Aufruhr! - Thomas Laufmöller - E-Book

Aufruhr! E-Book

Thomas Laufmöller

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Beschreibung

Herbst 2023: Thomas Laufmöller, einer der beliebtesten Priester in Münster, wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr den Weg einer Kirche mitgehen, die immer konservativer wird und den Traum einer liberalen Gemeinde längst verabschiedet hat. Die Kirche in ihren Anfängen war vielfältig. Sie kannte keinen unfehlbaren Papst und keine wie Regenten auftretenden Bischöfe. Thomas Laufmöllers gemeinsam mit dem Journalisten Ralf Isermann formuliertes Plädoyer für eine neue Urkirche richtet sich an Menschen, die die Kirche verlassen, aber ihren Glauben behalten haben. Und es richtet sich an Menschen, die in der katholischen oder evangelischen Kirche bleiben und angesichts fehlender Priester, ihr Glaubensleben selbst in die Hand nehmen müssen.

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Seitenzahl: 260

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Thomas Laufmöller

Aufruhr!

Warum wir eine neue Urkirche brauchen

Mit Ralf Isermann

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH, München

Umschlagmotiv: © ZeroMedia GmbH, München

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timişoara

ISBN Print 978-3-451-39799-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83486-8

Inhalt

1. Ein Gespräch zu Beginn

2. Eine Implosion voll Wehklagen – wie die Volkskirche verschwunden ist

3. Der vermeintlich Heilige Rest ist konservativ

4. Kommen Sie mir doch einmal ganz nahe

5. Warum nicht auf die Menschen hören?

6. Leichtes Spiel für liberale Priester

7. Was ist ein liberaler Priester? – Ich bin es!

8. Es ist doch Poesie im Wort der Bibel

9. Urkirche im paulinischen Sinne

10. Lasst Charismen klingen

11. Der Mensch ist, mit wem er isst

12. Spiritualität erwächst durch Menschlichkeit

13. Communio ist das Zauberwort

14. Lebt Richtung Unendlichkeit

15. Füllt den neuen Wein in die alten Schläuche

16. Hätte ich drei Jahre

17. Ein alter biblischer Impuls für eine moderne Gemeinde der Zukunft

18. Was Lydia für Paulus tat, war eigentlich doch ein Priesterinnendienst

19. Baut die neue Urkirche – aber wie jetzt konkret

20. Quo vadis, ecclesia? Quo vadis, Thomas?

Danksagung

Textnachweis

Über die Autoren

1. Ein Gespräch zu Beginn

Ende September 2023 wurde ich als Priester auf meinen eigenen Wunsch hin, nach reiflicher Überlegung und Reflexion, entpflichtet. Es war der aktiv von mir gesetzte Schlusspunkt eines schon seit Jahren andauernden negativen Prozesses im Bistum Münster. Ich möchte hier nur zwei jüngere Entwicklungen dieses Prozesses erwähnen: 2020 wurde ich gegen meinen Willen versetzt, was in Münster einen Aufruhr auslöste. 2023 bekam ich in den Wochen vor meiner Entscheidung, als Priester aufzuhören, die Nachricht, dass ich meine Stelle als Schulseelsorger verliere – eine Strafe, weil ich ohne Wissen und Einverständnis des Bischofs Felix Genn in eine private Wohnung umgezogen war. Viele Menschen zeigten sich bewegt über die Entwicklungen.

In den vergangenen Monaten habe ich viele Male mit Ralf Isermann über diese Zeit gesprochen. Er lebt in München, ich in Münster – unsere gemeinsame Vergangenheit liegt in Mettingen im Münsterland, wo wir uns in den 1990er Jahren bei der Christlichen Jugend Mettingen begegnet sind, einer örtlichen Gruppe. Die Idee für dieses Buch ist entstanden, als wir uns zufällig in der Zeit meiner Entpflichtung bei einer Silberhochzeit wieder begegnet sind. Wir stehen vielleicht stellvertretend für Konflikte, die gerade viele engagierte Christen in Deutschland mit sich tragen. Ich, der ich als Priester nicht mehr Teil dieses Systems sein konnte, aber dennoch in der tiefen Liebe zu Jesus mein Leben lebe. Ralf, der als Pfarrgemeinderat in München im Ehrenamt viel Zeit für die katholische Kirche aufbringt, aber fassungslos die kirchlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre verfolgt. Da er als Journalist viel über Kirchenthemen schreibt und in einer ökumenischen Ehe lebt, bekommt er mit, dass auch in der evangelischen Kirche manches nicht rund läuft. Uns eint die Überzeugung, dass Glauben schön ist. Doch die Kirchen haben viel von dieser Schönheit verloren. Wir wollen, dass der Glaube von Schönheit strotzt. In unseren Telefonaten und Treffen haben wir gespürt, dass uns unsere Gespräche selbst reicher machen – deshalb beginnen wir das Buch mit einem Gespräch.

Ralf Isermann: Thomas, Ende 2020 habe ich das erste Mal nach ein paar Jahren wieder von dir gehört, besser über dich. Und das war damals erstaunlich. Unsere gemeinsamen Freunde aus der Jugendarbeit in Mettingen im Münsterland riefen mich ganz aufgeregt an und sagten: „Ralle, du glaubst nicht, was hier in Münster los ist.“ Oder: „So viele Leserbriefe zu einem Thema waren noch nie.“ Damals hatte Bischof Felix Genn angekündigt, dass du aus der St.-Stephanus-Gemeinde in Münster versetzt werden sollst. Mitten in der ersten Hochphase der Coronapandemie, als wir alle nur nach dem Motto „mit Distanz sicher leben“ unterwegs waren, hatten die Menschen für dich mehrfach protestiert und demonstriert. Das war ein Aufruhr. Nicht die Proteste gegen die gesundheitspolitischen Maßnahmen waren zu der Zeit die größten Demonstrationen in Münster, sondern die für den Priester Thomas Laufmöller. Das hat mich aus dem fernen München sehr beeindruckt.

Thomas Laufmöller: Da hat dir die Distanz des entfernten Beobachters geholfen. Für mich war es eine der schlimmsten Zeiten meines Lebens. Ich hatte das Gefühl, dass der Bischof mein Lebenswerk und meine geistliche Heimat – das Zusammenspiel einer Pfarrgemeinde mit einer Schule – zerstören wollte. Ich kann und muss das heute so klar sagen. Damals befand ich mich über Monate wie in einem Tunnel, sodass es mir erschien, als würden die Dinge um mich herum einfach passieren. Natürlich sprach ich mit vielen und sagte vieles. In einem Brief bat ich vor Weihnachten 2020 darum, nicht für mich zu demonstrieren. Die Menschen sollten sich auf Advent und Weihnachten freuen, sie sollten das feiern können, das war mir wichtiger. Es wurde aber trotzdem demonstriert. Das Argument: Die Versetzung wurde ja auch zum Advent hin, genau in dieser friedlichen Zeit, öffentlich gemacht. Da hatten die Organisatoren recht. Aber noch einmal: Wenn ich an den damaligen Aufruhr denke, kann ich sagen, es hat mich sehr bewegt und zutiefst berührt. Aber ich war auch schwer von dem getroffen, was der Bischof entschieden hatte. Es wurde nicht auf Augenhöhe und erst recht nicht auf Herzenshöhe mit mir gesprochen. Das war traumatisierend. Ich habe sehr viele Gespräche geführt und professionelle Begleitung stärkend in Anspruch genommen, um durch diese Zeit zu kommen.

Ralf Isermann: Aus meiner Distanz als Beobachter möchte ich einen weiteren Eindruck teilen. Ich berichte als Journalist viel über kirchliche Themen, seit vielen Jahren. Aber mir ist selten so ein Aufruhr zu Ohren gekommen. Und wenn doch einmal in anderen Bistümern die Menschen bei einer Priesterversetzung protestierten, dann war immer irgendwas gründlich schiefgegangen. Und zwar meistens auf Seiten der Menschen mit der Macht, in diesem Fall also beim Bischof und seinen Leuten. Aus der Ferne sah es für mich so aus, dass ein sehr beliebter Priester im treu-katholischen Münster versetzt wird und der Bischof nicht wirklich erklären kann warum eigentlich.

Thomas Laufmöller: Er hat es auch nie geschafft, es richtig zu erklären. Es gab Versuche, die sich im Laufe der Zeit veränderten – sie wurden angepasst an das, was man zum jeweiligen Zeitpunkt der Aussage für sinnvoll hielt. Das macht es auch bis heute so schwer. Unsere katholische Kirche – ich bin ja dabeigeblieben – predigt Wahrhaftigkeit. Ich finde Wahrhaftigkeit wunderbar. Darum geht es auch im Leben. Aber warum hat dann die Kirche so ein Problem damit? Das zieht sich wie ein roter Faden durch. Mein Beispiel ist nur ein ganz kleines. Rede mit einem Missbrauchsopfer. Zuerst kommt der zerstörerische Missbrauch. Darauf folgt der Umgang der Kirche damit, der aus der Sicht der meisten Opfer mindestens genauso zerstörerisch ist – weil so oft Ehrlichkeit und Transparenz fehlen. Das ist auch nach all den Aufarbeitungsversuchen der Bistümer nicht gelungen. Rede mit Beteiligten an Reformprozessen wie dem Synodalen Weg. Die bringen sich mit bestem Willen ein und laufen ständig gegen die Wand – weil sie in letzter Konsequenz keine Entscheidungsbefugnis haben und die Machtfrage wichtiger ist als die Inhalte. Fast immer setzt sich die Macht durch.

Ralf Isermann: Weißt du, worüber ich bis heute bei deiner Auseinandersetzung in Münster schmunzeln muss, auch wenn das Ganze alles andere als lustig war? Das Bistum hat damals das Engagement deiner Gemeindemitglieder als Zentrierung auf eine Person kritisiert. Die Bistumsleitung stichelte, in St. Stephanus stehe ja nicht Jesus im Mittelpunkt, sondern Laufmöller. Das Lustige an dieser Kritik hängt im Schlafzimmer meiner Eltern. Sie hatten vor ein paar Jahren goldene Hochzeit. Und dazu bekamen sie eine Urkunde des Bistums, die sie sich in diesem Schlafzimmer aufhängten. Bis zum Tod meines Vaters und dem Umzug meiner Mutter in eine Seniorenunterkunft konnten sie von ihrem Ehebett aus jeden Tag direkt darauf schauen. Aber was steht nun im Mittelpunkt dieser Urkunde? Die Lebensleistung meiner Eltern als Ehepaar? Ein frommes Wort? Ein guter Gedanke? Nein, diese Urkunde besteht zu gefühlt zwei Dritteln aus einem Foto von Bischof Felix Genn. Als Genns Vorgänger Reinhard Lettmann 1980 Bischof von Münster wurde, gab es in der Kirchenzeitung übrigens ein Poster von ihm – ich habe es mir als Achtjähriger tatsächlich eine Zeitlang aufgehängt, da hing er neben Fußballmannschaften und Bands in meinem Kinderzimmer.

Thomas Laufmöller: Ralle, über deine kindliche Popstar-Verehrung für einen Bischof lachst du ja im Nachhinein selbst. Ich bin tatsächlich an solchen Punkten schon früh müde geworden, etwas zu sagen. Im Hochgebet wird bis heute jeden Sonntag in fast allen Gemeinden für den Papst und den Bischof gebetet. Warum? Ich habe meist darauf verzichtet. Aber ja, der Vorwurf, dass es in St. Stephanus nur um Laufmöller und nicht um den Glauben ging, wird mit solchen Anekdoten natürlich entlarvt. Wir waren in St. Stephanus einfach eine starke Gemeinde, für mich hatte es etwas Familiäres. Dann sollte ich gegen meinen Willen gehen und wurde am Ende zwangsversetzt – das führte zum Aufruhr. Inzwischen löst die Erinnerung an diesen chancenlosen Kampf bei mir Müdigkeit aus, aber auch Mut, weil es ungerecht ist, und wo Ungerechtigkeit herrscht, da muss man immer aufstehen. Christlich war und ist so ein Vorgehen nicht.

Ralf Isermann: Ich komme ja aus einer progressiven Jugendarbeit mit vielen Elementen der „Kirche von unten“. In unserem Dorf Mettingen bauten wir in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit Hermann-Josef „Mofi“ Morgret die Christliche Jugend Mettingen auf und hatten da durchschlagenden Erfolg. Die Gruppenstunden und Fahrten wurden sehr gut angenommen. Wir arbeiteten mit neuen Formen der Liturgie, hatten etwa einen Gottesdienst auf der alten Orgelbühne des Kirchturms, wo jeden Dienstagabend viele Jugendliche in sehr freier Form Messe feierten. Die Konservativen empfanden das als zu beliebig. Nach dem Motto, die bauen sich ihren Glauben selbst zusammen.

Thomas Laufmöller: Es ist mit der Beliebigkeit genau wie mit dem Personenkult. Wenn Menschen in der katholischen oder auch der evangelischen Kirche etwas verändern wollen, kommt ganz oft der Vorwurf der Beliebigkeit. Der Glaube werde zurechtgezimmert, heißt es dann. Solche Vorwürfe sind Totschlagargumente, denn der Konservative wird immer Recht bekommen. Er beruft sich auf geltendes Kirchenrecht oder den Katechismus. Aber ausgeblendet wird, dass die Kirche sich in ihrer Geschichte immer und immer wieder verändert hat. „Ecclesia semper reformanda“, Kirche muss sich immer wieder erneuern, heißt es völlig zu Recht. Im Moment scheinen viele der Entscheidungsträger davor Angst zu haben, Angst wahrscheinlich auch vor dem damit verbundenen Machtverlust – anders kann ich mir das nicht erklären.

Ralf Isermann: Inzwischen ist es ein Jahr her, dass du den Priesterdienst ganz quittiert hast (zum 30.9.2023). Viele Menschen machten danach in Briefen ihrer Trauer und Wut Platz. Du bist entpflichtet worden, so ist der formal-rechtliche Begriff. Die letzte Heilige Messe war die diamantene Hochzeit deiner Eltern, ein wirklich bewegender Gottesdienst in deinem Heimatort Ennigerloh mit Tränen, mit Lachen, mit spürbarer Liebe. Du bist als Priester entpflichtet, aber du wirst immer Priester sein und bleiben und auch weiter zölibatär leben, hast du da gesagt. Wie geht so ein Leben als Seelsorger ohne Kirche?

Thomas Laufmöller: Darum geht es ja auch in unserem Buch. Viele, die in den vergangenen Jahren teils mit großem Aufsehen in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland aufgehört haben, haben einen harten Bruch vollzogen. Sie sind ganz aus der Kirche ausgetreten. Eventuell sind sie in eine andere Kirche wie die altkatholische gewechselt. Oder sie haben gleich mit ihrem Amt den Glauben aufgegeben. Ich möchte nichts zerstören. Ich möchte, dass wir weiter nach unseren Wegen des Glaubens suchen, dass wir den Glauben in Gemeinschaft leben. Gerne auch in der römisch-katholischen Kirche. Oder in der evangelischen Kirche. Oder der altkatholischen oder einer anderen. Aber ich möchte an all die glaubenden Menschen appellieren, diese in der heutigen Gestalt der Kirche erdrückende Schwermut überkommener Strukturen und Machtverhältnisse beiseitezuschieben. Die Kirche hat ihre Schönheit verloren. Jetzt ist es an uns, das wieder zu ändern. Wir brauchen eine neue Urkirche. Und wie ich das meine, erzählen wir hier.

Ralf Isermann: Ist das nicht anmaßend, wenn der „kleine“ ehemalige Pfarrer hier auf die großen Entwicklungen guckt und Ratschläge erteilt?

Thomas Laufmöller: Ich habe mir das auch gedacht, dass hier jetzt der kleine unbedeutende Dorfpfarrer die großen Worte schwingt. Aber ich bin vom Leben Jesu fasziniert. Ich möchte sein Leben in Erinnerung halten. Mir ist es wichtig, die Einzigartigkeit dieses Mannes aus Nazareth herauszustellen und deutlich zu machen, welch großen Gewinn sein Leben bewirkt hat und noch immer bewirkt. Wenn ein Mensch ganz aus der Liebe lebt, wenn er in einzigartiger Weise Versöhnung und Freiheit in die Welt getragen hat, dann muss man das bewahren, weitergeben, selbst daraus leben. Ist das anmaßend, davon zu erzählen?

2. Eine Implosion voll Wehklagen – wie die Volkskirche verschwunden ist

Aus meiner heutigen Perspektive würde ich sagen, dass die 1990er Jahre die Jahre einer späten Blüte kirchlichen Lebens in Deutschland waren. Einer wunderschönen Blüte! Wie lebendig vieles war. Wie kreativ viele waren. Wie bunt, wie fröhlich, wie liebevoll. Es war die letzte große Blüte.

Einen Höhepunkt dieses meines Schwärmens erlebte ich in Recklinghausen in der Liebfrauenkirche, meiner ersten Kaplanstelle. 1994 durfte ich dort gleich an meinem ersten Heiligen Abend die Messe um 18 Uhr feiern. Das war immer der „Kaplans-Gottesdienst“. Ein bisschen musste ich staunen, als der Pastor Ludger Bley sich zum Weihnachtsgottesdienst in die Bänke zu den Gläubigen setzte. Er hätte sich zu Hause noch vor der Christmette ausruhen können, er hätte mit mir zusammen am Altar feiern können. Doch Ludger lächelte nur und schüttelte den Kopf. Und dann erzählte er von einem Heiligabend, bei dem nach dem „Kaplans-Gottesdienst“ das Telefon bei ihm nicht mehr stillstand. Einige Gottesdienstbesucher beschwerten sich, weil ihnen angeblich das ganze Fest kaputt gemacht worden sei. Was war passiert? Einer meiner Vorgänger hatte mit Jugendlichen das Thema „Eine Welt“ vorbereitet. Tenor war damals schon, wie sehr wir Menschen in den reichen Industrieländern die Menschen in den armen Ländern ausnutzen und auf deren Kosten leben. Weder die Jugendlichen noch der Kaplan nahmen ein Blatt vor den Mund und verkündeten ihre Meinung, gedeckt von der Bergpredigt: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Wie eindeutig diese jungen Menschen waren. Wie frei und mutig. Sie hatten genau dies aus dem Evangelium herausgelesen und brachten es nun unters Kirchenvolk – das etwas verstört in den Bänken saß, weil nach dem Gottesdienst unterm Christbaum schon der neue Fernseher, die neue Perlenkette, die neue Carrerabahn warteten. Ich wette, Sie sind schon seit Jahren nicht auf solch eine Weise herausgefordert worden von einem Gottesdienst wie damals die Weihnachtsgottesdienst-Besucher in Recklinghausen.

Die frohe Botschaft hat Konsequenzen – das darf auch einmal gesagt werden. Denn es geht ja schließlich darum, nicht lau zu sein, nicht mit Wattebäuschen zu werfen. Was das Besondere an Pastor Ludger Bley war: Trotz seiner Erfahrungen machte er mir keine Vorgaben für den Heiligabendgottesdienst. Ich hätte die Gemeinde mit meinem Vorbereitungsteam aus Jugendlichen genauso provozieren können, ich hatte dazu freie Hand. Ich denke, Ludger wird froh gewesen sein, dass es nach meinem ersten Heiligen Abend in Recklinghausen keinen Ärger aus der Gemeinde gab. Er war, glaube ich, auch schlicht froh, dass er sich nicht um die Jugendarbeit kümmern musste. Aber wie stark ist es dann doch, wenn man so tolerant ist, jemand anderen voller Vertrauen und Zutrauen gewähren zu lassen. Und da steht sie, die Frage: Was ist aus dieser Gabe geworden?

Ich weiß, der Rückblick in die jungen Jahre hat oft eine schwärmerische Note. Und ich will mein Schwärmen gar nicht verhehlen. In meiner Station in Schermbeck bei Wesel erlebte ich als junger Diakon und Kaplan praktisch ein offenes Haus. Es war total lebendig. Wir bauten mit Jugendlichen Kanus. Ein älterer Schlosser half uns, die Boote zu bauen – das war ein Zusammenspiel von Jung und Alt. Die Freizeitgestaltung war Gemeindearbeit. Ganz ähnlich war es, als ich dann in Recklinghausen war. Da war es der Jugendchor, der eine starke Einheit in der Gemeinde bildete. Ich konnte es mir erlauben, im Jugendchor einfach mitzusingen, ich war ein Teil der Gemeinschaft, losgelöst von meinem Kaplansamt. Das war eine wunderbare Gelegenheit, mit den jungen Menschen in Kontakt zu treten. Und es konnte schon einmal passieren, dass ich bei der Probe mit dem Nachbarn sprach und dann einen Anpfiff bekam – wie war das schön!

In Schermbeck hatten wir einen Pfadfinderstamm, und als Geistlicher gehörtest du mit dazu. Alles war von einer solchen Lebendigkeit erfüllt, das war ansteckend. Im Ort gab es einen Lastwagenfahrer, der immer seinen Urlaub investierte, um den Pfadis die Baumstämme zu ihren Lagerplätzen zu bringen, die sie für die Zelte brauchten. Der Mann war um die vierzig oder fünfzig Jahre alt – auch hier also ein Zusammenwirken von Jung und Alt, das sich damals einfach entwickelte. Und das heute vielerorts schmerzlich vermisst wird. Ein anderes Erlebnis hatte ich in Mettingen, meiner letzten Kaplanstelle. Da herrschte in Teilen der Jugend eine Aufbruchstimmung, die von ihrer Frische her an die 1968er-Bewegung erinnerte. Jeden Dienstagabend feierten wir auf einer alten Orgelbühne im Kirchturm einen freien Gottesdienst. Ein bisschen wie in Taizé, mit vielen meditativen Phasen. Aber auch mit der Möglichkeit, dass sich jede und jeder im Gebet zu Wort meldet. Was für eine Stimmung! So unbeschwert und frei. Aus diesen jungen Leuten entstand eine Energie, die im wahrsten Sinne mitreißend war. Das gipfelte darin, dass sie irgendwann die Kirchenbänke umgebaut hatten. Vorher schaute man immer stur geradeaus auf den Altar der Agatha-Kirche. Nach dem Umbau war die ganze Sitzordnung neu gruppiert. Auf einmal saßen sich die Menschen gegenüber und sahen sich ins Gesicht. Das Schönste daran: Die Gemeinde liebte es. Es wurde Geld in die Hand genommen, der Altarraum wurde umgebaut, und so schuf man eine ganz neue Atmosphäre. Ausgelöst von Jugendlichen, die mit Leidenschaft ihren Glauben lebten – wer das heute erzählt, erntet in vielen Gemeinden nur ungläubiges Staunen. „Jugendliche, wo sind die bitte?“, heißt doch das gängige Klagen.

Zu der von mir so empfundenen letzten Blüte der Kirche in den 1990er Jahren gehört unbedingt auch das Kirchenvolks-Begehren. Natürlich habe ich dort unterschrieben. Ich lebte noch in Recklinghausen, und das Engagement der Unterstützer war groß. Es war ein bisschen wie im Heiligabendgottesdienst mit den Jugendlichen. Mutige, eindeutige, überzeugte Gemeindemitglieder gingen vor die Kirche und sammelten Unterschriften. Ihnen gegenüber viele Menschen, die sich überrumpelt und gestört fühlten. Die vielleicht auch Angst hatten, dass sich etwas verändern könnte. Wir hatten in der Jugendarbeit einen Text, der das wunderbar karikierte. Sinngemäß ging der so: Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an ihrem Glauben ist. Sie werden sagen: die heilige Messe. Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an der heiligen Messe ist. Sie werden sagen: die Eucharistie. Frag tausend Katholiken, was das Wichtigste an der Eucharistie ist. Sie werden sagen: die Wandlung. Sag tausend Katholiken, dass sie sich wandeln sollen. Sie werden weggehen, zetern und schimpfen … So ging es jedenfalls manchen, die von den Unterschriftensammlern angesprochen wurden. Aber längst nicht allen.

Schon damals gab es bei vielen Gläubigen den Wunsch nach deutlichen Veränderungen in der Kirche. Mehr als 1,8 Millionen Unterschriften wurden 1995 gesammelt, davon von 1,5 Millionen Katholikinnen und Katholiken. Heute gehen am Sonntag nur noch etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland in katholische Gottesdienste. Ich war bei Weitem nicht der einzige Priester, der unterschrieb. Aber es waren doch wohl mehr Priester, die nicht unterschrieben.

Den genauen Inhalt des Kirchenvolks-Begehrens werden die wenigsten noch kennen. Bei mir sorgen der Inhalt und vor allem der Auslöser der Unterschriftensammlung im Nachhinein auch heute für ein gewisses Schaudern. Auslöser waren Missbrauchsvorwürfe gegen den Wiener Kardinal Hans Hermann Groër. Inhalt waren fünf Forderungen: 1. Aufbau einer geschwisterlichen Kirche. 2. Volle Gleichberechtigung der Frauen in allen kirchlichen Ämtern. 3. Keine Bindung des Priesteramts an den Zölibat. 4. Positive Bewertung der Sexualität und Anerkennung der verantworteten Gewissensentscheidung. 5. Frohbotschaft statt Drohbotschaft.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Ich lese zumindest im Groben die Linien des Synodalen Wegs darin, der auch die Sexualmoral diskutiert oder den Pflichtzölibat abschaffen will. Und „Drohbotschaft“ ist doch irgendwie mit dem Problem des Machtmissbrauchs verbunden, den die Synodalen diskutiert haben. Hätte die Kirche nur auf die Kirchenvolksbewegung von 1995 gehört, es wären ihr viele, viele Probleme erspart geblieben. Aber was ist tatsächlich passiert? Das Kirchenvolks-Begehren ist gescheitert. Der Synodale Weg kämpft, getragen von bewundernswert engagierten Ehrenamtlichen, einen harten Kampf gegen manche deutsche Bischöfe und gegen die Kurie in Rom, der von Maßregelungen durch den Vatikan gekennzeichnet ist.

Was mich im Rückblick auf das Kirchenvolks-Begehren am meisten betroffen macht, ist der Umgang mit den Vorwürfen gegen Kardinal Groër. Auch da wurde zunächst so lange wie nur irgendwie möglich vertuscht, um den Missbrauchstäter zu schützen, vor allem aber um die katholische Kirche zu schützen. Im Fall Groër und im anschließenden Kirchenvolks-Begehren war all das angelegt, was wir mit unserem Missbrauchsskandal in Deutschland ab 2010 noch einmal genauso erleben mussten. Es werden die Täter und die Institution geschützt. Bischöfe helfen dabei mit, während der Staat die Kirche in skandalöser Weise gewähren lässt – so mein Eindruck.

Sie merken, ich rede mich in Rage. Und ich kann mich auch in Rage reden, wenn ich an die Anfang 2024 vorgestellte Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche denke. Was für ein Kunststück den Verantwortlichen da gelungen ist: Jahrelang sahen sie sich das verstörend schleppende Aufklären der Katholiken an, um dann von den Erstellern der Studie bestätigt zu bekommen, dass ihre eigene Aufarbeitung trotz der Erfahrungen der Katholiken noch viel schleppender verlief. Um Himmels willen! Die Kirchen erleben eine Implosion voll Wehklagen. Die Implosion ist das, was wir jetzt aktuell erleben. In den Jahren davor war es ein langsames Schleifen der Kirchen durch immer höhere Austrittszahlen und die demografische Entwicklung. Doch jetzt gerade bricht alles weg.

Das nennt man einen Kipppunkt oder Tipping Point (bekannt aus der Klimadebatte). Aus einem linearen Abfall wird plötzlich ein rasanter, irreversibler Abbruch. Obwohl so viele Mitglieder schon ausgetreten sind, steigen die Austrittszahlen noch weiter. Und wie die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der beiden großen Kirchen 2023 gezeigt hat, gibt es selbst unter den verbliebenen Christinnen und Christen etliche, die der Obrigkeit überhaupt nichts mehr glauben. Selbst Menschen, die im hohen Alter sind, distanzieren sich vom Status quo der Kirche. „Das ist doch nicht mehr zeitgemäß. Irgendwann bricht alles zusammen!“, sagte mir kürzlich während eines Gesprächs im Altenheim eine 98-jährige Frau. Irgendwann ist ein System so überspannt, dass eine weitere Störung zu bedeutenden, irreversiblen Veränderungen führt. Es ist zu befürchten, dass ein solcher Kipppunkt innerhalb der deutschen Kirche bald erreicht sein könnte und zu einem Zusammenbruch der Institution führt.

Das ist also die Implosion. Das Wehklagen ist der Umgang damit. Über Jahrzehnte, über Jahrhunderte konnten die Kirchen nicht nur in Deutschland vor Kraft kaum laufen. Ihre Macht war weltlich, davon konnten jeder Bürgermeister und jeder Landrat ein Lied singen, auch die meisten Bundestagsabgeordneten. Wenn aber heute wichtige gesellschaftliche Fragen verhandelt werden wie der assistierte Suizid oder die Regeln für die Abtreibung, melden sich die Kirchen zwar, sie werden aber kaum noch gehört. Das löst dann hilflose Reaktionen aus.

Doch auch in vielen Kirchengemeinden herrschen Hilflosigkeit und Wehklagen. „Wo bleiben die Jugendlichen?“, „Schon wieder wird ein Gottesdienst gestrichen“, „Wir werden immer weniger“. Solche Sätze werden vermutlich alle, die noch in Kirchengemeinden unterwegs sind, bereits gehört oder selbst gesagt haben. Ich fordere: Nehmt beides zur Kenntnis, die Implosion und das Wehklagen. Aber macht dann weiter, als wäre nichts gewesen. Die Implosion der Kirchen könnt ihr nicht stoppen. Es lohnt nicht, sich daran abzuarbeiten. Das Wehklagen ist so ein pessimistischer Grundsound. Als Christ oder Christin brauchen wir den doch nicht, denn uns ist Hoffnung geschenkt und Freude. Ich verstehe, wenn Veranstaltungen eingestellt werden, weil zu wenige Menschen kommen oder weil sich zu wenige Ehrenamtliche für die Vorbereitung finden. Aber deswegen muss doch niemand grundsätzlich den Kopf in den Sand stecken.

Auch ich bin im Laufe meiner dreißig Priesterjahre nicht von diesen allgemeinen Entwicklungen verschont geblieben, auch wenn wir bis zu meinem Ausscheiden vergleichsweise volle Gottesdienste hatten. Mein Ansatz war es, diese emotionale Sicht auf die Veränderungen zu vermeiden. Stattdessen suchte ich nach objektiven Kriterien, warum eine Gemeinde schrumpft. Wie viele Menschen feiern noch Gottesdienst? Wie viele Erstkommunionen und Firmungen finden statt? Wie viele Menschen lassen sich im Umfeld der Gemeinde verorten? Wer taucht punktuell noch auf? Wer zahlt Kirchensteuer und erwartet dann als Gegenzug zu besonderen Anlässen wie Hochzeit oder Beerdigung eine Serviceleistung? So differenziert lässt sich ja eine Gemeinde betrachten. Und wenn sich etwas verändert, kann ich vor Ort, in meinem Umfeld nach Antworten suchen. Die passen dann auf die Situation vor Ort, das lässt sich nicht generalisieren.

Zuerst kommt die Anthropologie, dann die Theologie: Nur wenn ich die Menschen kenne, weiß ich, was ihre Seelen brauchen. Nehmen wir die Erstkommunion. Ich kann eine Erstkommunion einfach mit einem festen Programmablauf durchziehen. Am Tag X findet dieses Treffen statt, am Tag Y jenes, zwischendurch halten wir drei gemeinsame Gottesdienste, und dann kommt auch schon die Erstkommunion. Ich kann aber auch nah heranrücken und versuchen, möglichst viele Kinder tatsächlich beim Namen zu nennen. Ich kann mit den Kommunionmüttern und -vätern sprechen. Und dann passiert plötzlich etwas. Dann bekomme ich zum Beispiel mit, was die Kinder gerade beschäftigt. Dass da zum Beispiel ein großer Streit in der Klasse war. Und wenn ich das weiß, kann ich es am Sonntag im Gottesdienst aufgreifen und aus der Bibel heraus eine Antwort auf die Fragen der Kinder wegen dieses Streits geben. Wo bleibt mehr hängen, in der Konzept-Kommunionvorbereitung oder in der anthropologischen? Wir hatten hinter der Kirche in St. Stephanus in Münster eine Wiese, da spielte ich ganz oft nach dem Gottesdienst mit den Kindern Fußball. Einfach mal wild kicken. Und ich kannte die Kinder alle beim Namen, und sie kannten mich. Das war wichtig.

Ein anderes Beispiel sind die ehrenamtlichen Gremien. Eine Gemeinde hat einen Pfarrgemeinderat, in dem besprochen wird, was vor Ort gerade los ist. Das kann Kleinkram sein, und es kann auch sein, dass das Gremium überaltert ist oder Veranstaltungen nicht mehr funktionieren. Dennoch weiß dieses Gremium, wie das Herz der Gemeinde schlägt. Und es entstehen ganz oft neue Ideen. Eine Adventsbesinnung wird von Laien vorbereitet und gestaltet, von der Jugend ein Wohltätigkeitsball, und man initiiert eine Fahrt für Familien oder für Senioren. Was aber machten die Bistümer in den vergangenen Jahren? Eine Fusion nach der anderen. Und genau durch diese Fusionen wurde alles immer größer und dadurch immer anonymer. Das betrifft auch die ehrenamtlichen Gremien. Plötzlich soll ein Pfarreirat oder Pfarrverbandsrat überlegen, was ehrenamtlich in einem Sozialraum gemacht wird. Es geht nicht mehr um die gewohnte Gemeinde, sondern um große Gebiete. Kräfte sollen gebündelt und Ressourcen optimiert genutzt werden, heißt es dann immer. Das werde entlasten, wird behauptet. Theoretisch klingt das gut. Aber praktisch?

Wenn ich aber einen Nachteil der größer werdenden Einheiten benennen soll, der mir besonders aufgefallen ist, dann ist es noch nicht einmal die Anonymität. Es ist der Dirigismus von oben. Das ist eine Erscheinung, die meiner Beobachtung nach in der Spätphase von Johannes Paul II. begann. Ich habe einmal das Wort gelesen: „Unter Papst Johannes Paul II. waren die Bischöfe keine Bischöfe mehr, sondern Generalvikare des Papstes.“ Das heißt, der Papst entscheidet, die Bischöfe haben auszuführen. In den großen Gemeindeverbünden erlebe ich das ähnlich. Der Pfarrer ist da nicht mehr der Hirte vor Ort. Der Bischof entscheidet, und der Pfarrer hat auszuführen. Das ist eine Implosion der Vielfalt, eine Implosion des guten Gemeindelebens, der Kreativität. Und es ist leider auch das genaue Gegenteil von dem einst so aufblühenden „Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils“.

3. Der vermeintlich Heilige Rest ist konservativ

Zu der von mir beschriebenen Blüte der Kirchen in Deutschland in den 1990er Jahren gehört noch ein zweites Phänomen. Leider. Denn in der Zeit begann auch der Konservativismus zu erblühen. Nicht durch die vielen damals allmählich alt werdenden Priester der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Nein, das geschah durch junge Priester. Und sie wurden die Vorreiter einer Entwicklung, die heute stärker ist denn je.

Aber zunächst mal zurück zu den 1990er Jahren. Ich war in dieser Zeit etwas mehr als dreißig Jahre alt. Und im Nachhinein muss ich sagen, ich war von einer zutiefst jugendlichen, gutgläubigen Naivität. Warum auch nicht? „Meinem Gott will ich singen und spielen, solange ich lebe“, sagt Psalm 146. Manch einer mag die Vorstellung, diesen Psalm konkrete Wirklichkeit werden zu lassen, albern finden. Gerade diejenigen, die Glauben mit Strenge gleichsetzen – streng gläubig, wie es heißt –, dürften mit dem Satz wenig anfangen können. Spielen und Singen ist doch Kinderkram. Fron, Fleiß, Entbehrung. So leben zumindest jene Strengen. Ich aber lebe bis heute mein Priestersein auf diese spielende, singende Weise, ob ich nun entpflichtet bin oder nicht. Die jugendliche, gutgläubige Naivität trug und trägt mich, und sie bringt mich bis heute ganz nah an Menschen heran. Dieser krasse Gegensatz zwischen Spielen und Singen und dem strengen Glauben ist wichtig zu erläutern, um nachzuempfinden, was auf meiner nächsten Station in Mettingen im nördlichen Münsterland passierte.

Bis zu meinem Umzug von Recklinghausen dorthin kannte ich Kirche als Einheit in Vielfalt, bis dahin galt an allen meinen Stationen das Motto der „versöhnten Verschiedenheit“: Der eine ist konservativ, der andere liberal, der nächste links-alternativ – doch alle können mit der nötigen Toleranz gut miteinander leben. Dieser Gedanke der versöhnten Verschiedenheit wurde nun massiv angegriffen. Ich glaube inzwischen, dass ich damals ein früher Zeuge des allmählich entstehenden neuen Konservativismus in der katholischen Kirche geworden bin. Ich möchte an dieser Stelle kein Missverständnis entstehen lassen: Die Gemeinde St. Agatha in Mettingen und ihre Gläubigen waren vom Geist der versöhnten Verschiedenheit getragen, wie ich ihn kannte und schätzte. Kurz vor meiner Versetzung nach Mettingen wurde allerdings aus Münster als Nachfolger des verstorbenen langjährigen Pastors Johannes Sandhofe ein Priester nach Mettingen versetzt, der viele Jahre am Bischofsstuhl gewirkt hatte. Er kam drei Monate vor mir nach Mettingen. Drei Monate, das sind eigentlich die hundert Tage Schonfrist, die jedem bei einer neuen Aufgabe zugebilligt werden. In dieser Zeit hätte er sich gut mit den Menschen und den Gepflogenheiten vertraut machen und sein eigenes Konzept für diese traditionsreiche Gemeinde entwickeln können. Er hatte aber leider nicht den Willen, mit wesentlichen Weichenstellungen auf eine Absprache mit mir zu warten. Und die Weichenstellungen waren so, dass sie mich erschütterten.