Der evangelische Papst - Andreas R. Batlogg - E-Book

Der evangelische Papst E-Book

Andreas R. Batlogg

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Beschreibung

Womit man bei diesem Papst noch rechnen muss

Am 13. März 2013 stieg weißer Rauch auf. Der Argentinier und Jesuit Jorge Mario Bergoglio wurde als erster Südamerikaner zum Papst gewählt. Nach fünf Jahren im Amt fragen viele Menschen: Was hat Franziskus eigentlich getan, zustande gebracht? Gibt es jenseits zu Herzen gehender Predigten und spektakulärer Gesten auch handfeste Ergebnisse der Veränderung in der Kirche? Oder ist alles nur Symbolpolitik?

Andreas R. Batlogg schaut auf diese fünf Jahre zurück: Auf das, was war; auf das, was in Gang gesetzt und auf den Weg gebracht wurde. Eine Bilanz, aber keine »Leistungsschau«. Wird sich die Lehre ändern? Oder scheitert der Papst? Resigniert er, weil er, wie manche Beobachter im heißen Frühjahr und Sommer 2017 meinten, zunehmend isoliert ist? Der Jesuit Andreas R. Batlogg gibt überraschende Antworten und zeichnet damit ein neues Bild von Papst Franziskus.

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Das Buch

Evangelisch? Der Papst ist doch Katholik! Auch wenn er da und dort heimlich verdächtigt oder gar offen bezichtigt wird, die römisch-katholische Kirche zu »protestantisieren«. Das Reformationsgedenkjahr 2017 musste auch dafür herhalten, Jorge Mario Bergoglio SJ als Martin Luther des 21. Jahrhunderts zu karikieren – einer, der wie seinerzeit der Wittenberger Mönch aneckt, provoziert und »Rom« die Leviten liest. Das tut Franziskus gewiss, auf seine Art und Weise, und viele wundern sich nach wie vor über seine manchmal brutal wirkende Direktheit. Aber der Papst ist durch und durch katholisch – und das heißt bekanntlich »allumfassend«.

Der Jesuit Andreas R. Batlogg schaut auf die ersten fünf Jahre des Pontifikats von Papst Franziskus zurück: Auf das, was war; auf das, was in Gang gesetzt und auf den Weg gebracht wurde. Eine Bilanz, aber keine »Leistungsschau«. Er gibt überraschende Antworten und zeichnet damit ein neues Bild von Papst Franziskus.

Der Autor

Dr. Andreas R. Batlogg SJ, geboren 1962 in Lustenau/Vorarlberg, ist seit 1985 Jesuit. Studium der Philosophie und Theologie in Innsbruck, Israel und Wien. Von 2000 bis 2017 Redakteur der »Stimmen der Zeit«, seit September 2009 Herausgeber und Chefredakteur. Seit Oktober 2005 Mitherausgeber der »Sämtlichen Werke« Karl Rahners. Von Februar 2008 bis März 2015 Leiter des Karl-Rahner-Archivs in München. Lehraufträge und Gastvorlesungen in Fundamentaltheologie in Dresden, Bamberg, Innsbruck, Graz und Seoul.

Andreas R. Batlogg SJ

Der evangelische Papst

Hält Franziskus, was er verspricht?

Kösel

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Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt, München,

unter Verwendung eines Bildes von © dpa

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22454-7 V002

www.koesel.de

Dem Wiener Erzbischof,

Christoph Kardinal Schönborn OP, gewidmet,

der mich vor fünfundzwanzig Jahren,

am 24. April 1993,

in der Konzilsgedächtniskirche Wien-Lainz

zum Priester geweiht hat

Vorwort

Vor fünf Jahren: Am 13. März 2013 wurde der argentinische Jesuitenkardinal Jorge Mario Bergoglio vom »Ende der Welt« zum Papst gewählt. Eine riesige Überraschung! Der erste nichteuropäische Papst seit mehr als 1200 Jahren nach Gregor III. († 741). Zum ersten Mal ein Lateinamerikaner (mit italienischem Migrationshintergrund). Der erste Ordensmann seit 1831 (Gregor XVI. war Kamaldulenser und bei seiner Wahl zwar Kardinal, musste aber vor seiner Krönung erst zum Bischof geweiht werden). Zum ersten Mal zudem ein Jesuit. Und zum ersten Mal ein Papst, der sich Franziskus nannte. Der Name steht für ein Programm! Und der neue Bischof von Rom setzt es um, wie zu sehen ist, in vielen kleinen, aber auch größeren, spektakulären Schritten.

Franziskus hat immense Erwartungen geweckt: durch sein bescheidenes Auftreten; durch den ostentativen Verzicht auf Machtinsignien; durch prägnante Ansprachen und Predigten mit Vergleichen und Metaphern, die auf deutschsprachige Ohren manchmal zu direkt, zu salopp, zu derb oder untheologisch wirken können; durch seine Veröffentlichungen und Interviews; durch das von ihm ausgerufene Außerordentliche Heilige »Jahr der Barmherzigkeit« (2015/16); durch den Kardinalsrat (K8/K9), der, vier Wochen nach der Wahl eingerichtet, Möglichkeiten der Reform der Römischen Kurie ventiliert; durch Personalentscheidungen; durch ungewöhnliche Kardinals- und Bischofsernennungen …

Viele interessante Papst-Biografien sind in den letzten Jahren erschienen. Was jetzt noch bekannt wird, sind mehr oder weniger originelle Details, die einzelnen Weggefährten und Freunden abgerungen oder entlockt wurden oder die Menschen ausplaudern, um ihre eigene Biografie mit der von Jorge Mario Bergoglio SJ aufzupolieren.

Zum fünften Jahrestag seiner Wahl will dieses Buch Papst Franziskus würdigen und fragen, was sich in den vergangenen fünf Jahren verändert hat – und was uns möglicherweise erst noch bevorsteht. Vier Wörter sind in diesem Pontifikat wichtig, und sie erklären sich aus der Biografie Jorge Mario Bergoglios: Unterscheidung sowie Barmherzigkeit, Zärtlichkeit und Hoffnung. Auf sie kommt es an, wenn man diesen Papst verstehen will. Und in allem geht es, wie sein Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vom November 2013 lautet, um die »Freude des Evangeliums«.

Uwe Globisch, Leiter des Programmbereichs Religion und Gesellschaft im Kösel Verlag, München, hat dieses Buch angeregt. Ihm danke ich für die aufmerksame und professionelle Begleitung. Michael Sievernich SJ, der seit 1986 den Weg Jorge Mario Bergoglios verfolgt, machte auf viele wertvolle inhaltliche Hintergründe aufmerksam. Stilistische Hinweise gaben Karl Kern SJ und Dr. Astrid Schilling, die auch bei der Durchsicht der Druckfahnen geholfen hat. Ihnen allen sei herzlich gedankt!

München, 17. Dezember 2017,

81. Geburtstag von Papst Franziskus

Der Papst – evangelisch?

Evangelisch? Der Papst ist doch Katholik! Und er wird es auch bleiben, keine Sorge. Auch wenn er da und dort heimlich verdächtigt oder gar offen bezichtigt wird, die römisch-katholische Kirche zu »protestantisieren«. Was man eben einem Jesuiten so nachsagt, wenn einem die Argumente ausgehen. Der renommierte US-amerikanische Theologe Richard Gaillardez (Boston College) fragte – ironisierend: »Is the Pope a Catholic?«1 Das Reformationsgedenkjahr 2017 musste auch dafür herhalten, Jorge Mario Bergoglio SJ als Martin Luther des 21. Jahrhunderts zu karikieren – einer, der wie seinerzeit der Wittenberger Mönch aneckt, provoziert und »Rom« die Leviten liest. Das tut Franziskus gewiss, auf seine Art und Weise, und viele wundern sich nach wie vor über seine manchmal brutal wirkende Direktheit. Aber der Papst ist durch und durch katholisch – und das heißt bekanntlich »allumfassend«.

Orientierung am Evangelium

Manche erinnert dieser Papst an den Konzilspapst Johannes XXIII. (1881–1963), der mittlerweile selig- (2000) und heiliggesprochen (2014) wurde. Andere denken, wenn sie Papst Franziskus erleben, schlicht an das Evangelium und seinen Hauptakteur: Jesus von Nazareth. Als Jesuit von den Exerzitien, den Geistlichen Übungen nach Ignatius von Loyola (1491–1556), geprägt und tief in der Meditation des Lebens Jesu verwurzelt, ist es dem Papst ein Anliegen, dass in der Kirche der Geist des Evangeliums aufleuchtet und in ihrem Handeln die Menschenfreundlichkeit Gottes zu spüren ist, wie sie im Umgang Jesu sichtbar und erlebbar wurde.

»Mit dem Brückenschlag zum Ursprung«, befindet Kurienkardinal Walter Kasper mit Blick auf Papst Franziskus, »ist er Brückenbauer in die Zukunft.«2 Die Zukunft der Kirche hat mit dem Evangelium zu tun oder die Kirche hat keine Zukunft! Weil sie sonst nur um sich selbst kreist, auf die Bewahrung von Traditionen aus ist, aber den Anschluss ans Heute verpasst, an die Nöte und Sorgen der Menschen, an ihre tiefe Sehnsucht nach einem gelingenden Leben.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Papst Franziskus sein erstes, ebenso programmatisches wie prophetisches Schreiben – das auch, aber nicht exklusiv auf die noch unter Papst Benedikt XVI. abgehaltene Weltbischofssynode vom Oktober 2012 reagiert und als »Programmschrift zur Kirchenreform« (Bernd Hagenkord SJ) verstanden werden kann – mit dem Titel »Evangelii gaudium« (EG) überschrieben hat. Der allererste Satz darin lautet: »Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.« Und von Anfang an lässt Franziskus keine Zweifel darüber aufkommen, worum es ihm in seinem Wirken als Bischof von Rom vordringlich geht: »Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude. In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freude geprägt ist, und um Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.« (EG 1)

Kann es da wirklich überraschen, dass ein von der ignatianischen Spiritualität geprägter Jesuit, auch wenn ihn sein Lebensweg ins Bischofs- und, erstmals in der Kirchengeschichte, ins Papstamt führte, vor allem zu einem anstiften will: Jesus zu entdecken – um ihm dann zu begegnen, ihn kennenzulernen und als Erlöser und Heiland zu bekennen? Jesuitisch ausgedrückt, nun mit den Worten eines Papstes: »Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.« (EG 3)

Für Christen anderer Konfessionen fruchtbar

Ein evangelischer Papst! Dieses Prädikat ist natürlich doppeldeutig: Wen kann da verwundern, dass der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der bereits mehrere Papst-Audienzen hinter sich hat, von Franziskus beeindruckt ist, ja sogar von ihm schwärmt – was manchen seiner Glaubensgenossen gar nicht recht ist? Vor seiner ersten Begegnung meinte er in einem Interview: »Diesem Papst Franziskus fühle ich mich verbunden. Als er gewählt wurde und ich seinen Namen als Papst hörte, habe ich einen innerlichen Luftsprung gemacht.«3 Und im Umfeld einer Audienz für eine Abordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland am 6. Februar 2017, bei der auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, dabei war, meinte Bedford-Strohm: »Dass ein Mensch wie Papst Franziskus weltweit große Aufmerksamkeit genießt, kann auch für Christen anderer Konfessionen fruchtbar sein.«

Damit löste Bedford-Strohm eine Debatte darüber aus, ob es vorstellbar sei, dass der Papst so etwas wie der »Ehrenvorsitzende« der Protestanten werden könne. Die Schlagzeile einer Tageszeitung lautete: »Wird der Papst evangelisch?« In einer Predigt zur Evangelien-Perikope Lukas 5,1–11 im Rahmen eines Bachkantaten-Zyklus aus Anlass des Reformationsgedenkjahres in der Münchner Jesuitenkirche St. Michael nannte Bedford-Strohm am 16. Juli 2017 einen Grund, warum er diesen am Evangelium orientierten und das Evangelium ständig bemühenden Papst viel abgewinnen kann: »Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus weltweit so viele Herzen gewinnt. Nicht weil er von Demut, Bescheidenheit, Liebe und Barmherzigkeit spricht, sondern weil er sie für alle Welt sichtbar selbst lebt. Duschen für Obdachlose schafft, Gefangenen die Füße wäscht und Flüchtlinge aufnimmt. In alledem ist Papst Franziskus auch für mich ein wahrhafter Nachfolger des Petrus, dem Jesus in der Geschichte vom Fischfang den Auftrag zur Nachfolge in der Liebe gegeben hat.«4 Nicht im Manuskript stand ein Satz, der an diesem Nachmittag auch fiel: »So ein Papst ist auch mein Papst!«

Zweifellos ist das Evangelium der beste Ausgangspunkt, von dem aus ökumenische Anliegen und theologische Problem-, ja »Minenfelder« angegangen werden oder neue Impulse erhalten können, um aus theologischen Grabenkämpfen herauszukommen. Aus orthodoxer Sicht hatte – vier Jahre vor Bedford-Strohm bereits, am Anfang des Pontifikats von Papst Franziskus –, der in Graz lehrende orthodoxe Theologe Grigorios Larzentzakis festgehalten: »Von orthodoxer Seite aus kann es ohne Weiteres innerhalb dieser Gemeinschaft von Schwesterkirchen auch einen Ersten geben, einen primus inter pares, den Bischof und Papst von Rom. Dieser Primus, der Erste der Gesamtkirche, der Bischof und Papst von Rom, hätte also in einer vereinten Kirche nicht nur einen bloßen Ehrenprimat, sondern konkrete Pflichten und Aufgaben, ja auch Rechte im Dienste der Gesamtkirche: das Initiativrecht, das Einberufungsrecht, das Vorsitzrecht, das Koordinationsrecht usw. oder was auch immer in der heutigen Zeit wichtig und notwendig für die Gesamtkirche und für das Heil aller Menschen gemeinsam vereinbart wird.«5

Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen

Dabei kommt es auch auf Zeichen an, die die vielbemühte Rede von der »versöhnten Verschiedenheit« glaubhaft machen: Bei seinem Besuch am 15. November 2015 in der evangelisch-lutherischen Gemeinde im römischen Stadtteil Ludovisi, der Papst Johannes Paul II. als erster Papst nach der Reformation im Jahr 1983 einen Besuch abgestattet hatte, schenkte Franziskus Pastor Jens-Martin Kruse einen Messkelch. Die deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Annette Schavan, wies später einmal in einem Interview darauf hin: »Seit der Papst den deutschen Protestanten in Rom einen Abendmahlskelch schenkte, haben wir einen Kairos, den man ergreifen muss.«6

Eine mit einem (natürlich katholischen) Römer verheiratete (evangelische) Deutsche, Anke de Bernardinis, bekundete dabei dem Papst gegenüber ihren Schmerz darüber, dass sie nicht gemeinsam mit ihrem Mann zum Abendmahl gehen könne. Franziskus reagierte zunächst – mit einem verstohlenen Seitenblick auf die anwesenden Kurienkardinäle Kurt Koch und Walter Kasper, den amtierenden und den ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, zurückhaltend – oder war es ein Schuss Selbstironie? –: »Auf die Frage über das gemeinsame Abendmahl des Herrn zu antworten, ist nicht einfach für mich, vor allem vor einem Theologen wie Kardinal Kasper. Da ›fürchte‹ ich mich!«

Dann aber kam Franziskus, wie so oft, ins Erzählen, und mit einer Geschichte, mit persönlichen Lebenserfahrungen, erläuterte er einen Sachverhalt, aus dem später Kommentatoren herauslesen wollten, er habe zur (für Katholiken verbotenen) Interkommunion angeregt: »Es stimmt, dass in einem gewissen Sinn teilen heißt, dass keine Unterschiede zwischen uns bestehen, dass wir die gleiche Lehre haben – ich unterstreiche das Wort, ein schwer zu verstehendes Wort –, doch frage ich mich: Aber haben wir nicht die gleiche Taufe? Und wenn wir die gleiche Taufe haben, müssen wir gemeinsam gehen. Sie sind ein Zeugnis eines auch tiefgründigen Weges, da es ein ehelicher Weg ist, ein Weg eben von Familie, menschlicher Liebe und geteiltem Glauben. Wir haben die gleiche Taufe. Wenn Sie sich als Sünderin fühlen – auch ich fühle mich sehr als Sünder –, wenn Ihr Gatte sich als Sünder fühlt, dann gehen Sie vor den Herrn und bitten um Vergebung; Ihr Gatte tut das Gleiche und geht zum Priester und bittet um die Lossprechung. Es sind Heilmittel, um die Taufe lebendig zu erhalten. Wenn Sie gemeinsam beten, dann wächst diese Taufe, wird sie stärker. (…) Die Frage: ›Und das Abendmahl?‹ Es gibt Fragen, auf die man – nur wenn man ehrlich zu sich selbst ist und mit den wenigen theologischen ›Lichtern‹, die ich habe – ebenso antworten muss, Sie sehen es. ›Das ist mein Leib, das ist mein Blut‹, hat der Herr gesagt, ›tut dies zu meinem Gedächtnis.‹ Und das ist eine Stärkung auf dem Weg, die uns voranzuschreiten hilft. Ich pflegte eine große Freundschaft mit einem Bischof der Episkopalkirche, 48 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, der diese große Unruhe hatte: die Frau katholisch, die Kinder katholisch, er Bischof. Sonntags begleitete er seine Frau und seine Kinder zur Messe, und dann ging er den Gottesdienst in seiner Gemeinde feiern. Es war ein Schritt der Teilnahme am Abendmahl des Herrn. Dann ging er weiter, der Herr hat ihn gerufen, einen gerechten Mann. Auf Ihre Frage antworte ich nur mit einer Frage: Wie kann ich es mit meinem Mann machen, damit das Abendmahl des Herrn mich auf meinem Weg begleitet? Es ist ein Problem, auf das jeder antworten muss. Ein befreundeter Pastor sagte mir jedoch: ›Wir glauben, dass hier der Herr gegenwärtig ist.‹ Er ist gegenwärtig. ›Ihr glaubt, dass der Herr gegenwärtig ist. Was ist der Unterschied?‹ – ›Nun, es sind die Erklärungen, die Deutungen …‹ Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen. Nehmt immer auf die Taufe Bezug: ›Ein Glaube, eine Taufe, ein Herr‹, sagt uns Paulus, und von daher zieht die Schlussfolgerungen. Ich werde nie wagen, Erlaubnis zu geben, dies zu tun, denn es ist nicht meine Kompetenz. Eine Taufe, ein Herr, ein Glaube. Sprecht mit dem Herrn und geht voran. Ich wage nicht mehr zu sagen.«

Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen – Franziskus hatte zuvor dem neunjährigen Julius (»Was gefällt dir am meisten daran, Papst zu sein?«), dem Sohn des evangelischen Pastors Jens-Martin Kruse, gegenüber gemeint: »Nun, ich bin gerne Pfarrer, und wenn ich Pfarrer bin, ist das, was mir am meisten gefällt, das mit den Kindern sein, mit ihnen zu sprechen, und man lernt viel, ja man lernt viel dabei. Ich bin gerne Papst im Stil eines Pfarrers. Der Dienst. (…) Papst sein heißt Bischof sein, Pfarrer sein, Hirte sein. Wenn ein Papst nicht Bischof ist, wenn ein Papst nicht Pfarrer ist, nicht Hirte ist, dann mag er ein sehr intelligenter Mensch sein, sehr wichtig sein, großen Einfluss in der Gesellschaft haben, aber ich denke – so denke ich! –, in seinem Herzen ist er nicht glücklich.«

Das ist narrative Theologie. Sie bringt auch schwierige Fragen auf den Punkt, sie weicht nicht aus – sie traut dem konkreten Leben und dem Glaubensvollzug etwas zu, sie weiß darum, dass Leben und Lehre oft auseinanderklaffen, dass aber Deutungen und Erklärungen nicht die volle Wirklichkeit abbilden, sondern nur Denkversuche sind, um ein Problem zu lösen. Das ist die Theologie des argentinischen Papstes, der keine Komplexe hat, weil er, anders als sein unmittelbarer Vorgänger, kein Theologieprofessor ist. Und trotzdem bringt er mit genau solchen Äußerungen etwas weiter, macht Mut – und eckt an bei denen, die um das »katholische« Profil besorgt sind.

»Er hält uns einen Spiegel vor«: Was Christsein bedeutet – Horst Köhler würdigt den Papst

Protestantische Christen haben im Rückblick auf ihre Geschichte nicht unbedingt Grund, einem Papst Rosen zu streuen. Am 17. November 2016 ist das aber passiert. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler hielt in Berlin eine Laudatio auf Papst Franziskus. Anlass war die Verleihung des Millenium-Bambis an den Papst (der nicht anwesend war) im Stage Theater in Berlin, die live im Fernsehen gezeigt wurde. Ohne große Umschweife erklärte Köhler am Beginn: »Ich bin weder Katholik noch großer Fan von Veranstaltungen mit roten Teppichen. Und trotzdem freue ich mich, hier zu sein. Weil mich dieser Papst von Anfang an tief berührt hat.« Und zwar deswegen: »Papst Franziskus hält uns den Spiegel vor, was Christsein bedeuten kann. Was Menschsein bedeuten kann. Er wäscht muslimischen Asylbewerbern an Gründonnerstag die Füße. Er frühstückt an seinem Geburtstag mit Obdachlosen. Er bezeichnet Flüchtlinge als ›Geschenk‹. Der Papst zeigt uns seine Menschenliebe mit einer solchen Leichtigkeit und Fröhlichkeit und so völlig ohne Angst, dass es fast schon eine Provokation ist.«7

Wohlgemerkt: Ein evangelischer Christ, der jetzt für die UNO tätig ist, spricht so! Der Papst – eine Provokation! Aber der Bundespräsident a. D. meinte das anders als diejenigen, die sich von dem Argentinier mit bürgerlichem Namen Jorge Mario Bergoglio genervt fühlen, immer mehr und immer häufiger: Weil er ständig mit neuen Ideen daherkommt; weil er den Apparat – die Römische Kurie – provoziert und ausbremst; weil er die römisch-katholische Kirche auf den Kurs des Evangeliums bringt (oder: zwingt?); weil er von den Armen spricht und sich eine »arme Kirche für die Armen« wünscht. Es gab zweifellos Zeiten, in denen diese Einschätzung und andere positive, wertschätzende Zeugnisse protestantischer oder orthodoxer Christen für einen Papst ein absolutes »No-go« gewesen wären. So ändern sich die Zeiten!

Der Papst, der bei der dreistündigen TV-Show nicht anwesend war, hatte das goldene Rehkitz, die berühmte Bambi-Trophäe, vorab im Vatikan überreicht bekommen – von der syrischen Schwimmerin Yursa Mardini, die bei ihrer Flucht über das Mittelmeer vielen Menschen das Leben rettete, indem sie gemeinsam mit ihrer Schwester ein havariertes Boot kilometerweit schwimmend an Land zog.

Vorsicht: evangelisch?

Längst verdächtigen Katholiken ihren obersten Chef selbst, nicht mehr katholisch zu sein – und die Protestantisierung der katholischen Kirche voranzutreiben. Christian Geyer, Feuilletonist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, stellte im Vorfeld des Papstbesuches beim Lutherischen Weltbund im südschwedischen Lund Ende Oktober 2016 die keineswegs rhetorisch gemeinten Fragen: »Ist Franziskus der Luther von 2017? Macht er in einer Art historischer Punktlandung aus der katholischen Kirche die reformierte Einheitskirche?« Der Papst – ein Kryptoprotestant? Lakonischer Nachsatz: »Das wäre im ersehnten oder gefürchteten Ergebnis Rückkehrökumene andersherum: Der Heilige Stuhl siedelt tiefenentspannt nach Wittenberg über, statt, wie jahrhundertelang üblich, die Protestanten nach Rom zwingen zu wollen.«8

»Rückkehr-« und »Unterwerfungsökumene«: Sie sind längst passé, von mehreren Päpsten definitiv ausgeschlossen und ganz sicher nicht das, was Franziskus, im Gegensatz zu anderen, anstrebt. Solche Karikaturen sind Zerrbilder dessen, was der Papst will und was er tut. Aber entsprechende Szenarien hinterlassen in manchen Kreisen ihre Wirkung – und die ist gewollt. Meine These ist, dass ihre Propagandisten genau spüren, dass Papst Franziskus das Ende einer lehramtlichen Verketzerung evangelischer Christen einläutet. Seine Botschaft lautet: Christen können voneinander lernen!

Muss man sich dann davor fürchten und denunziatorisch von »Kuschelökumene« sprechen? Muss man in die Kassandrarolle schlüpfen? Heftige (katholische) Reaktionen können nicht überraschen: »Doch im Windschatten der politisch-angeheizten Islam-Debatte«, so Geyer, »geht es in der katholischen Kirche längst um etwas anderes: um die Frage der Selbstabschaffung ihres religiösen Lehramtes.« Der Journalist ist um die päpstliche Autorität besorgt. Wächst solche nicht genau dadurch, dass sie den Dialog sucht, der nicht nur ein intellektueller, akademisch geführter sein muss?

Allen Unkenrufen zum Trotz überzeugt mich mehr, was Pastor Kruse als Chance für den ökumenischen Dialog sieht: »In dem, wie Papst Franziskus seinen Dienst als Bischof von Rom ausübt, zeichnen sich die Konturen eines aus dem Geist des Evangeliums erneuerten Papstamtes ab. Innerhalb kurzer Zeit ist Papst Franziskus zu einem der entscheidenden Akteure und Impulsgeber der Ökumene geworden. Sein ökumenisches Handeln ist getragen und motiviert vom Glauben an die Auferstehung Jesu.«9

Ist das nicht eine Basis für einen neuen theologischen Anlauf? Dieser beginnt nicht bei null. Er kann auf Dialog-Dokumente wie die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung« (1999), »Communio Sanctorum« (2000) oder »Gemeinschaft der Kirche und Petrusamt« (2010) oder »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« (2013) zurückgreifen. Kruse sieht eine historische Chance in diesem Pontifikat: »Wenig scheint mir gegenwärtig für die Ökumene so förderlich und verheißungsvoll zu sein, wie an diese Dialogergebnisse anzuknüpfen. Denn hier sind theologische Argumente angelegt und vorbereitet, die helfen können, um sich von der Fixierung auf das Papsttum als ›Hindernis‹ zu lösen und sich der neuen Situation zu öffnen, die durch die Wahl von Papst Franziskus eingetreten ist.«10

Hält er, was er verspricht?

Hat Papst Franziskus denn etwas versprochen? Eine Papstwahl ist kein Wunschkonzert. Und wer auch immer gewählt wird, kann niemals sämtliche, an ihn herangetragene Wünsche erfüllen, ja nicht einmal allen Erwartungen entsprechen – Franziskus, der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri, kann es nicht und will es nicht. Er hat keine Wahlversprechen abgegeben und betreibt auch keine Klientelpolitik. Trotzdem fragen nach fünf Jahren im Amt viele Menschen, vielleicht mehr Angehörige der Katholischen Kirche als Andere: Was hat er eigentlich getan und zustande gebracht? Was ist wirklich weitergegangen seit der überraschenden Wahl vom 13. März 2013? Gibt es, jenseits zu Herzen gehender Predigten, spektakulärer Gesten und Zeichen, handfeste Ergebnisse? Oder ist alles nur Symbolpolitik? Haben diejenigen recht, die meinen: Es gibt doch keine tatsächlichen Reformen, keine gravierenden Änderungen in der Personal- und Besetzungspolitik, keine Kurien- und Verwaltungsreform …?

Was hat sich faktisch geändert in den vergangenen fünf Jahren? Haben Bischöfe und Kardinäle den Papst nicht in Schranken weisen wollen, wie der Ende Juni 2017 überraschend nicht in seinem Amt bestätigte Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Müller, der mit Blick auf die heftige Debatte um das Nachsynodale Schreiben »Amoris laetitia« in einem Interview Ende Mai 2017 meinte: »Die Ehe ist und bleibt unauflöslich, egal was der Papst sagt«11?

Welchen Einfluss haben die beiden Nachsynodalen Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium« (November 2013) und »Amoris laetitia« (März 2016) oder die Öko- und Umwelt-Enzyklika »Laudato si’« (Mai 2015)? (Die Ende Juni 2013 veröffentlichte Enzyklika »Lumen fidei«, die zu großen Teilen auf Benedikt XVI. zurückgeht, spielt in der Rezeption des neuen Pontifikats keine erkennbare Rolle.)

Haben die Bedenkenträger recht, die jede Äußerung dieses Papstes mit Texten, Dokumenten und Äußerungen seiner beiden Vorgänger konfrontieren, um Änderungen in der Lehre festzustellen? Kann, darf ein Papst überhaupt von bisherigen Lehrtraditionen abweichen? Will Franziskus die Kirche neu erfinden? Führt er sie in den Abgrund? Verunsichert er einfache Gläubige? Verwirrt er?

Ein Papst verstört – mit Unterscheidung

Ohne Zweifel: Franziskus irritiert. Er stößt vor den Kopf. Er überrascht. Nach wie vor. Kardinal Kasper warnte: »Die positiven wie die kritischen Beurteilungen stehen in der Gefahr einer Banalisierung und Trivialisierung des Pontifikats. Machen die einen aus dem Papst eine Art Star, so betrachten ihn die anderen als theologisches Leichtgewicht. Papst Franziskus ist weder das eine noch das andere.«12

Dreizehn Kardinäle haben im Nachgang der beiden im Oktober 2014 und im Oktober 2015 im Vatikan abgehaltenen Familiensynoden in einem angeblich vertraulichen, aber an die Öffentlichkeit geratenen Brief ihre diesbezügliche Sorge bekundet. Sie waren allesamt Synodalen, also Teilnehmer an der Familiensynode, keineswegs Hinterbänkler. Prominente Kardinäle waren darunter, die teils hochrangige Ämter innehatten, wie der australische Kurienkardinal George Pell, Präfekt des Wirtschaftssekretariats und Mitglied der K8/K9-Gruppe, oder die Präfekten der Glaubens- und der Gottesdienstkongregation, Kardinal Gerhard Müller und Kardinal Robert Sarah. Auch die Erzbischöfe von Toronto, New York, Durban, Paris, Mailand, Utrecht waren darunter (die Kardinäle Thomas Collins, Timothy Dolan, Wilfrid Fox Napier, André Vingt-Trois, Angelo Scola und Willem Eijk). Mit Kardinal Peter Erdö, dem ungarischen Primas, Erzbischof von Estergom-Budapest und Generalberichterstatter der Synode, und dem Erzbischof von Caracas, Kardinal Jorge Urosa Savino, der als stellvertretender Synodenvorsitzender fungierte, oder Kardinal Mauro Piacenza, Großpönitentiar (ein monströser Titel!) und zuvor Leiter der Kleruskongregation, waren auch drei weitere hochrangige Officials unter den Unterzeichnern.

Der Ende Oktober 2015 als Erzbischof von Bologna emeritierte Kardinal Carlo Caffara († September 2017), ein Moraltheologe und langjähriger Konsultor der Glaubenskongregation (sein Kardinalswappen lautete – Ironie der Geschichte – »Sola Misericordia Tua«), hat sich später mit den beiden deutschen Kardinälen Walter Brandmüller, Joachim Meisner († Juli 2017) sowie mit dem US-amerikanischen Kurienkardinal Raymond Leo Burke zusammengetan, um vier sogenannte »dubia« (Zweifel) anzumelden. Diese Kardinäle – die Presse sprach von einer »Revolte« bzw. einem »Aufstand« gegen den Papst – wollten Franziskus nach der Veröffentlichung von »Amoris laetitia« zwingen, zu ihren Bedenken Stellung zu nehmen. Als er auf ihren Brief nicht reagierte, veröffentlichten sie diesen, um den Druck auf den Papst zu erhöhen. Bis dato hat Franziskus immer noch nicht auf den Brief reagiert. Er lässt die Zeit für sich spielen – und sich nicht unter Druck setzen. Was er geschrieben hat, hat er geschrieben. Soll er sich selber kommentieren oder erklären?

Wie würde der Aufsichtsratsvorsitzende eines internationalen Konzerns auf solche Methoden reagieren? Kann ein Papst sagen und tun, was er will? Wer kontrolliert ihn? Wer berät ihn? Wem vertraut er? Wer arbeitet ihm im Hintergrund zu?

Fragen über Fragen! Sie werden gestellt. Laut oder hinter vorgehaltener Hand, öffentlich oder auf den langen Couloirs des Apostolischen Palastes, in Salons und Hinterzimmern, in denen sich manche nach Benedikt XVI. zurücksehnen und dessen spektakulären, völlig unerwarteten Rücktritt vom 11. Februar 2013 bedauern.

Unübersehbar ist der frühere Erzbischof von Buenos Aires zu einer riesigen Projektionsfläche geworden. Buch gewordener Ausdruck war noch im Jahr der Wahl ein Sammelband der österreichischen Verlegerin und Theologin Gerda Schaffelhofer, die innerhalb kürzester Zeit fünfzehn Autorinnen und Autoren für ihre Stellungnahmen gewinnen konnte: »Anforderungen und Erwartungen an den neuen Papst«13. Realistischerweise ließ sie diesem Buch ein Jahr später eine Sammlung von teils sehr persönlich gehaltenen Gebeten folgen, die einhundertdreißig Autorinnen und Autoren versammelte.14

Der Papst als Projektionsfläche – das macht auch einsam. Das Amt lastet auf ihm. Er hat damit gefremdelt, am Anfang. Aber er hat längst seinen Stil gefunden – und dabei scheut er auch keine Konflikte oder direkte, manchmal harte und überdeutliche Worte. Unberechenbar ist dieser Papst. Das macht ihn für die Römische Kurie, die Regierung und den Apparat des Heiligen Stuhls, für Kardinäle und Bischöfe zu einem überdimensionalen Risikofaktor. Ob alle, die ihn am 13. März 2013 gewählt haben, ihn heute wieder wählen würden?

Die frühere Aura der Unnahbarkeit, das ihm verhasste spanische Hofzeremoniell, das im Vatikan herrschte, diesen Papst aber erdrücken würde, protokollarische und andere Gewohnheiten, die das öffentliche Bild eines Papstes prägten, jetzt aber obsolet geworden sind, der einfache Lebensstil, das Ende der klerikalen und liturgischen Sonderwelten und vieles andere mehr: Papst Franziskus ist nahbar, er lässt sich ansprechen und angreifen. Erinnert sein Umgang und sein Auftreten nicht an den, dessen Stellvertreter auf Erden (vicarius Christi) er ist, wie einer der dem Papst zugeschriebenen Titel lautet?

»Wenn ich mich nicht irre, war es Sigmund Freud, der gesagt hat«, so Franziskus gegenüber dem Journalisten Ferruccio Bortoli vom Mailänder Corriere della Sera Anfang März 2014, »dass jede Idealisierung eine Aggression in sich birgt. Den Papst als eine Art Superman, eine Art Star darzustellen, kommt mir wie eine Beleidigung vor. Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle. Ein normaler Mensch.«15 Was spricht eigentlich gegen die Entmythologisierung eines Amtes, das seinen Inhaber fast zu einer Art Gottmensch gemacht hat?

Für ihr 2015 veröffentlichtes Heft Herder Korrespondenz spezial »Das Papstamt im Wandel. Phänomen Franziskus« haben die Kollegen der Herder Korrespondenz ein ausdrucksstarkes Cover gewählt und begründen im Editorial »Projektionsfläche Papst« die Auswahl: »Das Titelbild verweist auf Franziskus, der die jahrtausendealte Bürde dieses Amtes spürt. Es ist ein Bild, das wiederum viele Assoziationen wecken kann. Es zeigt den Papst in sich gekehrt als jemanden, der um die Schwierigkeiten von Veränderungen weiß und die Aufgabe vor sich sieht, die Einheit der Kirche zu wahren. Das Titelbild mahnt, dass man es sich mit Franziskus nicht zu einfach machen soll, dass er sich schlichten Zuschreibungen und Instrumentalisierungen verweigert. Es zeigt den betenden Papst, der zur Umkehr zum Evangelium aufruft und immer wieder sagt, dass er einen missionarischen Aufbruch ersehnt.«

Dieser Essay schaut auf fünf Jahre zurück: auf das, was war; auf das, was in Gang gesetzt und auf den Weg gebracht wurde; auf das, was der Papst »bewirkt« hat; auf das, was er ausgelöst hat – jenseits der ihm von den Medien, von Reformgruppen ebenso wie von Traditionalisten, von Priestern, Bischöfen und Kardinälen nahegelegten oder unterstellten »Agenda«. Eine Bilanz also, aber keine »Leistungsschau«. Und ich frage, ob den Bemühungen dieses Papstes, die Katholische Kirche wieder näher ans Evangelium heranzuführen – in ihrem Handeln und Denken –, Erfolg beschieden sein kann: Gelingt die pastorale Wende? Wird sich die Lehre ändern? Oder scheitert der Papst? Resigniert er, weil er, wie manche Beobachter im »heißen« Frühjahr und Sommer 2017 meinten, zunehmend isoliert ist?

Ich bin kein Prophet. Aber von Anfang an möchte ich klarstellen und bekennen, dass ich von Papst Franziskus positiv eingenommen bin – nach anfänglicher, für einen Jesuiten typischen Skepsis. Nicht nur, weil mir gefällt und weil es mich beeindruckt, ja fasziniert, wie er sein Amt ausübt. Sondern weil ich davon überzeugt bin, dass er in fünf Jahren mehr verändert hat, als manche vor ihm – auch wenn sich der Stil- und der Perspektivenwechsel, der auf einen Paradigmenwechsel hinausläuft, nicht immer so festmachen lässt, wie das deutsche Augen und Ohren sehen und hören wollen. Dass dieser Papst Jesuit ist, dass er demzufolge eine ganz bestimmte Ordensspiritualität internalisiert hat und viel davon geprägte Leitungserfahrung einbrachte, als er 1992 Weihbischof, 1997 Erzbischof-Koadjutor, 1998 Erzbischof von Buenos Aires und 2001 Kardinal wurde, spielt eine vielleicht noch immer unterschätzte Rolle.

Neben »Freude« lautet das maßgebliche Schlüsselwort seines Denkens und Handelns »Unterscheidung«. Darauf kommt es ihm an! Ein Jesuit übt sie in den jährlichen Exerzitien ein, den Geistlichen Übungen, die Ignatius von Loyola der Kirche hinterlassen hat. Sie müssen sich freilich, das ist die Kunst, auch im Alltag und in alltäglichen – kleinen wie großen – Entscheidungen bewähren. Der frühere Top-Manager bei J. P. Morgan, Chris Lowney, der in seinen Bestsellern Managementthemen mit ignatianischer Spiritualität verbindet, hat darüber nachgedacht, wie heute Leadership im Vatikan ausschauen muss, und der amerikanische Originaltitel bringt es besser auf den Punkt als die deutsche Übersetzung: »Pope Francis: Why He Leads the Way he Leads« (»Franziskus – Führen und Entscheiden. Was wir vom Papst lernen können«).

Die ignatianische Spiritualität wie auch die durch ihre spätere Veröffentlichung durch den kubanischen Kardinal Jaime Lucas Ortega y Alamina, den mittlerweile emeritierten Erzbischof von Havanna, viel beachtete Rede von Kardinal Jorge Mario Bergoglio im Vorkonklave sind der Ausgangspunkt, auf den viele Beobachtungen und Analysen immer wieder zulaufen werden.

Die prophetische Dimension: »Macht Krach!« und »Weckt die Welt auf!«

Zwei Worte haben sich mir eingeprägt wie ein Evergreen und sind mir zum Ohrwurm geworden: Das eine stammt vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro Ende Juli 2013, den Franziskus von seinem Vorgänger sozusagen geerbt hat, so wie seinerzeit Papst Benedikt XVI. auf dem Weltjugendtag in Köln im August 2005 seine erste Auslandsreise absolvierte, nachdem fünf Monate zuvor Johannes Paul II. verstorben war. Das andere Wort fiel bei einer Unterredung mit Ordensoberen im November 2013, die von meinem Kollegen Antonio Spadaro SJ protokolliert und später veröffentlicht wurde.

Jugendlichen aus seiner Heimat Argentinien hat Franziskus in Rio zugerufen: »Macht Krach!« (»¡Hagan lío!«). Aus dem Mund eines Papstes sicher ungewöhnlich oder mindestens gewöhnungsbedürftig – und es wurde auch sofort als »Copacabana-Theologie« denunziert. Ausbuchstabiert bedeutete es, für die Jugendlichen dort und alle, die die Aufforderung auf sich beziehen wollen: Macht euch bemerkbar! Findet euch nicht ab! Mischt euch ein! Stiftet Unruhe! Wirbelt durcheinander! Im übertragenen Sinn wird man mit einer hierzulande gängigen Floskel sagen dürfen: Auftreten statt austreten! »Beteiligung« lautet das Zauberwort dafür, und Papst Franziskus hat wiederholt »Salonchristen« kritisiert, die mit verschränkten Armen dasitzen und sich zurücklehnen. Im wörtlichen Sinn oder im übertragenen: wenn etwa, wie bei den beiden alten Herren in der Muppet Show, Waldorf & Statler, alles von der Loge aus kommentiert und kritisiert wird, ohne selber einen Finger zu rühren.

Das zweite Wort: »Weckt die Welt auf!« Zunächst für 120 Ordensobere am Ende der 82. Generalversammlung der Generaloberen im November 2013 bestimmt, ist dieser Weckruf in meinen Augen durchaus übertragbar auf christliche Existenz im Allgemeinen: »Kirche muss attraktiv sein. Weckt die Welt auf! Seid Zeugen eines anderen Handelns!« (»Svegliate il mondo! Siate testimoni di un mondo diverso di fare, di agire, di vivere! È possibile vivere diversamente in questo mondo«). Franziskus glaubt an die verändernde Kraft des Glaubens. Realpolitisch. Glaube darf sich in seinen Augen nicht verstecken oder auf Sakristeichristentum beschränken. Er ist davon überzeugt, dass christliches Zeugnis darin besteht, zu zeigen und zu bezeugen, dass man in der Welt anders handeln, anders denken und anders leben kann. Dass es lohnt, ja vom Evangelium her geboten ist, eine Kontrastgesellschaft zu entwickeln, nicht gefallsüchtig jede Mode mitzumachen, mit dem Strom zu schwimmen und nur den gesellschaftlichen oder kirchlichen Mainstream zu bedienen.

Mit seinem Appell an die Ordensoberen, deren prophetisches Zeugnis er bei dieser Gelegenheit anmahnte, knüpfte Franziskus an Ausführungen seines Vorgängers Benedikt XVI. an. Der hatte in einer Predigt am 13. Mai 2007 gemeint, dass die Kirche »durch das Zeugnis wächst, nicht durch Proselytismus«. Das anziehende, überzeugende Zeugnis sei »nicht an gewohnte Haltungen gebunden«. Dabei auf Abwege zu geraten, Umwege zu riskieren, ja vielleicht sogar Irrwege einzuschlagen, gehöre dazu: Irren sei menschlich, so Papst Franziskus weiter: »Das Leben ist komplex und besteht aus Gnade und Sünde. Wenn jemand nicht sündigt, ist er kein Mensch. Wir alle irren und müssen unsere Schwächen anerkennen.«

Und nicht nur Ordenschristen sollen Propheten sein und immer mehr werden. Das gilt für alle Christen! Nach der Priorität des Ordenslebens gefragt, betonte Franziskus, es gehe darum, tatsächlich »Prophet zu sein« und »nicht nur einen solchen zu spielen«. Dabei dürfe auch ruhig einmal »Krach« gemacht werden: »Prophetie macht Lärm.« Das gilt genauso fürs Christsein: »Ausbildung ist ein Handwerk, kein Polizeiwerk. Wir müssen das Herz bilden. Sonst schaffen wir kleine Monster. Und diese kleinen Monster schaffen das Volk Gottes. Das verschafft mir wirklich Gänsehaut.«

Also: Seid Zeugen eines anderen Handelns – das hat sehr wohl Konsequenzen für mein Tun und Lassen. Bei euch kann, bei euch soll es anders sein und anders zugehen. So lesen wir im Johannesevangelium, und was Jesus im Angesicht des Todes sagte und tat, hat Vermächtnischarakter.

Die Fußwaschung (Joh 13,1‒20) wurde wohl nicht ohne Zufall auch zu einem der ersten prägenden Eindrücke des neuen Papstes, in der Karwoche 2013. Für die Chrisammesse war er zwar im Petersdom, den Abendmahlsgottesdienst jedoch hielt er in einer römischen Strafanstalt für Jugendliche und wusch dabei zwölf Jugendlichen, darunter zwei Frauen (eine davon war Muslima) die Füße – was zu heftiger Kritik vonseiten einiger Kanonisten und Liturgiewissenschaftler führen sollte. Dass es unter Christen anders als im sogenannten »normalen« Leben zugehen soll, dass es um das Dienen geht, dass man sich schmutzig machen, manchmal im wörtlichen Sinn in die Knie gehen muss, das hat Papst Franziskus selber eindrücklich vor Augen geführt – und dieses Bild ging um die Welt.

Franziskus verkündet nicht in erster Linie von der Kanzel herab, sondern führt selber eindrücklich vor Augen, worum es in einem Leben nach dem Evangelium geht. Und er geht mit gutem Beispiel voran. Natürlich kann man fragen: Ist es die vornehmlichste Aufgabe eines Papstes, Duschen für Obdachlose unter den Kolonnaden des Petersplatzes einrichten zu lassen? Obdachlose zu seinem Geburtstag einzuladen und ein Pizzaessen zu organisieren? Die Menschen verstehen solche Zeichen offenbar sehr wohl. Manche Theologen und manche Mitglieder des Apparats tun sich schwer damit.

Permanenter Aufbruch: die Reform der Strukturen

Ein drittes Wort möchte ich an den Beginn stellen. Es eignet sich aber weniger als Kennmelodie, die man tagsüber stundenlang nachsummt. Es steht wieder in dem Schreiben »Evangelii gaudium«, das mit Fug und Recht als Regierungsprogramm dieses Pontifikats bezeichnet werden kann, obwohl es eigentlich auf die Weltbischofssynode 2012 reagiert, aber eben deutlich die Handschrift von Papst Franziskus trägt.

Es heißt in Nummer 27: »Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ›Aufbruchs‹ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet.«

Das ist theologischer und pastoraler Sprengstoff! Strukturen, Gewohnheiten, Stile, Zeitpläne – alles bedarf der Reform. Und es braucht die permanente Haltung des Aufbruchs! Das ist provokativ. Und es ist anstrengend. Weil wir schnell merken, dass wir uns eingerichtet haben. Dass wir unsere theologischen, unsere pastoralen, unsere privaten Nester und Burgen, unsere Schutzhütten und Mauern errichtet haben, hinter denen wir uns verbarrikadieren, weil wir uns dahinter sicher fühlen. Solche Sicherheiten stellt dieser Papst infrage. Und fragt, ob es mehr um Selbstbewahrung geht oder um Menschen, um »theologischen Narzissmus« und »Selbstbezogenheit« (autoreferencialidad).

Gerade in politisch wie ökonomisch unsicheren Zeiten, wo es große gesellschaftliche Umbrüche (Migrationsdebatte) gibt und akute Terrorbedrohungen von außen, klammern sich viele Menschen an das sichere Althergebrachte der Katholischen Kirche. Und dann kommt ein Papst und schickt einen in die Unsicherheit – »unmöglich!«.

Papst Franziskus will verändern

Der Papst will verändern. Reformieren. Nicht aus purer Lust und Laune. Oder um die Kirche zu stressen. Sondern weil er sich mit einer (oft selbst gewählten) Isolation der Kirche nicht abfinden will. Weil er pastorale wie theologische Sackgassen sieht, die nicht weiterführen. Weil er die Menschen im Blick hat, die unter der Kirche leiden, von den Sakramenten ausgeschlossen sind, obwohl diese doch Heilmittel, Medizin, sein sollen.

»Echter Glaube«, so Franziskus an die Kollegen der italienischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica am 7. Februar 2017, »setzt immer den tiefen Wunsch voraus, die Welt zu verändern. Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen: Haben wir große Visionen und Tatendrang? Sind wir kühn? Oder sind wir mittelmäßig und geben uns mit Reflexionen ›aus dem Labor‹ zufrieden? Eure Zeitschrift soll sich die Wunden der Welt zu Bewusstsein führen und Therapien erkennen. Es soll ein Schreiben sein, das das Böse zu verstehen versucht, das aber auch danach strebt, Balsam auf die offenen Wunden zu gießen, zu heilen.«

Wenn man den unmittelbaren Anlass beiseitelässt und absieht von den ersten Adressaten, den Redaktionsmitgliedern einer Zeitschrift, lassen sich diese Überlegungen auch auf christliche Existenz ganz allgemein übertragen: Leben wir Christen aus Visionen heraus? Sind wir wagemutig? Begnügen wir uns mit dem Mittelmaß? Haben wir im Blick, dass es nicht nur um die Theorie, sondern um die gelebte Praxis des Christseins geht? Dass es darum geht, heilen zu helfen?

Wenn im Zusammenhang mit der – nach Ablauf seiner ersten Amtsperiode von fünf Jahren erfolgten – Ablösung von Kardinal Gerhard Müller als Präfekt der Glaubenskongregation, die in der Presse wilde Spekulationen über »Machtkämpfe« im Vatikan auslöste, davon gesprochen wurde, dass »die Chemie« zwischen dem Papst und dem Präfekten nicht gestimmt habe, übersieht eine solche Behauptung etwas. Wenn es denn einen Konflikt gegeben haben sollte: Im Hintergrund steht ganz offensichtlich eine »Wende im Theologiebegriff« (Jan-Heiner Tück). Während Müller von der Lehre her die Herausforderungen der Pastoral betrachtet, scheint es bei Franziskus genau umgekehrt zu sein.

Es sei erinnert an das Interview mit Antonio Spadaro SJ, in dem Franziskus die starke Metapher von der Kirche als Feldlazarett aufbrachte: »Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.«16

Das ist nicht eine Geringschätzung von Theologie oder theologischer Reflexion. Noch einmal: Duschen für Obdachlose sind zunächst einmal kein theologisches Programm. In den Augen mancher sollte Franziskus lieber den Zölibat abschaffen oder das Frauenpriestertum einführen. Der Papst hat die Reihenfolge und die Schwerpunkte verändert. Ihn deswegen für ein »theologisches Leichtgewicht« zu halten, ist eine krasse Fehleinschätzung, auch wenn diese Charakterisierung sich oft von der Tatsache herleitet, dass sein Vorgänger Benedikt XVI. »Professor Dr. Papst« oder auch »Mozart der Theologie« genannt wurde –, um Franziskus als »Harnoncourt des Glaubens« zu apostrophieren. Solche Vergleiche und Insinuationen bringen nichts – und werden keinem der beiden gerecht.

Kardinal Müller hatte im März 2015 in einem Interview mit der französischen Zeitung »La Croix« allen Ernstes gemeint, als Chef der obersten Glaubensbehörde gehöre es zu seinen Aufgaben, »das Pontifikat von Franziskus theologisch zu strukturieren«17. Das wurde so gedeutet: Der argentinische Papst braucht theologische Nachhilfe von einem deutschen Professor, Müller müsse dem Pontifikat »Form und Gehalt« geben. Auf den Punkt gebracht, mit den Worten von Wolfgang Beinert, emeritierter Professor für Dogmatik an der Universität Regensburg: Wer sagt, Franziskus »kann Papst nicht«, produziert einen Affront, den der Papst nicht auf sich sitzen lassen kann.

Interessanterweise hat der Osservatore Romano, die Tageszeitung des Vatikans, mitten im Sommer 2017, in der Sonntagsausgabe vom 23. Juli, einen kurzen Artikel von Giulio Cirignano veröffentlicht, der schlagartig breite Aufmerksamkeit erfuhr (»Gewohnheit ist nicht gleich Treue«). Der emeritierte Bibelwissenschaftler kritisierte die Reformunwilligkeit vieler Kleriker: »Das größte Hindernis, das sich der Veränderung entgegenstellt, der Papst Franziskus die Kirche unterziehen will, besteht zum Teil in der Haltung eines guten Teils des Klerus, des hohen wie des niederen. Eine Haltung, in Teilen jedenfalls, des Abschottens, wenn nicht der Feindseligkeit.« Und weiter: »Ein großer Teil der Gläubigen ist in Feststimmung. Trotzdem wird jener Teil, der näher an den wenig erleuchteten Hirten ist, innerhalb eines alten Horizonts gehalten: der Horizont der gewohnheitsmäßigen Praktiken, der altmodischen Sprache, des sich wiederholenden Denkens ohne Lebendigkeit. Im Grunde ist der Hohe Rat sich selbst immer treu, reich an untergebener Ehrfurcht vor der Vergangenheit, die verwechselt wird mit Treue zur Tradition, und die arm ist an Prophetie (Weitblick).«18

Es gilt tatsächlich, den kairós, den günstigen Zeitpunkt, zu nutzen, der sich mit dem Wirken von Papst Franziskus verbindet. Das bedeutet: das window of opportunity wahrnehmen, damit ihm nicht das Schicksal eines »Obama in Soutane« (Patrik Schwarz) blüht.

Eine Rede macht Eindruck

Interviews nutzt Franziskus mittlerweile ganz offensichtlich, um frühere, oft spontan gefallene Aussagen zu präzisieren, nachzubessern, entstandene Missverständnisse auszuräumen. Versuchsballone, die Trends erkennen lassen: Wer reagiert wie – und warum? Bei verschiedenen Gelegenheiten hat der Papst klargestellt, dass er eigentlich nur ausführt, was vor Beginn des Konklaves, in den sogenannten Generalkongregationen, besprochen wurde.

Auf dem Rückweg vom Weltjugendtag in Rio meinte er während der Fliegenden Pressekonferenz: »Die Schritte, die ich in diesen viereinhalb Monaten getan habe, gehen von zwei Seiten aus: Der Inhalt dessen, was getan werden musste, ist ganz und gar aus den Generalkongregationen der Kardinäle hervorgegangen. Es waren Dinge, die wir Kardinäle von dem verlangt haben, der der neue Papst werden würde. Ich erinnere mich, dass ich vieles verlangte und dachte, ein anderer würde es werden.«19 Und im Umfeld des ersten Jahrestages seiner Wahl meinte er ganz ähnlich: »Im März letzten Jahres hatte ich keinen Plan, die Kirche zu verändern. Ich hatte nicht mit diesem Bistumswechsel gerechnet, um es einmal so zu nennen. Ich habe mein Leitungsamt angetreten und dabei versucht, das in die Tat umzusetzen, was in der Debatte zwischen den Kardinälen in den verschiedenen Kongregationen zur Sprache gekommen war. Bei meinem Vorgehen warte ich darauf, dass mich der Herr inspiriert.«20

Ist das naiv? Wenn die Rede vom Vertrauen auf die Führung Gottes und seine Vorsehung nicht blanke kirchliche Rhetorik sein soll, eine inhaltsleere Floskel, dann sollte man sich daran erinnern, dass ein Jesuit seine Entscheidungen in der Meditation erwägt, hin und her überlegt, auf den Geist Gottes hört. Er unterscheidet. Das ist die ignatianische »Unterscheidung der Geister«! Und außerdem bindet der Papst damit die Kardinäle ein und erinnert sie an die Debatten, die dem Konklave vorausgegangen waren.

Kassensturz im März 2013

Den Ablauf der Generalkongregationen hat Papst Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution »Universi Domini Gregis« vom 22. Februar 1996 geregelt (Nr. 7–13). Zwei Novellierungen (in Sachen Zweidrittelmehrheit) gab es unter Benedikt XVI. (2007, 2013) in Form eines »Motu proprio«.

Der Paukenschlag erfolgte am 11. Februar 2013 – in Deutschland Rosenmontag, weswegen manche zuerst an einen üblen Faschingsscherz dachten: Am Ende eines Konsistoriums gab Papst Benedikt XVI. die ebenso historische wie weise Entscheidung bekannt, sein Amt niederzulegen – der erste freiwillige Rücktritt eines Papstes seit Cölestin V. im Jahr 1294. Die Bilder vom Helikopterflug nach Castel Gandolfo und sein letzter Auftritt als Papst auf dem Balkon der päpstlichen Sommerresidenz gingen zu Herzen. Die Sedisvakanz trat mit Datum vom 28. Februar 2013, 20:00 Uhr, ein.

Zum 4. März berief der Dekan des Kardinalskollegiums, der frühere Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano, die erste Generalkongregation ein, an der 142 Kardinäle teilnahmen, darunter 103 von insgesamt 117 wahlberechtigten Kardinälen. Am 11. März fand die zehnte und letzte Generalkongregation vor dem Konklave – man spricht deswegen auch vom Vorkonklave – statt. An ihr nahmen 152 Kardinäle teil – ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Kardinalskollegium seine Verantwortung, den Status quo der Kirche zu erheben, ernst nahm.

Insgesamt gab es in diesen Tagen 161 Redebeiträge. Aufgrund der vielen Wortbeiträge wurde die Redezeit auf ein Limit von fünf Minuten begrenzt, was nicht jedem Kardinal leichtfiel. Teilnehmer waren nicht nur Kardinäle unter 80, die später ins Konklave ziehen sollten, sondern auch emeritierte Kardinäle, darunter der Münchner Alterzbischof Friedrich Wetter, der zur Verabschiedung von Benedikt XVI. nach Rom gereist war.

Da die Beratungen, die nicht direkt im Konklave stattfinden, nicht der strengen Geheimhaltung unterliegen, wurde bekannt, dass es offenbar heftige, teils kontroverse Debatten über Krisen und Pannen im Pontifikat von Benedikt XVI., massive Kritik an einzelnen Kurienkardinälen und am höfischen Gehabe im Vatikan und dem daraus resultierenden Image, Klagen über Zentralismus, mangelnde Kollegialität und Transparenz gab. »Unliebsame Redebeiträge«21, so ZDF-Redakteur Jürgen Erbacher, seien vom Kardinaldekan unsanft abgebrochen worden. Fragen in Richtung Vatileaks sowie Vatikanbank (IOR) und Geldwäsche wurden trotzdem hartnäckig gestellt. Auf Letztere soll der ehemalige Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, ein Salesianer, ausweichend oder so geantwortet haben, dass ein großes Unbehagen entstand und sich viel Ärger über die Kurie aufstaute, vor allem unter den nicht in Rom residierenden Kardinälen.

Logischerweise ergab sich aus alldem auch die Frage nach dem Anforderungsprofil des neuen Papstes: Wer kann das, in dieser Situation der Kirche? Welche Persönlichkeit braucht es dafür? »Zwar wird in den Generalkongregationen offen gesprochen, doch finden die Meinungsbildung und die inhaltliche Auseinandersetzung unter den Kardinälen in kleinen Zirkeln am Nachmittag und Abend statt«22, weiß der im Vatikan bestens vernetzte Blogger Erbacher. Teils in Sprachgruppen, teils in anderen Formationen. Der große, wenn auch nicht einheitliche Block von 28 italienischen Kardinälen war unübersehbar – und ein größerer Faktor als die sieben deutschsprachigen Kardinäle. Die Lateinamerikaner stellten siebzehn Wahlmänner. Erbachers Vermutung, dass für die Kardinäle aufgrund des Verlaufs des Vorkonklaves, an dem ja auch die über 80-jährigen, oft sehr erfahrenen Kardinäle teilnehmen durften, der Beginn des Konklaves hinausgezögert wurde, hat einige Plausibilität: »Für sie waren die Generalkongregationen die Zeit des Diskutierens, das Konklave die Zeit der Entscheidung.«23

Auch der Münchner Kardinal Marx fiel mit sachlichen, bestimmt vorgetragenen Bemerkungen auf, vor allem in Richtung Vatikanfinanzen, ebenso wie der verhältnismäßig junge 55-jährige Erzbischof von Manila, Kardinal Luis Antonio Tagle.

Die kurze Rede von Kardinal Jorge Mario Bergoglio fand am 7. März 2013 statt. Sie dauerte nicht lange: dreieinhalb Minuten. Er traf offenbar in vielem den Nagel auf den Kopf. Später wird man von einer »Brandrede« lesen. Programmatisch jedenfalls war sie. Austen Ivereigh verglich die Wirkung dieser Ansprache mit der berühmten »Gettysburg Address« von Abraham Lincoln (19. November 1863), die als rhetorisches Meisterwerk gilt.24 Paul Vallely erfuhr, dass Bergoglios Rede »elektrisierte« und vielen Zuhörern aus dem Herzen sprach: »Seine Rede war sehr einfach, sehr spirituell und sie berührte die dringend notwendige Erneuerung. Kardinal Schönborn wandte sich an seinen Nebenmann und meinte: ›Genau das brauchen wir.‹«25

Bis zum Beginn des Konklaves – der nachmittags für den 12. März festgesetzt wurde – sollten fünf weitere Tage vergehen. Das Wochenende nutzten die Kardinäle, um auch über Jorge Mario Bergoglio Informationen einzuholen. Und es ging dann, ähnlich wie im April 2005, ganz schnell. Im fünften Wahlgang, am zweiten Wahltag, sollte er gewählt werden.

Theologischer Narzissmus und Selbstbezüglichkeit

Während Kardinal Wetter zum Beispiel keine Erinnerung an den Beitrag des Erzbischofs von Buenos Aires hat, ließ Kardinal Marx, sein Nachfolger als Erzbischof von München und Freising, in einer Würdigung zum 80. Geburtstag von Papst Franziskus (2016) durchblicken: »Schon im Vorkonklave war mir der Kardinal von Buenos Aires aufgefallen. Er wirkte eher zurückhaltend. Aber seine kurze Rede über den zukünftigen Papst und die Herausforderungen der Kirche war bedeutsam.«26

Für eine der ersten deutschsprachigen Franziskus-Biografien von Jürgen Erbacher steuerten neben Marx fünf weitere deutschsprachige Konklave-Kardinäle (Walter Kasper, Karl Lehmann, Rainer Maria Woelki, Paul Josef Cordes, Kurt Koch) ihre Eindrücke vom Konklave bei. »In den Gesprächen über die Situation der Kirche und der römischen Kurie«, so Kasper in seinem Beitrag, »waren die meisten Kardinäle überzeugt, dass frischer Wind nötig ist. Die inzwischen veröffentlichte Intervention von Kardinal Bergoglio, in der er für eine nicht um sich selbst kreisende, sondern für eine prophetische, offene, den Menschen nahe Kirche plädierte, hinterließ einen tiefen Eindruck.«27 Kardinal Marx, neben Pietro Parolin und Giuseppe Bertello der einzige europäische Vertreter im bald eingerichteten Kardinalsrat des Papstes, erinnerte sich an »die intensiven Tage des Vorkonklave, in denen wirklich offen über die Fragen gesprochen wurde, die uns in der Kirche zurzeit bewegen«28.

Wenige kurze Texte der jüngeren Kirchengeschichte wurden derart breit analysiert wie die Intervention von Kardinal Bergoglio – wohl auch deswegen, weil sie später, mit Erlaubnis des neuen Papstes, vom Erzbischof von Havanna, Kardinal Ortega, in dessen Diözesanzeitschrift »Palabra Nueva« veröffentlicht wurde.

Manche lasen daraus ein Aktionsprogramm. Andere werteten die Rede – was verboten wäre – als »Wahlwerbung« in eigener Sache, ähnlich der offenbar ausschlaggebenden Rede von Kardinal Joseph Ratzinger acht Jahre zuvor. Dieser hatte als Dekan des Kardinalskollegiums am 18. April 2005 bei der Eröffnung des Konklaves (»Missa pro eligendo Romano Pontifice«), aus dem er als Benedikt XVI. hervorgehen sollte, von der »Diktatur des Relativismus« (dittatura del relativismo) gesprochen – eine Zeitsignatur, die er später als Papst mehrmals wiederholte.

Kardinal Bergoglios Rede fiel auf. Ob im Nachhinein und damit der Tatsache geschuldet, dass er gewählt wurde, oder sofort, kann man heute auf sich beruhen lassen. Entscheidend ist, dass er die Beratungen offenbar sehr aufmerksam mitverfolgt hat und sich selber zu Wort meldete. Wie er später als Papst durchblicken ließ, richtete er selber maximale (An-)Forderungen an den neuen Papst. Offenbar spürten eine Reihe von Kardinälen intuitiv: Das ist vielleicht der richtige Mann!

Wer sollte jetzt also, im Blick auf die vergangenen fünf Jahre, überrascht sein, dass Franziskus umsetzt, was seinerzeit bemängelt, kritisiert und gefordert wurde? Es spricht für seinen strategischen Instinkt, dass er die Kardinäle gelegentlich daran erinnert. So bindet er sie ein in die Verantwortung für den Kurs der Kirche. Wer nicht dabei war, kann diese – in der Folgezeit als historisch gewertete – Rede allerdings nur von hinten lesen und unter dem Eindruck dessen bewerten, was in der Zeit seit dem 7. bzw. 13. März 2013 in der Kirche passiert ist.

Evangelisierung an den Peripherien

Kardinal Bergoglios Reflexionen setzten ein mit dem Stichwort »Evangelisierung« – das Reizwort Neuevangelisierung fiel nicht: »Apostolischer Eifer« und paulinischer »Freimut« (parrhesia) seien dafür erforderlich. Denn die Kirche sei »aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und an die Peripherien zu gehen, nicht nur an die geografischen, sondern an die existenziellen Peripherien. Die des Mysteriums der Sünde, die der Schmerzen, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, der religiösen Nichteinhaltung, die des Denkens, die jeglichen Elends.«29

Sind hier nicht menschliche Erfahrungs- und pastorale Lernfelder genannt, theologische Baustellen, die es anzugehen gilt? Was wir seit dem 13. März 2013 sehen und erleben können, ist die Umsetzung und Anwendung dieses Programms!

Für den Fall, dass die Kirche »nicht aus sich selbst herausgeht um zu evangelisieren«, läuft sie nach Kardinal Bergoglio Gefahr, »selbstbezüglich« (autoreferencial) und »krank« (entonces se enferma) zu werden. Und er ging frontal in die Offensive: »Die Übel, die sich im Lauf der Zeit in den kirchlichen Institutionen entwickeln, haben ihre Wurzel in der Selbstbezüglichkeit (autoreferencialidad), einer Art von theologischem Narzissmus (narcisismo teológico).«

Eine um sich selbst – und man darf und muss wohl einsetzen: das Protokoll, Dogmen, Vorschriften, das Kirchenrecht – kreisende, sich selbst genügende (und feiernde) Kirche verkennt und verfehlt ihren Zweck, ihren ersten Zweck, nämlich die Verkündigung des Evangeliums: »Das Heil, das Gott uns anbietet«, wird es später in »Evangelii gaudium« heißen, »ist ein Werk seiner Barmherzigkeit.« (EG 112) Und das bedeutet, dass Barmherzigkeit konkret erfahrbar sein soll: »Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.« (EG 114)

»Theologischer Narzissmus« führt nach Kardinal Bergoglio dazu, Kirche nur aus der Innenperspektive wahrnehmen zu können und gelten zu lassen, eine Insider-Kirche: »Die selbstbezügliche Kirche beansprucht Jesus Christus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten.«

Eine solche elitär-exklusive, ausschließende Kirche jedoch »hört auf, das ›mysterium lunae‹ (Geheimnis des Mondes) zu sein und gibt jenem schwerwiegenden Übel der geistlichen Mundanität Raum (nach de Lubac das schlimmste Übel, das über die Kirche hereinbrechen kann)«. Die Alternative dieser zwei Kirchenbilder liegt auf der Hand: »die evangelisierende Kirche, die aus sich heraustritt (…); oder die mundane Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt«. Sein nüchternes Fazit am Ende dieser Skizze, die fast eine Karikatur, von Kirche gezeichnet hat: »Dies sollte Licht auf die möglichen Veränderungen und Reformen werfen, die man für das Heil der Seelen tun muss.«

Beim Lesen sollte man sich immer vor Augen halten, dass dieser Wortbeitrag, ebenso wie die der anderen Kardinäle, als Spiegelbild dessen verstanden werden kann, was in den tagelangen Generalkongregationen besprochen, defizitär aufgezeigt, visionär angedeutet wurde. Am Ende seiner Intervention personalisierte Kardinal Bergoglio und zeichnete ein Papstprofil: »Denkt man an den nächsten Papst: ein Mann, der von der Betrachtung Jesu Christi und von der Anbetung Jesu Christi her der Kirche hilft, aus sich herauszugehen hin zu den existenziellen Peripherien (Pensando en el próximo Papa: un hombre que, desde la contemplación de Jesucristo y desde la adoración a Jesucristo ayude a la Iglesia a salir de sí hacia las periferias existenciales …), der ihr hilft, eine fruchtbare Mutter zu sein, die von ›der süßen und stärkenden Freude zu evangelisieren‹ lebt.«

Noch einmal in Betracht gezogen, dass man diese keine fünf Minuten dauernde Rede nur post festum, von hinten lesen kann: Hat Jorge Mario Bergoglio SJ hier ein Selbstporträt gezeichnet? So lesen diese Vision von Kirche diejenigen, die ihm unterstellen, er habe das Amt angestrebt – was nicht nur einem Kardinal, sondern einem Jesuiten im Speziellen (durch das vierte Gelübde) untersagt ist.

Wandel und Reform durch Evangelisierung

Deutlich ist: Kardinal Bergoglio setzte unter dem Eindruck einer am Ende des Pontifikats von Benedikt XVI. in Skandale verstrickten, vor allem mit sich selbst beschäftigten Kirche auf Wandel und Reform – durch Evangelisierung. Programmatisch entfalten, ausbuchstabieren wird er diese Skizze aus dem Vorkonklave acht Monate später in »Evangelii gaudium«. Drei Bewegungen sind, zusammenfassend, dafür erforderlich: das Hinausgehen zu den existenziellen Peripherien der Menschen; das Herausgehen aus der Selbstbezogenheit der Kirche; der Wechsel von einer mundanen zu einer evangelisierenden Kirche.

Der von Jorge Mario Bergoglio SJ bei seinem Deutschlandaufenthalt (1986) als Doktorvater ins Auge gefasste Pastoraltheologe Michael Sievernich SJ hat in dem Zusammenhang auf den vielleicht etwas deutsch klingenden Fachterminus von der »›Geh-hin-Struktur‹ der Kirche« gesprochen. Als in der Folge der Wahl zum Papst die Biografie Bergoglios weltweit detailliert recherchiert wurde, trat diese Dimension seines eigenen pastoralen Wirkens als Weihbischof und Erzbischof von Buenos Aires stärker zutage.

Jorge Mario Bergoglio stammt aus einer Mittelschichtfamilie mit Migrationshintergrund. Er ist ein echter »porteño«, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt heißen, die Großstadt prägte bis zum 13. März 2013 den größten Teil seines bisherigen Lebens. Urbanität rückt damit ins Blickfeld: »Als Städter«, so Sievernich, »legt er besonderen Wert auf das Hineingehen in die Städte, auf eine urbane Pastoral, die sich den städtischen Dimensionen öffnet: den ›villas‹, wie in Argentinien die Armenviertel heißen, und den sozialen Problemen, der großen Politik und den kleinen Sorgen, der Volksfrömmigkeit und Popularkultur, der großen Literatur und dem rustikalen Gaucho-Epos Martín Fierro. Aus diesem entnimmt er das Leitmotiv der Freundschaft, das auch das Dokument des lateinamerikanischen Bischofsrats von Aparecida (2007) prägt. Dort geht es um die spirituelle ›Freundschaft mit Jesus‹ im Gebet, die solidarische ›Freundschaft mit den Armen‹ und die ›soziale Freundschaft‹ unter den Völkern.«30

Wie sehr ihn seine Lebens- und Glaubenserfahrungen prägen, wie bestimmend Ereignisse wie Aparecida wurden, wird sich im Lauf meiner Ausführungen zeigen. Jorge Mario Bergoglio SJ hat sich am 13. März 2013 nicht neu erfunden. Er hat keine neue Identität angenommen und nach Ideen gesucht, die er jetzt als Papst ausführen könnte. Er ist sich selbst treu geblieben – und kann jetzt allerdings, als Papst, die Kirche auf eine andere Spur setzen. Dafür braucht er natürlich Verbündete, um die er auch wirbt. Kirche ist für ihn keine One-Man-Show, kein Selbstzweck – sondern der Ort, an dem Gottes Barmherzigkeit erfahrbar werden soll.

Schlag nach – beim Erzbischof von Buenos Aires!

Michael Sievernich hat in seiner Einführung zu einem ins Deutsche übersetzten Sammelband mit kleineren katechetischen, pädagogischen und marianischen Schriften des Erzbischofs von Buenos Aires darauf hingewiesen, dass sich etliche Leitmotive des neuen Papstes zurückverfolgen lassen.

»Die Grundidee einer nicht in sich selbst verharrenden, ›sondern zu den Rändern hinausgehenden Kirche«31 entdeckte der Pastoraltheologe in einer Predigt von Kardinal Bergoglio für Katecheten aus dem Jahr 2005: »Fassen Sie Mut und denken Sie die Pastoral und die Katechese von den Rändern her, denken Sie an diejenigen, die am weitesten entfernt sind, die in der Regel nicht in die Kirche gehen. Auch sie sind zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen. (…) Kommen Sie heraus aus Ihren Löchern! Heute sage ich es noch einmal: Kommen Sie heraus aus der Sakristei, dem Pfarrbüro, den VIP-Lounges, gehen Sie hinaus! Praktizieren Sie eine Pastoral der Hinterhöfe, der Türen, der Häuser, der Straße. Worauf warten Sie noch? Gehen Sie hinaus! Und vor allem praktizieren Sie eine Katechese, die niemanden ausgrenzt und offen ist für die neuen Herausforderungen dieser komplexen Welt. Seien Sie keine starren Funktionäre, keine Fundamentalisten einer Planung, die ausgrenzt.«32

Eine frappante Parallele zur Rede im Vorkonklave! Es genügt nicht, diese zur Kenntnis zu nehmen, begeistert davon zu reden, akademisch zu analysieren, zu kommentieren – um dann wieder dem eigenen Trott nachzugehen. Wir müssen handeln! Unschwer erkennt man: Papst Franziskus ist sich treu geblieben.

Dieses Faksimile zeigt den handschriftlichen Text, in dem Kardinal Bergoglio seine Gedanken zu einem künftigen Wirken der Kirche festhielt.

Kandidaten?

Im Gespräch mit der mexikanischen Vatikanberichterstatterin Valentina Alazraki (März 2015) hört sich das aus der Sicht des dann gewählten Papstes so an: »Die Sache ist sehr einfach. Ich war mit einem kleinen Koffer angereist, weil ich mir ausgedacht hatte, dass der Papst sein Pontifikat auf keinen Fall in der Karwoche antreten würde. Demnach konnte ich getrost herkommen und zum Palmsonntag wieder nach Buenos Aires zurückkehren. Ich hatte die fertige Predigt auf meinem Schreibtisch liegen lassen und war mit dem Allernötigsten für diese Tage gekommen. Ich war davon ausgegangen, dass es ein sehr kurzes Konklave werden könnte. Aber auch für den Fall, dass es länger dauern sollte, hatte ich vorgesorgt. Mein Rückflugticket konnte ich umtauschen oder vorverlegen. Das, zumindest, war sicher. Außerdem stand ich Gott sei Dank auf keiner Liste von papabili, möglichen Anwärtern für das Papstamt, und es kam mir auch überhaupt nicht in den Sinn. In diesem Punkt will ich ehrlich sein, um irgendwelche Geschichten zu vermeiden. Bei den Wettbüros in London stand ich, glaube ich, auf Platz zweiundvierzig oder sechsundvierzig.«33

Bei Austen Ivereigh kann man nachlesen, dass Bergoglio, anders als 2005, allein anreiste, also ohne Sekretär, und er verzichtete dabei auf das vom Vatikan zugeschickte Erste-Klasse-Ticket. Die auf dem Flughafen Fiumicino für Kardinäle wartende Limousine ließ er stehen und fuhr, nachdem er seinen Koffer ausgelöst hatte, wie gewöhnlich mit dem Zug nach Roma-Termini und von dort mit dem Bus weiter in die Via Scrofa, wo er üblicherweise übernachtete – diesmal nur eine Nacht, bevor er ins Gästehaus Santa Marta des Vatikans wechselte.34

Trotz heiligster Eide der Konklave-Teilnehmer, strengste Verschwiegenheit zu bewahren, wurden und werden im Nachhinein immer wieder (teils skurrile) Details bekannt. Manchmal sogar, wie 2005 und 2013, kursiert hinterher das angebliche oder vermeintliche Stimmverhalten. Oder es tauchen geheime (verbotene) Tagebücher auf. Eine Papstwahl bewegt eben nicht nur die Gemüter auf der Piazza San Pietro, wo die Massen auf die fumata bianca