August - Peter Richter - E-Book

August E-Book

Peter Richter

0,0

Beschreibung

Mit sicherem Sinn für die Komik im Kämpfen ums Glück erzählt Peter Richter von der Leere mitten im Hochsommer des Lebens.

Stefanie und Richard, Vera und Alec haben Berlin hinter sich gelassen, sie leben jetzt in New York und gönnen sich mit den Kindern einen langen August an den Stränden der Hamptons. Aber schon bald wissen sie nicht mehr, wie es weitergehen soll. Zwischen den luxuriösen Sommerhäusern auf Long Island zieht ein Mann seine Kreise, der den Superreichen inneres Wachstum verkaufen will. Dazu ist jedes Mittel recht, von den Sekreten exotischer Frösche bis zu mystischer Morgengymnastik. In Stefanie findet er eine enthusiastische Anhängerin – und das löst gleich mehrere Katastrophen aus. Peter Richter führt eine Gesellschaft vor, die selbst den Widerwillen gegenüber ihrer eigenen Gier noch zum Statussymbol ummünzt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 299

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Mit sicherem Sinn für die Komik im Kämpfen ums Glück erzählt Peter Richter von der Leere mitten im Hochsommer des Lebens. Stefanie und Richard, Vera und Alec haben Berlin hinter sich gelassen, sie leben jetzt in New York und gönnen sich mit den Kindern einen langen August an den Stränden der Hamptons. Aber schon bald wissen sie nicht mehr, wie es weitergehen soll. Zwischen den luxuriösen Sommerhäusern auf Long Island zieht ein Mann seine Kreise, der den Superreichen inneres Wachstum verkaufen will. Dazu ist jedes Mittel recht, von den Sekreten exotischer Frösche bis zu mystischer Morgengymnastik. In Stefanie findet er eine enthusiastische Anhängerin — und das löst gleich mehrere Katastrophen aus. Peter Richter führt eine Gesellschaft vor, die selbst den Widerwillen gegenüber ihrer eigenen Gier noch zum Statussymbol ummünzt.

Peter Richter

August

Roman

Carl Hanser Verlag

August

Pool

Wenn Alec Kline seine Augenlider der Vormittagssonne über Long Island zuwandte, dann schwammen dahinter Vierecke und Kreise und Formloses durch ein Dunkel, das man nicht einmal wirklich dunkel nennen konnte. Vielmehr war es überraschend warm und licht. Ausgefranste Zeichen aus fremden Alphabeten schwebten darin umher, und wenn er sie zu fassen bekommen wollte, verloschen sie, nachglimmend wie defekte Neonröhren. Es war also gescheiter, sie gar nicht erst zu fassen bekommen zu wollen, sondern einfach anzuschauen, interesselos, aus reiner Freude … Und irgendwo hinter seinem Kopf pochte dazu jetzt frohgemut ein kleines Schlagzeug, das dem Tanz der Schemen einen Rhythmus gab: Bumm-dammdadamm.

Hinter Alecs Liege musste Richard ein paar Lautsprecherboxen in den Büschen installiert haben. Er wollte fragen, ob Vera und Stefanie das auch hören konnten auf ihren Luftmatratzen im Pool, ließ es dann aber. Zu anstrengend. Wozu auch?

Bumm-dammdadamm.

BummPLAPENGdadamm.

Schon wurde ein anderer Rhythmus hineingerührt. Dann schnitt ein Saxofon mit einer grellen Melodie durch das Bild.

Denn sie würden erstaunlich viel Jazz hören in diesem Sommer gemessen daran, dass keiner von ihnen sich damit auskannte. Das hatte Richard angekündigt. Und dann hatte er hinzugefügt, dass sie sich auch gar nicht auskennen wollten damit. Sie wollten lediglich zu den Saxofonläufen von Wayne Shorter und Dexter Gordon auf den Luftmatratzen liegen, »bäuchlings«, hatte Richard verkündet, »und mit schlaffen Armen das Wasser zerpflügen«. Oder auf den Liegestühlen, rücklings, und mit geschlossenen Augen in die Sonne starren. Oder in der Küche stehen, Pancakes stapeln »und Niagarafälle aus Sirup darüberlaufen lassen«. Sie würden daher auch vor der Art von Sirup nicht zurückschrecken, den Elvis und Sinatra in ihre Songs gegossen hatten, in the wee small hours of the morning oder auch am frühen Abend, wenn es Zeit würde für die ersten Drinks. Das war jedenfalls Richards Plan, sein Vorhaben und daher schließlich die Beschlusslage, einstimmig verabschiedet oder doch zumindest ohne vernehmbaren Protest von den anderen abgenickt. Alec staunte, wie stimmig dieser Plan schon jetzt aufzugehen schien.

Bumm-dammdadamm.

Er vermutete, dass es auf jemanden, der zufällig am Grundstück vorbeikam und das hörte, so wirken müsse, als hätten sie die Plattensammlungen ihrer Eltern hergeschleppt oder der Großeltern. Aber Richard hatte befunden, Jazz passe zur Architektur, der Bungalow sei aus derselben Ära, flach, horizontal, gläsern. Jazz passe auch ganz generell zum Sommer, zum Geruch von Hitze auf Holz, zu dem Duft von Rosen, Farnen, Gartensträuchern, von frisch gewässertem Rasen und von frisch aufgetragenem Nagellack, Farbton Koralle. Es fiel Alec schwer, ihm da zu widersprechen.

Kurz ging ihm nur die Frage durch den Kopf, warum sich gerade Deutsche aus vollkommen soliden Verhältnissen manchmal so rührend viel Mühe gaben, Amerikanern zu gleichen, einer bestimmten Vorstellung von Amerikanern jedenfalls, die ihm mehr mit Filmen zu tun zu haben schien als mit der Wirklichkeit. Aber da er als Einziger an diesem Pool selbst einer war, befürchtete er, dass ihm am Ende kein Urteil zustand, warum die drei anderen so taten, als wären sie ebenfalls welche, und zwar bis hin zur Imitation der Mundarten und Slang-Ausdrücke.

Damit, dass sie nun einmal in New York lebten jetzt, ließ sich vieles, aber nicht alles erklären. Denn das war Alec schon aufgefallen, als er einst als Student für ein Semester nach Berlin gegangen und dann einfach für zwei Jahrzehnte nicht mehr heimgeflogen war — offiziell wegen Hegel, Feuerbach und Marx, aber wesentlich auch deswegen, weil ihm selbst das Nachtleben in den oft illegal improvisierten Clubs und Bars dort als politische Praxis vorgekommen war, als egalitäre Utopie, als ein Garten Eden, in dem alle Kreaturen noch einmal friedlich und ohne irgendeine Frage nach Statusunterschieden nebeneinander grasen durften. Er erinnerte sich, dass Richard Mauler, eine seiner ersten Bekanntschaften aus endlosen Raves und Afterhours, selbst damals schon im Tonfall eines amerikanischen Predigers auf ihn eingeredet hatte: Er komme aus dem Deep South von Westberlin, aus Zehlendorf-City, »so weit im Süden vom Westen, dass es fast schon wieder Osten ist«. Und als Sohn eines Hausmeisters verschiedener evangelischer Kirchengemeinden dort wisse er leider, dass selbst Paradiesgärten in erster Linie Liegenschaften waren mit Grundbucheinträgen und Besitzverhältnissen, mit denen man sich befassen sollte, bevor andere das taten und Renditeobjekte für Kapitalanleger aus Westdeutschland darüber würfelten, mit Balkons aus Blech auf Säulchen aus Beton und Ähnlichem, wie Richard als rückhaltloser Modernist sich ausdrückte, »trash«. Er erinnerte sich auch, dass Richard bereits unbeirrbar von »real estate« gesprochen hatte, als er gerade erst begann, aus der Rolle des Räume-Beschaffers für kurzlebige Technoclubs in die eines Immobilienmaklers hineinzuwachsen, an den diejenigen unter Berlins DJs und Künstlern sich wandten, die über die Jahre zu Geld gekommen waren. Alec meinte, sich außerdem daran zu erinnern, dass Richard, nachdem er darüber selbst zu Geld gekommen war, die damals als Musikfernsehmoderatorin noch landesweit bekannte Stefanie Schultheis nicht einfach nur umworben, sondern »gedated« hatte, obwohl dieser Amerikanismus damals im Deutschen noch kaum vorkam. Er erinnerte sich weiter, mit welcher Zielstrebigkeit diese Stefanie Schultheis damals den Plan verfolgte, an einer der renommierten New Yorker Schauspielschulen Unterricht zu nehmen, als sie spürte, dass die Zeit des Musikfernsehruhms sich dem Ende zuneigte, für sie ganz persönlich, aber auch generell. Und das wiederum erinnerte Alec Kline am Ende auch daran, mit welcher Entschlossenheit er selbst wenig später von Vera »gedated« wurde — nicht nur, aber ausdrücklich auch weil er Amerikaner war und weil Vera aus der Enge ihrer sächsischen Berge eine Sehnsucht nach Weite und Westen mitbrachte, die selbst ein Umzug nach Amerika, eine Mietwohnung in Brooklyn, eine Klinikstelle in Manhattan und Abonnements sowohl der »New York Times« als auch des »New Yorker« noch nicht hatten stillen können.

Bumm-dammdadamm.

Saxofon.

Piano.

Bass.

Für einen Moment ging Alec Kline noch der Gedanke durch den Kopf, dass das alles etwas mit einem uralten teutonischen Hang zur Perfektion zu tun haben könnte, auch wenn der sich in Schichten aus Selbstironie, Persiflage und Theater hüllte. Aber dann ließ er diesen Gedanken wieder ziehen: Die Sonne war selbst für ihn einfach zu stark, zu hell, zu warm. Alec staunte, wie sehr er das hier tatsächlich genoss: das Nichtstun und das Nichtdenken, ausgerechnet er, auf einem Liegestuhl an einem Pool auf Long Island, in einem Aquarell von einem Hochsommertag. Er hatte geglaubt, dass er es seiner Frau zuliebe auf sich nehmen müsste, hier draußen zu »sommern«, wie Richard das genannt hatte, und dabei herauszufinden, was die Jahre und die Einkommensunterschiede von ihrer früheren Freundschaft überhaupt übrig gelassen hatten, und nun ließ schon diese erste Morgensonne seine Vorbehalte tauen.

Alec versuchte, sich von ihr noch einmal abstrakte Gemälde auf die Rückseite seiner Augendeckel malen zu lassen. Aber ein Insekt, das vor seinem Gesicht umherflog, riss ihm schließlich doch die Lider auseinander.

Im ersten Moment klebte ihm noch der Leim der Trägheit in den Wimpern und sorgte dafür, dass das Bild aussah wie unscharf aufgenommen: zwei Frauen auf Luftmatratzen, bäuchlings und die Hände im quecksilbrigen Wasser des Pools.

»Ausgeschlafen?«, frage Vera.

Es klang zärtlich, aber der kleine Vorwurf, der darin lag, ließ sich für Alec trotzdem nicht überhören.

»Nicht geschlafen, gearbeitet«, murmelte er, während er sich abermals zurückfallen ließ, den rechten Arm angewinkelt unterm Kopf, das rechte Bein aufgestellt und das linke seitlich vom Liegestuhl hängend.

Diese Körperhaltung ihres Mannes ließ Vera an die Pose eines ruhenden Fauns denken, den sie einmal in der Antikenabteilung eines Museums sehr beeindruckend gefunden hatte. Es ließ sie allerdings auch daran denken, dass sie früher tatsächlich einmal die Zeit gehabt haben musste, sich in den Antikenabteilungen von Museen zu verlieren. Alecs hinter dem Kopf verschränkter Arm und das sanfte Spiel des Luftzugs mit den Haaren in seiner Achselhöhle ließen Vera außerdem daran denken, dass diese Geste für Jahrtausende der Kniff gewesen war, mit dem die Bildhauer deutlich machten, dass der Dargestellte nur schlief und nicht etwa tot war. Das hatte sie entweder einmal gehört, als sie neben den Vorlesungen für die Medizinstudenten manchmal noch die der Kunsthistoriker besucht hatte. Oder sie hatte es einmal gelesen — als sie noch die Zeit gehabt hatte, Sachen zu lesen, in denen man auf solche Informationen stieß. Und das wiederum rief Dr. med. Vera Kline, geborene Krahl, schmerzlich den Stapel ungelesener »New Yorker«-Ausgaben in Erinnerung, der sich neben ihrem Bett in Brooklyn erhob: ein einsturzgefährdeter Turm, der bedrohlich auf sie herabschaute, wenn sie, mit schlechtem Gewissen, aber zu erschöpft zum Lesen, darunter in den Schlaf kroch. Sie hatte ein paar Ausgaben mit hier rausgenommen, zum Nacharbeiten am Pool, darunter eine vom Dezember, aber sie ahnte schon, dass diese Heftchen, wie Alec sie ein wenig abfällig nannte, chancenlos bleiben würden gegen das größere Gewicht der Romane, deren Lektüre ihr am Ende noch wichtiger war. Wenigstens einen Roman pro Monat war Vera sich schuldig, schon um zu wissen, was der Stand der Dinge war. Jedoch auch da: Lesestau, der in diesem Urlaub abgebaut werden wollte. Und deshalb lag jetzt »The Errors« (aus der Bestsellerliste vom März) mit auf der Luftmatratze im Pool — ein Buch, das die »New York Times« einerseits als »voller Wucht und Wahrheit« gelobt hatte, andererseits sei es »nicht wirklich ein Roman«, und am Ende war es dieser Zusatz, der Vera besonders vielversprechend vorgekommen war. Allerdings lag dieses Buch jetzt nicht nur mit Vera auf ihrer Matratze. Sondern auf dem Buch lag, wie auf einem Kissen, Veras Kopf und war dankbar, dass Stefanie sie mit ein paar wenigen, wie Akupunkturnadeln genau an die richtigen Stellen gesetzten Worten für eine Weile von der Last ihres Lesedrucks erlöst hatte.

Von »kulturellen Schuldgefühlen« hatte Stefanie verständnisvoll gesprochen. Ob sie sich mit News von Kriegen und Skandalen, an denen sie ohnehin nichts ändern konnte, tatsächlich vergiften wolle, hatte sie Vera gefragt und ihr dann vorgeschlagen, all die Zeitungen und Zeitschriften, die sie mitgeschleppt hatte, beiseitezulegen, am besten auch ihr Buch zuzuklappen und einfach nur da zu sein, sie selbst zu sein, »ganz bei sich zu sein« und auf einer Matratze im Pool zu liegen, unter sich das kühlende Wasser, über sich die wärmende Sonne, dem eigenen Herzschlag zu lauschen, das Wunder des Seins zu bestaunen.

Vera versuchte das. Es war tatsächlich erleichternd, fast beglückend — für eine Weile. Aber je tiefer sie in sich hineinhorchte, desto deutlicher glaubte sie, dort im Wesentlichen das Ächzen alternder Zellen zu vernehmen, und sehnte sich danach, zur Ablenkung wieder in anderer Leute Leben und Leiden schauen zu dürfen. Deswegen studierte man schließlich Medizin oder las Bücher. »Ganz bei sich zu sein« kam ihr nach einer Weile auf der treibenden Matratze eventuell doch nicht wie der Inbegriff von Urlaub vor. Was Vera deshalb am Ende wesentlich mehr bestaunte als das eigenen Da- und Hiersein, das war Stefanies offensichtlich so viel größere Fähigkeit zur Entspannung. Und dann fühlte sie sich auch davon wieder unter Druck gesetzt und ein klein wenig beschämt.

Dieses wirklich nur ganz kleine Gefühl der Beschämung hatte ihr schon an dem Juni-Abend auf der Upper West Side zu schaffen gemacht, an dem Richard ihnen mit dem Vorschlag gekommen war, dieses Jahr gemeinsam auf Long Island zu sommern, in seinem kleinen Bungalow in den Hamptons. Denn Vera hatte bis dahin weder das Wort noch die Sache gekannt: to summer. Allein die Idee, den kompletten Sommer da draußen zu verbringen, kam ihr so verlockend wie obszön vor — auch noch in den mythischen Hamptons, wo nach allem, was sie darüber wusste, siebzigjährige Bienenköniginnen inmitten unvorstellbarer Reichtümer auf den Dünen hockten. Aber dann hatte Richard Rotwein nachgegossen und gesagt, dass sein Bungalow in den deutlich bescheideneren Gefilden nördlich des Montauk Highway liege, die Bienenköniginnen hingegen south of highway hausten. Und dass sie ohnehin nicht den ganzen Sommer über dort würden sommern können, sondern nur im August, vielleicht bis Labor Day im September, weil sein Bungalow im Juli schon vermietet war, über Airbnb an ein paar rich kids aus Argentinien…

Das hatte Vera erst beruhigt. Aber dann, als sie anstoßen mussten auf den Beschluss, hatte es ihr einen Stich gegeben, mit welcher Überlegenheit Stefanie nur kurz ihre Teetasse in die Höhe gehoben hatte, während ihre eigenen Lippen bereits violett wurden vom Cabernet aus Kalifornien. Auf dem Heimweg hatte Vera sich — und Alec — gefragt, wie, zur Hölle, sie eigentlich einen ganzen Monat sommern sollte, wenn sie in der Klinik nur zehn Tage freibekam pro Jahr. Aber kurz bevor ihr müder Kopf in der Subway an Alecs Schulter gesackt und bis Brooklyn da liegen geblieben war, hatte sie eingesehen, dass sie genau so einen endlosen Urlaub im Grunde nicht nur ersehnte, sondern dass ihr Körper und ihr Geist ihn mit Dringlichkeit auch brauchten. Nur jetzt, da sie bäuchlings auf der Luftmatratze im Pool von Richards Bungalow zur Ruhe kommen wollte, hatte Vera auf einmal Sorge, dass ihr inzwischen die Fähigkeit dazu abhandengekommen sein könnte, das Talent zum Ausruhen überhaupt. Erschrocken verscheuchte sie eine Wespe.

Veras abrupte Bewegung löste im Pool eine kleine, schwappende Welle aus, die auch die Luftmatratze erreichte, auf der Stefanie gerade in das eierförmige Gehen und Kommen ihres Atems vertieft war.

Vera sagte: »Sorry!«

Und Stefanie bemühte sich um Nachsicht und Gleichmut. »It’s okay«, sagte sie freundlich und versuchte wieder zurückzufinden in ihre kleine Meditation.

»So’o’o’o’o’rry’y’y’y«, sagte Vera noch einmal, und diesmal klang es, als würde sie beim Vorbeigehen ein Stöckchen in einen Gartenzaun halten.

»Bitte?«, sagte Stefanie auf Deutsch.

Das Wasser gluckste in den Ablauflöchern des Pools, als müsse es kurz lachen. Und Vera hatte Sorge, dass es wie eine Parodie auf Stefanie geklungen haben könnte — wie eine Parodie auf Stefanies »okaaay«, das weniger gesprochen als vielmehr gehaucht gewesen war, so als käme es aus irgendwie weniger gegenständlichen Sphären des Daseins herübergeweht. Dabei hatte sich Vera nur um Leichtigkeit bemüht. Sie hatte kurz klingen wollen wie die Art von Amerikanerinnen, die sie manchmal im Trash-TV auf Luftmatratzen durch Pools treiben sehen hatte, wenn sie nach der Arbeit für ein paar faszinierte Minuten hängen blieb bei Sendungen, die dann zum Beispiel »The Real Housewives of Beverly Hills« hießen, bevor sie schließlich weiterzappte zu den niveauvolleren Programmen, zu den Nachrichten oder jedenfalls zu den Late Shows mit diesem oder jenem scharfzüngigen Moderator, dessen Scherze über die Weltlage in diesem Land die klassischen Nachrichtensendungen weitgehend ersetzten. Aber als Stefanie »Wie bitte?« sagte, in der strengen Sprache Deutsch, fühlte Vera sich nach einem grundsätzlichen Räuspern veranlasst, von der Radiosendung zu erzählen, die sie auf der Fahrt hier raus gehört hatte, auf NPR, National Public Radio, dem Deutschlandfunk Amerikas, als sowohl ihre Tochter als auch ihr Mann tief und friedlich geschlafen hätten, hinter und neben ihr, und sie selbst sich wachhalten musste, um auf dem Long Island Expressway nicht die richtige Abfahrt zu verpassen. Um Stimmlagen sei es gegangen und darum, was sie sozial zu bedeuten hätten, um das extralaute Gebrumme niedrig gewachsener Männer und um das puppenhafte Gepiepe von Frauenstimmen in der Werbung. Schließlich habe eine Linguistikprofessorin vom »vocal fry« gesprochen, von der sonderbaren Mode, beim Sprechen die Stimmbänder so flattern zu lassen, dass es an das Braten von Spiegeleiern in einer gut gebutterten Pfanne erinnerte. Dieser leicht nörgelige Sound habe sich zuerst unter den Mittelstandstöchtern kalifornischer Vorstädte entwickelt und sei dann zur landesweiten, durch Kino und Fernsehen schließlich sogar weltweiten Seuche geworden, habe diese Professorin geklagt — dabei allerdings selbst tiefer und lauter ins Mikrofon gebrummt als jeder niedrig gewachsene Mann. »Vielleicht weil sie Angst hatte, dass sie sonst nicht ernst genug genommen wird«, schloss Vera ihren Bericht.

Stefanie lächelte verständnisvoll und sagte leise: »Dies ist die Ostküste. Da sind die Leute alle sehr in ihrem Kopf.«

»Wie bitte?«, sagte nun ihrerseits Vera.

»Sehr in ihrem Kopf«, wiederholte Stefanie und betrachtete das Insekt, das, nachdem es von Vera verscheucht worden war, sich stattdessen nun neugierig auf Stefanies Arm niedergelassen hatte, so als ob es in ihren blonden, lässig um den Kopf gewirbelten Haaren einen besonders appetitlichen Blütenkelch vermuten würde. Denn es handelte sich zweifelsfrei um eine Biene. Vera musste sie mit einer Wespe verwechselt haben. Es waren jetzt die Wochen, in denen die Wespen lästig, manchmal sogar aggressiv werden konnten. Aber hier saß eine Biene, und Bienen waren lieb, und in Gefahr waren sie auch. Stefanie betrachtete daher das Tier beinahe ein wenig gerührt und pustete es dann vorsichtig an, damit es Wind unter die Flügel bekam.

Mit dem Rest desselben Atemstoßes seufzte sie tief und grundsätzlich. Stefanie hatte einem August entgegengesehen, der ganz vom Klang der Stille, vom Duft der Pflanzen, vom Gesumme der Bienen und von den Freuden der inneren Einkehr bestimmt sein sollte, jedenfalls solange Richard nicht auf dem Grundstück war, sondern in der Gegend herumfuhr in seinen Geschäften. Sie hatte Pläne für diesen August, sehr spezifische Pläne, und sie war sich noch nicht ganz im Klaren darüber, wie Richards Gäste zu diesen Plänen passen würden. Sie war noch nicht so weit, diese Leute, die Richard eingeladen hatte, ohne sich mit ihr darüber abzustimmen, auch als ihre Gäste zu betrachten. Aber immerhin bemühte sie sich darum. Sie hatte damit gerungen, ob sie das Gefühl der Verärgerung zulassen sollte, und sich dann dafür entschieden, offen zu sein. Noch vor wenigen Monaten hätte sich eine frühere, kleinherzigere Version ihrer selbst vielleicht den Urlaub verderben lassen. Die Stefanie, die sie jetzt war oder zumindest zu sein sich bemühte, umarmte mit Zuversicht auch diese Situation. Sie war neugierig auf diese Menschen, die Richard ihr als »alte Freunde« angekündigt hatte, also aus einer Zeit, die selbst vor der der alten Stefanie lag; sie hatte diese Leute damals in Berlin jedenfalls kaum wahrgenommen. Diese Vera, das konnte Stefanie jetzt schon ahnen, würde ihr Arbeit abverlangen. Das konnte sie buchstäblich spüren. Die negativen Schwingungen dieser Frau übertrugen sich auf das Wasser und über die unruhig hüpfende Luftmatratze in ihren, Stefanies eigenen Bauch hinein. Aber das wäre lohnende Arbeit. Im Grunde freute sie sich darauf. Rätselhafter war ihr Veras Mann. Sie wandte im Liegen ihren Kopf und fasste Alec in den Blick: seine gepflegten Füße, die weißen Beine, den Bauch, den immer noch erstaunlich flachen, aber vor allem die Lektüre, die er darauf liegen hatte: Gleich zwei Bücher lagen übereinander auf seinem Bauch und kamen Stefanie vor wie Briefbeschwerer, damit dieser dünne, durchgeistigte Körper nicht weggeweht werden konnte von einer plötzlichen Brise.

Es war ein Moment, in dem niemand etwas sagte. Allein das Saxofon hüpfte auf der Tonleiter hinunter wie ein Kind auf einer breiten Treppe.

»Was liest du da, Alec«, wollte Stefanie wissen, und weil Alec sie nicht zu hören schien, stellte sie dieselbe Frage mit einem Lächeln noch einmal an Vera.

»Wahrscheinlich geht es um Kommunen«, sagte die. Eigentlich gehe es bei den Lektüren ihres Mannes verlässlich um Kommunen, in letzter Zeit auch manchmal um Hellseher, meistens aber um Kommunen. Da es zwei Bücher sind, die er hier zu lesen vorgebe, würde sie sagen, dass das eine Buch vermutlich von Kommunen handelt, das andere von Leuten, die Gespenster sehen.

»Geister«, korrigierte mit geschlossenen Augen Alec.

»Die also Geister sehen und keine Gespenster«, sagte Vera.

»Alec, warum liest du denn solche Sachen, poolside?«, fragte Stefanie mit fürsorglichem Lächeln. Und wieder antwortete Vera an seiner Stelle: für das Buch, das große, das sie eines Tages, wer weiß, alle mal zu Gesicht bekommen würden, perhaps und maybe. Dann befürchtete sie, dass sie womöglich spitzer geklungen hatte, als sie wollte, und bemühte sich stattdessen, ihre rückhaltlose Unterstützung für das Projekt zum Ausdruck zu bringen, von dem sie wusste, das Alecs Karrierehoffnungen daran hingen. Sie berichtete daher nun Stefanie davon, dass der Vater ihres Kindes an ferne Universitäten geladen werde. Es fielen die Namen Ann Arbor, Berkeley und sogar Stanford, und dass er dort mit Koryphäen debattiere, Materialien sammle, verdichte, ein Werk anhäufe, mit dessen adäquater Gestalt ihr Gatte zurzeit noch rang.

»Beautiful«, nickte Stefanie lächelnd.

Es hingen daraufhin alle wieder ihren ganz eigenen Gedanken nach und ließen dabei die Sonne über ihre Körper lecken.

Stefanie war es dann, die Vera ein geknattertes »So’o’o’o’rry« zufliegen ließ, und bei ihr klang die Parodie gleich viel überzeugender. Aber es ging ihr um etwas anderes, um etwas Ernsteres. Die Freundin, die sie so gut nun auch wiederum noch nicht kannte, mache ihr Sorgen. Sie spüre eine tief sitzende Unruhe, ein Hadern, etwas Unerlöstes, das nicht an ihren Pool passe. »Du musst deinen Schmerzkörper bitte hinter dir lassen«, bat sie. Ob sie Vera helfen dürfe, dieser Spannung, diesem Groll, dieser Negativität auf den Grund zu gehen. Nun sagte Vera noch einmal: »Sorry?« Ihr gelang aber kein Knattern.

Und Stefanie erwiderte, dass sie doch sehe, wenn jemand etwas hatte. »Hab ich immer gehabt, diese Fähigkeit, so etwas zu sehen.«

Vera drehte sich auf den Rücken, was auf der Matratze nicht einfach war, fast kenterte sie, und dann sagte sie etwas, das sich in den letzten Jahren im Deutschen eingenistet hatte, als Beschwörungsformel, vielleicht zuerst bei Politikern, dann bei Fußballer-Interviews und schließlich im allgemeinen Sprachgebrauch, sie sagte »alles gut«, aber sie sagte es auf Englisch: »All good.« Da sie selber das Gefühl hatte, dass das etwas schief klang, schämte sie sich ein wenig dafür und versuchte umso trotziger, die Seelenruhe wiederzufinden, die einer Luftmatratze auf einem Pool in den sommerlichen Hamptons angemessen war. Eben hatte sie sie schließlich noch gehabt, diese Entspanntheit, oder jedenfalls so gut wie.

Für eine Weile hörte man nur noch Bass und Piano und Schlagzeug und immer wieder das Saxofon umeinander herumkreiseln, als hätte jemand einen elementaren Stöpsel aus der Welt gezogen, als trudelte nun alles gemeinsam einem Abfluss zu. Wenig später bügelte ein flacher Windstoß über Rasen und Pool, so als wolle er bei dieser Gelegenheit auch die kleine Aufwallung von eben wieder glätten. Das Bumm-dammdadamm hörte auf. Dafür spielte das Saxofon nun die Melodie von »Mackie Messer«.

Alecs Blick kroch den Rasen hoch bis zum Bungalow, der auf einer kleinen Anhöhe thronte. Tatsächlich war Richard da und hantierte hinter dem offenen Schiebefenster in der Küche. Alec sah, dass er die Melodie mitpfiff, und schaute wieder weg. Bei dieser Gelegenheit streifte sein Blick weiter hinten im Garten auch das Trampolin, auf dem die Kinder tobten, immer noch, wie Wildtiere in einem Käfig. Das heißt, seine Tochter Sarah war das wilde Tier, der kleine Scott Francis Mauler glich eher der Beute.

Alles deutete darauf hin, dass die gleißende Ruhe dieses Morgens nur noch wenige Augenblicke anhalten würde. Daraufhin zog er sich abermals hinter seine Augendeckel zurück, entschlossen diese Frist so effektiv wie möglich auszukosten. Aber bevor Alec Kline dazu wirklich Gelegenheit hatte, lief schon das Beben durch den Boden, das den Auftritt des Hausherrn ankündigte.

Pool

Er kam den Rasen runtermarschiert wie eine Armee aus nur einem Mann. Vor dem Bauch trug er ein Tablett, und als er am Beckenrand angelangt war, sagte er zufrieden: »So.«

»Richard!«, rief Vera auf Englisch, wobei sie vor allem das »Rich« betonte.

»Richard!«, sagte Stefanie, wobei sie wiederum den Akzent auf die zweite Silbe setzte und das d wegließ, so dass es französisch klang und ihre Mundwinkel sanft nach oben zog.

Alec sagte, ohne die Augen aufzumachen: »Dick!«

Richard Mauler nickte und sprach mit priesterlichem Tonfall: »Welcome to paradise!«

Anschließend sagte er: »Breakfast!«, und zeigte mit dem breiten Kinn auf das Tablett vor seinem Bauch, auf die Stapel von Pancakes, French Toasts, Waffeln, Blaubeer-Muffins, Eiern, sowohl pochiert als auch sunny side up. Währenddessen hielt er das Tablett auf der Höhe des Nabels und beugte den Oberkörper dabei noch ein wenig mehr ins Hohlkreuz. Er trug Seersucker-Shorts, und unten stachen seine Unterschenkel wie Krummdolche in hellblaue Segelschuhe hinein.

Alec fand, so wie er hier stand, glich sein Freund einem schwungvoll gemalten Dollarzeichen.

Dann setzte Richard das Tablett am Beckenrand ab und pries speziell den mit braunem Zucker marinierten Speck: »Hauchfeiner, nahezu schwarz gebackener Bacon«, sagte er. »Bacon in der Konsistenz von Kartoffelchips.«

Aber als Stefanie lächelnd Neindanke sagte, hielt sich auch Vera zurück. Selbst Alec reichte eine Tasse von dem Kaffee, two sugars, thank you.

Richard reagierte darauf nicht beleidigt, er schien es erwartet zu haben. Er rief die Kinder, setzte sich auf die Vorderkante eines Liegestuhls und aß selbst mit gutem Appetit. Stefanie fand, dass ihm die vornübergebeugte Haltung dabei etwas Animalisches gab: ein Bär, der Honig in sich hineinschlingt. Währenddessen erzählte er vom Verkehr auf dem Highway, von einem Stau bis Bridgehampton, dass er am Morgen in Watermill zu tun gehabt habe und der Termin dort zufriedenstellend verlaufen sei.

Keiner der anderen wusste, worum es dabei ging, und keiner wollte es genauer wissen.

Zwischendurch nahm Richard die Bücher von Alecs Bauch. Er las auf den Buchrücken laut die Namen Blavatsky und Musil vor und pfiff anerkennend über so viel Ehrgeiz am Pool. Aus dem hinteren Teil des Musil fiel ihm dabei ein Zettel mit Exzerpten aus einem Buch über »Landkommunen in Amerika« entgegen, der offensichtlich als Lesezeichen gedient hatte. Er dulde keine Kommunisten auf seinem Grundstück, erklärte Richard. Dann ließ er die Bücher auf Alecs Bauch zurückfallen.

Alec hatte kurz die Luft angehalten, um seinen Bauch hart zu machen vor dem Aufprall, und fragte, um das Thema zu wechseln, was es mit dem Grundstück überhaupt auf sich habe.

Richards Angaben zufolge war der breite, weitgehend gläserne Bungalow ein unbekanntes Nebenwerk aus dem Büro desselben Philip Johnson, der zusammen mit Ludwig Mies van der Rohe das Seagram Building an der Park Avenue entworfen hatte. »Nur das Haupthaus allerdings. Das Gästehäuschen, in dem ihr seid, ist jünger«, ergänzte Richard, als er merkte, dass sein Publikum mit Schweigen reagierte. Dann schwärmte er eine Weile von dem Architekten Philip Johnson, den er für das vielleicht noch genialere Genie als den Architekten Mies van der Rohe hielt. Er schwärmte namentlich von einem Restaurant, das es im Seagram Building gab oder einmal gegeben hatte. Er rief: Midcentury Modern! In diesem Ort kulminierte offenbar alles, was er mit New York verband, Modernität, Macht, Martinis. Richard sprach von »ladies who lunch« und von Power Brokern, die dort Millionendeals machten über ihren Siebzig-Dollar-Steaks zum Mittag. Einmal habe er am Nebentisch zwei Kunsthändlern zugehört, die sich über einen dritten unterhielten, der dafür berüchtigt war, seinen Sammlern Bilder anzubieten, die überhaupt nicht zum Verkauf standen, die er nur bei anderen Sammlern an der Wohnzimmerwand gesehen hatte. Aber wenn das Begehren erst einmal geweckt war, stimmte am Ende auch der Preis, und es kam zum Geschäft … »Das war der Moment, in dem die Entscheidung fiel: Das kann ein Richard Mauler auch.« Er machte eine Kunstpause und schaute mit erhobenem Finger in die Runde: »Allerdings bietet ein Richard Mauler nicht die Bilder an fremden Wohnzimmerwänden an …«

»Sondern die Wohnzimmerwände«, nahm ihm Stefanie seine Pointe aus dem Mund.

Dem Brummen, das sich anschloss, war für Vera und Alec nicht vollständig zu entnehmen, wie genau Richard später auch an diesen Bungalow hier gekommen war, aber der war nun jedenfalls seiner, und das war es, was zählte.

Er wurde von Vera gefragt, ob er seinen Namen eigentlich durchgängig in Großbuchstaben schreibe auf seiner Geschäftspost und auf den Visitenkarten.

Richard nickte kauend.

Und ob er seinen Mittelnamen, auf den Richard recht stolz war, weil er Viktor lautete, nach amerikanischer Sitte zum Initial abkürze.

Er hob den Daumen. Sicher tat er das.

Und wie oft kam es vor, dass Leute ihn wegen dieses Vau-Punkts zwischen Richard und Mauler für einen Adeligen aus Europa hielten?

Da schob Richard nur die Zunge in seine Wange, bis sich auf der anderen Seite eine Beule bildete, und zielte ein paarmal anerkennend mit der Zeigefingerpistole auf Vera.

Stefanie bat währenddessen Scott lieb, aber doch mit Nachdruck, er solle die Hände aus dem Essen nehmen, das der Papa da hingestellt habe, und erschrocken fuhren die kleinen Hände zurück.

»Warum denn?«, fragte daraufhin der Papa.

»Weil es ungesund ist?«, gab ihm Stefanie lächelnd eine mögliche Antwort vor. »Und fett macht?«

Das veranlasste Vera, mit betretenem Blick ihrer Tochter Sarah zuzuschauen, wie sie die letzten Reste der Pancakes in den Mund schob. Bereits im nächsten Moment wollten die Kinder dringend baden. Das heißt, Sarah wollte, wie sie mit immer noch vollem Mund ankündigte, jetzt sofort in den Pool, und Scott stand ängstlich daneben. Die Frauen untersagten es. Sie argumentierten mit dem Problem der vollen Mägen.

»Dann eben Verstecken spielen«, sagte Sarah, und Scott wackelte unsicher neben ihr von einem Bein auf das andere.

»Aber nicht in die Büsche am Zaun«, mahnte Stefanie lächelnd.

»What?«

»Das heißt: pardon«, sagte Vera.

»Nicht in die Büsche am Za-haun«, wiederholte Stefanie, immer noch lächelnd, aber eine Spur deutlicher.

»Was?«

»Das heißt: wie bitte!«

»Warum nicht in die Büsche am Zaun?«, wollte Sarah wissen.

»Weil diese Pflanzen empfindliche Geschöpfe sind, so wie du selber, weißt du?«

In Stefanies warme Zugewandtheit hatte sich etwas Erzieherisches gemischt, das Vera an gewisse Krankenschwestern denken ließ, damit an die Klinik, die Arbeit; sie versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Die trügen immerhin auch alle Namen, fuhr Stefanie fort, die Katzenminze zum Beispiel und die Engelstrompeten, die Galgenmännchen und die Löwenmäulchen. Und wenn zu grob mit denen umgegangen werde, dann hätten die Schmerzen: »So wie du.«

Dass ihrer Tochter von Stefanie Grobheit unterstellt wurde, verstimmte Vera. Andererseits war es, gerade im Vergleich zu dem stillen Scott, nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber vor allem wusste sie, dass diese freundliche Bitte bei ihrem Kind nicht viel Aussicht auf Erfolg haben würde. Sie fing deshalb an, in düsteren Tönen von Gefahren zu orakeln, die sich manchmal, schwer zu erkennen, unter den Schönheiten der Natur verbergen könnten. Von poison ivy war die Rede, von üblen, mit allem Wasser der Welt nicht zu lindernden Verbrennungen, aber auch von den Bissen der hier als besonders tückisch geltenden Zecken, von lime disease, von Verkrüppelung, Lähmung, Tod und all den anderen Schrecknissen, von denen Vera andere Mütter immer so eindringlich hatte predigen hören auf den Spielplätzen von Park Slope, bis sie ihr schließlich vorgekommen waren wie unverzichtbare Bestandteile eines Sommers auf Long Island, sofern der seinen Namen auch verdiente. Aber Richard behauptete, so etwas gebe es bei ihm gar nicht, so etwas komme ihm nicht in den Garten, poison ivy wachse hier nicht, das kenne er nur als Namen einer Punkrock-Gitarristin aus den Achtzigern. Die könne er mal auflegen. Das sei das Gefährlichste, was er hier anzubieten habe.

Alec wünschte sich, dass Richard Musik der Punkrock-Gitarristin Poison Ivy auflegen würde, weil ihm die vielen Saxofone und Trompeten etwas anstrengend wurden. Und Sarah erklärte, die Kinder würden Verstecken zweifellos im Gebüsch spielen müssen, wo denn sonst, alles andere mache »keinen Sinn«.

»No way!«, rief Vera.

»Yes way!«, rief ihre Tochter und rannte los. Den kleinen Scott zog sie wie einen Handwagen hinterdrein.

»Red light!« Vera rief jetzt so gellend, wie sie es von den anderen Müttern in Brooklyn in solchen Momenten immer gehört hatte, aber die rote Ampel wurde von Sarah ignoriert.

»Das nenn ich Autorität«, sagte Richard, der breitbeinig am Beckenrand stand und erst den Kindern nachsah, dann erwartungsvoll Vera anschaute.

Sie hätte von der Luftmatratze heruntergemusst, um ihr Verbot durchzusetzen, sie hätte sich nass machen müssen, zum Beckenrand schwimmen und ihrer Tochter tropfend hinterherrennen müssen, um dann sogenannte Maßnahmen zu ergreifen. Sie übertrug diese Aufgabe mit vorwurfsvollen Blicken an Alec, der allerdings wieder so tat, als ob er döse. Stefanie schaute den Kindern traurig hinterher, unternahm aber keine weiteren Anstalten mehr, ihren Sohn oder ihre Pflanzen voreinander zu retten. Sie seufzte nur sehr lange und sehr grundsätzlich. Da legte auch Vera den Kopf wieder auf der Luftmatratze ab und erklärte, dass das Konzept »Grenzen setzen« ihr ohnehin zu autoritär sei, sie jetzt außerdem Urlaub habe.

Alle schienen eine Weile zu horchen, ob die Kinder schon auf die Blätter von poison ivy gestoßen waren, aber sie waren nicht mehr zu hören. Zu hören war vielmehr »Witch Hunt« von Wayne Shorter. Abgesehen von den Aufschwüngen des Saxofons herrschte für einen Moment Ruhe.

Irgendwann war das zu viel Ruhe für Richard, der immer noch mit durchgedrückten Knien am Beckenrand verharrte. In den Bällen seiner Waden zuckte es. Er schlug nach einem Insekt, das ihn umbrummte. Der Badeanzug von Stefanie beschäftigte ihn. »Was ist das eigentlich mit diesem Badeanzug«, wollte er wissen. Der lang über die Hüften gezogene Schnitt machte ihm zu schaffen. Es habe niemand gesagt, dass auch die Badeanzüge aus derselben Zeit stammen müssten wie der Bungalow.

Stefanie erklärte geduldig, dass ihr Badeanzug im Gegenteil ganz neu sei. Sie war extra zu Barneys gegangen vor dem Urlaub. Bei dem Stichwort erinnerte sich Richard. Er hatte Stefanies Badeanzug schließlich bezahlt. »Das Ding hat uns 560 Dollar zurückgesetzt«, rief er mit erhobenen Armen über den Pool hinweg in den Himmel über den Hamptons hinein, so als wolle er vor den Göttern dieses Landes sein tiefes Einverständnis bekunden mit der Idee, dass Menschen einen »net worth« haben und dass sie mit jedem Mal Geldausgeben halt wieder ein paar Positionen zurückgesetzt werden in dem großen Gesellschaftsspiel, bei dem es darum geht, immer und immer und immer mehr zusammenzuhäufen.

»Plus Tax!«, rief er der Zahl noch hinterher.

»Ganz schön viel Geld für ganz schön viel Stoff.« Er hätte lieber noch mehr bezahlt und dafür weniger gesehen.

Stefanie bat ihn freundlich, keinen Unfug zu reden. Die Sonne scheine zu schön. Aber während sie das tat, streifte Richard mit einem Mal seine Schuhe von den Füßen, zog das Polohemd über den Kopf, ließ die Shorts runter und betonte feierlich das alte deutsche Wort »Freikörperkultur«.

Nun war es Stefanie, die die Augen verschloss. Gleichzeitig hoben sich Alecs Brauen. Sieh mal an, dachte er, jetzt war also auch Richard da, wo viele Footballspieler in dem Alter landen: an dem Punkt, wo die Breite trainierter Brustkörbe auf die Körpermitte übergreift, nicht wirklich als Fett, eher als eine festfleischige Massivität des Gesamtrumpfes, der bei amerikanischen Männern seines Alters allerdings grundsätzlich in Hosen eingepfropft wäre, wenigstens in Badeshorts.

»Wir sind hier nicht an der Ostsee«, erklärte er. »In Amerika herrschen andere Sitten.«

»Auf dem Planeten Mauler herrscht Mauler«, erwiderte Richard.

»Die sogenannte Freikörperkultur fällt, fürchte ich, sogar unter die unamerikanischen Umtriebe«, sagte Alec.

»Wirklich?«

Richard tat erschrocken. Er drehte sich zu ihm um.

»Gar kein FKK in USA?«

Alec gab zu, dass es immerhin einmal Versuche gegeben hatte, das hier einzuführen. Ein Mann mit dem Namen Barthel habe das propagiert, in den Zwanzigerjahren, ein Immigrant aus Deutschland, »ein Nudist im Kielwasser von Leuten wie Heinrich Scham«.

»Im Ernst: Scham?«

Richard war entzückt. Guter Name in diesem Zusammenhang. Dann drehte er sich wieder zu den Frauen und sagte: »Na bitte.«

Alec fügte murmelnd an, dass der Mann eigentlich Pudor geheißen, seinen auf Latein schon sprechenden Namen aus nationalistischem Eifer allerdings eingedeutscht habe und wie im Übrigen viele dieser Propheten natürlicher Nacktheit und nackter Natürlichkeit ein solcher Antisemit gewesen sei, dass er später sogar mit den Nazis aneinandergeriet, weil die ihm nicht genug … Aber das hörte keiner mehr, das wollte vielleicht auch keiner hören. Denn währenddessen hatte Richard Mauler allmählich die Arme gehoben, bis sie links und rechts neben seinem Kopf in den Himmel ragten, und beugte nun langsam die Knie. Alec hielt inne, als er sah, wie Richard schlagartig die Knie wieder streckte, seinen schweren Körper über die Luftmatratzen der entsetzt aufschreienden Frauen hinweg ins Wasser wuchtete — und schon als er eintauchte, zu hören war, dass etwas schiefgegangen sein musste …