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Authentizität ist ein schillernder Begriff, der in unterschiedlichen Kontexten sehr Unterschiedliches bedeuten kann, der in Fachdiskursen ebenso zu Hause ist wie in den Diskursen der Populärkultur oder in der Alltagssprache. Für manche ist Authentizität das »Schlagwort der Stunde«, während andere den Begriff kaum verwenden, ohne ihn zugleich zu problematisieren. Das gilt auch und gerade in den Bildmedien, in denen Authentizität als Konzept immer wieder hinterfragt, umspielt, ebenso oft eingefordert wie verworfen wird. In seinem Buch zum authentischen Bild geht Wortmann von einem nicht-normativen, einen an Raum und Zeit gebundenen, konstruktivistischen Authentizitätsbegriff aus, den er in den Bilddiskursen verschiedener Epochen – von der Antike bis zur Gegenwart – aufspürt und im Hinblick auf seine Funktionsweisen untersucht. »Selbst die größten Authentizitätsverächter werden konstatieren müssen, dass Authentizität ein Begriff mit Konjunkturen ist, ein Begriff wie ein Symptom, das in regelmäßigen Abständen aus den Ablagefächern der Geschichte aufsteigt und durch Fachdiskurse und Feuilletons geistert – mal als emphatische Beschwörungsformel, mal als großes Lamento über seinen Verlust, schließlich als Beschwerdeführung darüber, dass alle Welt von Authentizität spreche, man das ganze Echtheits- und Authentizitätsgerede aber als Zumutung empfinde.« Zwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wurde das Buch in Teilen überarbeitet und um ein neu verfasstes Schlusskapitel zur Authentizität nach der Fotografie ergänzt, das die Authentizitätsdiskurse um das digitale Bild und um die Bilder der KI-Bildgeneratoren auf ihre Dynamiken und ihr Authentizitätspotenzial hin untersucht.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Volker Wortmann
Authentisches Bild und authentisierende Form
Köln: Halem 2023
2., überarbeitete und ergänzte Auflage
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2023, by Herbert von Halem Verlag, Köln
1. Auflage 2003
2. Auflage 2023
ISBN (Print):
978-3-86962-651-2
ISBN (PDF):
978-3-86962-652-9
ISBN (ePub):
978-3-86962-653-6
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Volker Wortmann
2., überarbeitete und ergänzte Auflage
Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage
Vorwort
EINLEITUNG:ORDNUNGEN IM SEMANTISCHEN FELD
1.LEGENDEN AUTHENTISCHER DARSTELLUNG
1.1Das authentische Bild – eine erste Annäherung: Protogenes und sein wunderbar gemalter Hund
1.2›Nicht von Menschenhand‹: Acheiropoieten-Legenden
1.2.1Christliche Apologetik und heidnisch-antike Bildpraxis
1.2.2Ein erstes Modell authentischer Darstellung: Die Abgarlegende der Spätantike
1.2.3Byzantinische Importikonen und importiertes Bildverständnis: Die ›vera-icona‹ des lateinischen Mittelalters als Bild und Reliquie
1.3Der Maler als transparentes Medium
1.3.1Lukas und Nikodemus: Legenden heiliger Maler
1.3.2Die Askese des Malers als Zeichen medialer Transparenz
1.3.3Das Motiv heiliger Maler in den Künstlerviten
1.4Der Renaissancemaler und die Transformation tradierter Authentizitätskonzepte
1.4.1Der Renaissancekünstler als ›alter deus‹
1.4.2Der Maler als Fundstück – zum Topos der Berufungslegende
1.4.3Das Bild als Fundstück – zur Immanentisierung der Transzendenz und Transzendierung der Natur
1.5Zusammenfassung: Drei Authentisierungsmodelle bildender Kunst
2.STILLOSIGKEIT ALS STILISIERTES AUTHENTIZITÄTSSIGNUM
2.1Das authentische Bild – eine zweite Annäherung: Stil und Stillosigkeit
2.2Stillosigkeit als literarische Authentisierungsstrategie der christlichen Spätantike
2.2.1Bildung als innere Gefährdung
2.2.2Rhetorische Kultur und asketische Opposition
2.2.3Die Martinsschriften des Sulpicius Severus
2.2.4Nachtrag
2.3Mediale Konstellationen der Aufrichtigkeit
2.3.1Zwei Reiseberichte der Neuzeit
2.3.2Aufrichtigkeits- und Authentizitätssehnsucht im achtzehnten Jahrhundert
2.4Zusammenfassung: Das kommunikative Versprechen stilloser Darstellung
3.DIE BEHARRLICHE LEIDENSCHAFTSLOSIGKEIT DER MECHANIK
3.1Das authentische Bild – eine dritte Annäherung: Die ›Camera obscura‹ und das Authentizitätsversprechen technisch-asketischer Bildentstehung
3.1.1Skeptische Anthropologie und emphatische Technik-Utopie: Der mediale Blick ins Paradies
3.1.2Von der ›Camera obscura‹ zur Photographie: Die ›Wieder‹-Entdeckung des authentischen Bildes in der Moderne
3.2Die Adaption tradierter Authentisierungsmuster in technischen Termini
3.2.1Photographie als kunstloses Medium
3.2.2Photographie und acheiropoietisches Abbildversprechen
3.2.3Der unwillkürliche Ausdruck als authentisierender Aspekt photographischer Darstellung
3.3Zusammenfassung: Das photographische Abbild und seine medienontologische Authentizitätsapologetik
4.DIE LEGENDISIERUNG DES KINEMATOGRAPHISCHEN BILDES
4.1Kinematographie und die sukzessive Ausformulierung authentisierender Strategien
4.1.1Dokumentarfilm und dokumentarische Authentizität – eine historische Differenzierung
4.1.2Das authentische Bild im Kontext propagandistischer Argumentation
4.1.3The Battle of the Somme – der ›Schrecken des Krieges‹ als ästhetische Differenzerfahrung
4.1.4›Non-preconception‹: Die Dokumentarfilmlegende Robert Flahertys
4.2Dokumentarische Authentizität als Subversion: Formen programmatischer Differenzierung
4.2.1Programmatische Anti-Ästhetik und authentisches Bild: Dziga Vertov, John Grierson und Richard Leacock
4.2.2Technikemphase und Darstellungsaskese: Authentisierende Stilverweigerung im ›direct cinema‹
4.2.3Krisenstruktur und Enthüllungslogik: Authentisierende Sujetinteressen im ›direct cinema‹
4.3Die inszenierte Transparenz der Dokumentarfilmautoren
4.3.1Authentizitätsskepsis und die Ausformulierung reflexiver Darstellungsformen
4.3.2Selbstreflexivität als authentisierendes Transparenzsignal: Wim Wenders ›Nick’s Film: Lightning over Water‹
4.4Zusammenfassung: Strategien dokumentarischer Authentizität im Film
AUTHENTIZITÄT NACH DER FOTOGRAFIE
LITERATURVERZEICHNIS
Als ich mich vor mehr als zwanzig Jahren erstmals aus akademischer Perspektive dem Problem der Authentizität näherte, war der Begriff für die Kulturwissenschaften bereits erledigt. Der Strukturalismus hatte uns gelehrt, dass alles Text sei und ein Schritt zurück hinter die Zeichenhaftigkeit der Welt unmöglich; die Dekonstruktion hatte uns vor Augen geführt, dass die Wesenskerne der Welt als beliebige Setzungen verstanden werden müssten, die wie modrige Pilze zerbröseln, wenn man nur genau genug hinschaute; schließlich insistierte der Konstruktivismus darauf, dass eine objektive Wirklichkeit, unabhängig von sozialen Aushandlungen und Einschreibungen, nicht denkbar sei. Für ein essentialistisches Konzept wie das der Authentizität waren das keine guten Voraussetzungen. In einem seinerzeit vielbeachteten Aufsatz schrieb der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen: »Was ›authentisch‹ ist, kann nicht geklärt werden. Mich interessiert, welche Verfahren den Effekt des ›Authentischen‹ auslösen können bei einem Publikum, das die Möglichkeit von Authentizität eher skeptisch einschätzt« (1996: 209).
Von Authentizität wurde also nicht mehr gesprochen, stattdessen von Authentizitätseffekten und Authentisierungsstrategien. Auch in dem Buch, das sie gerade aufgeschlagen haben, wird viel von Effekten und Strategien die Rede sein. Insofern ist der Text erkennbar mit seiner Entstehungszeit verbunden. Seinerzeit ging man davon aus, dass Authentizität als Beschreibungskategorie mit der konsequent fortschreitenden Entzauberung von Welt in die Asservatenkammer der Kulturgeschichte durchgereicht werden könne. Diesbezüglich war ich mir nicht so sicher.
Mein Interesse bestand zunächst darin zu verstehen, wie es sein kann, dass man sich von dem Authentizitätsversprechen (eines musealen Gegenstands, eines Kunstwerks, einer theatralen Aufführung, eines dokumentarischen Films) selbst dann affizieren lässt, wenn man um all seine historischen, kulturellen und sozialen Vorbedingungen weiß, sozusagen wider besseres Wissen und das vielleicht sogar mit Genuss. Jean-Louis Comolli hatte im Kontext der Apparatus-Theorie über das Kino und die Realitätseffekte des Films etwas Vergleichbares beschrieben: »[T]he spectator is anyhow well aware of the artifice but he/she prefers all the same to believe in it« (1980: 132). Allein das Anerkennen dieses ›doppelten Bewusstseins‹ des Publikums führt zu einer deutlichen Komplizierung der Verhältnisse: Es stellt keinen Widerspruch dar, auch wenn es auf gegenläufige Interessen hindeutet.
Mehr aber als an einer Klärung der Publikumsinteressen (in der Arbeit ist mehrfach von ›Authentizitätssehnsucht‹ zu lesen) war ich an einem funktionalistischen Modell von Authentizität interessiert – auch wenn mir das beim Schreiben der Arbeit damals noch nicht klar war. Zwar ist ein solches Modell in der Organisation des Materials bereits angelegt, es wird aber an keiner Stelle explizit gemacht. Erst in späteren Texten tritt es deutlicher hervor (vgl. WORTMANN: 2006, 2018).
Funktionalistisch bedeutet anzuerkennen, dass das Konzept von Authentizität – solange es noch in Verwendung ist und insofern von Relevanz – eine Funktion wahrnimmt, die sich nicht ohne Weiteres substituieren lässt. Diese Funktion ist zumeist eine regulative, die sich wiederum auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche und Diskurse erstreckt.
Solange über Authentizität gesprochen wird, ist das Konzept virulent. Das gilt auch dann, wenn man Authentizität zur Hölle wünscht, wie das die Schriftstellerin Juli Zeh vor einiger Zeit mit gehöriger Verve in der Zeit getan hat (2006). Probleme wird man nicht los, wenn man sie ignoriert oder ins infernale Abseits zu exilieren versucht. Selbst die größten Authentizitätsverächter werden konstatieren müssen, dass Authentizität ein Begriff mit Konjunkturen ist, ein Begriff wie ein Symptom, das in regelmäßigen Abständen aus den Ablagefächern der Geschichte aufsteigt und durch Fachdiskurse und Feuilletons geistert – das mitunter in durchaus widersprüchlichen Gestalten: mal als emphatische Beschwörungsformel, mal als großes Lamento über seinen Verlust, schließlich als Beschwerdeführung darüber, dass alle Welt von Authentizität spreche, man das ganze Echtheits- und Authentizitätsgerede aber als Zumutung empfinde.
Zuletzt sah sich Erik Schilling dazu veranlasst, in Bezug auf die Gegenwart von einem »Authentizitätsboom« zu sprechen (2020: 10). Interessanterweise sieht er Authentizität nicht mehr an ihr poststrukturalistisches Ende gekommen (wie das vor zwanzig Jahren noch der Fall gewesen war); im Gegenteil: »Weil die Rede vom ›Authentischen‹ auf eine unveränderliche Essenz von Menschen und Dingen rekurriert, ist sie widerstandsfähig gegenüber dem freien Flottieren digital-kosmopolitischer Tendenzen« (ebd.: 18).
Damit ist zunächst nur gesagt, dass das Konzept nach wie vor von Interesse ist. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass es vieles gibt, was den Begriff und seine Verwendungsweisen problematisch erscheinen lässt: sein ubiquitärer Gebrauch und die daraus resultierende Unbestimmtheit zum Beispiel, dass man also den Terminus auf alles Mögliche beziehen kann, er dabei oft aber nur wie eine semantische Nebelkerze wirkt, die vieles behauptet und kaum etwas klärt. Dann natürlich seine essentialistischen Implikationen, die auf grundsätzliche Unterscheidungen hinauslaufen: Immer geht es um das Echte, das Wahre und das mit sich selbst Identische (damit zugleich um das Unechte, das Falsche, um den bloßen Schein). Schließlich geht es um Werte, die – wie Aleida Assmann schreibt – »aus der expliziten Negation ihres Gegenteils destilliert werden«, Werte, die »stets untrennbar den Schatten ihres Unwerts mit sich« führen (2012: 29). Man könnte auch sagen: Der Begriff ist auf Klärung und auf Eindeutigkeit aus. Er lässt wenig Raum für all die Phänomene, die sich irgendwo dazwischen befinden, für all die Ungereimtheiten, die Verunreinigungen und Grenzüberschreitungen, mit denen sich vor allem die Künste beschäftigen.
Es scheint mir zudem ein wenig kurzsichtig, wenn in kulturwissenschaftlichen Kommentaren Authentizität pathologisiert und als Symptom von Transzendenzverlust gedeutet wird. Susanne Knaller und Harro Müller etwa sprechen vom Individuum in einer »›obdachlosen‹ Moderne«, das keinen Ort findet, die verschiedenen Zumutungen, mit denen es konfrontiert ist, zu synthetisieren, und sehen in Authentizität das Symptom einer Krise und zugleich das Zauberwort, sie zu überspielen (2006: 10f.). Wolfgang Funk und Lucia Krämer wiederum erkennen in Authentizität eine Strategie, den verunmöglichten Anspruch auf Wahrheit zu kompensieren (2011: 12). Ebenso Norbert Bolz, der in der »Krise der Echtheit und dem Kult der Authentizität […] Komplementärphänomene« sieht (2005: 101). Oder Ursula Amrein, die in Authentizität eine Reaktion auf die Kontingenzerfahrungen der Moderne erkennen will (vgl. AMREIN 2009: 9).1
Wo aber die Konjunkturen von Authentizität lediglich als Kompensationseffekt verstanden werden, reduziert man sie zu Übergangsphänomenen, konzipiert Authentizität mithin als Symptom eines Ablösungsprozesses von einer (bald sicher überwundenen) Moderne und/oder Postmoderne und demnach als Problem, das sich binnen kurzem erledigt haben wird.
Die vorliegende Arbeit schlägt einen anderen Weg vor. Authentizitätsdiskurse sind weder epochetypisch noch lassen sie sich historisch eingrenzen. Als Problemkonstellation scheinen sie epochenübergreifend wirksam – zumindest im Hinblick auf europäische und vom europäischen Bild- und Subjektverständnis beeinflusste Kulturen.
An dieser Stelle noch eine zweite, grundlegende Anmerkung: Authentizität als Effekt, Konstruktion und/oder als diskursive Strategie zu verstehen, ist ebenso vorausgesetzt wie unproblematisch. Wenn alles konstruiert ist, ist die Frage nach der Konstruktion obsolet. Anstatt die Frage nach dem Ob zu stellen, müsse – wie Bruno Latour zuletzt vorschlug – danach gefragt werden, wie etwas konstruiert sei. Latour tut das mit dem Ziel, die gute von der schlechten Konstruktion zu unterscheiden, um schließlich wieder ein Urteil zu ermöglichen, das – wie er schreibt – nach wie vor ein Sakrileg sei: »Weil es gut konstruiert ist, ist es demnach vielleicht wirklich wahr« (2014: 232; Herv. i. O.).2 Tatsächlich schlägt Latour vor, von »Konstruktion« als theoretischem Begriff ganz abzusehen, da man sich seiner negativen Konnotation nicht werde entledigen können. Stattdessen spricht er von »Instauration« und hofft, mit dieser Entlehnung bislang Unvereinbares zusammenzuzwingen: das Herstellen und das Auffinden, das objektiv Vorhandene und das Gemachte, das Authentische und das Fingierte (ebd.: 237).3
Dass sich der Herbert von Halem Verlag zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung dazu entschlossen hat, das Buch in einer Neuauflage herauszubringen, nehme ich als weiteres Indiz für die anhaltende Relevanz von Authentizitätsfragen. Dem Herausgeber Herbert von Halem sei an dieser Stelle für seine Initiative und sein Engagement herzlichst gedankt.
Die Neuauflage ist in Teilen von mir überarbeitet: Vorwort und Einleitung wurden neu geschrieben, das Resümee ist aktualisiert und erweitert. Der gesamte Mittelteil ist in seiner ursprünglichen Fassung belassen. In den überarbeiteten Teilen habe ich mich für einen genderbewussten Sprachgebrauch entschieden. Der nicht überarbeitete Mittelteil verwendet das generische Maskulinum. Menschen und Texte haben eine Geschichte; beidem ist hiermit Rechnung getragen.
Der Text entstand als Dissertation im Rahmen des Graduiertenkollegs ›Authentizität als Darstellungsform‹ an der Universität Hildesheim. Prof. Dr. Jan Berg war Initiator und Sprecher des Kollegs, zudem erster Betreuer dieser Arbeit. Ihm bin ich für die freundschaftlich geduldige Begleitung der Textentstehung zu tiefem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt auch den damaligen Kollegiat:innen und den kooptierten Teilnehmer:innen, allen voran Dr. Simon Frisch, mit dem ich mich in einem über mehr als zwanzig Jahre anhaltendem Gespräch über Authentizität verbunden sehe.
Hildesheim, im September 2023
1Ähnlich lesen sich die Erklärungsversuche des Feuilletons, die in gleicher Regelmäßigkeit entsprechende Authentizitätskonjunkturen zu kommentieren versuchten: Dass nämlich das Kommunikationszeitalter »mit seinen unzähligen Formen der Vermittlung und Übermittlung, der Kopie und des Zitats einen starken Hunger nach Unmittelbarkeit« erzeugt habe (ZEH 2006). Oder dass wahlweise die Postmoderne, die Spaßgesellschaft respektive die Multioptionalität uns dermaßen überfordern würden, »dass wir nicht mehr zwischen Schein und Sein, Original und Fake, uns selbst und dem, was wir sein wollten, unterscheiden« könnten und deshalb »anfingen, uns nach Echtheit zu sehnen« (HABERL 2010).
2Erläuternd schreibt Latour dazu: »Eine Sache ist es, die Differenzen zwischen den Existenzmodi anzuerkennen, indem man sorgsam die Vielfalt der Typen des Wahrsprechens bewahrt; eine andere ist es, als »fait accompli« zu akzeptieren, den man nicht einmal mehr zur Quelle zurückverfolgt, dass sich jede Konstruktion in Mißkredit bringen lässt. Die Diversität der Wahrheiten schützen ist die Zivilisation selbst; die Pflasterungen der Wege aufreißen, die zur Wahrheit führen, eine Hochstapelei.« (2014: 232-233).
3In ähnlicher Weise argumentiert Donna Haraway bereits in den 1980er-Jahren in ihrem wichtigen und viel zitierten Aufsatz zum ›situierten Wissen‹. Sie schreibt: »Feministinnen müssen auf einer besseren Darstellung der Welt beharren: Es reicht nicht aus, auf die grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist. An dieser Stelle finden wir uns als Feminist_innen paradoxerweise mit dem Diskurs vieler praktizierender Wissenschaftler_ innen verbunden, die, wenn alles gesagt und getan ist, größtenteils davon überzeugt sind, dass sie die Dinge mittels ihres Konstruierens und Argumentierens beschreiben und entdecken.« (HARAWAY 2017: 377).
Eine problemgeschichtliche Studie und implizit eine Aufforderung, Mediengeschichtsschreibung zu überdenken – konsequent diskursgeschichtlich. Es geht um mediale Authentizität, die der Bildmedien, um einen Gegenstand, von dem nicht wenige annehmen, er lasse sich, ein griffiges medientheoretisches Klassifikationsschema vorausgesetzt, so leicht abhandeln wie erledigen. So kann mediale Authentizität einer evolutionstheoretischen, auf die Evolution der Medientechnologie perspektivierten Medienwissenschaft kaum als relevanter Gegenstand erscheinen; eher als Restposten, medienontologisches Phantasma.
War Authentizität nicht ein Steckenpferd der inzwischen obsoleten Filmtheorie und Filmgeschichtsschreibung, die das Fiktionale dem Nichtfiktionalen dichotomisch gegenüberstellte und partout den nichtfiktionalen bzw. dokumentarischen Filmformaten besonderen Wahrheitsstatus, Substanz bzw. eben Authentizität zuzuschreiben versuchte? Eine Geschichte also von gestern. Wortmann widerspricht nicht, liest sie aber neu: im Kontext viel älterer Texte, Anekdoten, Legenden, Legendisierungen der Bild-Authentizität. Und die Resultate sind oft frappierend.
Er beginnt seine Lektüren und Re-Lektüren also in der Spätantike, findet aber nicht nur da Asketen, Hagiographen, Autoren von Authentizitätslegenden, sondern auch in der Renaisssance, im 19., im 20. Jahrhundert, heute. Wie die ›selbst sich malenden‹ Bilder, die Acheiropoieten, mit deren sorgfältiger Analyse die Studie beginnt, so erweisen sich auch z. B. die fotografischen und filmischen Authentizitätsdarstellungen, die sich der unvergleichlichen Exaktheit, Neutralität und Transparenz fotografischer oder filmischer Darstellungstechnik verdanken sollen, als durch Texte, Legenden ermöglicht, die von diesen Technikeigenschaften erzählen.
Die populäre Annahme, wonach Authentizität eine Art pseudoreligiöses Surrogat sei, entstanden nach dem Zusammenbruch des aristotelischthomistischen Weltbilds, gewissermaßen die Stelle einnehmend des verlorenen Substanzbegriffs, sie ist aus verschiedenen Gründen unhaltbar. Zum einen, weil Authentizität ja aus den ›diskreditierenden Aspekten der ästhetischen Gestaltung‹ entsteht; erst sie verschaffen der – autorlosen, transparenten, neutralen – Medientechnik den besonderen Rang. Und das tun sie, wie Wortmann zeigt, im sechsten Jahrhundert so gut wie im zwanzigsten. Wie verhält es sich dann aber, die mediengeschichtliche Bedeutsamkeit authentifizierender Legenden unterstellt, mit dem ›entscheidenden epistemologischen Bruch‹ (h. böhme), der großen Trennung von Mittelalter und Neuzeit?
Bezieht man Hobbes’ substanzialitätskritisches Diktum, wonach die Wahrheit keine Eigenschaft der Dinge, sondern der Urteile über sie sei, auf das Problem der medialen Authentizität und das der Medientechnik, wäre mediale Authentizität nach dem 17. Jahrhundert eine Zuschreibung, ein Wahrheitsurteil ›über‹, das aber auf die Wahrheit von ›Dingen‹ referiert – eben die Unwiderlegbarkeit, Faktizität der medialen Technik. Dass zwei sich ›eigentlich‹ ausschließende Bestimmungsstücke sich so in der Authentizitätslegende ergänzen und legitimieren, wäre plausibel für die Zeit nach dem ›entscheidenden epistemologischen Bruch‹. Davor wäre die negative Genese der authentischen Darstellung, Darstellung des Heiligen und Wahren die Antwort auf das theologische Paradox, eine Darstellung der Nichtdarstellung bzw. eine Darstellung nicht von Menschenhand sein zu müssen.
Es ist nahe liegend, heutige evolutionistische Technik-Paradigmen im Zusammenhang von Legendierung zu verstehen. Evolutionistische Medientheorie will zwar mit Authentizität nichts zu tun haben, ausschließlich mit technischer Faktizität und der ihr innewohnenden Entwicklungslogik. Doch ob sie es tut, ist sehr die Frage.
Wortmann ist nicht auf die Klärung dieser Frage aus, es ist aber kaum möglich, seine historischen Fall-Analysen nicht auch in solchen Gegenwartsbezügen zu lesen. Der Studie geht es allenfalls am Rande darum, über die Thematisierung der medialen Darstellungstechnik, also den zentralen Aspekt der historischen Authentizitätslegende, auch Stellung zu beziehen zur Paradigmatisierung von Technik in heutiger Medientheorie. Diese Studie beweist fast beiläufig, dass Medienwissenschaft zu Neuem nicht nur über immer neue Forschungsfelder und Quellen kommt. Sie zeigt, wie außerordentlich fruchtbar Lektüre und Re-Lektüre bereits existierender, ursprünglich in anderen Wissenschaftszusammenhängen erschlossener Quellen für Medientheorie wie Mediengeschichtsschreibung sein kann.
Jan Berg, März 2003
Will man Struktur und Gebrauchsweisen des Begriffs Authentizität verstehen, muss man zuallererst realisieren, dass man es mit einem Begriff zu tun hat, dem der Sprachwissenschaftler Rainer Schulze relationalen Charakter zuschreibt (2011: 29). Relational bedeutet in diesem Zusammenhang, dass etwas nur dann authentisch sein kann, wenn gleichzeitig auch die Möglichkeit besteht, dass es das nicht ist – und umgekehrt: Wenn die Nichtauthentizität eines Gegenstands oder einer Äußerung konstatiert wird, setzt diese Feststellung stillschweigend voraus, dass ein authentisches Pendant zumindest denkbar ist. Diese zunächst eher schlicht anmutende Feststellung entfaltet bei näherer Betrachtung weitreichende Folgen, denn der relationale Charakter des Begriffs bedeutet auch, dass seine Verwendung nicht auf etwas Eindeutiges verweist, sondern einen instabilen Zustand markiert, einen Bereich im semantischen Feld, in dem die Verhältnisse nicht geklärt sind, in dem es also noch etwas auszuhandeln gibt.1
Der Begriff Authentizität übernimmt im Aushandlungsprozess regulative Funktion. Termini wie Fälschung, Betrug und Verstellung sind damit keine Gegenbegriffe von Authentizität, sondern Komplemente im relationalen Gefüge. Ein Gegenbegriff zur Authentizität wäre Evidenz, denn dort, wo alles unmittelbar einsichtig ist, wo es also nichts mehr zu klären und auszuhandeln gibt, finden auch keine Authentizitätsdiskurse statt.
In einem zweiten Schritt wird man im heterogenen Bedeutungscluster von Authentizität verschiedene semantische Felder isolieren müssen. Das ist mehrfach geschehen, jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und heuristischen Interessen. Es soll hier nicht darum gehen, den bereits vorliegenden Begriffsklärungen einfach eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr sollen mit der modellhaften Skizzierung vor allem die Verflechtungen und Überlagerungen der semantischen Felder offengelegt werden; nicht zuletzt in der Hoffnung, damit auch die besondere Anfälligkeit des Begriffs für eine ebenso inflationäre wie unscharfe Verwendung zu klären. Zu diesem Zweck schlage ich vor, mit der philologischen Authentizität, der Subjektauthentizität und der Referenzauthentizität drei semantische Felder zu benennen, die auf verschiedene begriffsgeschichtliche Linien zurückzuführen sind, die entsprechend verschiedene Bedeutungsnuancen aufweisen und damit auch eine getrennte Betrachtung verlangen.
Das semantische Feld der philologischen Authentizität führt uns gleich zu den Anfängen der Begriffsgeschichte und damit zum altgriechischen Wortstamm authentes (autohentes), was so viel wie Ausführer und Selbstherr bedeutet, aber auch »jemand, der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch Urheber« (RÖTTGERS 1971: 691). Das Attribut authentikos bezieht sich auf Handlungen und Äußerungen des authentes, die dadurch, dass sie von ihm verantwortet werden, Rechtsgültigkeit erlangen. Authentizität ist in dieser ursprünglichen Bedeutung mit Autorität nahezu identisch (vgl. ebd.).
Das Verhältnis von authentes und authentikos ist unproblematisch, so lange das eine dem anderen zugeordnet werden kann, es also z. B. möglich ist, eine Äußerung von der Person autorisieren zu lassen, die diese Äußerung auch getätigt hat. Goody und Watts sprechen in diesem Zusammenhang von einer direkten semantischen Ratifizierung (2002: 244), wie sie für orale Kulturen prägend ist.
Das Verhältnis von authentes und authentikos wird in dem Moment instabil (und damit zu einem Authentizitätsproblem), in dem etwas zwischen beide tritt (Zeit oder Raum) und wir es mit einer medial vermittelten Situation zu tun haben (vermittelt über Schriftstücke, Briefe, Bilder o.Ä.). Das destabilisierende Dazwischentreten vollzieht sich mediengeschichtlich erstmals mit dem Übergang von der oralen zur literalen Kultur, wenn wir es also nicht mehr mit dem authentes selbst zu tun haben, sondern lediglich mit dem, war der authentes in der Welt an medialen Artefakten hinterlassen hat.
Ist der authentes abwesend und nur noch über ein Schriftstück präsent, braucht es eine vermittelte Anbindung, d. h: Ein Schriftstück muss mit der Urheberschaft glaubhaft in Verbindung gebracht werden, damit es als authentikos anerkannt wird. Im Allgemeinen erfolgt die Anbindung über die cheirographia, also die Handschrift (vgl. KALISCH 2007: 32), oder über ein autorisierendes Siegel.
Mit der Schrift, vor allem aber mit der Tradierung von Schriftzeugnissen über Raum und Zeit, ist diese Rückbindung von Text an die Autorschaft ein fragiles Konstrukt. Wobei nicht nur die Anbindung ein Problem darstellt, sondern auch der Inhalt einer Äußerung, der mit zunehmendem Abstand (mit zunehmender Dekontextualisierung) immer weniger evident erscheint und insofern interpretationswürdig wird. Das mediale Problem philologischer Authentizität evoziert damit eine ganze Reihe von authentisierenden Maßnahmen, mit denen wir nach wie vor vertraut sind: die Textkritik, die Hermeneutik, die Provenienzforschung u. ä.
Tatsächlich haben wir es bei der philologischen Authentizität vor allem mit einem Problem von Medialisierung zu tun, insofern die Schrift als Medium nach einer Rückbindung verlangt, die der sozial verbürgte Äußerungsakt oraler Medialität in dieser Weise noch nicht benötigte. Gelingt diese Rückbindung nicht, oder wird sie in Frage gestellt, verliert das schriftliche Dokument an Gültigkeit und Bedeutung. Oder anders gesagt: Das Medium Schrift ermöglicht zwar die Tradierung von Äußerungen über Raum und Zeit, sie tradiert damit aber nicht die semantische Ratifizierung, die in einer sozial geschlossenen Konstellation noch situativ erfolgt und die über die Wertigkeit der Äußerung entscheidet. Das Medium tradiert Schriftstücke, die über ihren soziokulturellen Entstehungskontext hinausragen und sich mit zunehmendem Abstand zu ihrer Entstehung in immer geringerem Maße ausdifferenzieren lassen, so dass schließlich ein sekundäres Differenzierungssystem eingezogen werden muss. Dieses sekundäre Differenzierungssystem ist u. a. der Kanon, mithilfe dessen man der medieninduzierten Informationsflut zu begegnen versucht, und sein primäres Unterscheidungskriterium ist Authentizität.
Erinnern wir uns kurz an die ursprüngliche Wortbedeutung: Der authentes (autohentes) ist im Wortsinn der Selbstherr. In der griechischen Antike ist damit die Person gemeint, die – im Gegensatz zum Sklaven – frei reden darf (vgl. KALISCH 2007: 34), in dem Sinne also die selbstbestimmte, souverän agierende Existenz. Womit eigentlich die durchgängige Bedeutung des Begriffs weitgehend geklärt ist, wären die tatsächlichen Verhältnisse nicht deutlich komplizierter.
Einige Autor:innen verorten die Frage nach der Authentizität des Subjekts vor allem im 18. Jahrhundert und beziehen sich dabei etwa auf Rousseau (KNALLER 2007: 37-63), auf die französischen Moralisten (ENGLER 1989, 2009) oder auf den Pietismus (KALISCH 2007). Subjektauthentizität wird hier oft verstanden als Effekt der Aufklärung, insofern die Idee eines mit sich selbst identischen Subjekts in der kulturhistorischen Gemengelage offenbar geeignet schien, den Verlust transzendentaler Ordnungen und ihrer ex cathedra erfolgten Funktions- und Rollenzuweisungen zu kompensieren, oder besser: zu operationalisieren und in ein Spiel der Selbst- und Fremdbefragung zu überführen (das wiederum exemplarisch in den bürgerlichen Medien der Zeit, also in der Literatur und im Theater zur Aufführung kam). Lionel Trilling argumentiert ähnlich, findet allerdings schon in Quellen der Renaissance entsprechende Tendenzen und sieht in Shakespeares Hamlet eine erste, zentrale Figur, mit der die Idee eines authentischen Selbstentwurfs inklusive ihres Scheiterns popularisiert wird (TRILLING 1980: 33). In der vorliegenden Arbeit wird an späterer Stelle verdeutlicht, dass zumindest Teilaspekte des semantischen Felds bereits in der spätantiken und mittelalterlichen Hagiografie angedeutet sind – z. B. mit der Unterscheidung von personalem Charisma und Amtscharisma (siehe Kap. 2.2).
Die Problematisierung und Selbstbefragung des Subjekts ist auch in der Gegenwart nicht obsolet geworden, zumal die Möglichkeiten des kommunikativen Abgleichs, also des Austauschs von Authentizitätsforderungen und gelingenden Rollenmodellen, in einer digitalen Öffentlichkeit exponentiell gestiegen sind und damit auch die Operationalisierung der Authentizitätsfrage an Dynamik gewonnen hat.
Die Aufgabe besteht also nicht darin, authentische Subjektivität historisch zu verorten, sondern das Feld inhaltlich zu bestimmen: »Das ›Wesen‹ der Authentizität enthüllt sich, wenn überhaupt, im Streit sowie im Wandel der einschlägigen Vorstellungen und Praktiken«, schreibt Wolfgang Engler (2017: 104) und benennt damit das eigentliche Problem: Die Idee subjektiver Authentizität ist äußerst variabel und anpassungsfähig (vgl. hierzu GUIGNON 2004).
Erik Schilling schlägt vor, zu einer präziseren Beschreibung von Subjektauthentizität und ihrer Variabilität, Unterbegriffe wie Wesensauthentizität, Erfahrungsauthentizität und Sprechauthentizität zu etablieren (2020: 33); diese sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Mit Wesensauthentizität ist ein Subjektverständnis anvisiert, wie es im Kontext der Aufklärung entwickelt wurde: Das Subjekt verfügt über einen stabilen und kohärenten Persönlichkeitskern, der in einem instabilen und fragilen Verhältnis zu den Formen des Ausdrucks steht (vgl. ebd.: 35). Fragil ist das Verhältnis insofern, als dass der Kern sich nicht unmittelbar im Auftreten und Handeln ausdrückt, sondern nur mittelbar, also nur vermittels der Selbstauskunft des Subjekts, der mimischen und körperlichen Selbstdarstellung oder vermittels darstellungsunabhängiger Affekte. Ein Authentizitätsproblem liegt vor, weil das Innere der Person, also der Persönlichkeitskern, nicht einsichtig ist – entsprechend der hier verwendeten Terminologie ist der Persönlichkeitskern damit abwesend. Ob eine Person authentisch ist oder nicht, lässt sich letztlich nicht sagen. Gerade deshalb ist es ja ein Authentizitätsproblem.
Christian Strub hat bereits vor Jahren angemerkt, dass zur Klärung des Authentizitätsproblems die Unterscheidung von Akteur:in und Beobachter:in unerlässlich sei (STRUB 1997: 7-17). Wobei wir natürlich immer beides zugleich sind: Akteur:innen unseres Lebens, die kommunizieren und sich entfalten und zugleich Beobachter:innen der anderen. Aus der Perspektive der Akteur:innen geht es nicht nur darum, Inneres und Äußeres in Einklang zu bringen, sondern zunächst überhaupt eine Klärung darüber herbeizuführen, was dieses Selbst sein könnte, das sich authentisch zu entfalten hat. Die Perspektive des Beobachtenden wiederum beschäftigt uns mit der Frage, wie Äußerungen und Selbstentwürfe eines Gegenübers einzuschätzen sind. Aufgrund unserer alltagspraktischen Erfahrung sind wir allesamt Spezialist:innen und als solche von Grund auf skeptisch, da wir nur zu gut wissen, dass die Divergenz von Ausdruck und Absicht, von realisiertem Leben und kommuniziertem Entwurf die kommunikative Regel darstellt.
In der Doppelrolle als Akteur:in und Beobachter:in befinden wir uns in einer anhaltenden Feedbackschleife von Selbst- und Fremdbeobachtung, die eine eigentümliche, nicht unbedingt normativ wirkende Dynamik entfaltet; oder anders gesagt: Authentizitätsideale sind nicht statisch und durchaus in der Lage, sich an verändernde Wirklichkeiten anzupassen und die Anforderungen an einen authentischen Selbstentwurf offener zu gestalten. »Menschen sind nie näher bei sich, authentischer, als in jenen Momenten, in den sie aus der Differenz zu sich heraus zu spielen anfangen«, schreibt Engler (2017: 130) und beschwört damit ein Rollenmodell, in dem das authentische Subjekt nicht als widerspruchsfreier Nukleus gedacht ist, sondern als Knotenpunkt, von dem aus die verschiedenen Rollenanfragen und Anforderungen an das Selbst taxiert und austariert werden können. Authentisch wäre dann die Person, die genau dieses Wechselspiel am überzeugendsten beherrscht.
Die Erfahrungsauthentizität autorisiert ein Subjekt im Hinblick auf seine Sprecher:innenposition biografisch (vgl. SCHILLING 2020: 37). Authentisch redet eine Person z. B. aus Perspektive der Zeitzeugenschaft,2 der Betroffenheit oder aus Perspektive der eigenen Erfahrung. Entsprechend redet eine Person in-authentisch, wenn ihre Rede sich auf einen ihr fremden Erfahrungsraum bezieht. Auch in diesem Feld übernimmt die Frage nach Authentizität regulative Funktionen, insofern die jeweiligen Authentizitätsparameter diejenigen Stimmen und Positionen zu markieren helfen, die aus dem allseitigen Stimmengewirr herausragen und die aufgrund ihrer Autorität/Authentizität Aufmerksamkeit verdienen. Die Parameter wiederum sind – wie bereits angemerkt – variabel und einer permanenten Aushandlung unterworfen; sie unterscheiden sich kulturell und historisch und können innerhalb der verschiedenen Milieus äußerst divers ausfallen.
Die Sprechauthentizität, der dritte Unterbegriff dieser Reihung, fordert »die Übereinstimmung zwischen einer Intention des Subjekts und einem von ihm gesendeten Zeichen« (ebd.: 39), versucht also Gesten, Äußerungen und Handlungen an die innere Haltung rückzubinden. Verkürzt gesagt geht es um aufrichtige Kommunikation, und damit um eine kommunikationstheoretisch eher heikle Forderung. Niklas Luhmann hielt Aufrichtigkeit grundsätzlich für »inkommunikabel« (LUHMANN 1984: 207), und zwar nicht aus moralischen Erwägungen (weil die Menschheit zu verschlagen sei), sondern aus theoretischer Einsicht. Ohne an dieser Stelle näher auf sein Kommunikationsmodell eingehen zu wollen (vgl. hierzu BERGHAUS 2011: 86ff.), sei zumindest angemerkt, dass Luhmann das klassische Sender-Empfänger-Model umkehrt und Kommunikation aus Perspektive der Empfänger:innen konzipiert. Diese, die Empfänger:innen, beobachten nun, dass das kommunizierende Gegenüber vor allem selegiert. Und zwar notwendigerweise, weil jeder Äußerung immer eine Wahl vorausgeht, Teilnehmer:innen in einem Gespräch grundsätzlich davon ausgehen müssen, dass das Gegenüber vieles zurückhält und das Meiste ungesagt bleibt. Für Luhmann ist das das Kernproblem kommunikativen Handelns:
»Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück. […] Man kann dann sehr wohl auch über sich selbst etwas mitteilen, über eigene Zustände, Stimmungen, Einstellungen, Absichten; dies aber nur so, daß man sich selbst als Kontext von Informationen vorführt, die auch anders ausfallen könnten. Daher setzt Kommunikation einen alles untergreifenden, universellen, unbehebbaren Verdacht frei, und alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert nur den Verdacht« (LUHMANN 1984: 207).
Gerade aber dieser unauflösbare Verdacht macht Aufrichtigkeit zu einem Authentizitätsproblem, das entsprechende Authentisierungsstrategien evoziert: Authentizitätsdiskurse der Aufrichtigkeit zielen entsprechend auf Situationen ab, in denen die kategorische Trennung von innerer Haltung und äußerem kommunikativen Handeln (von Sprache und innerer Wahrheit) kurzgeschlossen wird. Zumeist geschieht dies durch Affekt, unter Tränen oder im Fieber, bisweilen aber auch durch das unbestechlich blickende Auge der Kamera; an mehreren Stellen der Arbeit werden entsprechende Konstellationen in unterschiedlichen historischen und medialen Kontexten vorgestellt.
Die Referenzauthentizität schließlich versucht das Verhältnis von Darstellung und Darstellungsgegenstand, von Objekt und dessen Ursprung zu klären und zwar auf gänzlich andere Weise, als dies im semantischen Feld der philologischen Authentizität geschieht. Oberflächlich betrachtet assoziiert der Begriff vor allem analoge Bildmedien wie Fotografie und Film. Bis zu ihrer Digitalisierung in den 1990er-Jahren wurde deren medienontologisches Konzept noch durch die kausale Verkettung von Signifikant und Signifikat, von Abgebildetem und Abbildung, begründet. Roland Barthes sprach in seinem viel zitierten Essay Die helle Kammer von der »Nabelschnur«, die den »Körper des photographischen Gegenstandes mit meinem Blick« verbindet (BARTHES 1989: 91)
Das semantische Feld der Referenzauthentizität ist viel tiefer in kulturellen Grundfragen verankert. Tatsächlich kann man von Referenzauthentizität immer dann sprechen, wenn es sich um eine physisch sich vollziehende und physikalisch nachvollziehbare Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand handelt, also um einen Kontakt oder eine Berührung, die als Ursache für eine Abbildung rekonstruiert werden können, die also Spuren hinterlassen, die auf etwas Abwesendes deuten – Sybille Krämer spricht in diesem Zusammenhang von »Dingsemantik« (2007). Eingeschlossen sind sämtliche Formen des Kontakts bis hin zur Verletzung (der Emulsionsschicht, der Leinwand, der Haut). Es geht dabei um eindeutig lesbare oder auch ambivalente Spuren, um den willentlich oder unwillkürlich hinterlassenen Abdruck – eingeschrieben ist das authentische Zeugnis einer medienunabhängigen Existenz.
Die Gegenstandsfelder referenzauthentischer Zuschreibungen sind zahlreich: neben der analogen Fotografie und dem analogen Film gehören mittelalterliche Reliquiare und Berührungsreliquien ebenso dazu wie Goethes Schreibtisch in Weimar, oder die Memorabilien und Kleidungsstücke der Popsängerin Madonna, die sie im Jahr 2014 durch ein Auktionshaus versteigern ließ (vgl. MIESSGANG 2014). Letztlich auch das Gemälde, dessen Authentizität sich dadurch begründen lässt, dass eine bestimmte Künstlerin/ein bestimmter Künstler in einem unmittelbaren Ausdrucksgeschehen Hand an die Leinwand gelegt und ›Spuren des Selbst‹ hinterlassen hat.
Womit wiederum vor Augen geführt ist, dass auch Referenzauthentizität ein überaus fragiles Konstrukt ist, das sich eben nicht über Evidenzen klären lässt. Die Echtheit echter Objekte wird nicht auf der Objektebene ausgehandelt. Sie ist ein Effekt von Inszenierung (im Museum) oder von Erzählung (durch Legendisierung).
Alle drei semantischen Felder (philologische Authentizität, Subjektauthentizität und Referenzauthentizität) beschreiben unterschiedliche Aspekte und Gebrauchsformen, die jedoch keinesfalls einander ausschließen. Auch wird man sie nicht in jedem Fall präzise voneinander trennen können. Die Komplexität und semantische Unschärfe des Authentizitätsbegriffs liegen nicht zuletzt darin begründet, dass Gebrauchsformen und Felder sich überlagern und gegenseitig bedingen, schließlich auch gegeneinander ausgetauscht werden können. Nehmen wir ein Beispiel: Bei einem fotografischen Bild – sagen wir: aus den 1930er-Jahren – haben wir es im klassischen Sinne mit Referenzauthentizität zu tun. Sehen wir auf dieser Fotografie eine Person, die sich unbeobachtet wähnt, sich also keiner medialen Situierung bewusst ist und deshalb auch nicht im Hinblick auf die Kamera agiert, lässt sich das Geschehen mittels der Subjektauthentizität beschreiben. Wenn dann noch die Entstehungszeit der Fotografie für deren Bedeutung entscheidend wäre, neben der Zeit auch der Ort, der Entstehungs- und Veröffentlichungskontext, würden also Fragen nach ihrer Provenienz aufgeworfen werden, befinden wir uns mitten im Feld der philologischen Authentizität. Bei der Beschreibung eines solchen Bild würden alle semantischen Felder zum Tragen kommen.
In allen drei semantischen Feldern entzündet sich die Frage nach Authentizität an einer medialen Konstellation: Jedes Mal wird ein medialer Aspekt (des Dokuments, des Subjekts, der Abbildung, des Objekts) thematisiert, und zwar thematisiert als Negation, insofern mit der Behauptung von Authentizität die Verbindung des authentisch Erscheinenden mit etwas Abwesenden hergestellt wird. Das Medium als ein Dazwischen tritt nicht in Erscheinung, es wird kurzgeschlossen, sein bedeutungsgenerierender und überformender Aspekt wird aus dem Diskurs suspendiert.
Als strukturelles Problem von Medialität treten Authentizitätsfragen zeitunabhängig auf und können deshalb auch nicht als epochentypisches Phänomen begriffen werden. Ein Großteil der Arbeit ist dementsprechend darum bemüht, Authentizitätsfragen in Problemkonstellationen aufzuspüren, die keine Konstellationen der Moderne, Postmoderne oder der Neuzeit sind. Sieht man zudem von der reinen Begriffsverwendung ab, die tatsächlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Ausprägung erfährt, und orientiert sich stattdessen an den durch die Begriffsverwendung markierten Problemkonstellationen dann lässt sich Authentizität als durchgehende Problemkonstellation und Authentisierung als ein konstantes kulturelles Handlungsmuster (zumindest der westlich geprägten Kulturen) beschreiben.
Die Authentizität einer bildlichen Darstellung, so wie ich sie im Folgenden verstehen werde, behauptet im Hinblick ihrer Referenzauthentizität die privilegierte Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand im Sinne einer transparenten Medialisierung, die den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert. Dabei muss der dargestellte Gegenstand notwendigerweise auch unabhängig von der Darstellung existieren. Diese Differenzierung mag trivial erscheinen, doch ist damit z. B. das autonome Kunstwerk aus dem Problemfeld authentischer Darstellung ausgeschlossen. Zwar kann man auch ein gegenstandsloses Bild authentisch nennen, doch nur insofern, als dass die Gegenstandslosigkeit der Darstellung als ›Reinheit des funktionslosen Zeichens‹ und damit als ›Signatur des genuin schöpferischen Individuums‹ begriffen wird (vgl. BLUMENBERG 1957: 270). Das Bild wäre dann Ausdruck einer ›authentischen Persönlichkeit‹.
Im Kontext der Bildmedien erscheint das Attribut authentisch – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts; doch soll dieser Umstand hier weder als problemgeschichtliches Indiz, noch die ausbleibende Verwendung als Ausschlusskriterium genommen werden. Diese Arbeit wird sich nicht an den Demarkationslinien der Begriffsgeschichte orientieren. Tatsächlich finden sich authentisierende Muster und Strategien in der Bildgeschichte von dem Zeitpunkt an, an dem die Darstellungstransparenz eines Bildmediums prinzipiell in Zweifel gezogen wird und Authentisierung als apologetischer Reflex erscheinen kann. Die Tatsache also, dass man um die diskreditierenden Aspekte visueller Darstellungsformen weiß, schließt Authentizität nicht aus, sie erscheint vielmehr als notwendige Vorbedingung jeder Authentizitätsbehauptung. Authentisch ist das sublime Bild, das sich gegenüber einer verdächtig erscheinenden Darstellungspraxis zu profilieren versucht (siehe hierzu Kap. 1.1).
Folgt man diesem Gedanken, dann ist der Problemgeschichte authentischer Darstellung keine historiographische Grenze gesetzt und damit auch jene diskursimmanente Festlegung auf technisch-analoge Medialisierung aufgehoben, die die Abbilddebatten um dokumentarische Authentizität in Fotografie und Film im 20. Jahrhundert bestimmt hat.
Grenzen sind natürlich auch keine gesetzt im Hinblick auf das digitale Bild. Selbst die Tatsache, dass inzwischen künstliche Intelligenzen fotorealistische Bilder aus den Tiefen des Netzes emporrechnen und mit ihren inauthentischen Entwürfen Betrachter:innen hinters Licht führen, setzt dem Authentizitätsdiskurs kein Ende. Im Gegenteil: Die Verunsicherungen, die entsprechende KI-generierte Bilder hervorrufen, halten ihn vielmehr virulent. Eine ausführlichere Diskussion der Authentizitätsdiskurse des digitalen Bildes und seiner Dynamiken ist im letzten Kapitel zu finden.
Wenn in dieser Untersuchung vom authentischen Bild die Rede ist, dann sollte dabei immer bedacht werden, dass ein Bild an sich weder authentisch ist noch nicht-authentisch. Authentisierend wirkt erst das Milieu, in dem ein Bild erscheint und das es mit Bedeutung und Anspruch auflädt. Bilder an sich zeigen und präsentieren, bisweilen repräsentieren sie auch etwas (vgl. SEEL 2000: 271f.), jedoch sind sie nicht in der Lage, Aussagen zu treffen oder eine solch komplexe semantische Differenzierung vorzunehmen wie die von ›authentisch‹ und ›nicht-authentisch‹. Bilder erzeugen ihren Sinn nicht nach prädikativer Logik, sondern aus genuin bildnerischen Mitteln. Ihr Sinn unterläuft sprachliche Formen, wird auch nicht gesprochen, sondern wahrnehmend realisiert (vgl. BOEHM 2004: 28f.). Selbst die Feststellungen, dass etwas so gewesen sei, wie es sich darstellt, ist Bildern an sich fremd. Bilder können nicht einmal lügen, auch wenn im Hinblick auf Fotografien gern anderes behauptet wird. Wer aber sagt, »daß Fotografien lügen«, so Stanley Cavell, »der impliziert, sie könnten auch die Wahrheit sagen, wo doch gerade das Schöne daran ist, daß sie keines von beidem tun – sie lügen weder, noch sagen sie die Wahrheit.« (CAVELL 1987: 137)
Die vermeintliche Lüge der Fotografie ist ein Effekt der Verknüpfung von Bild und Text, von semantisch offenem Bildgeschehen und engführender Behauptung, von einer Argumentation, die dem Bild untergeschoben wird, während sie sich liest, als würde sie all ihre Argumente aus der bildlichen Darstellung ziehen, als würde sie allein der Evidenz der bildlichen Darstellung folgen, wobei die Evidenzen der Darstellung erst durch Text und Argumentation aufgerufen werden (vgl. WORTMANN 2006: 164ff.)
Dass unsere Bildwahrnehmung von Texten reglementiert wird, Texte Bildzeichen deuten, sie vereindeutigen, mithin ihren Referenten erst bestimmen, ist hinlänglich bekannt. Bereits Ende des 8. Jahrhunderts hatte Theodulf von Orléans in den libri carolini angemerkt, dass Bilder ohne entsprechenden titulus vieles bedeuten könnten: das Bild einer schönen Frau mit Kind in ihrem Arm z. B. müsste nicht unbedingt die Jungfrau Maria sein, es könnte genauso Rebecca und Isaak darstellen, Alkmene und Herkules, Venus, die Äneas trägt oder irgendeine beliebige andere Frau, die ihr Kind hält (FREEMAN 1998: IV 21, 540). Das übrigens ist auch der Grund, warum die Berater am Hofe Karls des Großen, anders als die Vertreter der griechischen Ostkirche, Bildern gegenüber äußerst skeptisch auftraten: Eben weil sie im Hinblick auf theologische Wahrheiten so uneindeutig waren.
Das textliche Milieu vereindeutigt dabei ein Bildgeschehen nicht nur, es autorisiert das Bild und lässt es schließlich als authentisches erscheinen – dies allerdings weniger durch bloße Zuschreibung. Die Authentisierung ist zumeist komplexer. Sie geschieht vor allem durch die narrative Erfassung der Bildentstehung und seiner Umstände, wobei die authentisierenden Faktoren variabel sind und sich aus den jeweiligen (historisch verschiedenen) bildskeptischen Einwänden generieren. Die Untersuchung dieser authentisierenden Paratexte steht im Zentrum der Arbeit.
In den ersten beiden Kapiteln werden die archäologischen Spuren der Vor- und Frühgeschichte authentisierender Milieus eruiert. Dies geschieht zum einen, um die Relativität dessen, was jeweils als authentisch bezeichnet wird, vor Augen zu führen. Es treten zum anderen aber auch jene Konstanten zu Tage, die trotz aller Variationen und Transformationen auf gleichbleibende Authentisierungsmuster und damit signifikante Strukturanalogien zu den authentisierenden Strategien technischer Medialität hinweisen.
Anhand des Quellenmaterials lassen sich zwei grundsätzlich unterscheidbare Authentisierungsformen beschreiben: eine kontextbezogene und eine bildimmanente. Agenzien der ersten Form sind Bildlegenden, Künstleranekdoten und Hagiographien. Die Texte müssen nicht unbedingt auf ein konkretes Bildexemplar bezogen sein, berichten zumeist aber von einer Bildentstehung, deren authentisierende Wirkung sich dadurch entfaltet, dass entweder auf den Menschen als Vermittlungsinstanz ganz verzichtet wird, oder aber die Vermittlungsinstanz in Gestalt eines transparenten Mediums erscheint. Ein früher Hinweis auf diese Form findet sich schon in der Kunstgeschichte des älteren Plinius, dessen eigene Quellen bis in die Zeit um 300 vor Christus zurückreichen (vgl. SCHEIBLER1978: 352). Im Mittelpunkt der Beschreibung stehen jedoch Überlieferungen der byzantinischen Spätantike, des lateinischen Mittelalters und der italienischen Renaissance.
Bei der zweiten Form handelt es sich um die Verknüpfung der im ersten Teil dargelegten Bildentstehung mit einer Bildgestalt, deren spezifische Form die Authentizitätsbehauptung der Entstehung analogisch umzusetzen versucht. Da Authentisierung in den Quellen zumeist auf eine Zurückweisung anthropomorpher Kunstfertigkeit hinausläuft, lässt sich ein performatives Korrelat zu diesem Ideal auch erst ab dem Zeitpunkt behaupten, von dem der Gestaltungswille als Stil lesbar wird, also so etwas wie ein Stilbegriff existiert. Schließlich ist es unabdingbar, eine konkrete Vorstellung von dem zu haben, was man negieren will. Bei dieser Form handelt es sich sozusagen um eine zweite Stufe der Authentisierung, was auch im historischen Sinn so zu verstehen ist. Stilbewusstsein setzt die diskursive Favorisierung von Gestaltungswillen und Bilderfindung voraus, auf die man in den Bildmedien erst in den Kunstdiskursen seit der Renaissance stößt. Im Hinblick auf geschriebene und gesprochene Sprache sieht das anders aus: Bereits in der Antike gibt es mit der Rhetorik als eigener Kunstfertigkeit ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sprachstil und persuasiver Stilisierung – damit einhergehend auch die Möglichkeit zu einer authentisierenden Stilverweigerung. So wird das zweite Kapitel zunächst mit einem ausführlichen Exkurs die Formen und Funktionen stilloser Kommunikation in der Literatur anhand ausgewählter Beispiele beschreiben und analysieren, wobei sich ein erstes Modell dieser Authentisierung anhand der anachoretischen Literatur des vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts entwickeln lässt. In einem späteren Schritt werden dann die Muster und Funktionen stilloser Kommunikate auch auf die Bildmedien übertragen.
In den beiden letzten Kapiteln gilt es die im ersten Abschnitt erarbeiteten Begriffe und Problemfiguren auf den Gegenstandsbereich der technischen Medien zu transferieren. Beide Kapitel sind in ihrer Anlage nicht mehr auf die verschiedenen Authentisierungsformen bezogen, sondern der medienhistorischen Entwicklung seit der frühen Neuzeit verpflichtet. Kapitel III widmet sich der Camera Obscura als einem epistemologischen Modell der Bildmedien der Neuzeit, dann den Diskursen um das fotografische Bild im 19. und 20. Jahrhundert; Kapitel IV entfaltet die historische Entwicklung dokumentarischer Authentizität im Film. In beiden Medien, Fotografie und Film, lässt sich eine sukzessive Aneignung der historisch ableitbaren Authentisierungsmuster feststellen, deren Dynamik der iterativ erscheinenden Konstellation von Authentizitätsskepsis und apologetischem Reflex geschuldet ist. Die historische Rahmung, innerhalb der nun die Authentizitätseffekte der technischen Medien erscheinen, wird sich hilfreich erweisen bei dem Versuch, sowohl die Authentizität technisch generierter Bilder als auch die epistemologische Kritik ihrer Apologetik als konstantes kulturelles Handlungsmuster zu begreifen.
1Mit Aleida Assmann kann man Authentizität auch als Differenzbegriff bezeichnen, weil seine differenzierende Setzung Bedeutung und Werthaftigkeit produziert. Assmann bezieht sich in ihrer Argumentation auf »Aufrichtigkeit« und »Echtheit«, die sie in ihrem Aufsatz jedoch als Synonyme für Authentizität nimmt; sie schreibt: »Aufrichtigkeit und Echtheit sind Differenzbegriffe, die ihren Sinn aus der Verbindung mit ihrem Gegensatz beziehen. Gleichzeitig handelt es sich um Werte, die aus der expliziten Negation ihres Gegenteils destilliert werden. Deshalb führen diese Werte stets untrennbar den Schatten ihres Unwerts mit sich. Die Anerkennung des Werts schließt dialektisch die Verdammung des Unwerts mit ein und führt zu einem misstrauischen Blick« (ASSMANN 2012: 29).
2Bei der Zeugenschaft haben wir es tatsächlich mit einem Sonderfall der Erfahrungsauthentizität zu tun, auf dessen Komplikationen Sybille Krämer u. a. in ihrem Aufsatz zum ›Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung‹ hinweist; sie schreibt: »Einerseits soll er [der Zeuge] wie der teilnahmslose Seismograph eines Geschehens, wie ein ›Datenerhebungsinstrument‹ unabhängig aller eigenen Meinungsbildung, Beurteilung und Kommentierung, ein Ereignis ›aufzeichnen‹ und ›wiedergeben‹; er wird dann ein umso besserer Zeuge sein, je mehr er von persönlichen Interessen, Meinungen und Präferenzen abzusehen, sich also zu depersonalisieren vermag. Zugleich jedoch muss er sich als eine zuverlässige und kohärente Person erweisen, bei der äußeres Verhalten und innere Überzeugung übereinstimmen. Zugespitzt ausgedrückt: Der Zeuge hat sich zugleich wie ein ›neutrales Ding‹ und wie eine ›authentische Person‹ zu verhalten.« (KRÄMER 2012: 22f.) Vor Gericht allerding, so führt Krämer im Weiteren aus, tritt der Aspekt der Depersonalisierung (in dieser Arbeit wird in späteren Kapiteln von Subjektlosigkeit als authentisierendem Aspekt die Rede sein – beide Begriffe können synonym verwendet werden) stärker in den Vordergrund. »Der Zeuge agiert als ein Sachmittel der Beweisaufnahme, er dient als ein Medium; seine Aussage soll nicht ›Urteil‹ sein, vielmehr wie eine Spur fungieren, in die sich die Kausalkette […] eines Geschehens objektiv eingegraben und eingezeichnet hat. Nur so kann der Zeuge etwas anderes als er selber ist (oder weiß, oder meint …) zur Erscheinung bringen. Je ›uneigentlicher‹ also der Zeuge als ›Bote‹, umso authentischer seine Botschaft.« (ebd.: 24)
In seiner umfangreichen Naturalis Historiae aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert berichtet der ältere Plinius von Protogenes, dem antiken Maler, der im vierten vorchristlichen Jahrhundert einen wunderbar gemalten Hund geschaffen habe. Protogenes war für seine Kunst weithin berühmt, doch in diesem Fall sollte es nicht die unbestrittene Kunstfertigkeit des Malers sein, der sich das Außerordentliche der Darstellung verdankte. Wunderbar an dem gemalten Hund war der Schaum an dessen Schnauze, und genau den zu malen, stellte Protogenes vor ein diffiziles Problem:
»Er meinte, auf dem Bild den Schaum des keuchenden Hundes nicht recht darstellen zu können, während er doch in jedem anderen Teil – was sehr schwierig war – mit sich selbst zufrieden war. Das Ergebnis seiner Kunst jedoch mißfiel ihm: sie konnte nicht gemindert werden und schien allzu großartig und weit von der Naturtreue entfernt zu sein, da der Schaum wie gemalt aussah, jedoch nicht wie aus dem Maule entstanden. In ängstlicher Seelenpein, da in der Malerei das Wahre, nicht aber das der Wahrheit Ähnliche enthalten sein sollte, hatte er den Schaum öfters abgewischt und den Pinsel gewechselt, war aber keineswegs mit sich zufrieden. Schließlich warf er aus Zorn über die Tüftelei, weil man sie ›als solche‹ erkenne, einen Schwamm auf die verhaßte Stelle der Tafel. Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte, und so hat in der Malerei der Zufall die Naturwahrheit geschaffen« (PLINIUS 1997: 83).
Gewiss, der Bericht ist nur eine Anekdote und das Wahre der Darstellung nicht mehr als der Schaum an der Schnauze eines keuchenden Hundes. Und doch umschreibt Plinius in dieser unscheinbaren Form eine Problemstruktur, die sich nicht allein als das literarische Arrangement der gesucht pointierten Wendung erklären lässt. In der Malerei solle das Wahre und nicht das der Wahrheit nur Ähnliche dargestellt werden, schreibt der antike Kunsthistoriker und lässt damit erkennen, dass ihm die konstitutive Differenzierung authentischer Darstellung durchaus vertraut ist – auch wenn er die gelungene Darstellung selbst nicht authentisch nennt (die Verwendung des neuzeitlich modernen Terminus wäre in diesem Kontext auch nicht zu erwarten gewesen). Das authentische Bild und die konstitutiven Elemente seiner Generierung sind also schon in dieser kurzen anekdotischen Begebenheit angelegt. Allerdings verlangt der Einblick in die grundlegende Differenzierung authentischer Darstellung zunächst ein näheres Verstehen seiner Negation, also ein Verstehen dessen, was Plinius das ›nur Ähnliche‹ einer Darstellung nennt.
Der kunstgeschichtliche Entwurf der plinischen Anekdotensammlung folgt einem einfachen Grundgedanken: Der einzelne Künstler illustriert mit seiner innovativen Leistung die Idee einer sich stetig fortentwickelnden Malerei. Folglich beginnt seine Geschichte der Kunst auch mit den unbeholfenen Anfängen namenloser Maler, von denen aus andere die Malerei Schritt für Schritt ihrem idealisierten Ziel entgegenführen: der vollkommenen Naturnachahmung (vgl. TRAUTWEIN 1997: 22).3 Sie ist das Ideal fast aller Berichte. Allerdings erscheint zumeist schon die mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeit als hinreichendes Kriterium einer geglückten Darstellung, gefeiert von dem triumphalen Topos der Täuschung, vornehmlich der von Tieren und Zunftgenossen: So führte z. B. der viel gerühmte Apelles lebende Artgenossen an ein von ihm gemaltes Pferd heran, um sich durch ihr Wiehern die Ähnlichkeit der Darstellung und damit die Qualität seiner Kunst unter Beweis stellen zu lassen (vgl. PLINIUS 1997: 77). An anderer Stelle liest man von Vögeln, die auf »täuschend ähnlich« gemalte Dachziegel einer Theaterkulisse zugeflogen seien (ebd.: 27), oder auf die von dem großen Zeuxis gemalten Trauben, der sich nun wiederum selbst durch einen von Parrhasios gemalten Vorhang düpieren ließ, als er in der Darstellung nicht das von seinem Kontrahenten im Malerwettstreit präsentierte Bild erkannte. Er glaubte einen über die eigentliche Darstellung geworfenen Stoff zu sehen, der jedoch, selbst gemalt, nichts Eigentliches mehr verbarg (ebd.: 57ff.).
Angesichts dieser offensichtlichen Begeisterung antiker Maler an der Täuschung ihrer Sinne könnte man annehmen, dass – entgegen dem plinischen Insistieren – in der Malerei vorrangig das der Wahrheit nur Ähnliche, nicht aber das Wahre selbst vorrangiger Gegenstand der Darstellungen gewesen sei. Und tatsächlich findet man für diese Einschätzung genügend Belege – allerdings eher solche skeptischer Art, geprägt von dem klassischen Ressentiment antiker Philosophie gegenüber der Kunst des Malers.
Im zehnten Buch seiner Politeia beschreibt Platon die Malerei und mit ihr alle Kunst bekanntlich als Nachahmung der Natur, und dies ist nicht nur eine Feststellung, sondern schon gleich sein entscheidender Einwand: Nachgeahmt werde in der Malerei nämlich nur das, was in der stofflichen Welt selbst Nachahmung einer ursprünglichen Idee sei. Platon verdeutlicht diesen Gedanken an dem berühmten Beispiel eines Tischlers. Fertigt dieser ein Bett oder einen Stuhl, so formt er zwar die alle Möglichkeiten umfassende Idee zu einem konkreten Gegenstand aus, muss dabei aber noch immer auf die Idee der Gegenstände schauen. Insofern haben Bett und Stuhl noch Anteil an der Wahrheit, wenn sie der Tischler mit seinem Werk abbildet. Der Maler hingegen bezieht sich nicht mehr auf das Urbild selbst. Mit seiner Malerei erfasst er nur die äußere Erscheinung und von ihr lediglich einen ausgewählten Aspekt – damit aber erfasst er letztlich sehr wenig, jedenfalls nichts Essentielles.
Der eigentliche Vorwurf ist jedoch noch tiefgreifender: Wenn sich die Darstellung der Malerei auf eine oberflächliche Abbildung unwesentlicher Erscheinungen beschränkt, dann benötigt der Maler für seine Kunst im Gegensatz zum Werkbildner auch keine besondere Einsicht in die Dinge. Er kann so vieles malen, doch tut er es ohne Verstand! Damit kann sein künstlerisches Schaffen aber auch keinen Erkenntnis- oder Wahrheitsanspruch erheben. In letzter Konsequenz muss ihm sogar angelastet werden, nur Falsches darzustellen, indem er die ohne Verständnis erlangte Wiedergabe des bloß Erscheinenden als Abbildung des Wirklichen ausgibt (vgl. PERES 1990: 5). »Die Nachahmungskunst ist also weit vom Wahren entfernt« (PLATON 1989: 390), resümiert der Philosoph und wirft ihr dementsprechend vor, allein auf Täuschung angelegt zu sein. Dieser Einsicht entsprechen die meisten Pointen der plinischen Anekdoten. Ihr entspricht aber auch das Unbehagen des Protogenes angesichts einer Darstellungsaufgabe, die offensichtlich die Möglichkeiten seiner Kunst außer Acht lässt.
Man könnte annehmen, dass Plinius in Begeisterung für den wunderbar gemalten Hund die notwendige Umsicht bei seinen Formulierungen vermissen ließ und so eher versehentlich den von Platon gesteckten abbildtheoretischen Rahmen überschritten habe. Sein besonderes Darstellungsversprechen wäre dann ein ehrenwerter, aber haltloser Versuch, das Wunderbare des gemalten Hundes mit einem rhetorischen Kunstgriff zu manifestieren. Bezieht man hingegen die platonische Skepsis in ein mögliches Kalkül der Beschreibung mit ein, scheinen gerade die Einwände der Philosophie den wohl durchdachten Aufbau der Anekdote bestimmt zu haben.
So ist das Wahre in seiner dargestellten Form für Plinius zwar ein denkbares Potential der Malerei, ein Potential des Malers aber ist es deshalb noch lange nicht. Dieser Logik entsprechend signalisiert auch dessen Scheitern weniger eine handwerkliche Unzulänglichkeit als vielmehr die eingestandenen Grenzen einer Kunst, die nur Nachahmung wäre. Hätte Protogenes den Schaum selbst malen können, es wären die zweifelsohne begabten, von gewöhnlicher Malerei aber kaum unterscheidbaren Bemühungen seiner Hand geblieben. So aber wird das Scheitern des Malers zu der unverzichtbaren Voraussetzung einer Darstellung, die einsichtig und nachvollziehbar gerade diese Grenze überschreiten will. Das Paradox einer dargestellten, der Malerei aber eigentlich unzugänglichen Wahrheit löst Plinius, indem er einfach die problematische Figur, eben den verständnislosen und damit diskreditierten Maler, umgeht. Protogenes versteht also seine Sache besser als andere, wenn er die Vergeblichkeit seiner Mühen erkennt und dem »Zufall« ermöglicht, die Darstellung von seiner gestalterischen Willkür und dem höchst artifiziellen Kontext seines Mediums zu befreien. Erst als er das Malen aufgibt und sich im Zorn selbst zu einer unmittelbaren Reaktion hinreißen lässt, streift endlich der Schwamm die Tafel nicht weniger unwillkürlich, wie der Schaum aus der Schnauze des Hundes tritt. Diese notwendige Einsicht in sein Bildsujet gewinnt der Maler aber nur unter Verzicht auf seine Kunst. In diesem Augenblick ist die Darstellung des Unwillkürlichen allerdings schon selbst ein unwillkürlicher Akt und damit eine Konstellation beschrieben, unter deren Bedingung sich »Naturwahrheit« unter die Farben des Tafelbildes mischen kann.
Es mag sein, dass meine Interpretation dem kurzen Beispiel der plinischen Naturalis Historiae zu viel abverlangt. Was ich hier aufzufinden meinte, ist sicherlich nicht mehr als die historische Spur eines Problems, das erst in späteren Jahrhunderten seine ganze Komplexität entfalten wird. Und dennoch: die plinische Anekdote vermittelt durch ihre Konstellation auch eine Vorstellung davon, was man über ihren historischen Kontext hinaus im Hinblick auf visuelle Medien sinnvoll das Authentische einer Darstellung nennen kann – das sich abzeichnende Modell möchte ich kurz in drei wesentlichen Punkten skizzieren:
1.) Zum einen steht vor der unmittelbaren Entstehung des Bildes das Eingeständnis einer grundlegenden Differenzerfahrung: In der Regel bezieht sich eine Darstellung auf etwas, das unabhängig von ihr existiert und das mit den Mitteln ihrer Kunst nur unvollständig, nicht allen Aspekten der Erscheinung entsprechend repräsentiert werden kann. Diese offenkundige Unstimmigkeit zwischen Darstellung und Darstellungsgegenstand zu leugnen würde ein magisches Bildverständnis und damit die Koinzidenz von Zeichen und Bezeichnetem voraussetzen, doch davon ist Plinius weit entfernt. Tatsächlich sieht er sich vielmehr dazu veranlasst, diese Differenz ausführlich zu thematisieren, denn erst durch das Scheitern des Malers tritt sie ja in das Bewusstsein des Lesers: Der von Protogenes gemalte Schaum kann die Spuren seiner Entstehung und damit die Unzulänglichkeit der Darstellung nicht verbergen – und darf es auch nicht.
Platon beschreibt diese grundlegende Differenz als elementares Defizit der Malerei. Wie eine undurchlässige Schicht trete sie zwischen Darstellung und Darstellungsgegenstand – undurchlässig vor allem aufgrund der unvermeidbaren Aspektierung durch die Darstellung und der fehlenden Einsicht ihres Malers. Diese Einschätzung schließt zwar die Möglichkeit aus, dem prinzipiellen Mangel des Mediums zu entgehen, das Wissen um die theoretische Fragwürdigkeit steht allerdings dem Interesse an einer authentischen Darstellung keineswegs entgegen. Tatsächlich kann eine Darstellung nur dann authentisch sein, wenn gleichzeitig auch die Möglichkeit besteht, dass sie es nicht ist – ein entsprechendes Darstellungsproblem würde andernfalls gar nicht erst entstehen.
2.) Die platonische Authentizitätsskepsis zielt auf eine konkrete Darstellungsform: die Nachahmungskunst. Sie produziere Trugbilder, indem der Maler mit seiner kunstvollen Annäherung der Darstellung an den Darstellungsgegenstand bis zur Ununterscheidbarkeit die Differenz nur durch äußerliche Ähnlichkeit, nicht aber wesentlich aufzuheben gedenke. Plinius hingegen beteuert nicht die Ähnlichkeit der geglückten Darstellung, sondern beschreibt das Verfahren ihrer Entstehung. Dem Leser wird so versichert, dass der im Affekt geworfene Schwamm weder einer darstellerischen Absicht des Malers noch den Regeln seiner Kunst folgt. Denn der Schwamm hinterlässt seine Spuren auf der Bildtafel ja vielmehr zufällig und unwillkürlich und behauptet damit einen wesentlichen Unterschied der Darstellung gegenüber bloßer Nachahmungskunst. Die eingestandenen Grenzen des Mediums werden dem Leser durch das Scheitern des Malers also nur deshalb vor Augen geführt, um sie gleich darauf mit der Pointe der Anekdote zu überwinden.
In dieser Hinsicht korrespondieren Authentizitätsskepsis und plinische Apologetik, da seine Authentizitätsbehauptung strukturell von dem platonischen Vorbehalt geprägt zu sein scheint. Dessen Skepsis antizipierend beschreibt Plinius die Authentizität der Darstellung als das Ergebnis eines nachvollziehbaren Verfahrens, das in dieser Konstellation verspricht, als transparentes Medium den zuvor von Platon beklagten erkenntnistheoretischen Abgrund zwischen Abbild und Welt zu schließen.4
3.) Folglich lässt sich die Authentizität einer Darstellung nicht denken ohne das wie auch immer vermittelte Wissen um seine Entstehung. Dieser letzte Aspekt ist nicht weniger entscheidend: Selbst wenn sich die Entstehung des wunderbar gemalten Hundes so zugetragen hätte, wie Plinius sie uns überliefert, dem Bild wäre seine besondere Qualität kaum anzusehen! Zumindest so lange nicht, wie der Betrachter ohne Kenntnis von der Entstehung des Bildes auch nicht von der Möglichkeit weiß, das Zufällige der Darstellung darin zu entdecken. Erst durch den plinischen Bericht präpariert und für die Suche nach marginalen Indizien geschult, werden aus den Pigmenten Spuren, deren Bedeutung die Phantasie des Betrachters entfesseln kann – zweifellos in der vermeintlichen Gewissheit, allein ihrer ikonographischen Evidenz zu folgen. Das Besondere der Darstellung ist letztlich eine Qualität der Beschreibung seiner Entstehung und ihre Authentizität somit primär ein rezeptiver Effekt. Erst in der Bildbetrachtung wird das kommunikative Versprechen der Anekdote durch die Phantasie des Betrachters eingelöst und damit jene ästhetische Spekulation ermöglicht, die in der Darstellung mehr zu sehen meint als nur die Pinselstriche eines gewöhnlichen Malers.
Natürlich ist die plinische Anekdote um den wunderbar gemalten Hund eine Legende, jedoch eine Legende auf zweierlei Weise: Bei einer semiotischen Überprüfung wird man schnell feststellen, dass auch die besondere Konstellation der Bildentstehung keinen Anlass bietet, das Paradox der vermittelten Unmittelbarkeit hinzunehmen. Die Spuren auf der Bildtafel sind genau genommen indexikalische Zeichen der resignativen Wut des Malers, und eben nicht – wie behauptet – eine unmittelbare Darstellung der unbewussten Instinkte des Tieres. Protogenes bleibt aller Beschreibung zum Trotz alleiniger Urheber einer Darstellung, die durch ihre Entstehung bestenfalls in Analogie zu den Affekten des Tieres gesetzt werden kann. Aber selbst wenn man dieser Verknüpfung folgt, ließe sich kaum mehr als Ähnlichkeit behaupten. Die Analogie als Evokation der sich einstellenden Naturwahrheit zu nehmen ist allein Authentizitätsbehauptung der Legende.
Begreift man allerdings die Authentizität der Darstellung als rezeptiven Effekt, kann dieser Aspekt durchaus vernachlässigt werden. Für den Betrachter der Darstellung spielen zeichentheoretische Erwägungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Ausschlaggebend ist vielmehr seine Bereitschaft, der jeweiligen Authentizitätsbehauptung zu folgen – oder nicht. Auch in dieser Hinsicht ist der plinische Bericht eine Legende, aber nun eine Bild-Legende in dem Wortsinn einer Leseanweisung oder Zeichenerklärung. Sie wäre somit als eine die Betrachtung des Rezipienten leitende Kontextinformation zu verstehen, die ihn erst dazu befähigt, die Zeichen auf dem Bild als Zeichen der Authentizität zu deuten. Auch wenn die Legende einer kritischen Betrachtung nicht standhalten kann, so muss man doch davon ausgehen, dass sie in dieser Konstellation offensichtlich auf eine Authentizitätssehnsucht des historischen Bildbetrachters abzielt und dementsprechend eine Bildentstehung beschreibt, unter deren Umständen dem Leser die Authentizität der Darstellung glaubwürdig erscheinen konnte.
Diese Umstände variieren mit dem jeweiligen historischen Kontext, dem Wissen des Lesers oder Bildbetrachters um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit authentischer Darstellung. Die Authentizitätsbehauptung orientiert sich dabei vorrangig an der jeweils formulierten Authentizitätsskepsis, deren Bedenken es ja mit der Legende argumentativ zu umgehen gilt.
Im Folgenden werde ich vorrangig diesen Aspekt der verschiedenen Bild-Legenden beschreiben – auch hier geleitet von der Annahme, dass die jeweilige Authentizitätsbehauptung strukturell von der sie begleitenden Authentizitätsskepsis und nicht von zeichentheoretisch ahistorischen Vorbehalten geprägt wird. Diese authentisierenden Legenden folgen, wie sich zeigen lässt, dem schon bei Plinius angedeuteten Modell, das allerdings in den kommenden Jahrhunderten immer feinere und subtile Konturen bildet. Die nächsten Beispiele sind dem unermesslichen Fundus der Legenden christlicher Kultbilder entnommen – entsprechend meiner Arbeitshypothese lassen auch ihre Beschreibungsformen sich erst verstehen vor dem historischen Hintergrund christlicher Bilderfeindlichkeit.
Für die frühen Christen der ersten Jahrhunderte stellte sich die Frage nach der Authentizität einer Darstellung nicht – oder besser gesagt: die Frage war schon entschieden, bevor man sie überhaupt stellen konnte. Das Bild, vor allem das Bild in seinem religiösen Gebrauch, wurde gemäß dem alttestamentlichen Bilderverbot mit allen Konsequenzen abgelehnt. Diese Haltung war riskant, zumal das heidnisch-antike Umfeld mit der christlichen Bilderlosigkeit unweigerlich Atheismus assoziierte. So sahen sich schon die ersten apologetischen Schriften zu einer abbildtheoretischen Debatte herausgefordert: »Kurz gesagt«, schreibt der Apologetiker Athenagoras im 2. Jahrhundert, »keines dieser [heidnischen] Bilder entging dem Schicksal, von Menschen hergestellt zu werden. Wenn sie nun Götter sind, […] was bedurften sie der Menschen und ihrer Kunst, um zu entstehen? Aber sie sind Erde, Stein und Holz und unnützes Werk« (zitiert nach THÜMMEL 1992: 30). Dass die frühen Christen heidnische Kultbilder und mit ihnen die Fremdgötterverehrung ablehnten, mag niemanden verwundern. Tatsächlich aber waren bildende Kunst und heidnischer Kult der Antike derart ineinander verstrickt, dass sich die Kirchenväter Hippolyt und Tertullian im 3. Jahrhundert dazu genötigt sahen, einfache Maler aus der christlichen Gemeinschaft auszuschließen, wenn diese ihre Tätigkeit nicht aufgeben wollten (vgl. GUYOT/KLEIN 1994: 35, 37ff.).5
Von einigen allegorischen Motiven abgesehen, konnte man sich andererseits aber auch eine Darstellung christlicher Glaubensinhalte mit den Mitteln der Malerei nicht vorstellen. Für die unumstößliche Glaubenswahrheit der Menschwerdung Gottes bot die Kunst des Malers keinerlei angemessene Form der Darstellung: »Wie könnte jemand etwas Unmögliches erreichen?«, erwidert Eusebius von Caesarea unmissverständlich die Anfrage der Tochter des ersten christlichen Kaisers Konstantin nach einem Bild Christi: »Wie könnte jemand von dieser so wunderbaren und unbegreiflichen Gestalt, wenn man überhaupt noch das göttliche und geistige Wesen Gestalt nennen darf, ein Bild malen?« (zitiert nach THÜMMEL 1992: 49). So sehr sich ein Maler auch abmühe, gibt Makarios Magnes in einem späteren Text zu bedenken, und wenn ihm mit der Darstellung der äußeren Gestalt vielleicht sogar vieles gelingen möge, so schaffe er dennoch »nicht das, was wahrhaftig ist«, und erschöpfe sich »vergeblich, weil er das in den Griff bekommen will, was sich dem Zugriff entzieht« (ebd.: 38).
Ungeachtet aller theologischen Vorbehalte tauchten indes schon bald erste Berichte von Christus- und Apostelbildern auf, wenn auch zunächst nur im Zusammenhang mit häretischen Sekten. So soll nach Irenäus von Lyon von den Karpokratianern das Bild Christi neben denen von Plato, Pythagoras und Aristoteles verehrt worden sein (vgl. LIPPOLD