte sie plötzlich mit hoher, schriller Stimme, wie sie für Schwerhörige so charakteristisch ist, «und jetzt soll sich der Hauswirt mal endlich darum kümmern; ich finde zwar, es wäre auch ohne die Polizei gegangen, aber bitte sehr! Du hast ja schon immer wegen Kleinigkeiten ein großes Theater gemacht, das war schon bei den Windpocken so.»

«Na bitte», sagte Mr. Thipps entschuldigend, «da sehen Sie, wie es steht. Es ist natürlich gut, daß sie auf diese Erklärung verfallen ist, denn jetzt begreift sie wenigstens, daß wir das Bad zugesperrt haben, und versucht nicht mehr hineinzugehen. Aber für mich war es ein furchtbarer Schock, Sir – Mylord sollte ich wohl sagen, aber da sehen Sie, wie ich mit den Nerven am Ende bin. So was ist mir mein Leben – mein Lebtag noch nicht passiert. Ich war heute morgen völlig fertig – wußte gar nicht mehr, wo oben und unten war – wirklich nicht, und da mein Herz ja auch nicht das stärkste ist, weiß ich gar nicht mehr, wie ich aus diesem schrecklichen Bad herausgekommen bin und die Polizei angerufen habe. Es hat mich sehr mitgenommen, wirklich sehr mitgenommen, Sir – ich habe zum Frühstück keinen Bissen hinuntergebracht, zum Mittagessen auch nicht, und dann die ganze Telefoniererei, und ich mußte Kunden absagen und den ganzen Morgen mit Leuten reden – ich wußte kaum noch, wo mir der Kopf stand.»

«Es muß wirklich sehr bedrückend für Sie gewesen sein», sagte Lord Peter mitfühlend, «vor allem, wenn so etwas vor dem Frühstück passiert. Ich hasse Unannehmlichkeiten vor dem Frühstück. Da trifft es einen genau im falschen Augenblick, nicht?»

«So ist es, so ist es ganz genau», pflichtete Mr. Thipps ihm eifrig bei. «Als ich dieses abscheuliche Ding da in meiner Badewanne liegen sah, splitternackt dazu, bis auf den Kneifer auf der Nase – ich kann Ihnen versichern, Mylord, da hat es mir regelrecht den Magen umgedreht, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen. Ich bin nicht sehr stark, Sir, und habe morgens manchmal so ein Schwächegefühl, und als nun das noch hinzukam, mußte ich doch tatsächlich das Mädchen nach einem kräftigen Schluck Brandy schicken, Sir – Mylord, sonst wüßte ich nicht, wie es mir ergangen wäre. Mir war so komisch, und dabei halte ich normalerweise ja nichts von Alkohol. Aber ich habe es mir zur Regel gemacht, nie ohne Brandy im Haus zu sein, falls mal etwas passiert, Sie verstehen?»

«Sehr weise», sagte Lord Peter gutgelaunt, «Sie sind ein weitblickender Mann, Mr. Thipps. Ein Schlückchen wirkt im Notfall Wunder, und je weniger man daran gewöhnt ist, desto besser tut es einem. Ihr Mädchen ist hoffentlich eine vernünftige Person, ja? Es ist so ärgerlich, wenn einem Frauen dauernd in Ohnmacht fallen und immerzu herumkreischen.»

«Oh, Gladys ist ein gutes Mädchen», sagte Mr. Thipps, «und wirklich sehr vernünftig. Sie war natürlich schockiert, das ist nur zu verständlich. Ich war ja selbst schockiert, und es wäre geradezu ungehörig für ein junges Mädchen, unter solchen Umständen nicht schockiert zu sein, aber wenn Not am Mann ist, kann sie sehr stark sein und ist mir eine große Hilfe, wenn Sie verstehen. Ich schätze mich glücklich, heutzutage so ein braves, anständiges Mädchen für meine Mutter und mich zu haben, obwohl sie in Kleinigkeiten manchmal etwas nachlässig und vergeßlich ist, aber das ist nur natürlich. Es hat ihr sehr leid getan, daß sie das Badezimmerfenster offen gelassen hatte, wirklich, und wenn ich zuerst auch böse deswegen war, nachdem ich sah, was dabei herausgekommen war, hätte man doch normalerweise kein Wort darüber zu verlieren brauchen, meine ich. Junge Mädchen vergessen eben manchmal etwas, Mylord, und sie war dann derart außer sich, daß ich ihr keine großen Vorhaltungen mehr machen wollte. Ich habe nur gesagt: ‹Es hätten auch Einbrecher sein können, denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal ein Fenster die ganze Nacht offenstehen lassen›, habe ich gesagt. ‹Diesmal war es ein Toter, und das ist schon unangenehm genug, aber das nächste Mal könnten es Einbrecher sein›, habe ich gesagt, ‹und dann liegen wir womöglich alle ermordet in unseren Betten.› Aber der Polizeiinspektor – Inspektor Sugg nannten sie ihn, von Scotland Yard, der hat sie sehr hart angefaßt, das arme Ding. Richtig erschreckt hat er sie und ihr das Gefühl gegeben, daß er sie für irgendwas verdächtigt, obwohl ich mir nun wirklich nicht vorstellen kann, was ein Mädchen wie sie von einem Toten haben soll, und das habe ich dem Inspektor auch gesagt. Er war auch zu mir sehr ungezogen, Mylord – ich muß sagen, seine Art gefiel mir gar nicht. ‹Wenn Sie Gladys oder mir etwas Konkretes vorzuwerfen haben, Inspektor›, habe ich gesagt, ‹dann sprechen Sie es aus, das ist Ihre Pflicht, aber ich wüßte nicht, daß Sie dafür bezahlt werden, gegenüber einem Menschen in seinem eigenen Haus ungezogen zu sein›, habe ich gesagt. Wirklich», sagte Mr. Thipps und wurde ganz rot auf dem Kopf, «er hat mich richtig in Wut gebracht, richtig in Wut gebracht, Mylord, und ich bin eigentlich ein friedfertiger Mensch.»

«Das ist Sugg wie er leibt und lebt», sagte Lord Peter. «Ich kenne ihn. Wenn er nichts anderes mehr zu sagen weiß, wird er unverschämt. Man kann sich doch denken, daß Sie und Ihr Mädchen nicht in der Gegend herumlaufen und Leichen zusammentragen. Wer lädt sich schon gern eine Leiche auf? Normalerweise ist es schwierig genug, sie loszuwerden. Sind Sie diese Leiche übrigens schon losgeworden?»

«Sie liegt noch im Bad», sagte Mr. Thipps. «Inspektor Sugg hat gesagt, es darf nichts angerührt werden, bevor seine Leute hier waren, um sie abzuholen. Ich erwarte sie jeden Augenblick. Falls Eure Lordschaft sich dafür interessieren, einmal einen Blick darauf zu werfen –»

«Herzlichen Dank», sagte Lord Peter, «das täte ich sehr gern, wenn es Ihnen keine Umstände macht.»

«Keineswegs», antwortete Mr. Thipps. Seine ganze Haltung, wie er über den Korridor voranging, überzeugte Lord Peter von zweierlei – erstens, daß er bei aller Schaurigkeit dessen, was er zu zeigen hatte, durchaus die Wichtigkeit genoß, die ihm und seiner Wohnung dadurch zukam, und zweitens, daß Inspektor Sugg ihm strikt verboten hatte, die Leiche jemandem zu zeigen. Letztere Annahme bestätigte Mr. Thipps selbst, indem er rasch noch den Schlüssel aus dem Schlafzimmer holen ging und dabei erklärte, die Polizei habe den andern mitgenommen, doch er habe es sich zur Regel gemacht, zu jeder Tür immer zwei Schlüssel im Haus zu haben, falls einmal etwas passierte.

Das Bad war in keiner Weise bemerkenswert. Es war lang und schmal, und das Fenster befand sich genau über dem Kopfende der Badewanne. Die Scheibe war aus Milchglas, der Rahmen weit genug, daß ein Männerkörper hindurchpaßte. Lord Peter ging rasch hin, öffnete es und sah hinaus.

Die Wohnung lag in der obersten Etage und etwa in der Mitte des Blocks. Das Badezimmerfenster blickte auf die Hinterhöfe hinaus, die ein paar Geräte- und Kohleschuppen, Garagen und dergleichen beherbergten. Dahinter schlossen sich die Hinterhöfe eines parallelen Häuserblocks an. Rechts erhob sich der ausgedehnte Bau des St. Luke’s-Krankenhauses von Battersea mit dazugehörigem Gelände, und von dort führte ein überdachter Verbindungsgang zur Residenz des berühmten Chirurgen Sir Julian Freke, der die Chirurgie in diesem prächtigen neuen Krankenhaus unter sich hatte und außerdem in der Harley Street als hervorragender Neurologe mit höchst eigenen Ansichten bekannt war.

Diese Informationen bekam Lord Peter ausführlich von Mr. Thipps ins Ohr geblasen, der von der Nachbarschaft so eines berühmten Mannes offenbar den Abglanz eines Heiligenscheins auf die Queen Caroline Mansions fallen sah.

«Wir hatten ihn heute morgen hier», sagte er, «wegen dieser scheußlichen Geschichte. Inspektor Sugg meinte, einer der jungen Krankenhausärzte könnte die Leiche zum Scherz hierhergebracht haben, denn die haben doch immer Leichen im Seziersaal. Darum ist Inspektor Sugg heute morgen zu Sir Julian gegangen, um ihn zu fragen, ob ihm eine Leiche fehlte. Sir Julian war sehr freundlich, wirklich sehr freundlich, obwohl er doch im Seziersaal mitten in der Arbeit steckte, als sie hinkamen. Er hat in den Büchern nachgesehen, ob dort alle Leichen nachgewiesen waren, und ist dann sehr entgegenkommenderweise sogar noch hierhergekommen, um sich das da –» er deutete auf die Badewanne – «anzusehen, und dann hat er gesagt, er kann uns leider nicht helfen – im Krankenhaus fehle keine Leiche, und die hier sähe auch keiner der Leichen, die sie dort hätten, ähnlich.»

«Hoffentlich auch keinem der Patienten», bemerkte Lord Peter obenhin.

Mr. Thipps erbleichte ob dieser grausigen Anspielung.

«Danach habe ich Inspektor Sugg nicht fragen hören», sagte er ziemlich erregt. «Das wäre ja ganz fürchterlich. Gott steh uns bei, Mylord, auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen.»

«Na ja, wenn dort ein Patient fehlte, hätte man es inzwischen wohl bemerkt», sagte Lord Peter. «Nun sehen wir uns diese Leiche hier mal an.»

Er klemmte sich sein Monokel vors Auge und fuhr fort: «Wie ich sehe, weht Ihnen hier der Ruß herein. Sehr ärgerlich, nicht? Bei mir ist das auch so – macht mir alle Bücher kaputt. Lassen Sie, bemühen Sie sich nicht, wenn Sie lieber nicht hinsehen möchten.»

Er nahm das Laken, das man über die Wanne gelegt hatte, aus Mr. Thipps’ zögernder Hand, und schlug es zurück.

Der Tote in der Badewanne war ein großer, kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren. Sein dichtes schwarzes, natürlich gewelltes Haar war von Meisterhand geschnitten und gescheitelt und strömte einen leichten Veilchenduft aus, der in der stickigen Luft im Badezimmer deutlich wahrzunehmen war. Das Gesicht war dick, fleischig und markant; es hatte vorstehende dunkle Augen und eine lange, zu einem kräftigen Kinn hinabgebogene Nase. Die bartlosen Lippen waren voll und sinnlich, und der heruntergeklappte Unterkiefer entblößte tabakfleckige Zähne. Ein goldener Kneifer auf der Nase des Toten spottete des Todes mit seiner grotesken Eleganz; das dünne Goldkettchen lag in einem Bogen auf der nackten Brust. Die Beine lagen steif ausgestreckt nebeneinander; die Arme ruhten fest am Körper; die Finger waren ganz natürlich gekrümmt. Lord Peter hob einen Arm hoch und besah sich die Hand mit leicht gerunzelter Stirn.

«Ganz schön eitel, Ihr Besucher, wie?» brummelte er. «Parmaveilchen und Maniküre.» Er bückte sich wieder und schob seine Hand unter den Kopf des Toten. Die komischen Augengläser rutschten herunter und fielen klappernd in die Wanne, ein Geräusch, das dem immer nervöser werdenden Mr. Thipps den letzten Rest gab.

«Entschuldigen Sie mich», flüsterte er, «mir wird ganz schwach, wirklich ganz schwach.»

Er verzog sich, und kaum war er fort, hob Lord Peter flink und vorsichtig die Leiche hoch, drehte sie um und inspizierte sie mit schiefgelegtem Kopf, wobei er das Monokel ins Spiel brachte wie der selige Joseph Chamberlain bei der Begutachtung einer seltenen Orchidee. Dann schob er den Arm unter den Kopf des Toten, nahm das silberne Streichholzdöschen aus der Tasche und schob es dem Toten in den offenen Mund. Mit einer Äußerung, die man meist «Ts-ts» schreibt, legte er anschließend die Leiche wieder hin, nahm den mysteriösen Kneifer zur Hand, betrachtete ihn, setzte ihn sich auf die Nase und sah hindurch, gab erneut die oben beschriebenen Laute von sich und setzte den Kneifer wieder dem Toten auf, um nur ja keine Spuren seines unbefugten Eingreifens zu hinterlassen, über die Inspektor Sugg sich nur ärgern würde; er legte die Leiche in ihre ursprüngliche Lage zurück, dann ging er wieder ans Fenster, beugte sich hinaus und tastete mit dem unpassenderweise hierher mitgebrachten Spazierstock aufwärts und seitwärts. Nachdem dabei offenbar nichts herauskam, zog er den Kopf wieder zurück, schloß das Fenster und ging zu Mr. Thipps auf den Flur.