Autismus, Trauma und Bewältigung - Brit Wilczek - E-Book

Autismus, Trauma und Bewältigung E-Book

Brit Wilczek

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Beschreibung

Erscheinungsbild und Aspekte des Erlebens von Autismus und Trauma weisen oft starke Ähnlichkeiten auf. Dabei sind Traumata nicht, wie früher angenommen, ursächlich für Autismus. Vielmehr birgt die autistische Grundstruktur ein erhöhtes Risiko für traumatische Erfahrungen, wie neuro- und entwicklungspsychologische Zusammenhänge und Erfahrungsberichte Betroffener deutlich machen. In der Psychiatrie und Psychotherapie sind autistische Besonderheiten der Wahrnehmung und des Erlebens bislang aber kaum bekannt, was häufig zu Fehldiagnosen und dem Scheitern therapeutischer Zusammenarbeit führt. Eine wirksame Psychotherapie traumatisierter Menschen im Autismus-Spektrum ist jedoch möglich, wenn die besonderen Herausforderungen, die spezifischen Bewältigungsstrategien sowie die oft besondere Resilienz der Klienten gewürdigt und in die Therapie einbezogen werden.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Autismus

1.1 Kurze Begriffsklärung »Autismus«

1.2 Wie entsteht Autismus?

1.2.1 Der Spektrumsbegriff – multifaktorielle Genese und Vielfalt der Ausprägungen

1.2.2 Neurobiologisch-entwicklungspsychologisches Modell

1.2.3 Primäre Reaktionen und Bewältigungsstrategien

1.3 Auswirkungen neurologischer Besonderheiten auf die psychische und sozio-emotionale Entwicklung

1.3.1 Die sozio-emotionale Entwicklung beim neurotypischen Kind

1.3.2 Der Soziale Autopilot – Entstehung und Funktionen

1.3.3 Die (tragische) Situation des autistischen Kindes

1.3.4 Das Drei-Ebenen-Modell

1.3.5 Das Zwei-Welten-Modell

1.4 Spezifische Aspekte autistischen Erlebens

1.4.1 Die Welt als überwältigendes Chaos

1.4.2 Das Anders-Sein und seine Folgen

1.4.3 Die grundlegende Unsicherheit: Wer bin ich? Bin ich »richtig«? Was wird erwartet? Ist alles in Ordnung?

1.4.4 Das Gefühl der Unvorhersehbarkeit: »Jederzeit kann etwas Unvorhergesehenes passieren und alles anders sein.«

1.4.5 Das Erleben von Fremdbestimmung: »Ich verstehe nicht warum und wozu ...«

1.4.6 Traumatische Erfahrungen von Abwertung, Mobbing und Gewalt: Plötzliche oder systematische Angriffe und Würdeverletzungen, die ungeklärt und unerklärlich bleiben

1.4.7 Das »Geworfen-Sein« auf sich selbst

1.5 Spezifische Ressourcen und autistische Bewältigungsstrategien

1.5.1 Spezifische Ressourcen von Menschen im Autismus-Spektrum

1.5.2 Autistische Bewältigungsstrategien – und ihre Wirkung nach außen

1.6 Psycho-soziale Folgen des Anders-Seins

1.6.1 Befremden

1.6.2 Konflikte (innere und äußere)

1.6.3 Bullying und Mobbing

1.6.4 Manipulation und Ausbeutung

1.6.5 Auswirkungen auf die Entwicklung der persönlichen und sozialen Identität

1.6.6 Selbstwert versus Selbstzweifel bis zum Selbsthass

1.7 Klischees, Vorurteile, Stigmatisierungen und ihre Folgen in sozialen und therapeutischen Kontexten

1.7.1 Nicht erkannt

1.7.2 Nicht verstanden

1.7.3 Nicht geglaubt

1.7.4 Über- und Unterforderung

2 Trauma

2.1 Trauma – Begriffsklärungen und Einordnungen

2.1.1 Differenzierung von Traumabegriffen

2.1.2 Diagnostische Einteilung von Traumafolgestörungen

2.2 Wie entsteht ein psychisches Trauma?

2.2.1 Unterscheidungen nach Entstehungskontext

2.2.2 Entscheidende Faktoren für traumatisches Erleben

2.2.3 Individuelles Erleben potentiell traumatischer Ereignisse

2.2.4 Krise und Resilienz

2.2.5 Interpersonelles Trauma

2.3 Kommunikation als ein kritischer Faktor bei der Entstehung und Bewältigung von Traumafolgestörungen

2.3.1 Faktoren, die Kommunikation erschweren oder unmöglich machen

2.3.2 Auswirkungen gescheiterter Kommunikation

2.3.3 Die Wirksamkeit gelingender Kommunikation des Traumaerlebens

2.4 Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf die Psyche und das sozio-emotionale Erleben

2.4.1 Intrusion

2.4.2 Konstriktion

2.4.3 Hyperarousal/vegetative Übererregung

2.4.4 Zusätzliche Traumafolgen bei einer kPTBS

2.4.5 Traumaspuren im Körper und im Körpererleben

2.5 Die zentrale Funktion des Autonomen Nervensystems: (Trauma-)‌Symptome als Überlebens- und Bewältigungsstrategien

2.5.1 Die Funktionen des Autonomen Nervensystems

2.5.2 Über die Funktionalität von Stressreaktionen

2.5.3 Die große Gemeinsamkeit menschlicher Bewältigungsstrategien

2.5.4 Funktionalität und Dysfunktionalität von Bewältigungsstrategien im Lebensverlauf

3 Autismus und Trauma

3.1 Autismus: erhöhte Vulnerabilität trifft größere Gefährdung

3.1.1 Faktor 1: Besonderheiten der Reizverarbeitung

3.1.2 Faktor 2: Besonderheiten im Denken – Irritation, Befremden, »Wrong-Planet«

3.1.3 Faktor 3: Kein Sozialer Autopilot – Irritationen in der Interaktion, Konflikte, Kontaktabbrüche

3.1.4 Faktor 4: Anders-Sein: Wer auffällt, wird schnell zum Opfer von Entwürdigung und Gewalt

3.1.5 Faktor 5: Die Gefahr von Missbrauch, Ausbeutung und anderen Übergriffen kann nicht eingeschätzt werden bzw. wird vom Betroffenen nicht oder zu spät erkannt

3.1.6 Faktor 6: Das Trauma des unlösbaren inneren Konflikts

3.2 Parallelen zwischen ASS und (k)‌PTBS: Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild und im Erleben

3.2.1 Ähnlichkeiten in Erscheinungsbild und erkennbarer Symptomatik

3.2.2 Gemeinsamkeiten des Erlebens und der Bewältigungsstrategien

3.2.3 Menschliche Gemeinsamkeiten der Grundbedürfnisse und Bewältigungsstrategien

3.3 Differentialdiagnostische Überlegungen

3.3.1 Wichtig für die Diagnostik: Vorsicht vor Verwechslungen oder Vernachlässigung von Hinweisen auf ASS und/oder (k)‌PTBS

3.3.2 Wesentliche Unterschiede im Hinblick auf Struktur und Entwicklung

3.4 Wechselwirkungen zwischen ASS und zusätzlicher (k)‌PTBS

3.4.1 Problem verstärkende Wechselwirkungen zwischen ASS und (k)‌PTBS

3.4.2 Resilienz stärkende Wechselwirkungen zwischen ASS und (k)‌PTBS – Spezifische Ressourcen durch autistische Verarbeitungsweise, Bewältigungsstrategien und Erfahrungshintergrund

4 Bewältigung – Resilienz, Bewältigungsstrategien und therapeutische Begleitung

4.1 Resilienz und Traumabewältigung bei Menschen im Autismus-Spektrum

4.1.1 Resilienz schwächende Faktoren

4.1.2 Resilienz stärkende Faktoren

4.2 Spezifische Ressourcen zur Resilienz und Traumabewältigung von Menschen im Autismus-Spektrum

4.2.1 Zwei spezifische Resilienzfaktoren

4.2.2 Autistische Bewältigungsstrategien – Funktionen zur Traumabewältigung?

4.3 Schlussfolgerungen für die psychotherapeutische Praxis

4.3.1 Klientenzentrierung

4.3.2 Erkennung und Anerkennung einer autistischen Grundstruktur als wichtige Faktoren für einen fruchtbaren therapeutischen Prozess

4.3.3 Die Bedeutung von Psychoedukation über Autismus und Trauma (»Top-down«)

4.3.4 Ausdruck, Kommunikation und Würdigung als Schlüssel zur Bewältigung erlittener Traumata und aktueller Herausforderungen

4.3.5 Ressourcenorientierung zur Verbesserung von Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Selbstsicherheit

4.3.6 Erschließung konkreter Körpererfahrung als oft unentdeckte Ressource in der Psychotherapie (»Bottom-up«)

4.3.7 Wirkfaktoren in der Psychotherapie Betroffener mit ASS – und mit Traumafolgestörungen

4.3.8 Der Weg aus dem autistischen Dilemma: Entwicklung einer neuen, stimmigen und ganzheitlichen Identität – auch als Basis für Erfahrungen der Sicherheit in Verbundenheit

4.3.9 Fazit: Alles dreht sich um Sicherheit

Nachwort und Ausblick

Literatur

Die Autorin

Dipl.-Psych. Brit Wilczek ist psychologische Psychotherapeutin. Seit 1989 arbeitet sie mit Menschen im Autismus-Spektrum, seit 2009 in eigener Praxis. Dort bietet sie Psychotherapie für Erwachsene im Autismus-Spektrum an, berät Angehörige und Bezugspersonen. Seit 1997 teilt sie ihre Erfahrungen mit Fachkräften der Medizin, Psychologie und Pädagogik im Rahmen von Fortbildung und Supervision.

Brit Wilczek

Autismus, Trauma und Bewältigung

Grundlagen für diepsychotherapeutische Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Für Maja, Anja und Marie... stellvertretend für all jene, die durch ungeheure Schrecken und Wirrungen hindurch ihren goldenen Kern bewahren, ihn auf ihre ganz eigene Weise entfaltenund in die Welt hineintragen.Euch allen gilt mein Dank und meine Hoffnung.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041835-6

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041836-3epub: ISBN 978-3-17-041837-0

Vorwort

Das Thema dieses Buches beschäftigt mich schon lange in vielfältiger Weise. Es begegnete mir sowohl in meiner Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch in der theoretischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Erklärungsansätzen für Autismus.

Zunächst einmal stand für mich die wesentliche Erkenntnis im Vordergrund, dass Autismus nicht durch ein Trauma ausgelöst wird, so wie frühere Theorien es vermuteten. Mit seiner Einordnung unter die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen war diese These vom Tisch. Dass dies eine wichtige Entwicklung war, wurde mir immer wieder in der Praxis deutlich. Bereits in meinem Berufspraktikum als Tanztherapeutin am Hamburger Autismus Institut Anfang der 1990er Jahre begegneten mir nicht nur betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sondern auch ihre Familien. In den diagnostischen Fragebögen und auch in den Gesprächen mit Angehörigen, denen ich von Beginn an beiwohnen und an denen ich alsbald auch selbst mitwirken durfte, zeigte sich mir in fast jedem Fall das Bild von Angehörigen, die angesichts der Besonderheiten und auch der Not ihrer Kinder zutiefst verunsichert waren. Geradezu verzweifelt suchten sie vermeintliche Fehler oder Schuld bei sich selbst, nur um Erklärungen, Lösungen und Hilfsmöglichkeiten für ihre Kinder und Familien zu finden. In den Gesprächen wurde deutlich, wie sehr sie sich von Beginn an um ihr Kind bemühten, das sich als Säugling oft nicht beruhigen ließ, das aus unerfindlichen Gründen schnell verstört und überfordert war und so offensichtlich bestimmte Objekte, Reizangebote und Rituale brauchte, um sich sicher zu fühlen.

Wenn Angehörige durch die Psychoedukation erfuhren, dass wir Diagnostiker sie nicht – wie oft zuvor andere Fachkräfte – für die offensichtliche, tiefgreifende Problematik ihres Kindes verantwortlich machten, war ihnen die Erleichterung deutlich anzumerken. Sie fassten wieder Mut.

Dieser entlastende Effekt auf die Angehörigen wirkte sich nachhaltig auf das gesamte Familiensystem und auch auf die Entwicklung der Kinder aus. Mit professioneller Hilfe und viel eigener Kreativität der Familien konnten Möglichkeiten gefunden werden, um die betroffenen Kinder gezielt zu entlasten und zu unterstützen. Für die Betroffenen selbst eröffneten sich so Wege, in und mit der Welt besser zurechtzukommen und sich auch mit ihren eigenen Stärken zu entfalten.

Angesichts dieser Erfahrungen wurde es mir ein großes Anliegen, das alte Klischee und den dahinterliegenden »Kurzschluss« in der Kausalitätsbildung – »Was ähnlich aussieht wie Trauma, muss ein Trauma zur Ursache haben. Der Grund für den Autismus ist also mangelnde Liebe und Fürsorge von Seiten der Eltern oder sogar Verwahrlosung und Misshandlung« – in meiner Arbeit zu benennen und alles dafür zu tun, dass alternative, schlüssige Erklärungsansätze an seine Stelle treten.

Erkenntnisse aus der Neurobiologie sowie aus Hypnotherapie und Tanztherapie ließen sich mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen aus der praktischen Arbeit verbinden. So entstanden einige Modelle, die Besonderheiten der Reizverarbeitung anschaulich und deren Auswirkungen auf das Erleben sowie auf die sozio-emotionale Entwicklung autistischer Menschen nachvollziehbar machen. Diese bewähren sich sowohl in der Psychoedukation im Rahmen der Diagnostik und der Psychotherapie als auch in der Beratung von Angehörigen und bei der Fortbildung und Supervision von Fachkräften verschiedener Tätigkeitsfelder.

In meiner Arbeit, insbesondere in der psychotherapeutischen Praxis, begegnen mir darüber hinaus immer wieder Menschen, die zusätzlich zu ihrer autistischen Grundstruktur und daraus resultierenden Herausforderungen auf vielfältige Weise traumatisiert sind – sei es durch jahrelanges Mobbing in der Schulzeit, sei es durch Gewalt in der Familie, Überfälle, Missbrauch oder nie verwundene Verluste. Einige berichten davon bereits während der Diagnostik oder im therapeutischen Erstgespräch. Bei anderen treten Erinnerungen an konkrete traumatische Erlebnisse erst sehr viel später zutage und können dann nach und nach kommuniziert, gemeinsam betrachtet und bearbeitet werden.

Was mich dabei immer wieder zutiefst beeindruckt, ist zum einen der immense Leidensdruck, der sich dabei zeigt, und zugleich eine Resilienz, die für mich oft kaum fassbar erscheint. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Autismus das Risiko für traumatische Erfahrungen deutlich erhöht, zugleich jedoch den Betroffenen Ressourcen bereitstellt und Bewältigungsstrategien ermöglicht, mit deren Hilfe sie auch massive und nachhaltige Traumatisierungen auf ihre Weise überstehen und zum Teil sogar auf bewundernswerte Weise bewältigen.

Auch begegneten mir immer wieder Betroffene, die sich mit Traumasymptomen auseinandergesetzt hatten und von sich sagten: »Wenn ich mir die Kriterien und Beschreibungen von Trauma so anschaue, bin ich eigentlich ständig durchs Leben selbst traumatisiert.«

Es waren vor allem solche Aussagen und Beobachtungen, die mich bewogen, mich eingehender mit dem Bereich der Traumafolgestörungen auseinanderzusetzen und Autismus und Trauma im Zusammenhang und in Wechselwirkungen zu betrachten. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung gab ich in Seminaren an Fachkräfte weiter.

Im Sommer 2021 meldete sich Herr Poensgen, Verlagsleiter beim Kohlhammer Verlag, bei mir und fragte mich, ob ich zu diesem Seminarthema nicht auch ein Buch verfassen könnte. Da ich selbst die Dringlichkeit sah, für die komplexen Zusammenhänge zwischen Autismus und Trauma zu sensibilisieren, jedoch auch auf Resilienz und Chancen zur Bewältigung hinzuweisen, sagte ich spontan zu.

In Vorbereitung auf die Erarbeitung habe ich mich mithilfe einiger hochgeschätzter Kolleginnen und Kollegen auf den Weg gemacht, vor allem das Thema Trauma noch eingehender zu erkunden, habe Literaturtipps eingeholt, verschiedene Autoren gelesen, Seminare belegt und Gespräche mit Betroffenen sowie mit erfahrenen Traumatherapeutinnen geführt. Erst dann machte ich mich ans Schreiben.

Das Ergebnis halten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in Händen.

Es ist ein Versuch, zwei sehr komplexe Themen zu fassen, in anschaulicher Weise zu vermitteln und miteinander in Zusammenhang zu bringen. Fertig ist ein solches Projekt meines Erachtens nie und ich bin mir sicher, dass ich auch während der nächsten Jahre dranbleiben und das Thema weiterentwickeln werde.

Ich wünsche mir, dass das Buch in der vorliegenden Form auf unterschiedliche Weise für seine Leserinnen und Leser nutzbar sein wird: als überschaubare Einführung in beide Grundthematiken – Autismus und Trauma – ; zur Auffrischung und Vertiefung oder auch als Anregung zu neuen Perspektiven für diejenigen, die sich mit Autismus, mit Traumafolgestörungen oder auch mit beidem schon auseinandergesetzt haben; und als Nachschlagewerk, um themengebunden mal ins eine mal ins andere Kapitel hineinzulesen.

Dieses Buch richtet sich vornehmlich an Fachkräfte aus den Bereichen der Psychotherapie, der Autismus-Therapie, der Psychiatrie und Neurologie sowie auch der Pädagogik – denn ich bin davon überzeugt, dass jede Fachkraft in diesen Tätigkeitsfeldern beiden Themen einzeln und in Kombination begegnet.

Mir ist bewusst, dass auch Betroffene und Angehörige Interesse an dieser Veröffentlichung haben werden und sie sind selbstverständlich herzlich eingeladen, es vor ihrem jeweiligen eigenen Erfahrungshintergrund zu lesen. Dabei bitte ich um Verständnis, dass ich mich diesmal an einigen Stellen stärker der Fachsprache bediene als in meinem ersten Buch (Wilczek 2023). Dennoch hoffe ich, die wesentlichen Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar zu machen, so dass jeder etwas für sich herausziehen kann.

Danken möchte ich an dieser Stelle den Kolleginnen und Kollegen Ulrich Schmetjen, Karen Ritterhoff und Dorothee Schäfer für wertvolle Literaturtipps und fruchtbaren Austausch zum Thema Trauma. Besonderer Dank gilt darüber hinaus Dorothea Thomassen und Friederike Rampacher fürs aufmerksame Gegenlesen des Manuskripts, konstruktive Kritik und viele wertvolle Anregungen. Herrn Ruprecht Poensgen danke ich für die Idee und die Einladung, das Thema für den Kohlhammer Verlag in ein Buch zu fassen, sowie Kathrin Kastl, die das Projekt als Lektorin freundlich, einfühlsam und professionell begleitet hat.

Ganz besonders jedoch danke ich allen Klientinnen und Klienten, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt und reflektiert, mir wertvolle Literaturtipps und Quellenhinweise gegeben – und nicht zuletzt auch während des Schreibprozesses mitgefiebert haben. Ohne Eure Präsenz und Offenheit, Euren Mut und Eure Bereitschaft wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich, dass sie für sich etwas aus der Lektüre mitnehmen, was ihnen neue Erkenntnisse bringt, Perspektiven eröffnet, die eine oder andere Frage beantwortet – und zu vielen neuen Fragen anregt.

Kiel im Oktober 2023Brit Wilczek

Ein paar Worte zur Gender-Regelung:Da mir die Lesbarkeit des Textes und die Verständlichkeit der darin dargelegten Gedanken sehr wichtig sind und ich weiß, dass auch an sich gute Regelungen wie das Gendersternchen viele Menschen beim Lesen komplexer Sachverhalte irritieren, habe ich mich entschlossen, so weit wie möglich die weibliche wie die männliche Form abwechselnd bzw. in ausgewogenem Maße zu nutzen und wo es möglich ist auf eine binäre Geschlechtszuweisung zu verzichten. Dabei ist mir bewusst, dass sich nonbinäre Personen in dieser Lösung oft nicht ausreichend wiederfinden. Ich bitte hierfür um Nachsicht und möchte an dieser Stelle versichern, dass ich alle Menschen, unabhängig davon, ob und welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, gleichermaßen meine, wertschätze und in meine Gedanken miteinschließe.

1 Autismus

Ziel dieses Kapitels ist es zunächst einige wesentliche Themen und Begrifflichkeiten zum Phänomen Autismus darzustellen und in die Erfahrungswelt von Menschen mit Autismus so weit einzuführen, dass sie auch für neurotypische Leserinnen und Leser nachvollziehbar wird. Dabei möchte ich einige für unsere Thematik besonders interessante Aspekte herausgreifen, so dass wir sie später im Kontext mit dem Thema Trauma und Traumafolgestörungen gemeinsam betrachten und schließlich Ansätze zur Bewältigung ableiten bzw. nachvollziehen können.

1.1 Kurze Begriffsklärung »Autismus«

Der Begriff »Autismus« wird heute immer selbstverständlicher in unterschiedlichsten Sinnzusammenhängen gebraucht und ist längst aus dem Bereich der medizinischen und psychologischen Fachsprache herausgetreten. Dabei hatte er sich schon in den professionellen Kontexten weiterentwickelt und damit zunehmend von seinem ursprünglichen Wortsinn entfernt. Zum eingehenden Verständnis der Wortbedeutung und des bezeichneten Phänomens erscheint es sinnvoll, sich des ursprünglichen Kontextes und der Idee des Begriffs zu besinnen, ehe das dahinterstehende »autistische« Erleben exploriert und im Zusammenhang mit dem Begriff und Erleben des psychischen Traumas betrachtet wird.

Anfang des 20. Jahrhunderts: Eugen Bleuler, Psychiater und Leiter der Burghölzli-Klinik in Zürich (1898 – 1927) prägt den Begriff »Autismus« zur äußeren Beschreibung eines Zustandes, den er bei unterschiedlichen Patientinnen und Patienten in seiner Arbeit beobachtet: Dem Außenstehenden erscheint die betreffende Person so, als sei sie ganz bei sich selbst. Der Betrachter ist sich nicht sicher, ob sie ihn oder andere Anwesende überhaupt bemerkt oder einen Wunsch nach Kontakt verspürt.

Um dieses Phänomen begrifflich zu fassen, nimmt Bleuler das griechische Wort »autos«, das Selbst, und leitet daraus den Begriff »Autismus« im Sinne von »Ganz-bei-sich-selbst-Sein« ab. Da sowohl mit der Beschreibung als auch mit dem Begriff offenbar viele Kollegen etwas anfangen können, etabliert er sich in der Fachsprache zur Beschreibung dieses – von außen so wahrgenommenen – Zustandes.

Jahrzehnte später greifen Leo Kanner und Hans Asperger – beide Kinder- und Jugendpsychiater – unabhängig voneinander den Begriff auf, um jeweils eine Gruppe von Kindern zu beschreiben, die ihnen in ihrer Arbeit auffallen. Leo Kanner – damals tätig am Johns Hopkins Hospital in Baltimore, Maryland, USA – werden Kinder vorgestellt, die zu seinem Erstaunen von Anfang an »autistisch« wirken, aus sich heraus keinen Kontakt zu Mitmenschen aufnehmen, auf Ansprache nicht reagieren und keine oder kaum Sprache entwickeln. Diejenigen unter den von ihm beschriebenen Kindern, die sprechen lernen, nutzen die Sprache nicht oder nur in Ansätzen zur Kommunikation bzw. zum Selbstausdruck. Ein Dialog mit anderen Personen kommt nicht oder kaum zustande. In der Folge erscheint auch das Denken und Lernen beeinträchtigt sowie letztlich die kognitive Entwicklung erschwert.

Bis dahin war Autismus in psychiatrischen Fachkreisen nur als ein Phänomen im Kontext einer Schizophrenie verstanden und beschrieben worden. Was Kanner bei diesen oft noch sehr jungen Kindern sieht, ist jedoch aus seiner Sicht etwas Eigenes. Um dieses Bild vom allgemeinen Begriff des Autismus abzusetzen, führt er als Bezeichnung die diagnostische Kategorie »Frühkindlicher Autismus« ein.

Bei den Kindern, die Hans Asperger fast zeitgleich in der Heilpädagogischen Fakultät in Wien als »autistisch« auffallen, scheinen hingegen die Sprach- und Kommunikationsentwicklung sowie die der kognitiven Fähigkeiten kein Problem zu sein. Im Gegenteil zeigen sich die von ihm beschriebenen Jungen mindestens durchschnittlich begabt und eloquent, oft sogar deutlich weiter in ihrer Sprachentwicklung als ihre Altersgenossen. Dennoch kommen sie mit ihren Mitmenschen, besonders mit Gleichaltrigen, nicht zurecht. Sie haben Schwierigkeiten, sich in Gruppen zu integrieren, weisen ganz eigene Wahrnehmungs- und Denkweisen auf. Aufgrund ihrer unerklärlichen Probleme im sozialen Miteinander, einer Tendenz zum Rückzug und einer Fokussierung auf eigene Interessen und Aktivitäten beschreibt Asperger sie, ganz im damaligen Sprachgebrauch, als »autistische Psychopathen«.

Aus verschiedenen, auch zeitgeschichtlichen Gründen, verbreitet sich zunächst das Bild des Frühkindlichen Autismus nach Kanner. Er kann in den USA frei forschen und veröffentlichen. Die Publikationen erfolgen auf Englisch, so dass sie international rezipierbar sind und sich dementsprechend verbreiten.

Die Arbeit von Hans Asperger geht hingegen zunächst unter, bis sie Mitte der 1980er Jahre von Lorna Wing und Kolleginnen in England wiederentdeckt wird. Sie sorgen dafür, dass seine Publikationen zum Thema Autismus ins Englische übersetzt (Frith 1991) und seine Beobachtungen und Erkenntnisse intensiv beforscht werden. Ab Mitte der 1990er Jahre bildet die von ihm beschriebene Variante des Autismus eine eigene diagnostische Kategorie: Asperger-Syndrom (ICD-10) oder Asperger-Störung (DSM IV).

Diese neue Kategorisierung befeuert die Autismus-Forschung weiter. Sie möchte klären, ob und inwiefern sich die Varianten in ihrer Symptomatik und in ihrer Ätiologie klar voneinander unterscheiden lassen.

Schließlich, nach zwanzig Jahren, wird offiziell konstatiert: Es gibt keine klaren Abgrenzungen, sondern fließende Übergänge – und so wird der alle bisherigen Kategorien umfassende Begriff Autismus-Spektrum geprägt. Dieser wird nun in die offiziellen diagnostischen Manuale aufgenommen: zunächst, 2015, in den DSM 5, später auch in den ICD-11.

Fortan sollen also »Autismus-Spektrum-Störungen« diagnostiziert und behandelt werden. Alle formalen Kategorisierungen innerhalb des Spektrums sind damit aufgehoben. Dies geschieht – im Sinne des DSM – zugunsten einer im zweiten Schritt geforderten Beschreibung der individuellen Ausprägung des Autismus; und im dritten Schritt einer daraus abgeleiteten Feststellung der jeweiligen Hilfebedarfe. Denn, das hat die Forschung ergeben: Es gibt keine zwei gleichen Ausprägungen von Autismus. Jedes Individuum nimmt auf ganz eigene Weise wahr, erlebt und verhält sich anders; und jedes braucht Entlastungen oder Hilfen in unterschiedlichem Maße und in ganz verschiedenen Bereichen. Es verbietet sich daher, pauschal von einer auf die andere betroffene Person zu schließen.

Die Entwicklung des klinischen Autismus-Begriffs

Ursprüngliche Bedeutung: Ein von außen so wahrgenommener Zustand des »Ganz bei sich selbst Seins« einer Person, die unter einer psychiatrischen Erkrankung, z. B. einer Schizophrenie, leidet.

Entwicklung hin zum diagnostischen Begriff:Beschreibung eines Phänomens, das bei Kindern wahrgenommen wird, unabhängig von einer psychischen Erkrankung, vielmehr als Auffälligkeit »von Anfang an«.

Definition diagnostischer Kategorien und Aufnahme in Manuale DSM und ICD:

Erste diagnostische Kategorie: Frühkindlicher Autismus nach Kanner

Zweite diagnostische Kategorie: Asperger-Störung bzw. Asperger-Syndrom

Atypischer Autismus als dritte Kategorie für Personen, die insgesamt ein autistisches Bild aufweisen, jedoch nicht alle notwendigen Kriterien erfüllen, um einer der beiden Kategorien zugeordnet zu werden.

Autismus-Spektrum als alle klinisch-autistischen Erscheinungsformen umfassender Begriff

Aufnahme der Diagnose Autismus-Spektrums-Störung in DSM 5 und ICD-11

1.2 Wie entsteht Autismus?

1.2.1 Der Spektrumsbegriff – multifaktorielle Genese und Vielfalt der Ausprägungen

Der Begriff des Autismus-Spektrums (AS) und auch die Vorgaben des DSM 5 zur Diagnostik dokumentieren, dass tatsächlich jede Person im Autismus-Spektrum individuell betrachtet und beschrieben werden muss, woraus sich auch jeweils ganz eigene Bedarfe hinsichtlich notwendiger und angemessener Maßnahmen zur Entlastung und Unterstützung ergeben. Konkret heißt das: Jede Person im Spektrum weist ihre ganz eigene Wahrnehmungsweise, ein eigenes Erleben und eigene Bewältigungsstrategien auf. Daraus ergeben sich individuell unterschiedliche Herausforderungen sowie auch Ressourcen und nach außen hin eine große Varianz an Erscheinungsbildern und Verhaltensweisen. Angesichts einer derartigen Vielfalt an Ausprägungen stellt sich die Frage, was den umfassenden Begriff des Autismus-Spektrums rechtfertigt und was das Phänomen des klinischen Autismus wohl im Kern ausmacht.

Meiner Erfahrung nach lässt sich diese Frage besser beantworten, wenn wir spezifische Besonderheiten in der neuronalen Entwicklung autistischer Menschen im Vergleich zu nicht-autistischen, sogenannten neurotypischen Menschen betrachten und deren Folgen auf das Erleben und die Entwicklung nachvollziehen. An anderer Stelle habe ich die entsprechenden Modelle bereits ausführlicher dargestellt (Wilczek 2023) so dass ich hier nur eine kurze Zusammenfassung anbieten möchte.

Was bedeutet »tiefgreifende Entwicklungsstörung«?

Das gesamte Autismus-Spektrum ist diagnostisch unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen eingeordnet. Mit dieser Einordnung sind zugleich alle früheren Erklärungsansätze des Phänomens hinfällig, die angesichts ähnlicher äußerer Erscheinungsbilder von einer Psychogenese ausgingen, die also etwa ein Trauma oder mangelnde Liebe und Fürsorge in der Kindheit als Ursachen für Autismus annahmen.

Autistische Kinder weisen häufig ähnliche Verhaltensweisen auf wie traumatisierte, deprivierte oder in anderer Weise bindungsgestörte Kinder. Daher wurde im Rückschluss interpretiert, dass auch die Ursachen des Autismus in einem Trauma oder in mangelnder Fürsorge und Zuwendung seitens der primären Bezugspersonen liegen müssten. Die Annahme dieser Kausalität ist jedoch längst sicher widerlegt.

Stattdessen wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, bei der die Genetik eine wesentliche Rolle spielt. Demnach beeinflussen genetische Faktoren die Art und Weise, wie sich das zentrale Nervensystem strukturell entwickelt und wie sich demnach die Reizverarbeitung gestaltet.

Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis finden sich zunehmend Hinweise, dass sowohl die Filterung als auch die zentrale Verarbeitung von Sinnesreizen beim Verständnis des klinischen Autismus eine entscheidende Rolle spielen. Dies lässt sich mit der These verbinden, dass genetische und epigenetische Einflüsse in der Entwicklung zusammenspielen und einander ergänzen.

In der praktischen Arbeit – bei der Diagnostik wie der Therapie – hat sich ein neurobiologisches und entwicklungspsychologisches Modell bewährt, das Betroffenen, Angehörigen und anderen Bezugspersonen sowie Fachkräften aus medizinischen, psychologischen, sozialen und pädagogischen Bereichen hilft, autistisches Erleben und Verhalten leichter zu verstehen.

1.2.2 Neurobiologisch-entwicklungspsychologisches Modell

Zum Verständnis autistischen Erlebens sowie als autistisch beschriebener Verhaltensweisen hat sich ein Konzept bewährt, das neurobiologische Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Entwicklungspsychologie verbindet. Ich verwende diesen Ansatz seit vielen Jahren bei der Psychoedukation sowohl in der Diagnostik als auch in der Beratung und Psychotherapie und er stößt bei Betroffenen, ihren Angehörigen sowie auch bei Fachkräften verschiedener Arbeitsfelder auf eine erfreuliche Resonanz.

Jedes Kind nimmt bereits im Mutterleib über die sich entwickelnden Sinneskanäle vielfältige Reize wahr, wie beispielsweise Druck, die eigene Außenfläche, Reibung zwischen den eigenen Gliedmaßen, nach und nach Körpergeräusche der Mutter sowie Stimmen und Klänge, die durch die Bauchdecke hereindringen, den Geschmack des Fruchtwassers, Lichtunterschiede etc. Das Wahrgenommene wird verarbeitet, gespeichert und wiedererkannt. Dies lässt sich daran ablesen, dass das Kind bereits im Mutterleib jeweils unterschiedlich reagiert, je nachdem, welche Stimuli einwirken. Allerdings ist die potentielle Reizzufuhr hier noch reduziert. Im Moment der Geburt verlässt das Kind die bisherige Schutzhülle und ist auf einmal einer großen Fülle von Reizen ausgesetzt. Diese plötzliche, starke Reizzufuhr regt die Bildung neuer Nervenzellen geradezu explosionsartig an. Bis zum dritten Lebensjahr werden immer weitere Neuronen gebildet, doch dann stagniert diese Entwicklung. Es beginnt ein kontinuierlicher Abbau von Nervenzellen, die sich jedoch untereinander stärker verknüpfen.

Um die Funktionsweise der Neuronen im zentralen Nervensystem zu verstehen, bietet sich der Blick auf eine vereinfachte und schematische Darstellung an (▸ Abb. 1.1).

Abb. 1.1:Durch wiederholte gemeinsame Aktivierung entstehen klare Verarbeitungsmuster

Laut der Hebbschen Regel verknüpfen sich Neuronen, die gleichzeitig durch einströmende Reize aktiviert werden. Werden diese Nervenzellen kein zweites Mal gleichzeitig aktiviert, bilden sich die Erstverknüpfungen wieder zurück. Bei wiederholter gleichzeitiger Aktivierung jedoch verstärken die Zellen ihre Verbindungen untereinander. So entstehen klare, wiedererkennbare Verarbeitungsmuster im Gehirn. Auf diese Weise lässt sich der Prozess der Prägung (Priming) und des Lernens beschreiben. Die entstandenen Verarbeitungsmuster werden zeitlebens mit Reizmustern verglichen, die auf das Individuum einströmen (▸ Abb. 1.2). Wird hier eine Entsprechung festgestellt, löst dies im Gehirn einen sogenannten Kongruenzeffekt (Passungseffekt) aus: Es werden Hormone ausgeschüttet, die zum einen ein gutes Gefühl geben und zugleich neue Verknüpfungen zwischen den Zellen begünstigen.

Abb. 1.2:Reizmuster von außen verglichen mit gespeicherten Verarbeitungsmustern

Entscheidende Unterschiede der Reizverarbeitung bei Kindern mit Autismus

Das menschliche Nervensystem ist darauf ausgerichtet, aus der großen Fülle potentiell wahrnehmbarer Reize das Wesentliche herauszufiltern und zu verarbeiten. Dabei sind die einzelnen Sinneskanäle individuell unterschiedlich sensibel und die jeweilige Reizfilterung unterschiedlich stark ausgeprägt.

Die Reizfilterung eines Kindes mit autistischer Disposition ist generell weniger ausgeprägt, so dass es wesentlich mehr Reize aufnimmt als ein neurotypisches Kind – bis zu zehnmal mehr pro Augenblick (▸ Abb. 1.3). Dies kann vornehmlich einen bestimmten Sinneskanal wie etwa das Hören oder Sehen betreffen, meist sind es jedoch verschiedene Kanälen in unterschiedlicher Kombination, die Besonderheiten aufweisen – beispielsweise der auditiven Kanal und der haptisch-sensorische, während andere Sinneskanäle eine normale oder sogar weniger ausgeprägte Sensitivität aufweisen (Hyposensitivität) oder hyperselektieren, d. h. nur bestimmte Reize weiterleiten und andere abblocken.

Abb. 1.3:Mehr gleichzeitig eintreffende Reize – mehr Erstverknüpfungen

Insgesamt wird das Kind allerdings aufgrund wenig ausgeprägter Filterfunktionen einer wesentlich größeren Fülle von Reizen ausgesetzt sein. Diese Reizflut stellt von Beginn an eine außerordentliche Herausforderung dar und wirkt sich entscheidend primär auf die neuronale und sekundär auch auf die psychische und sozio-emotionale Entwicklung aus.

Auswirkungen auf die neuronale Entwicklung

Durch die größere Menge gleichzeitig einströmender Reize werden wesentlich mehr Nervenzellen gleichzeitig angesprochen und aktiviert. Diese sind darauf ausgelegt, sich bei gleichzeitiger Aktivierung zu verknüpfen, so dass von einer fortlaufenden, verstärkten Bildung neuer Erstverknüpfungen auszugehen ist (▸ Abb. 1.4). Die wesentlich größere Fülle neuronaler Verknüpfungen erschwert die Herausbildung klarer, wiedererkennbarer neuronaler Muster im Gehirn sowie auch den Vergleich und die Wiedererkennung von Reizmustern.

Abb. 1.4:Mehr Erstverknüpfungen erschweren Abgleich und Wiedererkennung

Eine Wiedererkennung, d. h. ein Kongruenzeffekt, kann allenfalls erfolgen, wenn ein wiederkehrendes Muster tatsächlich exakt gleich ist. Bei kleinsten Abweichungen findet kein Kongruenzeffekt statt. Die hierfür notwendigen neuronalen Prozesse, die eine spontane Sortierung und Einordnung neuer Reizmuster ermöglichen, geschehen meist verzögert und unter großen Schwierigkeiten.

In der Folge erlebt das Kind die Welt als Chaos, in dem es nur mühsam und allmählich einzelne, verlässlich gleichbleibende oder exakt wiederkehrende Reizmuster erkennen, identifizieren, zuordnen und sich daran orientieren kann. Eine Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund, eine Gestaltbildung oder, mit anderen Worten, die Bildung von Repräsentanzen und Metarepräsentanzen ist unter diesen Bedingungen höchst problematisch, wenn nicht gar unmöglich.

Zusammenfassung: Reizverarbeitung und neuronale Entwicklung

Eine Disposition zum Autismus zeichnet sich dadurch aus, dass Betroffene von Beginn an eine wesentlich größere Fülle an Reizen pro Augenblick aufnehmen als neurotypische Menschen. Jeden Augenblick strömt eine vielfache Anzahl an Stimuli gleichzeitig ins zentrale Nervensystem ein und aktiviert wesentlich mehr Neuronen gleichzeitig.

In der Folge bilden sich kontinuierlich sehr viele neue Erstverknüpfungen. Dies erschwert die Herausbildung von Verarbeitungsmustern und die Wiedererkennung von Reizmustern. Ein Kongruenzeffekt findet verlässlich nur dann statt, wenn ein Reizmuster tatsächlich exakt gleich ist – was bei Mustern und Objekten der Fall ist, die konstant gleichbleiben oder sich stets auf identische Weise wiederholen.

Wenn sich Strukturen nur schwer herausbilden und erkannt werden, sind die Gestaltbildung, die Entwicklung von Metarepräsentanzen und damit die Orientierung in der Welt massiv erschwert (vgl. Idee und Begriff der zentralen Kohärenz u. a bei Frith 1989, Happé & Frith 2006).

Die Umwelt wird von Beginn an als überwältigendes Chaos erlebt – eine Herausforderung, die für neurotypische Menschen nur schwer vorstellbar ist – und auf die jedes betroffene Kind auf ganz eigene Weise reagiert.

1.2.3 Primäre Reaktionen und Bewältigungsstrategien

Ein Kind, das die Welt vom ersten Moment an als überwältigendes Chaos erlebt, hat zunächst nur wenige Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Viele betroffene Kinder zeigen sich massiv gestresst, schreien und sind kaum zu beruhigen. Andere finden Schutz vor dieser Überforderung zunächst im Schlaf. Sie werden als besonders ruhige und pflegeleichte Säuglinge beschrieben, die – so scheint es – selbstgenügsam und still in ihrem Bettchen liegen und sich nicht melden, auch wenn sie aufgewacht sind.

Früher oder später wird jedoch jedes betroffene Kind für sich Strategien entwickeln müssen, wie es im wachen Zustand mit der ständig einströmenden, unüberschaubaren Reizfülle zurechtkommen kann. Diese Strategien werden so vielfältig und unterschiedlich sein wie die betroffenen Kinder selbst. Dabei spielen verschiedene genetische wie epigenetische Faktoren eine Rolle, wie beispielsweise die Konstellation und Ausprägung jeweils hyper- oder hyposensibler Sinneskanäle, Dispositionen der Persönlichkeitsentwicklung – wie z. B. eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur Ängstlichkeit – sowie das Umfeld, in das das Kind hineingeboren wird und damit verbundene sozial-epigenetische Aspekte.

Aufmerksamkeitsfokussierung und Trance als Bewältigungsstrategie

Eine grundlegende, menschliche Strategie zum Umgang mit einer großen Reizfülle ist die Trance: Durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte gleichbleibende oder wiederkehrende Reizmuster wird der Zustrom bzw. Einfluss anderer einströmender Reize reduziert oder gar ausgeblendet. Jeder Mensch hat und nutzt diesen Modus der Alltagstrance unwillkürlich in verschiedensten Situationen. Er ermöglicht es, auch in einer unruhigen Umgebung zu lesen, zu arbeiten, einem Gespräch zu folgen oder einfach eigenen Gedanken und Tagträumen nachzugehen. Währenddessen bildet dieser Trancezustand so etwas wie eine Schutzhülle. Wir nehmen einströmende Reize zwar noch mehr oder weniger entfernt wahr, jedoch erreichen sie uns nicht mehr unmittelbar und fordern nicht mehr unsere Aufmerksamkeit. Hinzu kommen weitere, spezifische Auswirkungen von Trancezuständen auf das Erleben und die Psyche, wie etwa Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit.

Glücklicherweise entdecken die meisten Kinder mit autistischer Reizverarbeitung diese schützende Trance als Bewältigungsstrategie früher oder später für sich. Jedes Kind wird seine individuellen Möglichkeiten entdecken und seine Aufmerksamkeit auf jeweils bestimmte Reizmuster fokussieren, um andere Reize auszublenden und in eine schützende Trance zu finden. Das können visuelle Muster und verlässlich wiedererkennbare Objekte sein, die sich besonders einprägen, es können auditive Muster wie Klänge, Klangfolgen oder Geräusche sein sowie auch haptisch-sensorische oder kinästhetische Wahrnehmungen, die sich wiederholen bzw. eigenständig generieren lassen – wie beispielsweise ein stereotypes Reiben eines Kissenzipfels oder auch der Finger gegeneinander, ein rhythmisches Schaukeln oder Wiegen.

Bewältigungsstrategien in der weiteren Entwicklung

So hilfreich die Entdeckung bestimmter konstanter bzw. verlässlich wiederkehrender Reizmuster und die Fokussierung darauf sein mag – ein Kind möchte nicht zeitlebens auf einige wenige Objekte festgelegt und von ihnen abhängig bleiben; es strebt wie jedes Individuum nach Weiterentwicklung.

Hierfür bieten sich Strukturen an, die zwar ein hohes Maß an Konstanz oder Verlässlichkeit bieten, jedoch schon etwas interessanter sind, da sie eine überschaubare und klar systematisch vorhersehbare Variation an Erscheinungsbildern und Funktionen aufweisen.

Beispiel: Deckenlampe

Gut nachvollziehbar wird dies am Beispiel einer Lampe: Sie behält stets ihre Form und meist auch ihren Standort, ist also bald gut wiedererkennbar und auch in einer Fülle veränderlicher Umgebungseindrücke auffindbar.

Jedoch hat sie bereits zwei Modi: an und aus. Durch Beobachtung lässt sich systematisch feststellen, dass der Modus sich ändert, wenn ein bestimmter Schalter betätigt wird. Der Schalter wird mit der Lampe assoziiert, dessen Betätigung mit der Änderung des Modus zwischen »an« und »aus«. Sobald das Kind mobiler wird und eigenständig den Schalter erreicht, kann es selbstwirksam diesen Wechsel auszulösen – und es wird eine verlässliche, vorhersehbare Reaktion von der Lampe erhalten.

Solche selbstwirksam auslösbaren, vorhersehbaren Reaktionen finden sich besonders in der technischen und in der physikalischen Welt – wenig ist so verlässlich wie die Schwerkraft. In der zwischenmenschlichen Welt findet sich eine solche Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit allerdings kaum. Aus diesen Überlegungen heraus erklärt sich die häufig beschriebene Hinwendung vieler Kinder im Autismus-Spektrum zu Gegenständen, später auch vielfach zu Fakten und systematischen Zusammenhängen.

Zugleich werden so auch die vielfältigen und gravierenden Schwierigkeiten in der sozio-emotionalen Entwicklung, im zwischenmenschlichen Miteinander und der Kommunikation begreiflich, die sowohl in der äußeren Betrachtung und Definition autistischer Verhaltensweisen zentral aufscheinen als auch von Betroffenen beschrieben werden. Um diese zu verstehen, lohnt es sich, sozio-emotionale Aspekte neurotypischer wie auch autistischer Entwicklungsverläufe zu betrachten.

1.3 Auswirkungen neurologischer Besonderheiten auf die psychische und sozio-emotionale Entwicklung

1.3.1 Die sozio-emotionale Entwicklung beim neurotypischen Kind

Als Säugetier ist ein Menschenkind bei seiner Geburt absolut hilflos und darauf angewiesen, dass jemand anwesend ist, der sich seiner annimmt, es schützt, es nährt und es lehrt, wie es überlebt und gut durch sein Leben kommt. Da Schutz, Geborgenheit, Versorgung sowie Möglichkeiten zu Bindung, Interaktion und Lernen für das Neugeborene existentiell sind, ist ihm – wie vielen anderen Spezies – mitgegeben, sich von Beginn an selbst mit darum zu kümmern, dass da jemand ist, der sein Überleben sichert.

Ein neurotypisches Kind wird baldmöglichst nach der Geburt die Augen öffnen und die Umgebung nach einem Gesicht absuchen. Genau sehen kann es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wenn jedoch ein Gesichtsschema – Punkt, Punkt, Strich – auftaucht, wird es dies erkennen und fixieren, und es wird dabei ruhig werden. Ein Gesicht bedeutet, dass es nicht allein ist, sondern jemand da ist, der sich um es kümmert. Taucht kein Gesicht auf, ist dies allerdings eine alarmierende Situation, denn es könnte sein, dass das Kind allein ist – die Mutter nach der Geburt aktionsunfähig oder gar verstorben ist, oder dass das Kind, etwa bei einer notwendig gewordenen Flucht, verloren gegangen ist. Dem Kind bleibt dann noch als Überlebenschance, auf sich aufmerksam zu machen, in der Hoffnung, gefunden und notfalls als Findelkind angenommen zu werden. Es wird schreien – jedoch still werden, sobald schließlich ein Gesichtsschema auftaucht, bei dem es »ankern« kann.

Zu Beginn ist das Kind nicht nur auf Schutz und Versorgung angewiesen, sondern in vielfacher Hinsicht auch auf Regulation durch seine Bezugspersonen, die ihrerseits auf seinen jeweiligen Zustand und Selbstausdruck reagieren, so dass eine gegenseitige Co-Regulation entsteht (Porges 2017). Um diesen Begriff und seine Bedeutung gerade in unserem Kontext zu erläutern, möchte ich an dieser Stelle einige wesentliche Aspekte der Polyvagaltheorie nach Stephen W. Porges darstellen, die m. E. für das Verständnis der Dynamik von Autismus und Trauma ausgesprochen hilfreich sind:

Ein Gesicht, sowie auch die bereits vertrauten Stimmen – vor allem die der Mutter – bedeuten für das Neugeborene: »Ich bin nicht allein. Ich bin sicher, geborgen, genährt, geschützt – alles ist in Ordnung.« (vgl. Hüther & Krens 2012).

Das Kind wird alle seine Sinne auf das menschliche Gegenüber richten: Es wird schauen, wird das Gesicht in seiner Lebendigkeit und Veränderlichkeit beobachten – und es wird schon während der ersten Augenblicke die Erfahrung machen, dass das Gesicht auf seinen eigenen spontanen Selbstausdruck reagiert. So macht es erste Erfahrungen der Selbstwirksamkeit im Kontakt mit einem Gegenüber.

Es wird die Stimme der Mutter hören – einen Klang, der ihm bereits im Mutterleib vertraut geworden ist, der aber nun noch einmal neu und anders erscheint.

Es wird erstmals Gerüche wahrnehmen, wird bei Berührung ein neues Gefühl für seine eigene Außenfläche, für Kühle und für Wärme empfinden.

All diese Eindrücke werden sich tief einprägen. Und das Kind wird auf seine Weise spontan darauf reagieren.

Im so beginnenden Wechselspiel mit vertrauten Personen erlebt das Kind sowohl Sicherheit und Geborgenheit als auch Selbstwirksamkeit und Resonanz – eine Basis für seine gesamte weitere Entwicklung.

Es wird fortan Eindrücke sammeln vom Ausdrucksverhalten einer Person in verschiedenen Situationen und Stimmungen; und es wird verschiedene Personen – Eltern, Geschwister, Großeltern, Nachbarn, Freunde – wiederum in unterschiedlichen Situationen und Stimmungen erleben.

Zugleich wird es immer vielfältiger erleben und speichern, was sein eigener, spontaner Selbstausdruck bei einem Gegenüber auslöst, wie es auf andere wirkt. In der sozialen Interaktion erlebt es so nicht nur »Sicherheit in Verbundenheit« (Porges 2017), sondern zugleich auch Selbstwirksamkeit in Verbundenheit (vgl. den Begriff der Co-Regulation, ebd.). Umgekehrt werden auch seine Bezugspersonen bei gelingender Co-Regulation durch die spontanen Reaktionen des Kindes mit ihm Freude, Sicherheit und eine Form von Geborgenheit empfinden. Es wächst gegenseitiges Vertrauen und Sicherheit in Verbundenheit.

»Das Schauen und Zuhören beinhaltet einen wichtigen Aspekt des Systems für soziales Engagement, insofern das Anschauen eines anderen Menschen einerseits ein Akt der Engagements ist und sich andererseits auf den körperlichen Zustand des Beobachters auswirkt«. (ebd., S. 26)

Aus all den gesammelten interaktiven Eindrücken und Erfahrungen mit vielfältigsten Bezugsobjekten wird beim neurotypischen Kind so von Beginn an das entstehen, was ich als Konstrukt den »Sozialen Autopiloten« nenne.

»Wie wir einander anschauen, ist ein wichtiger Ausdruck unserer Fähigkeit, zu anderen Menschen in Beziehung zu treten. Subtile Signale des Verstehens und übereinstimmender Gefühle und Absichten, die häufig mit dem Charakter der Prosodie co-variieren, kommunizieren auch den physiologischen Zustand. Nur in einem ruhigen physiologischen Zustand können wir anderen signalisieren, dass die aktuelle Situation für sie sicher ist. Diese Möglichkeiten, eine Verbindung herzustellen und Co-Regulation zu initiieren, entscheiden über das Gelingen von Beziehungen, nicht nur von Eltern-Kind-Beziehungen, sondern von Beziehungen ganz generell. ... Sobald wir uns der Sicherheit einer Situation vergewissert haben, beruhigt sich unsere Physiologie. Erkennen wir eine Gefahr, bereitet sich unsere Physiologie auf Defensivverhalten vor.« (ebd., S. 27)

1.3.2 Der Soziale Autopilot – Entstehung und Funktionen

Entstehung

Wer vom ersten Augenblick seines Lebens an seine Aufmerksamkeit auf ein Gegenüber richten kann, die stetigen Veränderungen in Blickverhalten, Mimik und Körperhaltung sowie Stimmlage und -modulation und allen anderen nonverbalen Ausdrucksformen registriert, diese mit anderen Wahrnehmungen verknüpfen und speichern kann, hat alle Voraussetzungen dafür, schon früh einen Sozialen Autopiloten (Wilczek 2023) zu entwickeln.

Die von Beginn gesammelten Eindrücke von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Situationen und Stimmungen werden ganz unwillkürlich wahrgenommen, neuronal verknüpft und gespeichert, ohne dass sich das Kind dessen bewusst wäre oder darüber reflektieren würde. Dieser fortlaufende Prozess erlaubt während des gesamten Lebens die unbewusste und autonome Verarbeitung immer neuer sozialer und interaktiver Erfahrungen – mit unterschiedlichsten Menschen in immer wieder neuen Kontexten.

Zugleich werden von Beginn an Erfahrungen mit der eigenen Selbstwirksamkeit gesammelt, ganz generell der eigenen (Ein-)‌Wirkung auf die Umwelt, jedoch vor allem auch auf andere Menschen.

Schon ein Neugeborenes wird während der ersten Interaktionen beispielsweise mit der Mutter feststellen, dass sie auf seine spontanen Verhaltensweisen reagiert: Verzieht das Kind das Gesicht, wird sich auch in Mutters Gesicht etwas verändern – und das verlässlich, wieder und wieder. Mit der Zeit, mit zunehmender Beweglichkeit und Ausdrucksvariation des Kindes wird es feststellen, dass die Mutter anders auf es reagiert, wenn es entspannt auf dem Wickeltisch liegt, als wenn es strampelt, weint oder spontan auf etwas zeigt. Der Vater wird wiederum anders auf das jeweilige Verhalten antworten als die Mutter, die Geschwister, die Nachbarin oder der Großvater. Ihre Reaktionen werden hier und da ähnlich und doch individuell eigen sein.

Auf diese Weise sammelt das Kind neben Varianten des spontanen Ausdrucksverhaltens seiner Mitmenschen auch vielfältige Erfahrungen mit der Wirkung seines eigenen Ausdrucksverhaltens auf sie.

Aus all diesen Eindrücken und Erfahrungen bildet sich schon früh ein Sozialer Autopilot heraus, der sich im Laufe des Lebens immer weiter ausdifferenzieren, erweitern und wesentliche Funktionen im sozialen Miteinander übernehmen wird.

Funktionen

In jeder sozialen Situation

registriert der Soziale Autopilot alle Verhaltensweisen der anwesenden Mitmenschen,

sortiert sie nach Relevanz,

deutet sie aufgrund der zeitlebens gesammelten Eindrücke und Erfahrungen

und steuert aufgrund seiner Deutung das eigene Verhalten der Person.

Wer einen Sozialen Autopiloten entwickelt hat, braucht sich folglich um all diese wesentlichen Funktionen nicht kognitiv und bewusst zu kümmern. Sie geschehen vollkommen autonom, unwillkürlich und so in der Regel auch unbewusst. Die wenigsten Menschen ahnen, dass es so etwas wie einen Sozialen Autopiloten überhaupt gibt, dass sie selbst einen entwickelt haben und welche buchstäblich entscheidenden Funktionen dieser übernimmt.

In ihrem Erleben »wissen« sie in jeder sozialen Situation sehr schnell, wie die anderen Menschen gestimmt sind und was diese von ihnen erwarten. Sie gewinnen spontan eine Einschätzung über das Wesen der anderen und was sie selbst von ihnen zu erwarten haben. Soziale Rolle und soziale Stellung, Charakter, aktuelle Stimmungslage und zu erwartendes Verhalten erscheinen »klar«, so dass es in der Regel diesbezüglich keiner bewussten Reflexion bedarf. Diese geschieht allenfalls, wenn etwas schief geht, es zu Missverständnissen, Konflikten oder auch nur zu unerwarteten Reaktionen des Gegenübers kommt. Erst dann tritt eine Verunsicherung ein, die manchmal dazu führt, die Situation, die eigene Einschätzung und auch das eigene Verhalten bewusst zu hinterfragen.

In aller Regel aber vermittelt der Soziale Autopilot eine grundlegende Sicherheit: Solange er nicht »Alarm« schlägt – in Form von Gefühlen wie Unbehagen, Schreck, Angst oder Aggression – wiegt sich ein Mensch weitgehend in Sicherheit.

Auch über das eigene Verhalten braucht sich eine Person, die mit einem Sozialen Autopiloten ausgestattet ist, kaum Gedanken zu machen: Da die jeweilige soziale Situation fortlaufend registriert, innerhalb von Bruchteilen von Sekunden im Abgleich mit gespeicherten Erfahrungen eingeschätzt und auf dieser Basis vollautomatisch die eigene Reaktions- und Verhaltensweisen gesteuert werden, entfällt jegliche Notwendigkeit, bewusst wahrzunehmen, zu deuten, zu reflektieren und sodann auch bewusst Entscheidungen bezüglich des eigenen Handelns zu treffen.

Insbesondere das nonverbale Ausdrucksverhalten, wie die Gestaltung des Blickkontaktes, Mimik, Körperhaltung, Regulierung von Nähe und Distanz, Stimmmodulation sowie Tempo und Lautstärke beim Sprechen etc. – all das geschieht unwillkürlich, in Feinabstimmung mit der aktuellen Situation und den aus Erfahrung abgeleiteten Erwartungen anwesender oder sogar auch nicht anwesender Mitmenschen.

So gelingt im Regelfall ein einigermaßen reibungsloses Miteinander – zumindest unter Menschen mit ähnlichem sozialem Erfahrungshintergrund (welcher ja den Sozialen Autopiloten »programmiert«), sowie die erfolgreiche Entwicklung sozialer Identitäten und Rollen.

Die Vorteile des Sozialen Autopiloten liegen somit auf der Hand und werden noch deutlicher werden, wenn wir sie im nächsten Abschnitt mit der autistischen Funktions- und Erlebensweise vergleichen. Dass ein Sozialer Autopilot auch Nachteile mit sich bringt, wird sich im Verlaufe unserer Betrachtungen ebenfalls zeigen.

1.3.3 Die (tragische) Situation des autistischen Kindes

Wenden wir uns nun erneut der Ausgangssituation eines Kindes mit autistischer Reizverarbeitung zu. Wie jedes andere Kind ist es nach der Geburt hilflos und darauf angewiesen, dass Menschen sich seiner annehmen, es schützen, nähren und ihm nach und nach zeigen, wie es überleben kann. Es wird die gleichen Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, nach Resonanz und Regulation mitbringen wie jedes andere Neugeborene. Da es jedoch die vielfältigen Reize, die ab dem Moment der Geburt auf es einströmen, kaum gefiltert aufnimmt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit davon geradezu unmittelbar überflutet werden.

Wenn ein Kind vom ersten Moment an seine Umwelt als überwältigendes Chaos erlebt, in dem es zunächst weder Muster noch Struktur erkennen und schon gar keine Objekte ausmachen kann, hat es auch nicht die Möglichkeit, ein Gesichtsschema zu erkennen und darin zu »ankern«: Es wird nicht wie ein neurotypisches Kind bereits in einem ersten Augenblick des gegenseitigen Erkennens mit einer Bezugsperson Sicherheit, Geborgenheit und eine Möglichkeit zur Regulation finden können.

Ohne eine solche Möglichkeit, in einem Gegenüber zu ankern und in eine Interaktion zu treten, die emotionale Regulation und die Erfahrung von Co-Regulation ermöglicht, wird es entweder extrem gestresst sein und dem möglicherweise durch große Unruhe und Schreien Ausdruck verleihen. Oder es muss Möglichkeiten finden, sich vor der überwältigenden Reizflut abzuschirmen – was zunächst am ehesten im Schlaf gegeben ist und einigermaßen aufrechterhalten werden kann, solange das Kind still alleine in seinem Bettchen liegt. In dem Moment, da ein Mensch auftaucht, wächst allerdings in jedem Falle die Herausforderung.

Der Mensch als Reizquelle

Ein Mensch, das wird bei Betrachtung aus dieser Perspektive schnell deutlich, ist schon für sich genommen eine Reizquelle. Schon wenn nur eine einzelne Person auftaucht – sagen wir die Mutter, die sich liebevoll um das Kind kümmern und es versorgen möchte –, ist das Kind mit einer Fülle zusätzlicher Reize konfrontiert:

Die Person taucht spontan auf. Das kann jederzeit geschehen, es muss also stets damit gerechnet werden.

Sie sieht immer wieder anders aus – schon allein deshalb, weil sie mal etwas Blaues, mal etwas Weißes, mal etwas Buntes trägt, die Haare anders fallen oder frisiert sind. Hinzu kommt, dass sich die Person ja bewegt, was auch ein fortlaufend sich wandelndes, jeweils nicht vorhersehbares Bild erzeugt.

Vor allem aber wird das Gesicht sich je nach Grundstimmung und Situation ständig verändern.

Die Bezugsperson wird das Kind auch ansprechen – also immer neue, sich wandelnde Geräusche und Klänge erzeugen, aus denen zunächst noch kein Muster und damit keine Bedeutung erkennbar wird.

Die Person, die sich um das Kind kümmern möchte, wird es berühren und hochnehmen, wodurch der haptische sowie auch der vestibuläre Sinn angesprochen werden.

Sie wird nach etwas riechen – sei es nach Waschmittel, Parfum oder nach sich selbst.

Und meist soll der Säugling dann ja auch noch etwas trinken, was sowohl wiederum Haptik und Mundsensorik als auch den Geschmackssinn anspricht.

Somit sind alle Sinne angesprochen, selbst wenn nur eine Person in Erscheinung und in Kontakt mit dem Kind tritt, um es zu versorgen oder in liebevoller Absicht hoffnungsfroh ein Angebot zur Interaktion oder Regulation zu machen.

Ein autistisches Kind erlebt von Beginn an: Ein Mensch bedeutet schon allein auf der Ebene der Reizverarbeitung eine Zunahme an Anforderung und Stress bis hin zu akuter Überforderung und Reizüberflutung. Hingegen fällt der Sicherheit und Geborgenheit vermittelnde Effekt des Ankerns im präsenten Gegenüber weitgehend weg. Regulation und Co-Regulation können so nicht stattfinden.

Dies kann sich bei allmählicher Strukturierung der neuronalen Netzwerke nach und nach ändern, so dass zumindest eine oder zwei Personen als ausreichend verlässlich und gleichbleibend wahrgenommen werden, um durch ihr Erscheinen, ihre Anwesenheit und die Interaktion mit ihnen weniger gefordert zu sein. Mitunter kann aus dem Kontakt mit ihnen sogar ein Erleben von Regulation und Sicherheit gewonnen werden. Auch in diesem Fall aber bleibt jede weitere, noch fremde Person und insbesondere die Anwesenheit mehrerer Menschen eine kaum zu bewältigende Herausforderung.

Die Entwicklung eines Sozialen Autopiloten bleibt aus

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie sich bei neurotypischen Kindern ein Sozialer Autopilot herausbildet, wird bei der Betrachtung der Ausgangsposition eines autistischen Neugeborenen schnell klar, dass eine solche Entwicklung hier kaum möglich ist.

Wer vom ersten Moment an die Welt als überwältigendes, ganz und gar undurchsichtiges Chaos erlebt, wird nicht in der Lage sein, in der Flut der Eindrücke ein Gesichtsschema zu entdecken, darauf zu fokussieren, in ein Wechselspiel zu treten und sodann allein aus der Anwesenheit und der unmittelbaren, lebendigen Resonanz seines Gegenübers Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren. Mehr noch: Es wird nichts mitbekommen von Reaktionen und Spiegelungen seiner Bezugspersonen auf das eigene Ausdrucksverhalten.

So kann es nicht wie ein neurotypisches Kind einfach Eindrücke sammeln von Verhalten und Ausdruck einer Person oder verschiedener Personen und kann keinen reichhaltigen Erfahrungsschatz anlegen, aus dem es später unwillkürlich schöpfen könnte.