Aus dem Konzil geboren  Aus dem Konzil geboren - Andreas R. Batlogg - E-Book

Aus dem Konzil geboren Aus dem Konzil geboren E-Book

Andreas R. Batlogg

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Beschreibung

60-Jahre-Zweites Vatikanisches Konzil Was davon trag- und zukunftsfähig ist Für die einen liegt das II. Vatikanische Konzil, das am 11. Oktober 1962 eröffnet wurde, bereits in einer fernen Vergangenheit. Andere wiederum sprechen von einem "unerledigten" Konzil und wieder andere meinen, dass es ein "neues Konzil" braucht. Spielt heute noch eine Rolle, was über viereinhalbtausend Bischöfe damals auf den Weg gebracht haben? Hilft es bei der Bewältigung aktueller Probleme? Autor Andreas R. Batlogg ist kurz vor Beginn des II. Vatikanums auf die Welt gekommen. Der bald 60-jährige Jesuit beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen der Weltkirche: als Karl-Rahner-Experte, langjähriger Chefredakteur von "Stimmen der Zeit" und ausgewiesener Papst-Franziskus-Kenner. In diesem Buch blickt er zurück – und nach vorne. Er sortiert und fragt, wie wir mit dem Erbe des Konzils umgehen. Besonders jetzt, da Papst Franziskus so sehr auf das Instrument der Synodalität setzt. Kann die Kirche in den Stürmen der Zeit bestehen und ist sie überhaupt zukunftsfähig?

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Andreas R. Batlogg

AUS DEM KONZIL GEBOREN

Wie das II. Vatikanische Konzil der Kirche den Weg in die Zukunft weisen kann

Tyrolia-Verlag • Innsbruck-Wien

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

1. Wir Kinder des Konzils

2. »Damit aus diesem Anfang des Anfangs ein richtiger Beginn werde«

3. Papst Johannes XXIII. oder: ein »Pontifikat des Übergangs«

4. Ein Blitzkonzil …?

5. … oder »ein Sprung nach vorn«?

6. Alltag einer Denkwerkstatt oder: Das Konzil als Laboratorium kollektiver Wahrheitsfindung

7. Der vielbemühte »Geist des Konzils«

8. Papst Franziskus: ein Kind des Konzils – und sein Wächter

9. Synodalität als Erbe des Konzils

10. Aus dem Konzil geboren – und jetzt?

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Geleitwort

34 Jahre war ich alt, als ich im September 1962 als Berichterstatter für die Katholische Nachrichten-Agentur nach Rom kam. Die Ewige Stadt war mir vertraut: Seit 1947 lebte ich als Seminarist des Bistums Speyer im Germanicum, habe an der Gregoriana studiert, wurde 1953 in Rom zum Priester geweiht und 1955 promoviert. Hier hatte ich das überkommene, in sich steril gewordene neuscholastische Schulsystem kennengelernt, das wenig Lebensrelevanz besaß. Wir waren als angehende Priester überhaupt nicht dafür gerüstet, es mit den Fragen der Zeit aufzunehmen. Die Ankündigung von Papst Johannes XXIII., ein Konzil einzuberufen, ließ mich deswegen im Januar 1959 aufhorchen. Begeistert war ich nicht. Was sollte dabei schon herauskommen? Doch es kam anders.

Das Zweite Vatikanische Konzil war ein riesiger Aufbruch: der Versuch, Anschluss an die Moderne zu finden. Ins Gespräch zu kommen mit den Themen der Gegenwart. Es gibt großartige und weniger gelungene Texte, die auf dem Konzil erarbeitet und verabschiedet wurden. Sie wirken bis heute nach. Und sie verpflichten uns weiterhin. Die Frage ist: Wie dem Auftrag von damals sechzig Jahre später nachkommen? Johannes XXIII. hatte es in das Motto »Aggiornamento« gepackt: die Kirche auf die Höhe der Zeit bringen. Zu lange hatte sie nur um sich selbst gekreist. Davor, nämlich vor der Selbstbezogenheit (»autorreferencialidad«) der Kirche, hat der Erzbischof von Buenos Aires, der Jesuitenkardinal Jorge Mario Bergoglio, bei den Beratungen im Vorkonklave im März 2013 gewarnt. Kurz darauf war er zum Bischof von Rom gewählt.

Von 1957 bis 1998 Mitglied der Redaktion der Stimmen der Zeit, konnte ich von 1966 an als deren Herausgeber und Chefredakteur den Kurs der ältesten katholischen Kulturzeitschrift eng mit dem Konzil verbinden und zu einer Plattform für den offenen, angstfreien Dialog mit Themen in Kirche und Welt machen. Spannungsfrei war das nie, konnte es gar nicht sein. Die »Würzburger Synode« (1971–1975) war der groß angelegte Versuch, das Konzil in der deutschen Ortskirche zu implementieren. Gelungen ist das nur zum Teil. Viele der heutigen Reformforderungen und -wünsche des Synodalen Weges gab es damals schon. Sie blieben in Rom unbeantwortet, wurden in der Folge durch päpstliche Entscheidungen ausgebremst oder durch bischöfliche Personalentscheidungen konterkariert. Meine beiden Nachfolger Martin Maier SJ (1998–2009) und Andreas R. Batlogg SJ (2009–2017) haben als Chefredakteure Kurs gehalten und dafür so manchen Konflikt mit vatikanischen Stellen riskiert.

Ich kann nur davor warnen zu meinen, das Konzil habe sich, nur weil es sechs Jahrzehnte zurückliegt, erledigt. Es ist nicht passé. Deswegen ist es nicht nur wichtig, an das Zweite Vatikanum zu erinnern, sondern auch dafür zu werben, seine Texte weiterhin ernst zu nehmen, fortzuschreiben und so Kirche zukunftsfähig zu machen.

Mittlerweile schaue ich auf 94 Lebensjahre zurück. Kein anderes Ereignis hat mein Leben mehr geprägt als dieses Konzil. Ich hoffe, dass auch kommende Generationen erfahren können oder verstehen lernen, welche weit über seine unmittelbare Zeit hinausreichende Wirkung es bis heute hat. Dieses Buch kann dabei helfen.

Wolfgang Seibel SJ

Vorwort

Sechzig Jahre – ein Menschenalter. Vor sechzig Jahren, am 11. Oktober 1962, wurde das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) eröffnet: das vielleicht wichtigste Ereignis der römisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert. Acht Tage zuvor, am 4. Oktober, laut Geburtsurkunde um 7:45 Uhr, hat mich meine Mutter zur Welt gebracht.

Für die einen liegt das letzte Konzil lange zurück: Es ist ferne Vergangenheit, Kirchengeschichte, wie das Erste Vatikanum (1869/70) oder das Reformkonzil von Trient (1545–1563). Andere sprechen von einem »unerledigten« Konzil. Wieder andere meinen, der momentane Problemstau in der Kirche, längst nicht nur nördlich der Alpen, rufe geradezu nach einem neuen Konzil. Weil es mit lokalen Lösungen nicht mehr getan sei.

Gelten die sechzehn Texte (vier Konstitutionen, neun Dekrete, drei Erklärungen) noch, die damals beschlossen wurden? Spielt, was die Bischöfe aus aller Welt damals auf den Weg gebracht haben, noch eine Rolle? Enthalten diese Texte vielleicht ungehobenes Potential? Vielleicht übersehene Möglichkeiten? Und vor allem: Nutzen diese Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen heute bei der Bewältigung unserer aktuellen Probleme in der Kirche? Helfen sie weiter? Oder taugen sie dafür nicht mehr – und sind bestenfalls noch historisch bedeutsam?

Am 13. März 2013 ist der Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio, zum Bischof von Rom gewählt worden – zum ersten Mal in der Geschichte ein Jesuit. Er beruft sich immer wieder auf das Zweite Vatikanum. Es war für ihn »eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur«. Papst Franziskus stellte ausdrücklich und unmissverständlich klar: »Es hat eine Bewegung der Erneuerung ausgelöst, die aus dem Evangelium selbst kommt. Die Früchte waren enorm.« Aus seiner Sicht ist längst noch nicht abgearbeitet, was dieses Konzil angestoßen hat. Dass er den »Erfinder« des Zweiten Vatikanums, Papst Johannes XXIII., am 27. April 2014 (zusammen mit Papst Johannes Paul II.) heiliggesprochen hat, war ein wichtiges Signal, jenseits der persönlichen Wertschätzung für den Roncalli-Papst.

Dieses Buch schaut zurück – und nach vorn. Es sortiert – und es fragt, wie wir mit dem Erbe des Konzils umgehen (können). Erst recht jetzt, da Papst Franziskus so sehr auf das Instrument der Synodalität setzt: das gemeinsame Suchen nach Lösungen, damit die Kirche in den Stürmen der Zeit bestehen kann. Und damit sie zukunftsfähig ist, weil sie sich als alltags- und krisentauglich erweist. Abzusehen ist längst noch nicht, wohin die gegenwärtigen Verwerfungen, Spannungen und Konflikte führen, die oft direkt (oder indirekt) mit dem letzten Konzil in Verbindung gebracht werden.

Der Leiter des Tyrolia-Verlags, Mag. Gottfried Kompatscher, hat dieses Buch angeregt. Mag. Brunhilde Steger hat es professionell lektoriert – und seinen Verfasser mit diskreter Beharrlichkeit betreut. Prof. Dr. Franz Xaver Bischof (Ludwig-Maximilians-Universität München) verdanke ich wertvolle Hinweise. Dr. Astrid Schilling hat, wie schon früher, mit bewährter Zuverlässigkeit Druckfahnen gelesen.

München, 31. Juli 2022 Andreas R. Batlogg SJ

1.

Wir Kinder des Konzils

»Konzilskinder«: Ich, Andreas Richard Batlogg – ein »Kind des Konzils«? Vom Zweiten Vatikanischen Konzil, oft abgekürzt Zweites Vatikanum genannt, habe ich zunächst überhaupt nichts mitbekommen. Wie sollte ich auch? Als die Campanone, die neun Tonnen schwere Glocke des Petersdomes, die nur bei seltenen Anlässen wie beim Tod eines Papstes oder nach dem Segen »Urbi et orbi« zum Einsatz kommt, am 11. Oktober 1962 kurz nach halb zehn Uhr vormittags erklang – zum feierlichen Einzug von fast 2500 Bischöfen, Patriarchen und Kardinälen, die in langen Kolonnen vom Apostolischen Palast über die Scala Regia herunterstiegen und über die Piazza di San Pietro zogen –, war ich gerade einmal acht Tage alt. Meine Eltern wohnten damals noch bei meinen Großeltern. Die drei jüngeren Schwestern meiner Mutter, besonders meine Taufpatin Gerti, sahen in mir so etwas wie eine lebendige Puppe und verwöhnten den Säugling nach Strich und Faden, wo sie nur konnten.

Die Pfarrei, in der ich aufwuchs, wurde von 1962 bis 1966 im Bregenzer Stadtteil Rieden errichtet: ein moderner Kirchenbau samt Pfarrzentrum am Fuße des Gebhardsberges, wo für junge Familien die Feldmoos- und die Weidach-Siedlung entstanden waren. Nach dem irischen Wandermönch und Missionar Kolumban benannt, verdankt sie ihre Gründung und den Aufbau in den ersten Jahrzehnten einem aus der Schweiz stammenden, nach dem Studium in Vorarlberg hängen gebliebenen Pfarrer, der, worauf wir mit einigem Stolz sahen, in New York zur Welt gekommen war, weswegen er auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Die innen vollständig von dem Kölner Goldschmied, Bildhauer und Maler Egino Weinert ausgestattete Kirche hat drei Bankreihen. Sie sind wie der Plenarsaal eines Parlaments auf den Volksaltar ausgerichtet.

Einen Hochaltar in der Apsis einer Kirche sah ich als Kind nur in der Riedenburg. Dort ging ich bei Sacré-Cœur-Schwestern in den Kindergarten und in die Volksschule. Diese begann für mich im Herbst 1969, wenige Wochen nach der ersten Mondlandung, an die ich mich noch erinnere, weil wir damals einen Fernseher bekamen. Schwarzweiß natürlich. Jahrelang war ich Ministrant in der neugotischen Klosterkirche oder in der Winterkapelle der Riedenburg. Dort »roch« es ganz anders nach Kirche als in St. Kolumban, wo ich mich erst als Jugendlicher heimisch zu fühlen begann. Auch in der Mutterpfarrei der Landeshauptstadt, in St. Gallus, gab es einen Hochaltar, außerdem ein Chorgestühl, das bis zur Aufhebung im Jahr 1806 in der Benediktinerabtei Mehrerau stand, die 1854 wiederbesiedelt wurde: von Zisterziensern, die aus Wettingen (Schweiz) vertrieben worden waren.

Vielleicht lag es am Kirchenbau, der einem Schiff nachempfunden ist (Kolumban und Gallus kamen über den Bodensee nach Bregenz), vielleicht am aufgeschlossenen Pfarrer: St. Kolumban atmete den neuen »Geist des Konzils«, der mehr auf ein Miteinander aller Gläubigen, das »pilgernde Volk Gottes«, setzte als auf ein Gegenüber zwischen Klerus und Gläubigen. Der vom Dogmatikprofessor Peter Neuner festgestellte »Abschied von der Ständekirche« (2015) – ein, wie der Untertitel seines Buches lautet, »Plädoyer für eine Theologie des Gottesvolkes« – war hier, jedenfalls architektonisch, bereits Realität geworden.

Vom Konzil habe ich, wie gesagt, zunächst gar nichts mitbekommen. Richtig bewusst wurde mir, was dort passiert ist und was es auf den Weg brachte, erst im Laufe des Theologiestudiums. Im Herbst 1981 wagte ich mich auf die andere Seite des Arlbergs und trat für die Diözese Feldkirch in das Priesterseminar in Innsbruck ein. Das Studium an der Universität war spannend. Ich hatte gute, teils exzellente Professoren. Damals lehrten fast zwanzig Jesuiten an der Theologischen Fakultät, heute sind es keine fünf mehr. Dass ich selbst einmal um Aufnahme in den Orden bitten sollte (September 1985), wusste ich damals noch nicht. Die Mischung aus Intellektualität und Spiritualität hat mich letztlich, zusammen mit Exerzitienerfahrungen, in die Gesellschaft Jesu gelockt oder getrieben.

Eines der ersten Bücher, die ich als Student erwarb – seinerzeit Pflichtlektüre –, war ein 775 Seiten starkes Taschenbuch: »Kleines Konzilskompendium« (Herderbücherei 270). Karl Rahner SJ, selbst Konzilsberater, und Herbert Vorgrimler stellten darin die einzelnen Konzilstexte vor. Eine profunde Einleitung mit einer detaillierten Liste zum Ablauf des Konzils, Register und ein Literaturverzeichnis sowie der »Nachtrag: Die nachkonziliare Arbeit der römischen Kirchenleitung« informieren aus erster Hand. Meine Ausgabe – es ist die 15. Auflage vom März 1981 – steht auf dem Schreibtisch in Griffnähe zwischen Bibel und Duden. Nach vierzig Jahren ist sie abgegriffen, der grüne Umschlag löst sich auf. Obwohl es mittlerweile die 35. Auflage (2008) und ein größeres Format in edlem Kardinalsrot (dafür in schlechterer Papierqualität) gibt, kann ich mich davon nicht trennen. Das ziemlich ramponierte Buch hat mehr als zehn Umzüge in 37 Ordensjahren überlebt und gehört zu meiner Sozialisation als Theologe.

Auf einem Büchertisch im Priesterseminar entdeckte ich einen 300 Seiten umfassenden Band, den ich mir umgehend erstand: »Das Konzil und seine Folgen« (1966) mit Texten von Mario von Galli SJ (1904–1987), der übrigens Verwandte in Bregenz hatte, und Fotos von Bernhard Moosbrugger (1925–2004). Er folgte auf vier zuvor erschienene Hefte »Das Konzil« (1963, 1964, 1965, 1966), die jeweils eine Chronik der ersten bis vierten Sitzungsperiode samt einem Dokumententeil mit Reden auf dem Konzil brachten, ebenfalls gestaltet als Text- und Bildbericht der beiden Autoren. Die Werbung war keine Übertreibung – auf mich, den »Nachgeborenen«, traf es jedenfalls zu: »Man spürt den Pulsschlag des Konzils auf jeder Seite.«

Mehr als die Texte zogen mich damals die eindrucksvollen Fotos an: Kirche, erlebbar als Weltkirche! Weil meine Heimatpfarrei St. Kolumban auch die Zentrale der Päpstlichen Missionswerke in Vorarlberg beherbergte, hatte ich als Jugendlicher nicht nur einmal Mutter Teresa von Kalkutta erlebt, sondern auch etliche Bischöfe aus Asien und Afrika, darunter Francis Arinze, den Erzbischof von Onitsha (Nigeria), der 1985 nach Rom berufen wurde und als Kurienkardinal in verschiedenen Funktionen tätig war. Unser Pfarrer lud sie für Firmungen ein: die Welt zu Gast in Bregenz! Früh erlebte ich auf diese Weise, über den eigenen Kirchenturm hinauszuschauen: Kirche ist Weltkirche.

Neben dem Konzilskompendium und dem genannten Bildband, den ich im Herbst 2017 weggab, als ich nicht damit rechnete, meine Krebserkrankung zu überleben, 2022 aber wieder antiquarisch erwarb, kam der mehrfach aufgelegte Band »Das Zweite Vatikanische Konzil« (1993) von Otto Hermann Pesch (1931–2014) dazu. Packend geschrieben wie ein Krimi! Pesch beschreibt die Vorgeschichte, den Verlauf, die Ergebnisse und die Nachgeschichte des Zweiten Vatikanums akribisch. Sein Buch ist ein unersetzliches Nachschlagewerk geworden, das auch einen Eindruck von der Stimmung auf dem Konzil vermittelt: was sich sozusagen vor und hinter dem Vorhang abgespielt hat.

Als der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl, der während des Konzils ein Kirchenrechtsstudium in Rom absolvierte und wie der Konzilstheologe Joseph Ratzinger im Priesterkolleg der Anima an der Piazza Navona wohnte, 1998 sein Buch »Im Sprung gehemmt« veröffentlichte, erstellte ich während der Lektüre ein Personenregister, das ich vermisste und das dann in der bald fälligen zweiten Auflage zum Abdruck kam. Krätzl, dessen 90. Geburtstag im Spätherbst 2021 in einem Festgottesdienst im Wiener Stephansdom begangen wurde, fasste darin zusammen: »Was mir nach dem Konzil noch alles fehlt« (Untertitel). Zum 50. Jahrestag der Konzilseröffnung im Jahr 2012 zog er als Zeitzeuge in einem weiteren Buch Bilanz: »Das Konzil – ein Sprung vorwärts«. Er widmete es dem Papst, der das Konzil nach dem Tod von Johannes XXIII. fortgesetzt und abgeschlossen und ihn 1977 zum Bischof bestellt hat: »In Erinnerung an ihn ist dieses Buch geschrieben und es soll in jener Besorgtheit um die Kirche gelesen werden, die Paul VI. ausgezeichnet, aber auch belastet hat.«1 Für Krätzl war das Konzil, wie er damals im Rückblick auf 80 Lebensjahre schrieb, die »größte Wende in meinem kirchlichen Leben und Denken.«2

Ganz ähnliche Töne konnte ich von dem heute 94-jährigen Jesuiten Wolfgang Seibel hören. Als ich im Juni 2000 nach München versetzt wurde, um in die Redaktion der Stimmen der Zeit einzutreten, wohnte ich im selben, nach dem von den Nazis dreieinhalb Monate vor Kriegsende zum Tode verurteilten und hingerichteten Jesuiten Alfred Delp (1907–1945) benannten Schriftstellerhaus im Stadtteil Nymphenburg. Schon 1987/88 hatte ich dort für etwas mehr als ein Jahr mit Seibel in derselben Kommunität gewohnt, damals als Praktikant bei der Zeitschrift »Geist und Leben«. Er ist noch heute trotz seines biblischen Alters ein Fass von Wissen, das ich, als ich Chefredakteur wurde, immer »anzapfen« konnte und durfte, was mir, als Österreicher immer der »Ausländer« in München, sehr half. Unvergesslich sind mir lange Abende geblieben, bei einer guten Flasche Wein (die der Connaisseur selbst aussuchte), an denen ich Seibel querbeet ausfragen konnte und stets blitzgescheite Antworten bekam. Seit Jahren wegen einer Makula-Degeneration sehbehindert, habe ich aus seinem Vorlass fünf (ge-)wichtige Bände von Giuseppe Alberigo (1926–2007) »geerbt«, die er sowohl in der italienischen Originalfassung als auch in deutscher Übersetzung besaß: »Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils«. Die fünf deutschen Bände sind von 1997 bis 2008 erschienen.

Außerdem schenkte mir Seibel einmal die Erstausgabe eines kleinen Bändchens von Hans Küng (1928–2021), das seinerzeit Furore machte: »Konzil und Wiedervereinigung« (1960). Küng wurde ein Jahr nach Seibel »Germaniker« und war auf dem Konzil zeitweise Berater des Rottenburger Bischofs Carl Joseph Leiprecht, aber auch vom Papst ernannter offizieller Konzilsberater (»Peritus«). Mit dem ein Jahr älteren, damals in Bonn lehrenden Theologen Joseph Ratzinger, dem späteren Erzbischof von München und Freising und nachmaligen Papst Benedikt XVI., verband ihn (wegen ihres jugendlichen Alters) der (von Michael Schmaus abschätzig gemeinte) Spitzname »Teenager des Konzils«3. In seinen Memoiren, besonders in den beiden ersten Bänden »Erkämpfte Freiheit« (2002) und »Umstrittene Wahrheit« (2007), geht der weltbekannte Schweizer Theologe, der zeitlebens in Tübingen lehrte und dort im April 2021 in einem Grab neben seinem Freund Walter Jens beigesetzt wurde, weniger vornehm mit dem Zweiten Vatikanum um.

Viel gelernt hatte ich von einem Freund, dessen Freiburger Doktorarbeit sich mit Rahners Beitrag zur Ekklesiologie, also der Kirchenlehre des Zweiten Vatikanums, beschäftigte: »Universales Heilssakrament Kirche« (2001). In seiner später mit dem Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung ausgezeichneten Studie gab Günther Wassilowsky spannende Einblicke in die Arbeitsweise deutscher Theologen, die er einer »Textwerkstatt«4 zuordnete und zu deren Masterminds Karl Rahner zählte. Ich habe dieses Buch trotz seines hohen wissenschaftlichen Niveaus wie einen Krimi verschlungen und bald rezensiert5. Mein Respekt vor der Arbeit der Bischöfe und Theologen wuchs umgekehrt proportional zu dem Abstand, der zwischen dem Zweiten Vatikanum und »meiner« kirchlichen Gegenwart lag.

Was löste das Konzil aus? Was bewirkte es? Was brachte es auf den Weg? In regelmäßigen Abständen und bei »Jahrestagen« wurde solchen Fragen nachgegangen. »Vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen« waren Gegenstand einer Tagung in Mainz im Jahr 2002, die 2004 veröffentlicht wurde6. Die beiden Professoren an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof und der Religionspädagoge Stephan Leimgruber, beide gebürtige Schweizer, gaben 2004 einen Sammelband zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte heraus: »Vierzig Jahre II. Vatikanum« (2004). Sie luden mich ein, »Karl Rahners Mitarbeit an den Konzilstexten« vorzustellen, die ich auf über zwanzig Druckseiten darstellen konnte.

Auch das gab es damals: eine Briefmarke. Eine Marke ist – ein Postwertzeichen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Immerhin: Der deutschen Bundespost war das Zweite Vatikanische Konzil im Jubiläumsjahr 2012 eine 45 Cent-Briefmarke wert. Vier der dort beschlossenen maßgeblichen Dokumente bilden ein Kreuz: die Texte über ein erneuertes Verständnis als Kirche (»Lumen gentium«), über ihre Existenz in der gegenwärtigen Welt (»Gaudium et spes«), über die volkssprachliche Feier des Gottesdienstes (»Sacrosanctum Concilium«) und die biblische Offenbarung (»Dei verbum«).

Im Dezember 2015 organisierte in München die Katholische Akademie in Bayern einen internationalen und interdisziplinären Kongress, der am Ende des Jubiläumsjahres 1965/2015 eine ganze Reihe von Veranstaltungen abrundete, die zwischen 2012 und 2015 stattgefunden hatten. Der Dokumentationsband umfasst über 650 Seiten7, die Schlussveranstaltung, eine öffentliche Podiumsdiskussion, erschien als eigene kleine Schrift8.

Von einem elfmonatigen Aufenthalt in den USA, der letzten ordensinternen Ausbildungsphase, zurückgekehrt, wurde ich im Oktober 2005 Mitherausgeber der »Sämtlichen Werke« Karl Rahners, nachdem mich das Herausgeberkollektiv (Karl Kardinal Lehmann, Johann Baptist Metz, Albert Raffelt, Herbert Vorgrimler) als Nachfolger von Karl H. Neufeld SJ akzeptiert hatte. Von 2010 an für drei Jahre auch Mitglied der Schriftleitung, war ich zeitweise in den Verlauf der Bearbeitung der einzelnen Bände eingebunden. 2013 erschien der wegen seines Umfangs auf zwei Teilbände aufgeteilte, von Günther Wassilowsky bearbeitete Band 21 mit Karl Rahners Schriften zum Konzil und seiner Interpretation. Auch in der Edition der »Gesammelten Schriften« Joseph Ratzingers erschienen als Band 7 (in zwei voluminösen Teilbänden) dessen Beiträge zum Konzil. Die beiden Rahnerbände umfassten (XXXIX und) 1109, die von Ratzinger 1250 Seiten. Es gelang mir, beide Werke in einem kleinen Artikel zusammen vorzustellen und die fruchtbare, wegen späterer Auseinandersetzungen oft vergessene Zusammenarbeit der beiden Theologen darzustellen9.

Im Februar 2008 hatte ich als neuer wissenschaftlicher Leiter das Karl-Rahner-Archiv (KRA) von Innsbruck nach München zu übersiedeln. Aufgrund zahlreicher Anfragen an das Archiv aus aller Welt bekam ich in der Folge zunehmend Einblicke in die (größtenteils unveröffentlichte) Korrespondenz Karl Rahners und andere Unterlagen, die nicht zu seinem gedruckten Werk gehören, das sukzessive in der Gesamtausgabe neu zugänglich gemacht wurde. Meine Achtung vor dem »Arbeitstier« Karl Rahner stieg ins Unermessliche. Zwar hat er auf dem Zweiten Vatikanum auch seine Gesundheit ruiniert, weil er über seine Verhältnisse lebte, und das hieß: arbeitete. Aber wie würde das Konzil ohne ihn und viele andere Theologen, die Bischöfen zuarbeiteten oder als vom Papst ernannte »Periti« tätig waren, gelaufen sein – ohne dass man deswegen der These Gehör schenken muss, Theologen hätten ahnungslose Bischöfe überrumpelt und manipuliert und aus dem Konzil der Bischöfe eine Theologenversammlung gemacht, wie sie eine restaurative Konzilsgeschichtsschreibung (z. B. Ralph M. Wiltgen SVD: »Der Rhein fließt in den Tiber«, 1967; dt. Übersetzung 1988) seit Jahrzehnten behauptet?

Wie Karl Rahner auf dem Konzil streckenweise zumute war, erfuhr ich aus einer sehr privaten Quelle: einem Brief, den er seinem (krankheitsbedingt in Innsbruck festsitzenden) Bruder, dem Kirchenhistoriker Hugo Rahner SJ (1900–1968), am Allerseelentag 1963 schrieb. Es war eine Momentaufnahme zu der am 29. September 1963 begonnenen zweiten Konzilssession, auf der hauptsächlich über das Schema »Über die Kirche«, über Kollegialität und Mariologie debattiert wurde. Dieser Brief, den mir ein Sohn von Karl Rahners Schwester Elisabeth Cremer überließ, trägt auch pastorale Züge, da der jüngere der beiden Brüder den älteren aufbauen und trösten wollte – Hugo Rahner kämpfte seit Jahren mit der Diagnose Parkinson. Er gibt jedoch auch Einblick in die Arbeit jenseits der Konzilsaula: in das Ringen um einzelne Formulierungen in Theologengruppen, die in »Textwerkstätten« Entwürfe redigierten, kompilierten und in eine Endfassung brachten, für die dann Bischöfe untereinander warben. Es ist atemberaubend, mitzuverfolgen, wie hier Elemente einer kollektiven Wahrheitsfindung sichtbar wurden, die es so später zwischen Bischöfen und Theologen nicht mehr oder nur mehr ausnahmsweise gab. Ich habe den Rahner-Brief im September 2012 in den Stimmen der Zeit ediert10 und zusammen mit meinem Kollegen Nikolaus Klein SJ in einem längeren Artikel ausgewertet und kommentiert11.

Er ist ein wertvolles Zeitdokument. Um ein klein wenig einen Eindruck vom Stil zu bekommen, hier ein Auszug: »So, nun habe ich genug gequatscht. Hoffentlich hat es Dich nicht zu sehr gelangweilt. (…) Ich kann ja dann keine kirchengeschichtliche Chronik des Konzils schreiben, sondern nur einige private und sehr subjektive Eindrücke berichten, von denen ich hoffe, dass Du sie nicht als Strunzen auffassest. Es ist merkwürdig bei einem Konzil, auch wenn man versucht, dabei zu sein und mitzukochen (so gut man kann), es gibt bei einem Konzil überhaupt niemand, der sagen könnte, er steuere eindeutig, übersehe alles und habe alles in der Hand. Nicht einmal die Moderatori wissen eigentlich vor der Abstimmung sicher, wie sie ausgeht. Aus den Reden der Aula ist sehr schwer zu entnehmen, wie die zahlenmäßigen Verhältnisse eigentlich sind. Man ist in einen Topf geworfen, ist nicht Koch, sondern wird gekocht, und wie die Suppe am Ende aussieht, das weiß man erst am Ende. Schon vom Heiligen Geist abgesehen, wäre es interessant, anhand solcher Erfahrungen über die Weise einer kollektiven Meinungsbildung und Wahrheitsfindung nachzudenken. Es ist ein ungeheuer kompliziertes, unübersehbares und letztlich nicht adäquat manipulierbares System mit tausend Rückkoppelungen usw. Und es ist jedenfalls so, wie es sich die Römer wie Tromp usw. vorher nicht geträumt haben.«12

Apropos: Unser kommentierender Artikel erschien elf Monate später komplett auch in italienischer Übersetzung in der Jesuitenzeitschrift »La Civiltà Cattolica«. Wir staunten beide nicht schlecht, dass Auszüge davon auch in der Tageszeitung des Vatikans, dem »L’Osservatore Romano«, erschienen: »Dientro le quinte del Vaticano II. Il 2 novembre 1963, in una lettera al fratello, Karl Rahner tracciava un primo bilancio del concilio.«13 Ob uns Papst Franziskus beim Frühstück gelesen hat?

Als Archivchef saß ich gewissermaßen an der Quelle. Deswegen konnte ich mich 2012, zur Feier des 50. Jahrestages der Konzilseröffnung, auf mehrere Projekte einlassen. Der Standort München erwies sich dabei als ideal: Denn neben dem Karl-Rahner-Archiv befindet sich hier auch der Sitz des Archivs der Deutschen (ADPSJ), seit April 2021 der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten (APECESJ), das die Nachlässe der drei Frankfurter Jesuiten Alois Grillmeier, Johannes B. Hirschmann und Otto Semmelroth oder von Friedrich Wulf aufbewahrt, die einzelnen Bischöfen zuarbeiteten14. Zum Bestand des Erzbischöflichen Archivs München (EAM) gehört auch der Konzilsnachlass des allzu früh verstorbenen Erzbischofs von München und Freising, Julius Kardinal Döpfner (1913–1976), der als einer von vier »Moderatoren« eine Schlüsselposition auf dem Zweiten Vatikanum einnahm. Döpfner hätte Karl Rahner im Herbst 1962 gern als seinen persönlichen Berater mit aufs Konzil genommen. Dieser fühlte sich freilich, damals (noch) an der Universität Innsbruck wirkend, dem Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz, Kardinal Franz König, verpflichtet. Er stand dann aber auch deutschen Bischöfen, allen voran Döpfner oder Hermann Volk (Mainz), zur Verfügung. München war aufgrund dieser Archivlage »zu Deutschlands ›heimlicher Konzilshauptstadt‹«15 geworden.

Peter Pfister (EAM), Clemens Brodkorb (ADPSJ) und ich (KRA) veranstalteten eine große Ausstellung: die erste ihrer Art, die sich in Deutschland anhand vorhandener Archivalien mit dem Zweiten Vatikanum beschäftigte. Die Vorüberlegungen begannen 2010. Unser Glück: In Franz Xaver Bischof fanden wir an der Theologischen Fakultät einen ebenso interessierten wie kundigen Kirchenhistoriker. Zur Planungsgruppe gehörte außerdem (neben Roland Götz und Guido Treffler vom EAM) auch der Schweizer Jesuit Nikolaus Klein, der jahrzehntelang bei der 2009 eingestellten Jesuitenzeitschrift »Orientierung« in Zürich gearbeitet hatte, zu der seinerzeit auch Mario von Galli SJ, Ludwig Kaufmann SJ und Karl Weber SJ gehört hatten, die alle so oder so eng mit dem Konzil verbunden waren. Klein stellte zum Beispiel den Kontakt zur Nachlassverwalterin des Zürcher Fotografen Bernhard Moosbrugger her, was die Einbeziehung von dessen historischen Konzilsaufnahmen ermöglichte. Die Ausstellung in den Räumlichkeiten des Erzbischöflichen Archivs in der ehemaligen Karmeliterkirche in der Münchener Innenstadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hotel Bayerischer Hof, wo die alljährliche Sicherheitskonferenz stattfindet, war mehrere Monate lang zugänglich. Im Ausstellungsband von über 600 Seiten war nicht nur das komplette Ausstellungsmaterial abgedruckt, vor allem Originaldokumente aus den drei Archiven, die es erlaubten, den Verlauf und die Arbeitsweise des Konzils, die Entstehung zweier Dokumente und erste Schritte ihrer Umsetzung nachzuverfolgen. Er enthielt neben dem 300 Seiten starken Katalog der Ausstellung auch zwölf Fachartikel. Ziel war es nicht, Tagungen und Symposien im Umfeld des Jubiläums Konkurrenz zu machen, sondern Material vor Ort zu nutzen, das andernorts so nicht vorhanden oder unzugänglich war.

Begleitend zur Ausstellung fanden drei Veranstaltungen statt: Als Zeitzeugen kamen Karl Kardinal Lehmann und Wolfgang Seibel zu Wort. Mit Günther Wassilowsky (damals Linz, jetzt Berlin) war auch ein profilierter Konzilsforscher der jüngeren Generation vertreten. Wolfgang Küpper, der Leiter des Kirchenfunks des Bayerischen Rundfunks, moderierte diese Abendveranstaltungen. Auf dem Konzil Döpfners Sekretär, war auch Gerhard Gruber, Generalvikar unter den Erzbischöfen Julius Döpfner, Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter, unter den Besucherinnen und Besuchern. Gleichsam ein »Abfallprodukt« der Ausstellung wurde die Neuherausgabe von Karl Rahners berühmter Münchener Rede »Das Konzil – ein neuer Beginn«, die ich zusammen mit Albert Raffelt besorgte. Sie war damit wieder als Einzeltext zugänglich. Kardinal Lehmann steuerte ein Vorwort bei.

Tagungen, Symposien und Kongresse, Memoranden und Manifeste, Vorträge, Bücher und Artikel: Die Jahre 2012 bis 2015 boten viel Erinnerung. Und sie fragten nach Desideraten und bleibenden Herausforderungen. Nicht zu Unrecht wurde immer wieder vor seiner »Musealisierung« gewarnt. Mit Benedikt XVI. hatte die Kirche einen Papst, dessen Lebensgeschichte eng mit dem Konzil verknüpft ist. Als junger Professor hatte er aktiv daran teilgenommen und gehörte zu den aufgeschlossensten, brillantesten und weitsichtigsten Beratern. Im Laufe seines Lebens flaute seine Begeisterung ab, seine Bedenken nahmen zu. Das hatte auch mit seinen verschiedenen Rollen zu tun.

Im März 1977, knapp vor seinem 50. Geburtstag, zum Erzbischof von München und Freising ernannt und am 27. Mai zum Bischof geweiht, nahm ihn Papst Paul VI. bereits einen Monat später – ungewöhnlich genug – ins Kardinalskollegium auf. Jahrelang bedrängte ihn dann Johannes Paul II., das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation in Rom zu übernehmen, rein formell (nach dem Kardinalstaatssekretär) die »Nummer 3« im Vatikan. Im November 1981 konnte sich Ratzinger der Berufung endgültig nicht mehr entziehen, im Februar 1982 übernahm er dann den Posten und übte ihn bis zum Konklave im April 2005 aus, länger als jeder Amtsinhaber zuvor. Mehrere Rücktrittsangebote lehnte Papst Johannes Paul II. ab, der ganz offensichtlich nicht auf seine Expertise verzichten wollte. Mehr noch als in seiner Zeit als Diözesanbischof, als er sich auf die »Niederungen« der Pastoral einlassen musste, kam Ratzinger als Kurienkardinal die »Wächterrolle« zu – und er nahm sie intensiv wahr.

Im Jahr 1985, also zwanzig Jahre nach dem Ende des Konzils, gab Joseph Ratzinger dem prominenten Publizisten Vittorio Messori ein langes Interview, das unter dem Titel »Zur Lage des Glaubens« publiziert und weltweit beachtet wurde. Es erschien nämlich im unmittelbaren Vorfeld der im Oktober 1985 stattfindenden Außerordentlichen Bischofssynode zum 20. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanums. Ein perfektes Timing! Schon Vorabdrucke in der italienischen Zeitschrift »Jesus« sorgten für Aufregung, nicht nur im Kirchenvolk, sondern auch unter Bischöfen, ja ganzen Bischofskonferenzen. Als das komplette, von Ratzinger durchgelesene und überarbeitete Gespräch fast zeitgleich in italienischer, französischer, spanischer und natürlich in deutscher Sprache als Buch erschien, konnte man seine Analysen längst nicht mehr unabhängig von dem entstandenen Medienrummel lesen. Im Vorwort hatte er zwar, offenbar unter dem Eindruck des enormen Echos, noch etwas beschwichtigend gemeint, seine während eines Urlaubs in Brixen entstandenen Äußerungen stellten »in der Tat kein ausgereiftes Werk, sondern eine Sammlung von Denkanstößen – ein Stück Dialog«16 dar. Aber dass es sich dabei nicht um eine harmlose theologische Plauderei handelte, war offensichtlich, und den Dialog begünstigt hat das Interview keineswegs.

Tatsache war, dass der vorsynodale Prozess schlagartig präjudiziert war, was den ehemaligen Konzilsberichterstatter Ludwig Kaufmann die Schlussfolgerung ziehen ließ, es sei »der privaten Sicht eines Mannes in höchster kirchlicher Position« gelungen, »mit einer Publizität sondergleichen zum monopolartigen Referenzpunkt«17 der Diskussionen um eine (befürchtete restaurative) Interpretation des letzten Konzils zu werden. David A. Seeber, seit 1961 bei der Herder Korrespondenz und von 1966 bis 1991 deren Chefredakteur, kritisierte das Interview deutlich. Er räumte aber auch ein: »Seit Jahren einer trügerischen Ruhe haben wir damit endlich wieder einen wenigstens teilweise öffentlichen Diskurs darüber, wie Konzilsverwirklichung nach den Erfahrungen der letzten 20 Jahre heute aussehen könnte oder sollte.«18 Gleichzeitig wunderte er sich: »Die Art, wie dieser Diskurs geführt wird, (…) ist auf seltsame Weise rückwärtsgewandt.«19

Seeber sprach in einer überregionalen deutschen Tageszeitung auch von einer »Abrechnung«: »Wenn ein Kardinal wie Joseph Ratzinger dem Gespräch mit einem Journalisten gleich mehrere Urlaubstage widmet, wenn er dann das Ergebnis in Buchform umsetzen lässt und die komplizierte (…) Veröffentlichung sehr persönlich (und sehr aufmerksam) begleitet, darf angenommen werden, dass es ihm nicht um diese oder jene dogmatische oder disziplinäre Frage geht, auch nicht um seine Behörde, (…) sondern um den Gang der Kirche überhaupt, und dass er sich von der Veröffentlichung etwas verspricht.«20

Mehrmals hatte Ratzinger den Ausdruck »Restauration« verwendet. Er erläuterte, dabei handle es sich nicht darum, hinter das Konzil zurückzugehen: »Nein: Man geht nicht zurück, noch kann man es. In diesem Sinn gibt es also keine ›Restauration‹. Aber wenn wir unter ›Restauration‹ die Suche nach einem neuen Gleichgewicht verstehen, nach all den Übertriebenheiten einer wahllosen Öffnung zur Welt, nach den positiven Interpretationen einer agnostischen und atheistischen Welt; nun gut, dann wäre eine ›Restauration‹ (…) durchaus wünschenswert, im übrigen ist sie in der Kirche bereits im Gange.«21 Wolfgang Seibel SJ wendete in einem Editorial in den Stimmen der Zeit ein, aufgrund der negativen Prägung dieses Begriffs werde »heute niemand ›Restauration‹ als Bezeichnung für seine Pläne verwenden, wenn er sich nicht von vornherein in Mißkredit bringen will«22. Auch von »Geist« und »Ungeist« des Zweiten Vatikanums innerhalb der Kirche sprach Ratzinger wiederholt. »Ungeist« wurde zum schillernden Schlagwort für sämtliche nachkonziliare (Verfalls-)Erscheinungen innerhalb der Kirche, deren Geschichte manche Zeitgenossen in den Augen Ratzingers »erst mit dem II. Vatikanum als einer Art Nullpunkt beginnen«23 ließen.

Die Reaktionen auf dieses Interview waren, wie gesagt, heftig und polemisch. Ihre Bandbreite reichte von scharfer Ablehnung bis zu vollster Zustimmung – und man konnte im Nachhinein erkennen, wie sensibel 20 Jahre nach Konzilsende auf Wertungen und Bilanzen reagiert wurde.